Wußten Sie schon -

— daß das Wort Anekdote als Buchtitel zum ersten Mal von dem griechischen Geschichtsschreiber Prokopios verwandt wurde, als er die bis dahin verschwiegenen Einzelheiten über das Privatleben des Kaisers Justinian veröffentlichte?

— daß es Anekdoten nicht nur um Könige, Staatsmänner und Künstler gibt?

— daß eine literarisch erzählte Anekdote mehr ist als nur ein gut vorgetragener Schwank oder Witz?

— daß große und berühmte Dichter diese kleinste und darum sehr schwierige Prosa-Form pflegten?

Wie nur wenige verstand F. C. Weiskopf die Kunst, Erlebnisse, Berichte, Erzählungen und Zeitungsnotizen Anekdoten werden zu lassen. Begebenheiten voll unglaublicher Zufälle, aber auch sonderbaren Situationen aus dem Alltag kam er auf die Spur und gestaltete sie zu pointierten und merkwürdigen, das heißt des Merkens würdigen, Geschichten.

F. C. Weiskopf

Das Volk muß um das Recht kämpfen wie um die Mauern der Stadt

Heraklit

Wer das Verbrechen pardoniert, wird des Verbrechens Komplice.

Voltaire

Ein Mensch — wie stolz das klingt!

Gorki

Das Anekdotenbuch

Souvenir

Der Maler Picasso wurde nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris zu seiner eigenen und zur Überraschung seiner Freunde von den Eroberern völlig unbehelligt gelassen, wohl weil das Reichspropagandaministerium aus dieser Tatsache im Ausland Kapital zu schlagen hoffte.

Offiziere und Soldaten der Wehrmacht waren in der Folgezeit häufige Besucher von Picassos Atelier. Ein jeder dieser ungebetenen Gäste wurde stumm empfangen, stumm herumgeführt und erhielt beim Abschied eine Reproduktion des berühmten Gemäldes, das die Zerstörung der baskischen Stadt Guernica durch Naziflieger darstellt. Erst dann sprach Picasso ein Wort und immer nur das eine: "Souvenir!"

Eines Tages stellte sich bei ihm ein Beamter der Geheimen Staatspolizei ein, wies eine solche Reproduktion vor und fragte: "Haben Sie das gemacht?"

"Nein", entgegnete, indem er den Kopf schüttelte, der Meister, "das haben Sie gemacht."

Ob der Agent diese Antwort nicht oder nur allzu gut verstand, ob er von ihrer Kühnheit überwältigt wurde oder sie als Äußerung eines Wahnsinnigen auffaßte, bleibe dahingestellt; er ging, und Picasso hörte nie wieder von ihm. Dieses hat sich im Jahre 1944 zugetragen, und so etwas ist, wie es in Johann Peter Hebels "Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes" heißt, des Lesens zweimal wert.

Witz der Weltgeschichte

Kammerdiener: Seine Durchlaucht der Herzog empfehlen sich Mylady zu Gnaden und schicken Ihnen diese Brillanten zur Hochzeit! Sie kommen soeben erst aus Venedig.

Lady (hat das Kästchen geöffnet und fährt erschrocken zurück): Mensch! was bezahlt dein Herzog für diese Steine?

Kammerdiener (mit finsterm Gesicht): Sie kosten ihn keinen Heller!

Lady: Was! Bist du rasend! Nichts! Und (indem sie einen Schritt von ihm wegtritt) du wirfst mir ja einen Blick zu, als wenn du mich durchbohren wolltest. - Nichts kosten diese unermeßlich kostbaren Steine? Kammerdiener: Gestern sind siebentausend Landskinder nach Amerika fort — die zahlen alles.

Schiller, "Kabale und Liebe"

Die Weltgeschichte hat in ihrem Repertoire nicht nur Tragödien und Farcen, sondern auch Witze.

Ein großer Teil der hessischen Kronjuwelen wurde, wie vielleicht bekannt, von den Herzögen aus den Erträgnissen ihrer Soldatenverkäufe an den britischen Hof angeschafft. Mit den so erworbenen Truppen führte — und verlor König Georg III. von England seinen Feldzug gegen die aufständischen nordamerikanischen Kolonien, die sich zur Republik der Vereinigten Staaten zusammengeschlossen hatten.

Während die am Leben gebliebenen Hessen nach dem Kriege wie unbrauchbare Kommissionsware an den Lieferanten zurückgeschickt wurden, trugen die als Tote in Amerika Gebliebenen ihrem landesväterlichen Verschacherer noch einen zweiten Profit in Form einer besonderen Prämie ein. Die wertvollsten unter den berühmten Perlen und Steinen des hessischen Fürstenschatzes sollen mit Hilfe dieser Totenprämien erstanden worden sein… und gerade sie wurden, als nach der Niederlage des Dritten Reiches die amerikanische Armee das Land Hessen besetzte, von zwei Offizieren der Besatzungstruppe entwendet und nach Amerika geschmuggelt: dorthin, wo die Gräber liegen, aus denen das Geld zu ihrem Ankauf gekommen ist.

Das Diebespaar wurde übrigens schnell gefaßt und die Beute unter vielen Entschuldigungen denen zurückerstattet, die als Nachkommen der herzoglichen Menschenhändler und Leichenfledderer auf einen älteren und prächtigeren, wenn auch nicht respektableren Besitztitel pochen konnten.

Der kleine Unterschied

Während seiner sogenannten Friedensmission in China, die nichts anderes bezweckte, als das wankende Regime des von den Amerikanern gekauften Diktators Tschiang Kaischek zu stützen und die Befreiungsarmee um die Frucht ihrer Siege zu prellen, bemerkte General Marshall einmal zu seinem Verhandlungspartner Tschou En-lai: "Ich verstehe Ihr Mißtrauen nicht, Herr Delegierter. Schließlich wollen wir beide nur dasselbe, und wie Sie habe auch ich nur das Bestreben, dem chinesischen Volk zu dienen."

"Sie vergessen bloß den kleinen Unterschied, General", gab Tschou En-lai zurück. "Sie dienen ihm auf Ihre und ich diene ihm auf seine Weise."

Judas

Als nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches die Darsteller der Passionsspiele von Oberammergau bei den Besatzungsbehörden um eine Theaterlizenz einkamen, mußten sie vor einer Prüfungskommission erscheinen, die das Verhalten jedes einzelnen Schauspielers während der Nazizeit zu untersuchen hatte. Es erwies sich nun, daß fast alle von ihnen, auch der Herr, auch Maria, auch Petrus und Paulus der Partei Hitlers beigetreten waren, als dies noch Vorteile und Ehrungen mit sich gebracht hatte. Nur Judas, er, dessen Name gemeinhin mit Verrat gleichgesetzt wird, war nicht zum Verräter geworden. Nur er hatte sich sein menschliches Herz, seine Würde und Ehre bewahrt.

Der Renegat und seine Bücher

Egon Erwin Kisch wurde einmal von einer wißbegierigen Leserin um sein Urteil über den Schriftsteller R. gebeten, der zum Renegaten geworden war und dabei, wie es in solchen Fällen geradezu zwangsläufig zu geschehen pflegt, zugleich mit dem Charakter auch das, was er an Talent besessen, verloren hatte.

"Mein Urteil über wen?" fragte der rasende Reporter, der nur mit halbem Ohr zugehört haben mochte.

"Über den Romancier R.", antwortete die Wißbegierige und hob an, die Titel der von dem Renegaten geschriebenen Romane aufzuzählen.

"Genug!" unterbrach Kisch sie. "Ich weiß schon, um wen es geht. Das ist doch der Mann, der sich, im Gegensatz zu seinen Büchern, so leicht verkauft."

Die Liquidierung der Stechmücken

(In der Kleistschen Manier) Für Heinz W.

Einer meiner Freunde, der viel in der Welt herumreist, bekam von dem Wirt der Kopenhagener Flughafenschenke folgendes Histörchen zu hören, das hier so wiedergegeben sei, wie es von dem Wirt meinem Freunde und von diesem mir erzählt wurde. Kommt da eines Tages mit dem Clipper, der von Stockholm nach dem Fernen Osten fliegt und hier eine Stunde Aufenthalt hat, ein dicker Chinese an und verlangt an meiner Theke eine Milch mit Coca-Cola und Rum. "Eine Milch mit Coca-Cola und Rum?" erkundige ich mich sicherheitshalber, da mir eine solche Mischung bisher nie untergekommen. "Ja", spricht der Dicke, "und messen Sie den Rum nicht zu knapp, ich bin diese Medizin gewohnt und werde sie wohl nicht sobald wieder in den Magen kriegen, denn ich fahre in meine Heimat, und dort hat man andere Geschmäcker und andere Getränke." — "Soso, nach China geht die Reise", sage ich, um das Gespräch in Gang zu halten, denn mir scheint, aus dem Gast ist noch eine Bestellung herauszuholen, "wie sieht es denn jetzt dortzulande aus?" — "Das weiß ich nicht", antwortet er, "ich bin zwanzig Jahre nicht mehr daheim gewesen", und bestellt richtig noch eine Milch mit Coca-Cola und Rum. "Und wo haben Sie, mit Verlaub, diese zwanzig Jahre verbracht?" frage ich. "In Amerika", gibt er zurück, "ich habe eine Wäscherei mit drei Filialen in Philadelphia gehabt, aber die bin ich losgeworden." — "Ist's möglich?" entfährt es mir, "man hat Sie um Ihr Unternehmen…" — "Nein, nein", unterbricht er mich, "ich hab es verkauft. Ohne Gewinn, aber auch nicht mit Verlust. An einen Landsmann." — "Verkauft?" wundere ich mich. "Wollen Sie am Ende nicht mehr nach Amerika zurück?" — "In der Tat", versetzt er, "ich will in China bleiben", und bestellt noch eine Milch mit Coca-Cola und Rum. "Da erwartet man Sie wohl schon?" vermute ich. "I wo denn", entgegnet er, "und ich weiß überhaupt noch nicht, was ich dort tun werde." — "Das verstehe, wer will", sage ich, "Sie entschuldigen schon, doch was zum Teufel hat Sie zu einem solchen Entschluß bewogen?" — "Das will ich Ihnen erklären", meint er, "aber vorher bringen Sie mir noch eine Milch mit Coca-Cola und Rum." Ich serviere ihm das Verlangte, und er, indem er seine Medizin hinter die Binde gießt und sich danach die Lippen leckt: "Es gibt natürlich eine ganze Menge von Gründen, aber wenn ich mir's überlege, so hat einer, der Ihnen vielleicht ganz komisch vorkommen mag, den Ausschlag gegeben." — "Und der wäre?" werfe ich ein. "Ein Brief, worin es heißt, daß in Schanghai keine Stechmücken mehr sind." — "Was?" stottere ich und glaube, nicht recht gehört zu haben, "Stechmücken?" — "Jawohl", bekräftigt er, "es geht um die Stechmücken. Vielmehr darum, daß in Schanghai keine mehr sind. Man hat sie liquidiert. Li-quidiert", wiederholt er und klopft bei jeder Silbe mit dem Glas auf die Theke, "li-qui-diert!" — "Wie?" rufe ich, "und das sollte Sie bestimmt haben…?" — "Gerade das!" erwidert er, "denn sehen Sie, wenn Mao Tse-tung und die Seinen Zeit finden, sich um so etwas zu kümmern, und wenn es ihnen gelingt, eine Plage abzuschaffen, von der wir immer angenommen haben, daß sie so elementar ist wie Regen oder Blitzschlag, — was werden sie aus diesem Land China machen! Und dann", spricht er mit einem Lächeln, wie es nur diese dicken Chinesen haben, verschmitzt und auch weise, "dann habe ich mir noch gesagt: Hier in Amerika züchtet man Stechmücken und infiziert sie mit Pest oder Cholera, um sie auf Menschen loszulassen, und drüben befreit man die Menschen von den Mücken… wie kann einem da die Wahl zwischen hüben und drüben schwerfallen?" Und bevor ich mich noch auf eine Antwort besinnen kann, hat er einen Fünfdollarschein neben die leeren Gläser gelegt und ist auch schon draußen beim Clipper. So einen Kerl habe ich, auf Ehre und Gewissen, zeit meines Lebens nicht gesehen.

Das Trennende und das Gemeinsame

Der britische Außenminister Ernest Bevin, ein ehemaliger Transportarbeiter, liebte es, den heftigsten Ausfällen gegen die Sowjetunion und den Kommunismus durch Hinweise auf seine Herkunft eine besondere Würze zu geben. Als er dies einmal im Wortgefecht mit Andrej Wyschinski, dem Leiter der Sowjetdelegation in den Vereinten Nationen, tat und dabei obendrein seinem eigenen proletarischen den bürgerlichen Ursprung des Russen gegenüberstellte, wurde ihm eine Antwort zuteil, die auch heute noch — während die Reden Bevins und er selbst längst der Vergessenheit verfallen sind — wieder und wieder erzählt und belacht wird. "Der sehr ehrenwerte Sprecher für die Regierung Seiner Britischen Majestät", sagte Wyschinski mit dem sanftesten Lächeln der Welt, "tut unrecht daran, nur das zu erwähnen, was uns beide trennt. Lassen Sie mich das Gegenteil unternehmen und darauf hinweisen, daß uns, obwohl wir so verschieden von Ursprung, Charakter und Einsicht sind, dennoch eines gemeinsam ist: wir haben beide die Klasse, aus der wir kommen, verraten, ich die Bourgeoisie und Herr Bevin die Arbeiterklasse."

Gattungsname Jensen

An das Tor einer — für die Hitlersche Wehrmacht arbeitenden — Kopenhagener Fabrik, so wußte die dänische Untergrundzeitung "Freiheit" zu berichten, wurde eines Abends im Januar 1944 laut gepocht. Der Wächter, ein Hüne von Gestalt, Mitglied der verräterischen Clausengarde, gewahrte, als er öffnete, statt der erwarteten SS-Streife einen unscheinbaren kleinen Mann in Radmantel und steifem Glockenhut.

"Guten Abend", sagte, während er einen tiefen Bückling machte, der Fremde, "entschuldigen Sie vielmals, habe ich die Ehre, mit dem Herrn Fabrikwächter zu sprechen?" "Der bin ich. Und wer sind Sie? Was wollen Sie?" "Ich?" lautete die in freundlichstem Ton gegebene Antwort. "Ich bin Patriot Jensen. Und das sind meine Freunde." Er wies über seine Schulter nach hinten, wo plötzlich acht Männer mit schußbereiten Revolvern wie aus dem Boden gewachsen dastanden.

Eine Viertelstunde später brannte die Fabrik lichterloh. "Jensen, wohlgemerkt, ist ein Gattungsname", bemerkte die Untergrundzeitung am Schluß ihres Berichtes.

Korsische Antwort

Ein Partisan von Korsika wurde gefragt, wie es die notdürftig bewaffnete Armee du maquis zuwege gebracht habe, den deutsch-italienischen Besatzungstruppen schon eine Woche vor der ersten Landung alliierter Streitkräfte drei Viertel der Insel zu entreißen und sie gegen die stärksten Angriffe zu halten.

"Wie das möglich war?" versetzte der Korse und ging daran, dem Frager eine gründliche Darlegung der militärischen Operationen zu geben, unterbrach sich jedoch schon nach wenigen Sätzen: "Ach was, ich erzähle Ihnen lieber von einer Episode, die nicht nur die Ursache, sondern auch die Notwendigkeit unseres Sieges erklärt. Zu den Straßenknotenpunkten, die am heftigsten umkämpft wurden, gehörte die Ortschaft Sartegne, deren Besitz uns in die Lage versetzte, den gesamten gegnerischen Nachschub in einem wichtigen Abschnitt zu unterbinden. Die Deutschen warfen ein ganzes Bataillon gegen den Partisanentrupp von kaum hundert Mann, der sich durch einen Handstreich des Ortes bemächtigt hatte. Stundenlang folgte ein Angriff auf den andern. Mehr als die Hälfte der Verteidiger war schon kampfunfähig, und der Feind schickte sich gerade zu einem neuen Sturm an, als dem Partisanenkommandeur gemeldet wurde, daß auf der Bergstraße im Rücken seiner Stellung eine größere Abteilung italienischer Alpini im Anrücken sei. Reserven waren nicht vorhanden. Die Feuerlinie auch nur um ein paar Gewehre zu schwächen, erschien dem Kommandeur unmöglich. So sandte er den Italienern nur zwei Späher, Jungen im Alter von vierzehn und fünfzehn Jahren, entgegen. Unterwegs streckte eine verirrte Kugel den jüngeren nieder. Der Fünfzehnjährige setzte seinen Patrouillengang allein fort. Eine Pistole am Gürtel, in der Hand eine kleine Trikolore, trat er hinter einem Felsblock hervor, dem von einem höheren Offizier geführten Vortrupp der Alpini entgeger "Halt! Wohin" Die Italiener stutzten. Schließlich rief "Ist das hier Sartegne?" Ohne Zögern kam die Antwort: "Nein, Stalingrad" Die Italiener nach einigem Durchein-anderreden, legten die Waffen nieder und erklarten, für sie sei der Krieg zu Ende."

Ein verhinderter Sankt Franziskus

Für Lilly

Die Amerikaner lieben es, ihre Vereinigten Staaten das ureigene Land Gottes zu nennen, und das Wort des Herrn wird denn auch nirgendwoanders von so vielen Menschen bei so vielen Gelegenheiten im Munde geführt. Aber auf den Zungen wohnen heißt noch nicht, in den Herzen sein, wie folgende Begebenheit zeigt, die sich zur Weihnachtszeit des Jahres 1946 in New York zugetragen hat.

Ein Brooklyner Bürger mit dem Namen Jim O., der es — weniger durch Gerissenheit oder Fleiß als durch die Gabe, andere zum Lachen, Trinken und Geldausgeben zu veranlassen — in kurzer Zeit vom Schuhputzer zum Besitzer eines Ausschank- und Billardsalons gebracht hatte, war in der Christnacht eben dabei, Kasse zu machen, als er sich unversehens von dem heftigen Wunsch, hinauszugehen und zwölf Prozent seines Erlöses an die Armen und Elenden zu verteilen, übermannt fühlte. Wie er später, bei einem der zahlreichen Verhöre, denen er sich unterziehen mußte, aussagte, war ihm der Anstoß zu seinem Vorhaben beim Abzählen der Halbdollarstücke gekommen, deren sanftes Silbergeklingel in ihm die Erinnerung an eine lang vergessene Kinderlegende von Sankt Franziskus, dem Mildtätigen, geweckt hatte.

Kurz entschlossen nahm er ein Bündel Banknoten aus der Panzerkasse, holte seinen Wagen aus der Garage und fuhr über die große Brooklyner Hängebrücke nach einem der Elendsviertel, der sogenannten Unteren Ostseite, deren Hauptstraße die berühmte Bowery ist.

Es war eine klare, frostige Nacht, und die Sterne über den Schattenrissen der Hochhäuser funkelten wie die Beschläge einer fabrikneuen Packardlimousine. Die billigen Gaststätten der Bowery wimmelten von Gelegenheitshändlern, Arbeitslosen, Bettlern — gestrandeten Existenzen aller Art. O. betrat das erstbeste Lokal, stieg auf einen Stuhl an der Theke und hielt eine Rede. Er sagte, es gehe ihm wider den Strich, seinen Weihnachtstruthahn zu verspeisen, während sich die hier Anwesenden mit einem Gericht Makkaroni für zwei Nickel oder einer Tasse Kaffee und altbackenen Kringeln zufriedengeben müßten; er fordere deshalb seine geschätzten Zuhörer auf, sich an Speisen und Getränken zu bestellen, wonach immer ihnen gelüste; die Zeche gehe auf seine Rechnung.

Das Echo der Rede war anders, als O. sich's gedacht. Einige der Gäste zweifelten laut an seinem Verstand, andere verlachten ihn als schlechten Witzbold oder fühlten sich verhöhnt und begannen zu schimpfen, und jemand drohte ihm sogar mit einer Anzeige. Nicht ein einziger nahm O.s Anerbieten ernst. Es bedurfte längerer Überredung, bis sich drei oder vier bereit erklärten, mit ihm auf die nächste Polizeiwache zu gehen, um sich dort von Amts wegen überzeugen zu lassen, daß die Annahme seiner Einladung zu einem Gratisessen keinerlei versteckte Verpflichtungen einschließe.

Der diensthabende Sergeant hörte sich O.s Ausführungen stirnrunzelnd an. Da er aber in weihnachtlicher Stimmung war und zudem eine aussichtsreiche Partie Pinocle, die er wegen des sonderbaren Besuchs unterbrochen hatte, fortsetzen wollte, entschied er, daß polizeilicherseits nichts gegen das Projekt des Brooklyners einzuwenden sei; im übrigen trage O. selbstverständlich die Verantwortung für alle etwaigen üblen Folgen seines gottverdammten Bewirtungsspleens.

In die Gastwirtschaft zurückgekehrt, wo sich unterdessen den früheren Gästen nicht wenige Neugierige zugesellt hatten, ließ O. auftragen, was Küche und Keller hergaben, und händigte außerdem jedem, der gesättigt vom Tisch aufstand, einen Fünfdollarschein ein.

Als sich herausstellte, daß sein Banknotenvorrat nicht ausreichte, um alle zu beschenken, gab unser von franziskanischer Nächstenliebe überquellender Brooklyner seine Uhr seinen Rubinring, seinen Hut und seinen Seidenschal her, damit niemand leer ausgehe. Die zwei letzten Stücke waren nagelneu; O. hatte sie eben erst von einer Witwe jüngeren Alters und beträchtlichen Vermögens, mit der er eine ernste Bekanntschaft unterhielt, als Weihnachtsgeschenk erhalten.

Sodann setzte er sich auf die Schwelle des Gastlokals und weinte Tränen der Rührung und Zufriedenheit. "Ich wette", sagte er zu einem Zeitungsreporter, der ihn einige Tage später, als sein Fall allgemeine Aufmerksamkeit erweckt hatte, aufsuchte, "jeder andere hätte sich an meiner Stelle genauso aufgeführt; ich fühlte mich wie ein zehnfacher Rockefeller. So wahr mir Gott helfe!"

Der Anblick des Weinenden und die Kunde von seiner Freigebigkeit lockte eine schnell wachsende Menschenmenge an, die bald den Verkehr behinderte, so daß eine Polizeistreife eingreifen mußte; jedoch kam O. mit einem einfachen Verweis davon.

Er fuhr nach Hause, warf sich — nicht so sehr von der durchwachten Nacht wie von den Gefühlswallungen, die er erfahren hatte, ermattet — auf sein Lager und verschlief den Weihnachtstag. Spätabends weckte ihn ein Depeschenbote. Die vermögende Witwe kündigte ihm telegrafisch die Sympathie auf; sie habe es satt, die Feiertage allein zu verbringen, mißbillige aufs schärfste seinen Umgang mit Tagedieben von der Bowery, finde die Art und Weise, wie er gute Dollars gewissermaßen in die Gosse werfe, vor Gott und den Menschen unentschuldbar und ersuche um Rücksendung ihrer Geschenke.

O. gab dem auf Antwort wartenden Boten ein bankpräsidentliches Trinkgeld, schmiß das Antwortformular in den Mülleimer und begab sich mit einem neuen Banknotenbündel wie am Vortage nach der Bowery.

Da die Wirtschaften noch ziemlich leer waren, begann O., langsam die Straße hinunterschlendernd, den ihm begegnenden Passanten, Lungerern und Fuhrleuten Geldscheine anzubieten. Die meisten glaubten, es handle sich um Reklamezettel oder Scherzartikel. Nur ein Alter schien es für nicht weiter verwunderlich zu halten, daß ihm ein Unbekannter für nichts und wieder nichts Geld schenke, und dieser Alte war stockbetrunken.

Allein O. ließ sich durch die Verhärtung der Gemüter, den Zynismus und das Mißtrauen der von ihm Beschenkten keineswegs aus seiner heiteren Geberlaune bringen. Er fuhr vielmehr fort, rechts und links seine grünen Scheine zu verteilen — bis sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte und eine Stimme, deren stiefväterliche Jovialität keinen Zweifel über ihren obrigkeitlichen Charakter übrigließ, ihn zum Mitkommen aufforderte. Bevor er sich dessen versah, saß er schon zwischen zwei beleibten Sergeanten in einem Streifenwagen und rollte zur Polizeihauptwache, wo, wie ihm zwinkernd bedeutet wurde, jemand dringend seiner harre.

Der Jemand war ein Polizeiarzt in weißem Kittel, mit umgehängtem Stethoskop und blitzender Stirnlampe. O. wurde angewiesen, sich der Kleider zu entledigen, was er auch, um nicht als Spielverderber zu gelten, voller bereitwilliger Nachsicht tat. Als sich jedoch die Untersuchung, an die der Arzt unverweilt und mit nicht zu überbietendem Ernst geschritten war, über die Maßen in die Länge zog, bemerkte O., immer noch nachsichtig und heiter, es müsse wohl ein komisches Mißverständnis vorliegen, er sei bei bester körperlicher und geistiger Gesundheit und völlig nüchtern. Der Arzt meinte lächelnd (und es war bei diesem Lächeln, daß O. zum erstenmal spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief), das sei alles schön und gut, aber vorerst einmal solle Jim seine genaue Adresse angeben, dann die Monatsnamen der Reihe nach hersagen, dann drei von elf abziehen, dann mit geschlossenen Augen quer durchs Zimmer gehen und so weiter. O., nachdem er eine geraume Weile hindurch auf alle Wünsche des Arztes eingegangen, fand schließlich, daß es genug sei, und weigerte sich, an dem Theater, wie er es nannte, weiter mitzuwirken. Daraufhin ließ ihn der weiße Kittel, der wohl nur auf eine solche Gelegenheit gelauert hatte, kurzerhand abführen.

Die nächsten zwei Tage verbrachte unser Freund auf der psychiatrischen Beobachtungsstation des Bellevue-Hospitals; er sollte gerade, als hervorragend interessanter Fall, einer größeren Studienkommission vorgeführt werden, als es den Bemühungen eines befreundeten Nudelfabrikanten mit einflußreichen Verbindungen gelang, ihn freizubekommen.

Endlich wieder daheim, mußte er zu guter Letzt auch noch die Entdeckung machen, daß Einbrecher seine Abwesenheit dazu benutzt hatten, die Panzerkasse zu knacken. Ein anderer wäre durch solche Erlebnisse zweifellos zum erklärten Menschenfeind geworden. Nicht so Jim O. Als ihn der bereits erwähnte Zeitungsberichterstatter fragte, ob er nach dem, was ihm widerfahren, von berechtigter Bitterkeit erfüllt sei, entgegnete der Brooklyner, indem er leise den Kopf schüttelte: "Ich bin, ich kann es nicht leugnen, einigermaßen abgebrüht, was Zechprellerei und ähnliche faule Tricks angeht. Man steht schließlich zehn Jahre hinter der Theke, und ein Billardsalon ist, weiß Gott, keine Sonntagsschule. Mit meinen Erfahrungen müßte ich eigentlich der kaltschnäuzigste und hartherzigste Kerl unter der Sonne sein. Aber ich bin's nicht. Es ist mir einfach nicht gegeben. Sanftmut war seit je meine andere Natur. Außerdem", fügte er nach einer Minute versonnenen Schweigens hinzu, "außerdem bin ich gegen Einbruch und Verdienstentgang bei der Mutual Indemnity Insurance Company versichert."

Der rote Fetzen

Als am siebenten November des Jahres 1933, am Tag der großen russischen Revolution, vom Schlot der stillgelegten P… schen Margarinefabrik bei R… eine rote Fahne mit Hammer und Sichel wehte, wurden die männlichen Bewohner der nahegelegenen Laubenkolonie, die als kommunistisches Nest verschrien war, von der SS festgenommen und — da sie nichts gestehen wollten oder konnten — so lange geprügelt, bis sie blutig und bewußtlos auf der Erde lagen. Dann gestattete man den Weibern, die der Exekution hatten beiwohnen müssen, ihre Männer — bevor sie auf Lastautos verladen und weggeschafft wurden — notdürftig zu reinigen und zu verbinden.

Das SS-Kommando, das am nächsten Tag in der Kolonie nach den wenigen Männern Umschau hielt, die am Vorabend nicht zu Hause gewesen waren, fand nur Weiber und Kinder vor — doch wehte vom Schlot der Margarinefabrik wiederum eine Fahne.Der Staffelführer befahl einem Jungen, den "roten Fetzen" sofort herunterzuholen, und ließ, während das geschah, die Weiber und Kinder antreten und vor den entsicherten Karabinern seiner Truppe das Horst-Wessel-Lied singen.

Als der Junge, der die Fahne zu holen hatte, wieder unten anlangte, zeigte es sich, daß sie gar nicht rot war, sondern rostfarben, schwarzbraun und schwarz gefleckt, und auch keine Fahne, sondern ein blutgetränktes Tuch: eines der Handtücher, mit denen die Frauen am Abend vorher ihre zerschlagenen Männer gereinigt hatten.

Von den Gefangenen starben zwei im Krankenhaus. Zwei wurden "auf der Flucht erschossen".

Würde und Vernunft

In den trüben Februartagen des Jahres 1939, als die katalonische Armee, von einem an Zahl und Kriegsmaterial weit überlegenen Feind bedrängt, nach tapferster Gegenwehr auf französisches Gebiet übertrat, ereignete sich ein Vorfall, von dem kein Heeresbericht meldet, der aber trotzdem verdient, aufgezeichnet und überliefert zu werden.

Der Rückzug des Korps Modesto — das den Feind in der Küstenprovinz so lange aufgehalten hatte, bis der letzte Verwundete sicher über die Grenze gebracht war — wurde von einer Maschinengewehrabteilung unter dem Befehl des Leutnants Miguel de Llano gedeckt. Die Llanos sind eine alte Offiziersfamilie. Einer von ihnen, der General Queipo de Llano, machte gleich zu Beginn gemeinsame Sache mit dem blutigen Franco und erwarb sich einen traurigen Ruhm als bramarbasierender Rundfunksprecher. Der Leutnant de Llano hatte das Kommando über den Deckungstrupp erbeten, um — wie er sagte — dem Land und der Welt zu zeigen, daß es auch andere Llanos als den verräterischen General gebe.

Von einem Felsenhügel bei Port Bou, der letzten spanischen Ortschaft vor der Grenze, hielt die kleine Truppe die Francotruppen in Schach, solange die Munition reichte. Dann zog sie sich, wie befohlen, über die Grenze zurück: in guter Ordnung und mit wehender Fahne. Nur der Leutnant blieb noch auf spanischem Boden. Im Angesicht der anstürmenden Gegner kniete er nieder, küßte den Boden der Heimat, sprang wieder auf und schrieb mit einem Stück Kohle an den Felsen:

Wir kommen wieder, Franco! Es lebe die Freiheit!

Miguel de Llano, Leutnant,

Soldat der Republik aus Würde und Vernunft.

Dann schritt er langsam, mit erhobener Faust, auf den Grenzpfahl zu. Die verdutzten Franco-Söldner brachten ihre Gewehre zu spät in Anschlag. De Llano erreichte unversehrt französischen Boden.

Uber dem Herzen

Es geht nichts über das Gemüt eines Berserkers.

Als der Laufbahn und dem Leben des Xaver Krombholzer, Oberfeldwebels in einem deutschen Pionierbataillon, durch eine Landmine bei Gomel ein verdientes Ende bereitet wurde, fanden die russischen Sanitäter, die seinen Leichnam auflasen, bei ihm einen Gedichtband von Mörike; einen Brief seiner Frau, worin es hieß: "Schicke mir Kinderwäsche, sie kann auch blutig sein, ich wasche die Flecken schon heraus…"; eine Aufzeichnung, aus der hervorging, daß er eigenhändig mehrere Partisanenmädchen gehängt hatte; und eine Photographie seines nackten Hintern mit identifizierendem Vermerk. Die Photographie hatte Krombholzer — wo sonst wäre sie auf dem rechten Fleck gewesen? — in der Brusttasche mit sich getragen, über dem, was er vermutlich sein Herz nannte.

"Ameko kaäre!"

Wir verstehen es noch nicht immer, den Völkern die richtige Ansicht über die Friedensliebe der Vereinigten Staaten zu verkaufen.

Jobn Foster Dulles

Als in den ersten Sommertagen des Jahres 1953 eine Abteilung des amerikanischen Marinekorps auf der kleinen japanischen Insel Osima landen wollte, um dort eine Radarstation zu errichten, fand sie die gesamte Bevölkerung am Strande zu ihrem Empfang versammelt, einem Empfang freilich, wie ihn die Lederhälse — das ist der Name, mit dem man in den Staaten die im Rufe besonderer Rauheit stehenden Seesoldaten belegt — keineswegs erwartet hatten.

Hand in Hand, die ärmlichen Hemden und Kimonos mit weißen Blüten geschmückt, traten die Inselbewohner den an Land Watenden entgegen, wobei sie aus voller Kehle "Ameko kaäre — Ami go home!" riefen. Weder Zureden noch Drohungen, noch auch Kolbenschläge konnten die lebende Kette sprengen, dergestalt, daß, da auch die zu Hilfe gerufene japanische Polizei, sei es aus Scham, sei es aus Furcht oder Schwäche, nichts auszurichten vermochte, die Amerikaner schließlich unverrichteterdinge abziehen mußten. Das "Ameko kaäre!" der Fischer und ihrer Frauen und Kinder gellte ihnen nach, als sie bereits wieder in ihren Booten saßen, und der gleiche Ruf grüßte sie bei ihrer Rückkehr nach Tokio, von wo aus sie ihre Expedition angetreten hatten.

Zu berichten bleibt noch, daß Osima, im Volksmunde bisher Eiland der Selbstmörder geheißen, weil seit undenklichen Zeiten Lebensüberdrüssige durch einen Sprung in den Krater seines Vulkans den Tod gesucht, jetzt allgemein Insel der Kämpfer für das Leben genannt wird.

Das Geburtstagsgeschenk

Offizieren der siegreichen verbündeten Truppen, die in der Wohnung des von ihnen dingfest gemachten KZ-Kommandanten von Mauthausen Haussuchung hielten, fiel ein Tagebuch in die Hände, das dem halbwüchsigen Sohn des Verhafteten gehörte.

In dem Buch fand sich eine Eintragung des Inhalts, daß der Junge an seinem dreizehnten Geburtstag vom Vater ein Infanteriegewehr, zweihundert Schuß scharfe Munition und, als besondere Überraschung, vierzig Juden zum Einschießen erhalten habe.

Und nun sage mir einer, daß Herz, Gemüt und Vaterliebe im Dritten Reich nicht hochgehalten wurden.

Dynamit

Eine Anekdote aus dem zweiten Jahr der Hitlerherrschaft

Als der Kommandant des Konzentrationslagers S…, ein alter Halsabschneider, den seine Vergangenheit als Offizier im Freikorps Roßbach sicherlich zu weit höheren Stellen emporgetragen hätte, wäre er nicht mit einigen seiner früheren Kameraden in der SS-Führung verfeindet gewesen, die Mitteilung erhielt, daß er versetzt werden solle, ließ er — sei es aus Zorn über die als Maßregelung empfundene Abberufung, sei es, um seine Nützlichkeit zu beweisen — den von den Gefangenen kurz zuvor errichteten Horst-Wessel-Gedenkstein von unbekannten Tätern besudeln und daraufhin vierundvierzig verdächtige Häftlinge im Zandersaal (so hieß in S… der Raum, worin geprügelt wurde) so lange verhören, bis sie bewußtlos waren.

Dann wurden die übrigen Häftlinge, an die fünfhundert Mann, aus den Baracken gepfiffen und in einer langen Doppelreihe zwischen dem Zandersaal und dem Lagerlazarett aufgestellt. Durch die lebendige Gasse wurden die vierundvierzig geschleift: an den Beinen, die blutigen Köpfe im Staub.

Die Gefangenen standen, während sie dies mit ansehen mußten, mit verzerrten Gesichtern da. Sie hatten die Zähne auf die Lippen gebissen, sie hatten die Nägel in die Handballen gebohrt, sie zitterten und keuchten, einige schluchzten, zwei oder drei wurden ohnmächtig. Aber keiner schrie auf. Sie wußten: hinter ihnen lauerten schußfertige Maschinengewehre auf ein "Signal zum Aufruhr".

"Dynamit" nannte ein entkommener Häftling, der diese Geschichte über die Grenze brachte, den erdrosselten Schrei der Kameraden, die stumm bleiben mußten, als die zerschlagenen Leiber an ihnen vorbeigeschleift wurden, "Dynamit, das auch in zwanzig Jahren nicht dumpf werden wird."

Ehrvergessen und unwürdig ihrer Rasse

Im Spätherbst 1942, während der Niederlage bei Stalingrad, befahl in zahlreichen deutschen Städten und Flecken die Gestapo "zwecks Aufpulverung der Hinterlandsmoral" die letzten Juden auf die Polizeiämter und schob sie fristlos nach Polen ab, wo die Kräftigeren unter ihnen von Arbeitslagern, die Gebrechlichen und Kranken von den neuerdings eingerichteten Gaskammern erwartet wurden.

Die Kinder der Verschickten blieben vorläufig zurück, dem Hunger preisgegeben. Ihnen zu helfen war, als Volksund Rassenverrat, bei hoher Strafe verboten. Dennoch fanden sich in einem Dorfe des Königsberger Bezirks fünf Frauen, die acht jüdische Kinder zu sich nahmen und für ihre eigenen ausgaben, ungeachtet des Umstandes, daß ihre Familienverhältnisse natürlicherweise der Nachbarschaft und den Behörden auf das genaueste bekannt waren.

Ein Sondergericht verurteilte die "ehrvergessenen und ihrer Rasse unwürdigen Kreaturen" — wie die "Königsberger Zeitung" zu melden wußte — zu je sechs Jahren Zuchthaus. Mildernde Umstände wurden nicht zuerkannt, da die Angeklagten keinerlei Reue zeigten, ja, auf Befragen versicherten, sie würden, wenn sie die Wahl hätten, nochmals genauso handeln, wie sie gehandelt hatten.

Als ob er geahnt hätte, worauf es der Nachwelt allein ankommen wird, nannte der nationalsozialistische Schriftleiter keinen der Richter, Anklagevertreter und Belastungszeugen, wohl aber die Verurteilten mit Namen. Die fünf Frauen hießen: Johanna Krieger, Ernestine Schmiedel, Sophie Metzger, Frieda Krantz und Frieda Seifert.

Wieviel Fliegen?

Als durch die Ungeschicklichkeit oder Naivität eines beteiligten Offiziers bekannt wurde, daß die Truppen Ihrer Britischen und Holländischen Majestäten bei der Nieder-metzelung indonesischer Freiheitskämpfer auf Java fast ausschließlich Waffen verwandten, die deutlich als amerikanisches Heeresgut gekennzeichnet waren, nahm die Regierung der Vereinigten Staaten daran begreiflicherweise Anstoß und beschloß, wie es in einem aus diesem Anlaß veröffentlichten Bericht hieß, bei den Kabinetten von London und Den Haag unverzüglich Vorstellungen zu erheben.

Dies geschah, und der Erfolg ließ nicht auf sich warten. In der Folgezeit sahen die britisch-holländischen Kommandeure streng darauf, daß die amerikanischen Kennzeichen von den Kanonen und Tanks entfernt wurden, bevor diese in Aktion traten, um den Indonesiern Freiheit und Demokratie zu bringen.

Für die hohen Beteiligten war damit die Angelegenheit erledigt. Der Chronist freilich kann sich abschließend nicht der Frage enthalten, wieviel Fliegen auf diese Weise mit einem Schlag beseitigt wurden… wobei, um mit Kleist zu reden, noch die shakespearische Eigenschaft zu bemerken ist, daß mit dem Ausdruck "Fliegen" für tote Indonesier nicht aus der Sphäre der hohen Beteiligten hinausgegangen wird.

Greuelmärchen

Während der Kämpfe im Warschauer Getto kreisten die Nazis das jüdische Lazarett in der Ulica Franciszkanska ein und steckten es, nachdem sie vorsorglich alle Ausgänge vernagelt hatten, in Brand. Kranke und Verwundete, die trotzdem einen Weg ins Freie fanden, wurden mit Schüssen und Stößen in die Flammen zurückgetrieben.

Als ein Teil der glühenden Mauern schon am Einstürzen war, erschien plötzlich auf dem Dach des Gebäudes eine Frau, die zwei Kinder in ihren Armen trug. Sofort begannen ihr die rundum postierten SS-Leute, die sich dabei vor Lachen kaum zu fassen wußten, muntere Ratschläge zu erteilen: sie solle sich nicht weiter zieren und hinunterhüpfen, und dergleichen mehr. Einige Hitlermädchen vom Ambulanzdienst der SS stimmten in die grausige Fröhlichkeit ein.

Die verzweifelte Mutter schleuderte eines der Kinder, um ihm einen leichteren Tod zu bereiten, in die Tiefe. Das andere Kind klammerte sich zu fest an, als daß sie seinen Griff hätte lösen können; so sprang sie schließlich mit ihm ins Feuer.

Eine plötzliche Salve streckte fast im gleichen Augenblick die immer noch lachenden SS-Leute und Hitlermädchen nieder. Am nächsten Tage konnte man in der "Warschauer Zeitung" lesen, daß jüdische Heckenschützen in ihrer viehischen Roheit nicht einmal das Leben deutscher Krankenschwestern schonten.

Dreizehn Kappen

Als nach eingetretener Waffenruhe der erste Transport nordkoreanischer und chinesischer Kriegsgefangener, aus amerikanischen Lagern heimkehrend, an der Demarkationslinie eintraf, bot sich den sie Erwartenden — es waren Mitglieder der gemischten Waffenstillstandskommission, Ärzte, Krankenschwestern, Abordnungen der Bevölkerung und der Freiheitsarmee — ein Bild, das keiner von ihnen so leicht vergessen dürfte.

Die Gefangenen, in Lumpen gekleidet, ausgemergelt, verschmutzt, zum Teil krank und verwundet (in den Lagern verwundet, denn die blessiert in Gefangenschaft Geratenen waren schon vorher ausgetauscht worden), verließen in tiefem Schweigen die Lastwagen, auf denen sie gekommen waren. Schweigend formierten sie sich zu einer Kolonne, schweigend marschierten sie über die Demarkationslinie, wobei die Flügelmänner der ersten Reihen mit ausgestreckten Armen dreizehn zerknitterte Militärkappen trugen. Es waren, wie sich alsbald herumsprach, die Kappen ihrer von den Amerikanern in Verachtung aller Gebote der Menschlichkeit und des Völkerrechts im Kriegsgefangenenlager auf der Insel Jontscho niedergemetzelten Kameraden — das einzige, was von den Habseligkeiten der Ermordeten vor dem Zugriff der beutegierigen Wachmannschaften hatte gerettet werden können.

Es wird berichtet, daß die Zeugen des Vorbeimarsches, soweit es sich freilich um Koreaner und Chinesen handelte, in Tränen ausbrachen. Aber selbst den Offizieren und Reportern aus dem reichsten und barbarischsten Lande der Welt soll bei diesem Anblick der Kaugummi gewissermaßen zwischen den Zähnen erstarrt sein, dergestalt, daß sie, solange die Kolonne in Sichtweite war, verwirrt dastanden, die sonst immer in mahlender Bewegung befindlichen Kiefer wie festgekittet.

Der Kälberstrick

Für jene Gefangenen, die wegen "Aufsässigkeit" oder weil es der Kommandant so bestimmte, in die Arrestzellen, die sogenannten Bunker, geschafft wurden, stellte die Kanzlei des Konzentrationslagers Dachau nicht nur die "Strafkarten", sondern auch gleich die gelben Dienstzettel aus, die an den Landjägerposten (Kopie an die Staatsanwaltschaft zu München) jedesmal dann abgingen, wenn im Lager ein "Abgang durch Selbstmord" zu verzeichnen war.

Die Eintragungen auf den gelben Zetteln glichen einander mit Ausnahme der Personalangaben, der Einlieferungs- und der Sterbedaten vollkommen. Jedesmal hieß es: "In der Zelle erhängt" und "Motiv unbekannt".

Nicht vermerkt wurde hingegen, daß sogar das Corpus delicti jedesmal das gleiche war, ein und derselbe solide Kälberstrick, dessen Schlinge vom häufigen Gebrauch schon ganz glatt und dunkel geworden war. Erst als der — gewissermaßen schon geregelte — Ablauf jener Vorgänge, die zu seiner Benutzung führten, eines Tages gestört wurde, tauchte der Strick in den Akten der Lagerkanzlei auf.

Das war gegen Ende 1933 und kam so:

Wie allen Bunkerinsassen, wurde auch dem Landtagsabgeordneten B…, einem oberbayrischen Holzfäller, der schon bei der Einlieferung von dem gleichfalls aus Oberbayern stammenden Führer der Wachmannschaft mit den Worten "Willkommen auf dem Friedhof!" begrüßt worden war, zusammen mit der Bibel auch der bewußte Strick in die Zelle gebracht. Auf die Frage, was das bedeuten solle, erhielt er zur Antwort, er möge erst einmal den Besuch des Kommandos zur besonderen Verwendung abwarten, dann werde ihm der Zweck dieses "Geschenkes" ohne weiteres klarwerden. Im übrigen bleibe zu erwägen, ob er nicht schon vor Erscheinen des Kommandos z. b. V., das — wie man an dumpfen Schlägen und verzweifelten Schreien hören konnte — soeben in eine der Nachbarzellen zu Besuch gekommen war, von dem Strick Gebrauch machen wolle: lebend komme er ja doch nicht wieder aus dem Bunker hinaus, und es sei immer noch angenehmer, sich sozusagen gesund aufzuhängen als mit zerbrochenen Gliedern oder abgetretenen Hoden.

B… befolgte den Rat, die Schlinge zu benutzen, nicht. Auch nicht, als er nach der ersten Visite des Kommandos z. b. V. schon aus mehreren Kopfwunden blutete, und auch nicht, als er nach einem zweiten und dritten Besuch mit einer abgeschlagenen Niere und ausgestoßenen Zähnen auf dem Boden lag. Da wurde ihm am Abend die Leiche seines Freundes D… der mit ihm zugleich ins Lager eingeliefert worden war, in die Zelle geworfen: zur gefälligen Danachachtung, wie der Wachkommandant bemerkte, und mit der dringenden Mahnung, den Strick nicht länger als bis zum Morgen unbenutzt zu lassen. Welcher Mahnung der Gefangene denn auch pünktlich, wiewohl auf eine ganz unvorhergesehene Weise, nachkam. Fand doch der inspizierende Truppführer, als er gegen Morgen die Zelle betrat, zwar wie erwartet den Strick an eine Stange des Fenstergitters geknüpft, doch hing er nach außen, nicht nach innen, und die Schlinge war leer. Der Gefangene war mit Hilfe des Kälberstricks geflohen.

Das erschossene Schweigen

Im Konzentrationslager P… bei R… im Braunschweigischen erfuhren die Gefangenen, vierhundert Arbeiter aus der Stadt Braunschweig, nur durch einen Zufall, daß Clara Zetkin — die viele von ihnen von Angesicht gekannt hatten und deren letzte, schon im Schatten des Todes gesprochene Reichstagsrede ihnen allen noch gegenwärtig war — vor einer Woche gestorben und in Moskau an der Kremlmauer neben dem Grabmal Lenins bestattet worden sei.

Sie waren sich sogleich darüber einig, daß sie das Andenken der Toten ehren wollten, sie wußten nur nicht wie, und es dauerte einen ganzen Tag, bevor sie zu dem Beschluß kamen, zum Zeichen der Trauer und der Treue den folgenden Tag über kein einziges Wort zu sprechen.

Der Beschluß wurde auf das genaueste durchgeführt, obwohl die Wachmannschaften nichts unversucht ließen, um die Gefangenen, wie sie es nannten, zur Vernunft zu bringen. Nicht einmal der Lagerkommandant, ein Kapitänleutnant a. D., den eine vieljährige erfolgreiche Führerlaufbahn bei den baltischen und oberschlesischen Freikorps, in der Schwarzen Reichswehr und bei der SS eigentlich dazu hätte befähigen müssen, vermochte den Willen der Gefangenen zu brechen. Alles, was er erzielte, war, daß am Spätnachmittag zweiundzwanzig Häftlinge wegen gefährlicher Blutergüsse in die Lazarettbaracke geschafft werden mußten.

So stark war die Wirkung, die von dem Schweigen der Vierhundert ausging, daß nach dem Abendbrot, dessen erster Gang — eine wässerige Graupensuppe — allerdings strafweise gestrichen wurde, so daß die Gefangenen diesmal nur den zweiten Gang, das Horst-Wessel-Lied, verabreicht bekamen, der Lagerkommandant die Posten verdoppeln und die Maschinengewehre auf den Wachttürmen schußfertig machen ließ.

Die Nacht verbrachten SS-Leute, Offiziere und der Kommandant schlaflos, in Stiefeln und Kleidern — ständig mit der Furcht vor einem unheimlichen, jählings über sie hereinbrechenden Unheil im Nacken.

Gegen Morgen ließ der Kapitänleutnant, sei es, daß ihn plötzlich die Furcht übermannte, sei es, daß er sie dadurch zu überwinden glaubte, drei Häftlinge, einen alten Metalldreher, von dem man wußte, er sei schon im Jahre 1917 Spartakist gewesen, und zwei junge Arbeiter, in deren Wohnungen man Flugblätter der Kommunisten gefunden hatte, von den Pritschen holen und, da sie auch vor den Gewehrläufen des Kommandos zur besonderen Verwendung stumm blieben, "auf der Flucht" erschießen.

Dieses hat sich im ersten Jahr des Hitlerschen "Tausendjährigen Reichs", zwölf Jahre vor seinem Fall, zugetragen.

Auf den Hund gekommen

Als die Verbündeten bei ihrer letzten siegreichen Offensive im Frühjahr 1945 auf eines der kleinen und wenig bekannten Konzentrationslager in Mitteldeutschland stießen, fanden sie am Lagereingang eine Hundehütte, aus der ihnen ein seltsam klingendes heiseres Gebell entgegenschallte. Es ergab sich, daß der Hund in der Hütte kein Hund, sondern ein Gefangener — ein ehemaliger Stadtrat der Goethe-Stadt Weimar — war. Die Nazis hatten ihn seit zehn Jahren gezwungen, auf allen vieren herumzulaufen, aus einem Trog zu fressen und die Vorbeikommenden anzubellen, bis er schließlich verlernte, aufrecht zu gehen und wie ein Mensch zu sprechen… als hätten sie es darauf angelegt, der Welt zu beweisen, daß unter ihrer Herrschaft die Menschenwürde, das Menschenrecht und vor allem der deutsche Name schlechterdings auf den Hund kommen mußten.

Welcher Art Zuversicht

Ein junger Malaie, in Singapur beim Ankleben von Flugzetteln der Freiheitsarmee gefaßt und vor ein britisches Kolonialgericht gestellt, antwortete auf die Frage des Richters, eines sicheren Sir Malcolm Whitebait, dessen Name uns ein Berichterstatter der "Straits Settlements Times", dem wir die Kenntnis des ganzen Vorfalls verdanken, überliefert, während er den Angeklagten, da es sich um einen Farbigen handelt, bloß mit dem Gattungsnamen "ein Eingeborener" bezeichnet — der junge Malaie also antwortet auf die Frage, ob er wisse, welches Urteil ihn erwarte: Jawohl, dasselbe, das er in wenigen Jahren schon über den Richter zu sprechen gedenke.

Sir Malcolm, durch die ruhige Selbstverständlichkeit, mit der die Antwort gegeben wird, fast noch mehr beunruhigt und in Zorn versetzt als durch ihren Inhalt, vergißt sich so weit, daß er, entgegen aller Sitte und Tradition von seinem Stuhl hochfahrend, den Eingeborenen anschreit: "Und was, wenn ich dich erschießen lasse, du Schuft?"

Worauf der Malaie mit der gleichen Ruhe wie vorher, ja sogar lächelnd erwidert: "Dann wird das Urteil über Euer Ehren eben von einem meiner Brüder verhängt werden; alle von uns könnt ihr ja doch nicht erschießen lassen, denn von wessen Schweiß und Blut würdet ihr sonst leben in diesem Lande?"

"Widernatürliche Zuversicht" überschreibt der Zeitungsmann, der im übrigen nichts weiter über das Schicksal des Angeklagten mitzuteilen für nötig hält, seinen Bericht. Als ob es in unseren Tagen das Natürliche wäre, am Sieg der Freiheit zu zweifeln und auf die Bestrafung ihrer Würger zu verzichten!

Das Chodengrab

Im oberen Böhmerwald, an den Wegen, die von der Stadt Taus über die bewaldeten Paßhöhen ins Bayrische führen, liegen die Dörfer der chodischen Bauern, deren Vorfahren hier, unter der Fahne mit dem Hundskopf, die Grenzwache des Königreiches Böhmen stellten.

Als an einem Novembertag des Jahres 1938 bekanntwurde, daß auch das Chodenland von der tschechischen Heimat losgerissen und zum Dritten Reich geschlagen werden solle, und das schon am nächsten Morgen, bemächtigte sich der chodischen Bauern eine bittere, zornige Erregung. Beim Klang der Kirchenglocken versammelten sie sich in den Dörfern und Weilern zwischen dem Berg Cerchow und den Babyloner Teichen: Junge und Alte, Männer und Frauen. Die meisten in den bunten Trachten, die sich kaum geändert haben seit den Tagen, in denen die Freibauern des Chodenlandes — die Hundsköpfe — ihre Rechte und Freiheiten gegen die adligen Herren verteidigten, während das übrige Landvolk zu beiden Seiten der Böhmerwaldkette schon längst leibeigen war.

Von allen Kirchtürmen dröhnten die Glocken, als die Bürgermeister den Versammelten vorlasen, daß die Einverleibung des Gebietes kraft freiwilliger Vereinbarung und im Geiste einer friedlichen Neuordnung erfolge, und was dergleichen mehr von den Hitlerschen in den erpreßten und erschwindelten Münchner Vertrag hineingeschrieben worden war. Es hatte aber seit Menschengedenken zwischen den Bayern auf der einen und den Choden auf der andern Seite der alten Grenze keinen größeren Streit gegeben, der eine Neuordnung notwendig gemacht hätte; und erst seit ihrer Einführung wuchs im Chodenland die Saat eines unversöhnlichen Hasses gegen den deutschen Eindringling und Bedrücker.

Die Verlesung des Grenzvertrages wurde stehend angehört, dann jedoch knieten alle nieder und sangen gemeinsam das alte Hussitenlied "Die ihr Gottes Streiter seid". Auch schworen sie, weder ihre Sprache noch ihre Freiheit je zu vergessen und in steinerner Ruhe auf den Tag zu warten, der das Verlorene wiederbringen würde.

Als am nächsten Morgen die Vortruppen des Reichsheeres in die chodischen Dörfer einmarschierten, fanden sie die Gassen leer, die Hoftüren verschlossen, die Schornsteine rauchlos und die Kirchenglocken ohne Klöppel. So unheimlich erschienen den Soldaten die Siedlungen, daß der Gesang auf ihren Lippen erstarb. Die Bevölkerung wurde nicht, wie ursprünglich geplant, dazu verhalten, Fahnen auszuhängen und die Häuser mit Grün zu schmücken. Nur in Klenec, dem Hauptort des Chodenlandes, ließ der Kommandeur des einmarschierenden Truppenteils den Bürgermeister durch eine Patrouille holen und befahl ihm, das Gemeindeamt zu beflaggen. Der Bürgermeister ging und bängte die Hundskopffahne aus. Er wurde sofort verhaftet und abgeführt. Als ein Feldwebel die Fahne entfernen wollte, erschien plötzlich auf dem Balkon, an dem der Flaggenstock befestigt war, die Mutter des Bürgermeisters, eine Frau von mehr als neunzig Jahren, riß das Fahnentuch an sich und rief über den Markt, auf dem sich unterdessen eine große Menschenmenge versammelt hatte: "Laßt mir die Fahne, ich will mir daraus mein Leichenhemd machen!" Nach diesen Worten brach sie zusammen.

Die Menge unten kniete nieder wie am Vortage und stimmte das Lied von den Gottesstreitern an, doch kaum hatte der Gesang begonnen, als vom Kommandeur der deutschen Truppe Befehl gegeben wurde, den Platz zu räumen. Einige Bauern, die nicht schnell genug gehorchten, wurden niedergeschlagen, andere verhaftet. Auch die Mutter des Bürgermeisters sollte gefangengesetzt werden, doch stellte sich heraus, daß sie tot war. Ihre Finger hatten sich so fest in das Tuch der Fahne gekrallt, daß Gewalt angewandt werden mußte, um den Griff zu lösen.

Das Begräbnis fand, auf Anordnung der Gestapo, in aller Heimlichkeit statt; den Verwandten wurde verboten, das Grab durch einen Stein oder sonstwie zu schmücken. Allein schon am nächsten Tage lagen Blumen auf dem Hügel. Nun wurde ein Doppelposten vor dem Grab aufgestellt. "Die Nazis mußten der Alten eine Ehrenwache bewilligen!" flüsterten sich die Leute in Klenec zu, und aus allen andern chodischen Dörfern kamen die Bauern und Bäuerinnen, um der Toten die Ehre zu erweisen. Daraufhin ließ die Gestapo den Sarg ausgraben und wegschaffen; der Hügel wurde glattgestampft; der Gemeindetrommler mußte bekanntmachen, was geschehen war. Dabei brachen ihm, zufällig oder weil er so wütend auf das Kalbfell schlug, beide Schlegel. Seit jenem Tag, so geht die Rede in den chodischen Dörfern, streifte die Alte im Lande umher und schürte den Haß und wartete auf den Tag, da sie sich wieder in ihr Grab legen konnte auf freiem chodischem Boden.

Der Flohzirkus

Francois-Marie Dudillier, ein etwas heruntergekommener Pariser Bürger, der sich in seiner Jugend als Maler und Photograph, späterhin als Besitzer eines Flohzirkus fortgebracht hatte, schien weder durch seine Veranlagung noch durch sein Äußeres — er hatte eine Gurkennase und war schwach auf den Beinen — dazu vorherbestimmt, als Held zu enden. Und wenn er, durch irgendein Wunder wieder zum Leben erweckt, darüber befragt werden könnte, ob er sich für einen Helden gehalten, so ist eins gegen zehn zu wetten, daß er mit dem gleichen Wörtchen "merde" antworten würde, das er den SS-Leuten entgegenschleuderte, als sie ihn an einem Frühlingsmorgen des Jahres 1943 zu seinem letzten Gang abholten.

Dudillier hatte sich nie um die Ereignisse in der großen Welt gekümmert. Den Krieg schien er mehr für eine Störung als für ein Unglück zu halten, und auch nach der Besetzung von Paris durch die Deutschen versuchte er, sein Dasein in der altgewohnten Weise fortzuführen. Gleichwohl mußte auch in ihm ein Funken jener stolzen Flamme glühen, die nach dem Zusammenbruch Frankreichs in den Herzen seiner besten Söhne hochgeschlagen ist, denn die Nachbarn fanden eines Tages die Bude, in der Dudilliers Flohzirkusvorstellungen stattfanden, geschlossen. An der Türe klebte ein Zettel mit der Mitteilung, daß Dudillier nicht mehr imstande sei, seine Flöhe zu ernähren, weil die Nazis den Franzosen auch das letzte Tröpfchen Blut aussaugten; daran war die Aufforderung geknüpft, die frechen Eindringlinge aus dem Lande zu jagen.

Dudillier wurde als aufrührerisches Element verhaftet, in das Besatzungsgefängnis von Vincennes gebracht und bei der ersten Gelegenheit als Geisel erschossen.

Land des Lächelns

Als in der Connecticut Avenue, der elegantesten Geschäftsstraße von Washington, ein aus dem zweiten Weitkrieg erblindet und mit stark verstümmeltem Gesicht zurückgekehrter Invalide auftauchte, der geklöppelte Spitzen eigener Erzeugung feilbot, erregte er ebensoviel unliebsames wie wohlgefälliges Aufsehen — letzteres dank einem metallenen Brustschild, das mit zwei Sternenbannern, dem Wappen der "Handelskammer für jüngere Kaufleute", und der Inschrift: "Es hätte auch schlimmer kommen können!" geschmückt war.

Von einem Berichterstatter der Zeitung "Star" befragt, auf welche Weise er es fertigbringe, sich mit soviel Humor über sein Unglück zu erheben, wußte der Invalide zunächst nicht, was er antworten solle, und verwies den Reporter schließlich an einen gewissen MacLaughlin, seines Zeichens Juniorchef eines Bestattungsunternehmens und Vorstandsmitglied der Handelskammer, von dem er das Schild bekommen habe: der könne sicher die gewünschte Auskunft erteilen.

Das konnte MacLaughlin in der Tat. Nachdem er sich als Vater der ganzen Idee zu erkennen gegeben, erklärte er dem Zeitungsmann, daß die Kammer das bewußte Brustschild in etwa zweihundert Exemplaren habe anfertigen und an alle durch ihre Kriegsverletzungen am richtigen Lächeln gehinderten Straßenhändler verteilen lassen, um sie trotz ihrer Behinderung instand zu setzen, das erste und wichtigste Gebot des Dienstes am Kunden: "Keep smiling — Lächle ohne Unterlaß!" wenigstens indirekt, nämlich durch Hervorrufung eines Schmunzeins beim Käufer, zu erfüllen.

Das Mark der Ehre

Im Sommer 1938 kehrte aus Spanien, wo er zuerst in der Armee des Generals Franco und später, als ihm die Augen aufgegangen waren, in den Reihen des Volksheeres gekämpft hatte, der Student Franz Josef Günther in seine nordböhmische Heimat zurück. Von der ersten Stunde an verfolgten ihn seine früheren Kameraden aus der Sudetendeutschen Partei mit einem wilden Haß, und er entging nur wie durch ein Wunder den Anschlägen der geheimen SS, die in Günthers Heimatort von seinem eigenen Bruder geführt wurde. Dennoch half Günther, als nach dem mißglückten Henlein-Putsch im September viele der Aufständischen dem Beispiel ihres sofort über die Landesgrenze geflüchteten Führers folgten, den zurückgelassenen Frauen und Kindern und bürgte insbesondere für die Braut seines Bruders. Als aber kurz darauf das Sudetengebiet von reichsdeutschen Truppen besetzt wurde, mußte er bei Nacht und Nebel ins Tschechische flüchten, weil anders ihn die Gestapo verhaftet und in ein Konzentrationslager geschafft hätte.

Er kam bei Freunden in Prag unter, und er hätte nicht zu klagen gehabt, wäre nicht das Heimweh gewesen, das an ihm zehrte wie eine Krankheit. Mehrmals konnten ihn die Freunde nur mit Mühe davon abhalten, heimlich in die verlorene Heimat zurückzukehren. Als er jedoch einen Brief von seinem Bruder erhielt, worin es hieß, das Vergangene solle vergessen sein und das großdeutsche Vaterland öffne allen verirrten Volksgenossen großmütig seine Tore, gab es für Günther kein Halten mehr. Entgegen den dringenden Vorstellungen der Freunde reiste er noch in der gleichen Woche ab, nachdem er zuvor den Bruder von seinem Entschluß, zurückzukehren, verständigt hatte.

Der Bruder erwartete ihn an der Zollschranke des Grenzortes. Er trug die Uniform eines SS-Führers, um, wie er sagte Franz Josef ein Gefühl besonderer Sicherheit zu geben. Arm in Arm begaben sich die Brüder in das Zollhaus, von dessen Vorderfront ein eichenlaubumkränztes Schild verkündete-"Ein Volk, ein Reich, ein Führer — die Treue ist das Mark der Ehre!"

Kaum hatte Günther die Schwelle überschritten, wurde er von einem Kommissar der Geheimen Staatspolizei verhaftet. Sein Bruder führte beim Verhör den ersten Schlag gegen ihn. Als Schwerverletzter, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, wurde Franz Josef Günther am nächsten Tag in das Krankenhaus von Komotau eingeliefert. Der Chefarzt erhielt von der Gestapo strenge Weisung, den Halbtoten scharf bewachen zu lassen, weil das Krankenhaus in diesem Falle nur die Durchgangsstation zum Konzentrationslager darstelle. Ein Wärter und eine Krankenschwester hielten abwechselnd Wache an Günthers Bett. Trotzdem gelang es ihm, der Gestapo auf seine Art zu entkommen. Als die Krankenschwester für eine kurze Zeit übermüdet einnickte, schnitt Günther sich die Pulsadern auf. Mit dem Blut schrieb er auf die Platte des Nachtkästchens: "Die Treue ist das Mark der Ehre."

Ruhm

Als der Leutnant Charles P. Hill, Pilot eines von koreanischen Scharfschützen über dem Moranbongebirge zur Strecke gebrachten Jagdflugzeuges, gefragt wurde, warum er eine vor ihrer Schule zur Maifeier versammelte Kinderschar beschossen habe, entgegnete er nach einigem Zögern und Schlottern, dies sei geschehen, weil er sich irgendwie habe auszeichnen wollen. Unter den Papieren Hills, die aus den Trümmern des Flugzeuges geborgen wurden, fand sich ein nicht zu Ende geschriebener Brief an seine Braut, worin es hieß: "Ich beneide den Obersten Lewis um den Ruhm, die erste Atombombe auf Hiroshima abgeworfen zu haben, und ich wünsche mir sehnlich, einer ähnlichen Ehre teilhaftig zu werden, sowie die Zeit für die Wasserstoffbombe gekommen ist."

Von Ruhm und Ehre war auch in einem Gespräch die Rede, das ein mir bekannter Pekinger Schriftsteller an der Front in Korea mit einem Landsmann führte, einem Bauern aus Ssetschuan, der sich zu den Volksfreiwilligen gemeldet hatte. Der Ssetschuaner kauerte, als mein Gewährsmann ihn ansprach, in einem notdürftig mit dürren Zweigen gedeckten Unterstand und aß Maisbrei aus einer verbeulten Konservendose. Auf die Frage, wie es ihm gehe, erwiderte er: "Schlecht, wie du siehst. Ich sitze in diesem nassen Loch, fern von meiner sonnigen Heimat, meiner Frau und meinen zwei kleinen Söhnen. An den Schuhen habe ich statt der Sohlen nur Fetzen, meinen Mantel hat ein verwundeter Genosse bekommen, und dieser kalte Brei ohne Salz ist meine erste Mahlzeit seit gestern mittag… Aber", so fügte er hinzu, "ich habe auch nichts Besseres erwartet. Und ich bin hier, damit künftighin Väter nicht mehr ihre kleinen Söhne verlassen müssen, um in den Krieg zu ziehen; damit niemand mehr in einem solchen Schützenloch zu hocken braucht, anstatt nützliche Arbeit zu leisten; und damit sich jeder Mensch guten Willens an jedem Tag seinen Magen füllen kann, nicht nur mit ungesalzenem Maisbrei, sondern mit Reis und Schweinefleisch und Bambussprossen und wonach er sonst noch Verlangen trägt."

Als der Schriftsteller wissen wollte, ob der andere einen besonderen Wunsch habe, sagte dieser: "Nicht, daß ich wüßte… oder doch, ich möchte mir aus diesem Feldzug soviel nach Hause mitbringen." Dabei hob er seine Rechte und formte mit Daumen und Zeigefinger einen kleinen Kreis.

"Das verstehe ich nicht", meinte der Schriftsteller, "das mußt du mir erklären!"

"Was ist da viel zu verstehen und zu erklären?" lautete die Antwort. "Ich wünsche mir eine Gedenkmedaille, auf der steht: er war mit dabei, als die Unabhängigkeit seines Volks und der Friede der Welt verteidigt wurden."

Tomatensalat

Im Winter 1934 trafen sich des öfteren in einer abgelegenen Riesengebirgsbaude Genossen aus dem Reich und Genossen aus dem Böhmischen. Die einen brachten Nachrichten, die andern Zeitungen und Flugschriften. Man blieb nur eine Nacht beisammen, aber in den wenigen Stunden wurde viel gesprochen. Eine der Geschichten habe ich aufgeschrieben. Der sie erzählte, war ein junger sächsischer Textilarbeiter.

Hier ist sie:

"Was hatten wir uns nicht bemüht, unter den Arbeitsdienstlern des Lagers M…, wo der Drill besonders scharf und das Essen besonders schlecht war, eine Protestkundgebung zustande zu bringen. Vergeblich. Die Jungen, halbverhungerte Arbeitslose und angehende Studenten, mißtrauten einander zu sehr, und die Lagerleitung kämmte die Mannschaft immer wieder durch, sowie sie den geringsten Verdacht schöpfte. Bis sich die Sache mit dem Tomatensalat ereignete. Sie wäre freilich wie das Hornberger Schießen ausgegangen, wenn wir nicht den kleinen L. unter uns gehabt hätten. So aber ging sie gut aus.

Also eines Morgens stand auf dem Schwarzen Brett: "Abendessen: Tomatensalat mit Wurst" Wahrscheinlich hatte der Küchenbulle dieses Gericht bloß deshalb auf den Speisezettel gesetzt, weil ausländischer Journalistenbesuch angesagt war, denn als sich herausstellte, daß die Zeitungsleute nur das Nachbarlager besuchen würden, gab es wie gewöhnlich Mehlsuppe und Kartoffeln in saurer Tunke; und wahrscheinlich wären wir nach einigem Gemurre soweit gewesen, das Essen wie gewöhnlich herunterzuwürgen, hätte den Bullen nicht der Teufel geritten. Er beschwerte sich beim Lagerleiter über die Unzufriedenheit der Mannschaft, und der Alte ließ daraufhin die Züge strafweise antreten und hielt uns eine Standpauke. Was uns eigentlich einfalle, fragte er, vor der Front stehend, und spielte mit seiner Reitgerte.,In der Stadt wäret ihr verhungert, Lumpengesindel. Seid froh, daß man euch zu Menschen macht! Ihr habt Licht, Luft, Sonne, Essen und noch zwanzig Pfennig am Tag. Das ist mehr, als ihr Tagediebe verdient!" Damit ließ er uns wegtreten, doch zeigten wir uns dabei zu schlapp, vielleicht schien es ihm auch nur, daß wir sein Kommando nicht schneidig genug ausführten, kurz, er pfiff uns neuerdings zusammen und hetzte die Abteilung so lange rund um die Baracken, bis jedermann die Zunge heraushing. Dann befahl er:,SingenP Zuerst schwiegen alle, doch als er drohte, uns bis zum nächsten Morgen um das Lager herummarschieren zu lassen, wenn nicht gesungen würde, begannen die ersten Reihen mit dem Lied: "Annemarie, wo geht die Reise hin?", nur daß zwischendurch, statt des richtigen Kehrreims, gegrölt wurde: "Mein Sohn ist Arbeitsdienstler, Annemarie! Er ist ein Hungerkünstler, Annemarie!"

Da unterdessen Leute aus der Stadt am Drahtzaun stehengeblieben waren, um zuzuhören, schickte uns Schweinebauch — so nannten wir den Lagerleiter unter uns — schnell in die Baracken. Aber am nächsten Tag, verhieß er, sollten wir dafür Blut und Eiter schwitzen.

Am Morgen stand mit großen Buchstaben auf dem Schwarzen Brett: "Wir schwitzen Blut und Eiter, aber unsern Tomatensalat frißt der Küchenbulle!" Alle stauten sich davor, und der Diensthabende brachte erst Ordnung in die Züge, nachdem er versprochen hatte, daß es mittags wirklich Tomaten geben werde. Allein anstelle der Tomaten bekamen wir nur ein paar halbwelke Salatköpfe auf den Tisch. Jetzt begannen ganze Gruppen im Chor zu rufen: "Tomaten! Tomaten!" Und als der Alte gelaufen kam, schrie jemand: "Wir haben Licht, Luft, Sonne — aber unsere Tomaten frißt der Bulle!" Es setzte Strafexerzieren, die Urlaube wurden gesperrt, und niemand sollte mehr Ausgangserlaubnis kriegen. Auch gab es abends nur Bohnen, und die waren dumpfig.

Die Jungen waren erbittert wie noch nie. Jemand schlug vor: "Wir rücken morgen einfach nicht aus!" Aber die meisten hatten Angst, die Lagerleitung werde sie wegen Befehlsverweigerung ins KZ stecken. Und so schien es, als würde die Wut verpuffen: viel Geschrei und wenig Wolle. Da sagte der kleine L., von dem wir eigentlich nicht sehr viel hielten, weil er immer geraten hatte, man müsse die Jungen "am Magen packen": "Gut, Kameraden, rücken wir morgen aus wie alle Tage, aber arbeiten wir nur so rasch, wie unsere Suppe gut ist!" Alle lachten, aber keiner war dagegen, und als wir am nächsten Vormittag auf der Baustelle waren, schaufelten wir die Loren nur halb voll und ließen auch bloß sechzehn abrollen statt zweiunddreißig. Der Lagerleiter machte Krach und drohte mit dem Entzug der Löhnung, aber das hatte nur zur Folge, daß die Loren plötzlich Kreideaufschriften trugen: "Ohne Tomatensalat hab ich keine Kraft!" oder,Ich laufe nur richtig, wenn ich richtig Tomaten zu futtern kriege!" und darunter war eine Schnecke gemalt.

Wir mußten nach dem Abendessen strafexerzieren, drei Stunden lang, doch die Namen der "Rädelsführer" bekam Schweinebauch nicht heraus.

Am nächsten Tag waren die Loren wieder nur halb voll, und es stand auf ihnen: "Gemeinnutz geht vor Eigennutz — aber Tomaten kriegt nur die Leitung!" Schweinebauch ließ uns so lange in der prallen Sonne strammstehen, bis einige umfielen und in die Lazarettbaracke geschafft werden mußten. Dann bekam jeder zehnte Mann Arrest. Aber niemand verriet etwas. Auf den Loren stand: "Unsere Ehre ist Treue" verpfiffen wird niemand!"

Am Abend kam ein Fahndungskommando der SS und durchsuchte alle Spinde und Koffer. Jeder von uns wurde einzeln verhört, doch es kam nichts heraus. Als das Fahndungskommando unverrichteterdinge abzog, baumelte vom Torbalken herab eine halb verfaulte Tomate.

Drei Tage später wurde das Lager aufgelöst."

Das Mittagsbier

Ein ganzes Jahr lang lieferte die unter schärfster Gestapobewachung stehende Brünner Waffenfabrik Haubitzenrohre, die entweder schon beim Probeschießen oder an der Front nach wenigen Schüssen außer Dienst gestellt werden mußten.

Die Nazis, denen es weder durch Drohungen noch durch Spitzelei gelingen wollte, in Erfahrung zu bringen, wie diese Sabotage — denn um nichts anderes konnte es sich handeln — bewerkstelligt wurde, gelangten schließlich durch eine Verkettung unglücklicher Zufälle auf die richtige Spur.

Der Trick, mittels dessen die Rohre unbrauchbar gemacht wurden, war ebenso einfach wie sinnreich. Die Arbeiter spritzten bei ihrem Mittagsimbiß, den sie wegen der von den Nazis verfügten Kürzung der Arbeitspause in den Werkstätten selbst einnahmen, jedesmal ein wenig Bierschaum auf die weißglühenden Kanonenläufe, woraufhin der Stahl, da er durch ungleichmäßiges Auskühlen seine Elastizität einbüßte, dem Druck der Abschußgase nicht mehr gewachsen war.

Der leitende Gestapokommissar ließ ein halbes Hundert Arbeiter erschießen und die doppelte Anzahl in die Konzentrationslager von Oslavan und Dachau schaffen, aber er wußte, und auch die Kameraden der Erschossenen wußten: gefährlicher als das auf die glühenden Haubitzenläufe gespritzte Mittagsbier war der Umstand, daß jeder einzelne der nahezu neuntausend Mann starken Belegschaft von diesem Geheimnis Kenntnis gehabt und es, aller Gefahr zum Trotz, bei sich behalten hatte.

Der letzte Wunsch

Bei der Hinrichtung von vier Altonaer Arbeitern, die — bald nach Hitlers Machtantritt — zum Tode verurteilt worden waren, weil sie sich gegen schießende SA-Männer mit Schüssen gewehrt hatten, kam es zu einem Zwischenfall, von dem noch lange in allen Hafenkneipen, Fabrikkantinen und Mietskasernen Hamburgs gesprochen wurde.

Als man unmittelbar vor der Hinrichtung, zu der fünfundsiebzig Gefangene aus ihren Zellen geholt wurden, um das Sterben ihrer Genossen mit anzusehen, den jüngsten der Verurteilten, einen Neunzehnjährigen, fragte, ob er noch einen Wunsch habe, sagte er: Ja, den habe er, er wolle sich noch einmal richtig recken, man möge ihm doch die Handfesseln lockern.

Der Wachtmeister nahm ihm die Eisen ab. Der junge Arbeiter reckte sich. Mit zum Himmel erhobenen Fäusten stand er einen Augenblick still da; dann schlug er blitzschnell, bevor noch die Umstehenden begriffen, was vorging, dem SA-Führer, der die Wachmannschaft kommandierte, die Vorderzähne ein.

Das Wort eines Gentleman

Als oppositionelle Abgeordnete im britischen Unterhaus den Fall des Obersten Ewart Grogan zur Sprache brachten, der in seinem Bericht an den Gesetzgebenden Rat der Kolonie Kenya empfohlen hatte, weiterhin Häftlinge des Konzentrationslagers Thomson Falls öffentlich, in Bündeln zu fünfundzwanzig Stück, hängen zu lassen, um ihren — gegen den Raub von Land und Menschen durch die weißen Pflanzer rebellierenden — Brüdern vom Stamme der Kikuyuneger eine Lehre zu erteilen, erhob sich der Kolonialminister, Sir Oliver Littleton, und erklärte mit der Miene gekränkter Unschuld: Erstens entspreche die Nachricht über angebliche Greuel in Thomson Falls keineswegs der Wahrheit; zweitens habe der Gouverneur von Kenya bereits aus eigenem gewisse vereinzelte Übergriffe der Lagerleitung abgestellt; und drittens sei, ohne daß es erst einer Anfrage der Opposition bedurft hätte, vom Kolonialministerium eine Untersuchung der Angelegenheit angeordnet worden. Allfällige Unzuträglichkeiten und Mißstände würden, darauf gebe er dem Hohen Hause sein Wort als Gentleman, sofort und unnachsichtig gesühnt werden.

In der Tat wurde, wie einer späteren Mitteilung des Kolonialministeriums zu entnehmen ist, der Oberst Grogan seiner Funktion als Vorgesetzter der Lagerleitung von Thomson Falls enthoben; er hat jetzt die Aufsicht über die Polizei in den Reservationen der Kikuyus. Auch müssen hinfort die Exekutionen in Thomson Falls einzeln und auf einem dafür entsprechend hergerichteten Platz — das ist hinter einem mindestens fünf Fuß drei Zoll hohen Bretterzaun — vorgenommen werden.

Ein Brief

Genossen, ich habe Euch eine Mitteilung zu machen. Sie betrifft meinen Bruder Martin H…, von dem Ihr wißt, daß er der Geheimen Staatspolizei eine große Zahl guter Genossen ausgeliefert hat.

Eigentlich müßte ich Euch aufsuchen. Mündlich ließe sich viel besser berichten, wie alles gekommen ist und was sich gestern ereignet hat, aber das geht nicht, weil ich Euch nicht gefährden darf und auch, weil ich, für die nächste Zeit wenigstens, verschwinden muß, nach dem, was gestern geschehen ist.

Deshalb schreibe ich diesen Brief. Ich will damit beginnen, wie Martin zum Spitzel gepreßt worden ist. Er ist es nur geworden, weil die Gestapo ihn dazu gemacht hat, auf eine Weise, die ich leider nur sehr unvollkommen schildern kann — aber ich glaube, auch diese unvollkommene Schilderung genügt: nicht um Martin zu entschuldigen, das soll und kann nicht geschehen, sondern nur um den Fall klarzustellen und aus ihm zu lernen.

Wie Ihr wißt, konnte Martin nach dem Reichstagsbrand sich nicht mehr in seinem Bezirk halten, er war dort viel zu bekannt. Er verzog nach R…, wo er die ersten illegalen Flugblätter herstellte und die unterirdische Presse organisierte. Als einige führende Genossen im Nachbarbezirk verhaftet wurden, übernahm er auch dort die Leitung der Zeitungsarbeit. Es klappte alles sehr gut, bis die Geheimdruckerei in der S… Straße aufflog und daraufhin die Massenhaussuchungen einsetzten. Martin ist damals mit knapper Not der Verhaftung entgangen, aber sie kannten ihn seitdem und waren ständig hinter ihm her. Trotzdem hätte er sich noch eine ganze Weile halten können, wenn er nicht von einem ehemaligen Schulkameraden verpfiffen worden wäre.

Als sie ihn verhafteten, hatte er falsche Papiere bei sich, aber sie bekamen heraus, wer er war und daß er von seiner früheren Arbeit her Hunderte von Genossen kennen mußte, und sie verlangten sofort, er solle ihnen Adressen nennen und Verhaftete identifizieren. Da er nichts aussagen wollte, schafften sie ihn in die General-Pape-Straße und behielten ihn dort drei Tage lang im Keller. Meine Frau hat ihn zwei Wochen später im Krankenhaus besuchen dürfen; er war kaum zu erkennen, ganz aufgedunsen. Seine Wäsche, die sie mitbrachte, konnte man nicht ansehen, es war ein Grauen.

Sie haben ihn dann sechs Wochen eingesperrt gehalten und immerzu verhört, Tag und Nacht, mit ganz kurzen Pausen. Er war schließlich schon so auf dem Hund, daß sie Angst bekamen, er könnte ihnen verrecken. Das wollten sie nicht, sie hatten noch Verschiedenes mit ihm vor. Sie ließen ihn frei, wahrscheinlich hofften sie herauszufinden, mit wem er Verbindung aufnahm, aber das merkte er und blieb einfach zu Hause. Auch war er so hergenommen, daß er sich zuerst einmal etwas erholen mußte. Gerade als er halbwegs beisammen war und auch die erste Verbindung mit den Genossen hergestellt hatte, holten sie ihn wieder, und alles fing von neuem an: General-Pape-Straße, Krankenhaus, Gestapo. Als sie mir auf dem Präsidium sagten, er sitze in Tempelhof im Columbiahaus, dachte ich, ich sehe ihn nicht wieder. Aber sie machten ihn doch nicht fertig, sie hofften immer noch, aus ihm herauszubekommen, was er wußte. Er sagte mir später, er wisse selbst nicht, wie er das alles ausgehalten habe, die Prügel und die Verhöre und das stundenlange Strammstehen. Er muß in einem Zustand gewesen sein, wie er bei Todkranken eintritt. Er sagte, er habe das Gefühl gehabt, als sei er schon vom Leben weggeschwommen, aber noch nicht am anderen Ufer angelangt.

Dann kamen sie auf einen neuen Gedanken. Sie nahmen ihn zu Haussuchungen und Fahndungen mit. Immer, wenn jemand verhaftet oder Material ausgehoben wurde, mußte Martin mitfahren, vorn, neben dem Chauffeur, so daß es aussah, als machte er den "Fremdenführer" für die Fahndungskommandos.

Er hat immer wieder, zuletzt gestern noch, beteuert, daß er unzählige Kassiber an die Genossen schickte, um sie aufzuklären, aber seine Botschaften wurden offenbar abgefangen. Sie ließen ihn auch bei den Verhören der Verhafteten draußen vor der Tür des Vernehmungszimmers stehen und führten die Gefangenen an ihm vorbei; drinnen sagte man ihnen dann, sie sollten nicht erst leugnen, sie seien von einem früheren Genossen schon so belastet worden, daß nur ein volles Geständnis sie retten könne. Auch bekam Martin eine neue Kluft, piekfein, richtig wie ein Spitzel, der genug Geld macht. Ein paar Male versuchte er Krach zu schlagen, um gefangenen Genossen zu zeigen, was gespielt wurde, aber dann taten die Beamten so, als sei das nur eine verabredete Komödie. Auch war der Verdacht gegen Martin schon zu groß, und zudem kam noch ein Flugblatt heraus, in dem stand, daß er ein gekaufter Spitzel sei. Vielleicht war das Flugblatt von der Gestapo gemacht, sie soll ja ähnliche Dinge schon gedreht haben, vielleicht auch nicht. Jedenfalls wollte niemand von unseren Leuten etwas mit ihm zu tun haben, als er plötzlich freigelassen wurde. Sie hatten recht, sie mußten mißtrauisch und vorsichtig sein; er war verdächtig, man konnte seine Erklärungen nicht nachprüfen, man mußte nach dem Grundsatz handeln, daß es tausendmal besser ist, einem einzelnen unrecht zu tun als die Organisation zu gefährden. Er sagte mir gestern, er habe das damals selbst eingesehen und habe es trotzdem nicht ertragen können, als Spitzel behandelt zu werden. Deshalb sei er so verstört gewesen, wie vor den Kopf geschlagen. Aber wer konnte damals mit Sicherheit sagen, ob er so verstört war, weil er unter dem Verdacht litt, oder weil er ein böses Gewissen hatte? Ich selbst kannte mich in ihm nicht aus. Ich wollte ihm glauben, aber da kam zum Beispiel einer mit einer Hundemarke und brachte Geld für ihn in einem Umschlag. Martin rührte das Geld nicht an, aber das konnte ja auch eine Finte sein. Es war überhaupt schwer zu sagen, was Mache war und was echt. Ich wußte es nicht. Ich fühlte mich wie in einem Netz. Es war die schwerste Zeit meines Lebens.

Martin wollte über die Grenze gehen, aber sie beobachteten ihn zu gut und holten ihn vom Bahnhof weg. Und dann ließen sie ihn von neuem auf den Flitzern der Fahndungskommandos mitfahren. Er war dabei, als die halbe Unterbezirksleitung M… ausgehoben wurde, alles alte Freunde von ihm. Auch begannen sie ihn abermals stundenlang zu verhören. Sie sagten ihm immer wieder: "Lassen Sie doch endlich die Zicken! Reden Sie doch! Ihr Schweigen hat ja doch keinen Sinn mehr! Ihre Genossen halten Sie für einen Schuft. Von denen will keiner mehr etwas von Ihnen wissen. Die erschlagen Sie bei der nächsten Gelegenheit wie einen tollen Hund. Für die Partei sind Sie ein Provokateur, ob Sie uns geholfen haben oder nicht. Nehmen Sie also Vernunft an und arbeiten Sie für uns!" So ging das immerwährend: Verhöre, Zureden, Prügel. Sie brachten ihm unsere schwarzen Listen, da war er als Spitzel eingetragen. Sie brachten ihm auch Zellenzeitungen, in denen vor ihm gewarnt wurde. Und dann sagten sie ihm, sie würden ihn erschießen, aber sie knallten ihn nicht nieder, sondern redeten auf ihn ein, nächtelang: daß er ja nur geschwiegen habe, um seine proletarische Ehre rein zu halten, daß aber diese Ehre ja doch hin sei, und daß er, wenn sie ihn fertigmachten, auch durch den Tod nicht rein gewaschen werde; er krepiere als Verräter!

Sie haben ihn schließlich kleingekriegt. Er gestand mir gestern, er sehe ein, daß er sich hätte erschlagen lassen müssen. Aber er war damals schon zu zermürbt und zerbrochen. Er hat dann angefangen, ihnen Angaben zu machen, hat Decknamen preisgegeben und Adressen genannt, aber das alles hatte fast keinen Wert mehr für sie, er war schon zu lange ohne Verbindung mit der Organisation gewesen. Doch dann steckten sie ihn ins Columbiahaus zum Erkennungsdienst. Dort bekam er alle Gefangenen vorgeführt, von denen man nicht wußte, wer sie waren, und er fischte die heraus, die er kannte. Ihr wißt, er kannte sehr viele. Nach Hause kam er nicht mehr. Er wohnte bei einem Kriminalkommissar, irgendwo draußen vor der Stadt.

Gestern kam er unerwartet zu mir. Ich wollte ihm nicht öffnen, aber er ging nicht von der Tür, und so ließ ich ihn endlich ein. Er hat mir alles erzählt. Es war wie ein Guß. Es war unsagbar qualvoll. Für ihn und für mich. Zum Schluß wußte ich: er hat sich gewehrt, aber sie sind stärker gewesen, sie haben ihn zerbrochen. Ich wußte aber auch, daß ihn das nicht rechtfertigen kann, daß wir stärker sein müssen als sie; daß er recht hat: er ist verpfuscht und verdorben, es ist ihm nicht zu helfen, und er darf nicht am Leben bleiben.

Ich habe den Revolver genommen, seinen eigenen Revolver, und habe ihn erschossen. Seinen Ausweis und fünfzig Mark, die er in der Tasche hatte, lege ich bei.

Ich weiß, daß ich eigenmächtig gehandelt habe und von Euch keine Unterstützung beanspruchen kann, und ich beanspruche sie auch nicht. Ich hoffe, ich komme so durch. Ich werde mich, sobald es nur möglich ist, bei der Partei melden, um mich zu verantworten. Die fünfzig Mark bitte ich der Roten Hilfe zu übergeben. In den Zeitungen sollt Ihr schreiben, daß Martin Selbstmord begangen hat, aus Furcht oder aus schlechtem Gewissen. Er war ein zerschlagener Mensch. Das darf, wie ich schon zu Anfang schrieb, keine Entschuldigung für ihn sein, das soll nur den Fall klarstellen. Ich nehme an, er ist jetzt ganz klar.

1934 Hermann H…

Griechische Anekdote

Sir Ronald Scobie, Kommandeur der britischen Truppen in Griechenland, ist ein persönlicher Freund Winston Churchills und wie der letztere ein feiner Kenner Shakespeares.

Aus einer Zeitungsnotiz

Noch immer riecht es hier nach Blut; alle Wohlgerüche Arabiens würden diese kleine Hand nicht wohlriechend machen.

Shakespeare, "Macbeth" V, 1

Partisanen der griechischen Freiheitsarmee (die das Land von den Deutschen befreit hatte, lange bevor der Generalleutnant Sir Ronald Scobie mit einigen britischen Truppen und der aus königstreuen Halsabschneidern gebildeten "Hellenischen Brigade" in Attika landete, um, wie er später verkündete, den "Gebirgsbanditen" Ordnung und Gesetzmäßigkeit beizubringen) pflanzten auf dem Grabe eines von Scobies Soldaten getöteten Kameraden einen Stein mit folgender Inschrift auf: "Leonidas und Sokrates lehrten ihn die Liebe zur Freiheit, Scobie brachte ihm Ordnung und Gesetzmäßigkeit bei."

Sie überlieferten damit der Nachwelt zwar nicht den Namen eines großen, wohl aber den eines kleinen Mannes, so wie manchmal, eingeschlossen in einen Bernsteintropfen, ein winziges Insekt für späte Generationen aufbewahrt bleibt.

Drei bunte Murmeln

Den Rückzug der Arbeiter aus dem seit einem halben Tag unter schwerstem Geschützfeuer liegenden Schlingerhof im 21. Wiener Bezirk deckte ein einziges Maschinengewehr, das die angreifenden Regierungstruppen, zweihundert Soldaten und doppelt soviel Heimwehrmänner mit zahlreichen Minenwerfern, länger als eine Stunde in Schach hielt.

Als die Angreifer endlich, nachdem ein Granatvolltreffer das Feuer der Verteidiger zum Verstummen gebracht hatte, in das Gebäude eindrangen, stießen sie auf zwei Tote: einen kräftigen Mann, dessen Hände noch den Verschluß des zerschossenen Maschinengewehrs umklammerten, und einen kleinen Jungen. Der Junge hatte dem Maschinengewehrschützen offenbar Munition zugetragen. Man fand bei ihm einen gefüllten Patronengurt. Man fand aber auch drei bunte Glasmurmeln. Er war, als er gleich den zweitausend Wiener Arbeitern in den Februartagen des Jahres 1934 für die Freiheit fiel, zehn Jahre und vier Monate alt.

Realitätenbesitz

Anekdote aus dem Koreanischen Krieg

Ein amerikanischer Oberst, dem gemeldet wurde, daß sein Regiment bei dem vergeblichen Versuch, eine von chinesischen Volksfreiwilligen genommene Hügelstellung zurückzuerobern, an die achtzehnhundert Mann, mehr als die Hälfte des gesamten Mannschaftsbestandes, verloren habe, bemerkte zu seiner Umgebung, dieser Hügel sei das gottverdammt teuerste Stück Boden, das ihm jemals unter die Augen gekommen.

Dies wäre an sich keinesfalls des Vermerkens wert, hätte der Oberst nicht für "Boden" den aus dem Jargon der Grundstücksmakler stammenden Ausdruck "real estate" verwendet und so jenen aus der Seele und dem Scheckbuch gesprochen, für die der Krieg nichts als ein Geschäft und achtzehnhundert tote Soldaten nur der etwas überdurchschnittliche Preis für ein Stück Realitätenbesitz sind.

Es ist freilich eins gegen hundert zu wetten, daß dem Obersten der tiefere Sinn seiner Wortwahl auch dann verschlossen bliebe, wenn man ihn darauf aufmerksam machte, was aber nur aufs neue zu beweisen scheint, daß die Sprache auf eine besondere Weise mit der Wahrheit verbunden ist und diese auch ohne Wissen, ja gegen den Willen des Sprechenden oder Schreibenden kundzutun weiß.

Der tödliche Donauwalzer

Mendel Harb, ein halbblinder Klavierspieler, und Wladimir Sokolko, ein alter Geiger, waren die einzigen Musiker, die in einem von den Deutschen gleich zu Beginn des Ostfeldzuges besetzten Landstädtchen am Bug zurückgeblieben waren. Sie wurden, wenige Tage nach dem Einmarsch der Feinde, auf das in ein Offizierskasino umgewandelte Rathaus befohlen, wo sie zuerst den Film "Deutschland siegt" begleiten und hierauf bei einem Bierabend des Garnisonkommandanten zum Tanz aufspielen mußten.

Als die Feststimmung der Offiziere bei den Klängen des Donauwalzers ihren Höhepunkt erreichte, gab Mendel Harb, dem es gelungen war, unter dem Flügel eine Dynamitladung anzubringen, seinem Gefährten Sokolko ein Zeichen, worauf dieser unter dem Vorwand, Ersatz für eine gesprungene Saite beschaffen zu wollen, den Saal verließ. Mendel Harb, während er die Schlußakkorde des Walzers wiederholte, steckte mit seiner Zigarette die Zündschnur an. Die Explosion ließ das Gebäude zusammenstürzen und tötete alle Offiziere. Auch Mendel Harb wurde unter den Trümmern begraben.

Sokolko brachte, wie vorher mit dem Freunde verabredet, die Nachricht von dem Geschehenen zu den Partisanen, die ohne Verzug über die führerlose Garnison herfielen und sie bis auf den letzten Mann niedermachten.

Schulze

Der Mann, von dem hier berichtet werden soll, führte einen Namen, der neben Müller und Meier als gewöhnlichster deutscher Name gilt. Er hieß Schulze, Fiete Schulze. Sein Vater war Arbeiter in Fischbeck bei Hamburg gewesen, und er selbst war Arbeiter in Fischbeck bei Hamburg. Aber vielleicht lebte der Vater auch in Barmbeck und Fiete in Altona das tut wenig zur Sache. Er war ein Arbeiter. Zu seinem Leben gehörte die Unsicherheit des Arbeitsplatzes ebenso selbstverständlich wie der Wille, für eine bessere Ordnung zu kämpfen, und die Erkenntnis, daß dieser Kampf nur in der Gemeinschaft mit andern Gleichgesinnten möglich ist.

Er war ein Feind der Nazis, bevor sie zur Macht gelangten, und er blieb ihr Feind auch, nachdem sie ihr Drittes Reich aufgerichtet hatten. Zwei Jahre lang stand er in den ersten Reihen der Untergrundkämpfer. Dann fing ihn die Gestapo. Vor Gericht hielt er sich so tapfer, daß ihm sogar die Nazi-Richter ihre grollende Bewunderung nicht versagen konnten. Sie verurteilten ihn zu insgesamt dreihundert Jahren Zuchthaus; das waren, da Schulze achtunddreißig Jahre zählte, sieben ganze Leben, die ihm so abgesprochen wurden. Sie verurteilten ihn weiter dreimal zum Tode und zweimal zum Verlust dessen, was sie Ehre nannten. Den Kopf schlugen sie ihm — sie konnten nicht anders — nur einmal ab. Bevor dies geschah, rief Schulze, der als letzten Wunsch sich die Teilnahme des Gerichtshofes an der Hinrichtung ausgebeten hatte, mit fester Stimme: "Ein Kämpfer weniger, aber wir werden die Sieger sein!"

Um die Worte des Verurteilten zu übertönen, begannen die Trommler der SS-Abteilung, die den Richtplatz absperrte, einen Wirbel zu schlagen. Auch wurde Fiete Schulze zu weiteren Rufen keine Zeit gelassen. Die Henker stürzten sich auf ihn, und er wurde in der nächsten Minute, wie es das Urteil verlangte, "vom Leben zum Tode befördert". Die Gestapo ließ den Leichnam verbrennen und die Asche, unbekannt wo, einscharren. Aber acht Jahre später, im Kriegssommer 1943, öffnete der Tote seinen Mund wieder: In der von englischen Bombern zertrümmerten Stadt tauchten Flugblätter auf, die den Hamburgern einige von Hitlers Prahlereien über die sichere Vernichtung Londons in Erinnerung brachten und sie zum Sturz der braunen Tyrannei aneiferten. Die Flugblätter waren gezeichnet: "Gruppe Fiete Schulze".

Die Passagiere des Todes

Drei norwegische Arbeiter, deren Namen unbekannt geblieben sind, vollbrachten in jenen düsteren Apriltagen 1940, da ihr Land im tiefsten Frieden von den Nazis überfallen wurde, eine Tat, die wohl im Gedächtnis der Nachwelt fortleben wird, wie die Aufopferung der dreihundert Spartaner bei Thermopylae.

Die drei Norweger arbeiteten in der Nähe einer Garage der Autobuslinie Oslo-Hönefoß, als ein Trupp deutscher Fallschirmjäger auftauchte, die Garage besetzte und nach den Chauffeuren der darin befindlichen großen Überland-wagen zu fahnden begann. Ein Blick der Verständigung genügte, und die drei gaben sich für die Gesuchten aus. Es wurde ihnen mit vorgehaltenen Pistolen bedeutet, die Truppe nach Hönefoß zu fahren. Sie fügten sich, weder allzu willig noch auch allzu widerspenstig, so daß die Nazis den Eindruck gewinnen mußten, die Norweger würden vielleicht die Faust im Sack ballen, aber im übrigen Order parieren.

Die Straße nach Hönefoß führt über eine Paßhöhe, die den Oslofjord vom Tyrifjord scheidet. Hinter der Höhe geht es in Nadelkurven steil hinab. Vor der ersten Kurve befindet sich eine Art Felsenterrasse, an der die Überlandwagen auf der Talfahrt haltmachen, um den Passagieren die Möglichkeit zu geben, das großartige Panorama, das sich von hier aus darbietet, zu bewundern.

Die drei Fahrer, anstatt vor Erreichen der Terrasse die Motoren zu drosseln, gaben Vollgas und ließen die Wagen über die Brüstung in die Tiefe stürzen. Sie nahmen auf diese Weise zwei Offiziere und vierundneunzig Mann des verhaßten Feindes mit sich in den Tod.

NACHSCHRIFT- Die Freiheit spricht in vielen Zungen, aber es ist immer dieselbe Sprache. Slowakische Holzarbeiter in den Karpaten und holländische Chauffeure im Bezirk von Groningen haben die gleiche Tat vollbracht wie die drei Norweger.

An dem Orte, da du geschaffen

Unter den jüdischen Partisanengruppen, deren es im sogenannten Reichs-Generalgouvernement Polen nicht wenige gab, ging zu Ende des Jahres 1943 folgende Geschichte um:

Bei der Erstürmung und Zerstörung des Warschauer Gettos, das von seinen schlechtbewaffneten und entkräfteten Bewohnern tagelang heldenmütig gegen die Panzerregimenter der Waffen-SS verteidigt wurde, zeichnete sich der Hauptsturmführer Mettemeier durch eine selbst unter seinesgleichen seltene Roheit aus. Insbesondere gefiel er sich darin, die in seine Hände geratenen Gefangenen — Verwundete, Frauen, Kinder und Greise — mit Benzin übergießen und bei lebendigem Leibe verbrennen zu lassen. Nun wird berichtet, daß bei einer solchen Hinrichtung dem Mettemeier von einem der Opfer zugerufen wurde, es werde sich an ihm das Wort des Propheten Hesekiel erfüllen: "Und ob das Schwert schon wieder in die Scheide gesteckt würde, so will ich dich doch richten an dem Orte, da du geschaffen, und in dem Lande, da du geboren bist." Worauf der Hauptsturmführer mit schauerlicher Lustigkeit entgegnet haben soll, das werde sich wohl schwer machen lassen, da er in einem treibenden Rettungsboot, an unbekannter Stelle, mitten im Ozean zur Welt gekommen sei.

Er entging dennoch nicht seinem Geschick. Eine deutsche Patrouille fand ihn kurze Zeit später erdolcht, mit einem Zettel an der Brust, auf dem nichts stand als "Hesekiel 21,30."

Der Ort aber, an dem die Leiche des Hauptsturmführers Mettemeier gefunden wurde, war eine Dunggrube.

Bericht über Bakasi

Am 13. Dezember 1945 unternahmen, laut amtlichem Bericht, britische Streitkräfte, die auf Java gelandet waren, um dem mit Hilfe der eingeborenen Bevölkerung von den japanischen Eroberern befreiten Eiland die Segnungen holländischer Kolonialherrschaft zurückzubringen (denn solches war offenbar der Sinn des kurz vorher beendeten Krieges für Freiheit und Demokratie gewesen), eine kleinere Strafexpedition, in deren Verlauf das nahe der Hauptstadt Batavia gelegene blühende Dorf Bakasi von Truppen der sechsten Fallschirmjägerdivision — genannt The Red Devils — zuerst bombardiert und dann durch Brandlegung zerstört wurde.

Diese Aktion wurde vielfach mit der Zerstörung des böhmischen Dorfes Lidice durch die Nazis verglichen. Zu Unrecht, wie das britische Kommando im Tone gerechter Entrüstung feststellte. Und in der Tat, während in Lidice nach dem Abzug der SS auch nicht ein Stein auf dem andern stand, blieben in Bakasi die Villen einiger reicher chinesischer Händler und das Ortsgefängnis unversehrt.

Allerdings müssen wir, um der Vollständigkeit willen, hinzufügen, daß die Nazis in Lidice weder ein reiches Haus noch ein Gefängnis, das sie hätten verschonen können, vorfanden.

Keiner Mutter Sühn

Zu den merkwürdigsten Aussprüchen, die je vor einem Nazigericht getan wurden, gehört ohne Zweifel die Rede der fast siebzigjährigen Altenteilbäuerin Ursula Weinzierl aus Ferlach, die zusammen mit sechsunddreißig anderen Einwohnern dieses Fleckens wegen Hoch- und Landesverrats, begangen durch Unterstützung einer über die Grenzberge ins Kärntnerische vorgestoßenen Abteilung jugoslawischer Partisanen, zum Tode durch den Strang verurteilt und auf öffentlichem Markt hingerichtet ward.

Die Weinzierl, als sie vom Vorsitzenden des SS-Schnellgerichtes aufgefordert wurde, zu erklären, welche Gründe sie dazu bestimmt hatten, einen der Partisanen bei sich aufzunehmen und für ihn sogar ihr letztes Ferkel zu schlachten, entgegnete stockend, nach einigem Überlegen, sie habe nur daran gedacht, daß er einer Mutter Sohn sei.

Auf die weitere Frage, ob denn der Ortsbauernführer, den die Partisanen mit Wissen und unter Zustimmung der angeklagten Dörfler als Gestapoagenten erschossen hatten, nicht auch einer Mutter Sohn gewesen, besann sich die Weinzierl abermals eine ganze Weile und meinte dann unter heftigem Kopfschütteln, sie habe den Ortsbauernführer immer sagen hören, daß ein Nazi von echtem Schrot weder Vater noch Mutter kenne, weshalb es ihr denn auch niemals eingefallen sei, in ihm einer Mutter Sohn zu sehen.

Nicht allzu sonderbare Geschichte, die sich zu meiner Zeit in Washington zugetragen hat

Ein dunkelhäutiger Sohn Afrikas, der in Geschäften seines Herrn, des Königs von Barotse, der seinerseits ein Untertan des Königs von England ist, nach Washington gekommen war, ließ es sich, aus Unkenntnis der örtlichen Sitten, beifallen, in einer von den Gaststätten einzukehren, die rund um das Alte Staatsdepartement herum zu finden sind.

Er hatte sich kaum in einer Ecke des Lokals niedergelassen, als der Geschäftsführer an den Tisch herantrat und wissen wollte, ob er es mit einem amerikanischen Bürger zu tun habe.

"Nein", entgegnete der Gast in beträchtlicher Verwirrung und schickte sich an, seinem Bedauern über den Umstand, daß er nicht zu den Landeskindern, den Erben und Nutznießern der freiesten Verfassung der Welt und ihrer vielgerühmten Bürgerrechte gehörte, so beredt, wie er nur konnte, Ausdruck zu geben.

Darauf der Geschäftsführer, indem er höflich abwinkte:

"Ach, da ist ja alles in Ordnung. Wollen Sie bitte dem Kellner Ihre Bestellung auftragen."

Der Gast tat wie geheißen, konnte sich aber, in seiner plötzlichen Aufwallung von Argwohn, nicht enthalten, den Geschäftsführer zurückzuhalten und zu fragen:

"Und wenn ich auf Ihre Frage, ob ich ein Bürger der Vereinigten Staaten sei, mit ja geantwortet hätte?"

"Wenn dem so gewesen wäre", lautete die ohne Zögern erteilte Antwort, "hätten Sie allerdings nicht hier bleiben können, denn dieses Etablissement steht natürlich nur Weißen (und Ausländern) offen."

Ärger

Wie verschieden sind doch die Begriffe, die sich hinter dem gleichen Wort verbergen können!

Einer der drei nationalsozialistischen Massenmörder, die bei der Wiedereinnahme von Charkow durch die Russen gefaßt und vor ein Kriegsgericht gestellt wurden, ein gewisser Hauptmann Langfeld von der Geheimen Feldpolizei, schilderte bei seiner Vernehmung, wie das ihm unterstellte Sonderkommando, um ein falsches Geständnis zu erpressen, eine ukrainische Bäuerin, die mit ihrem fünfjährigen Kind zum Besuch eines kriegsgefangenen Verwandten in die Stadt gekommen war, langsam zu Tode geprügelt hatte. Als der öffentliche Ankläger daraufhin hören wollte, was mit dem Kind geschehen war, antwortete Langfeld, nachdem er durch eine wegwerfende Gebärde seinem Erstaunen über eine solche Frage Ausdruck gegeben, daß das Kind sich an seine Mutter geklammert und laut geschrien habe. Das sei dem Unteroffizier, der die Leiche wegzuschaffen hatte, auf die Nerven gegangen. Aus Ärger habe er das Kind erschossen.

Auch der Matrose Wadim Pawlenko, dem beim Versuch, sich mit einer umgeschnallten Landmine deutschen Panzern in den Weg zu werfen, beide Beine weggerissen worden waren, auch er sprach von Ärger, als amerikanische Zeitungsberichterstatter in ihn drangen, etwas über die Beweggründe für seinen Entschluß zu sagen. Er habe das Bild eines von den Nazis vorsätzlich und mit Gründlichkeit zerstörten Obstgartens, worin sogar eine Kinderschaukel zertrümmert worden war, nicht vergessen können. "Da ist der Ärger in mich gefahren", meinte Pawlenko, "und da habe ich meinen Kameraden gesagt: Wir wollen es diesen verfluchten Nazis gründlich besorgen, damit unsere Kinder bald wieder in Frieden schaukeln können."

Der Preis eines Kopfes

Was in der Nachschrift zur Anekdote von den Passagieren des Todes gesagt wurde, sei hier als Vorspruch wiederholt: Die Freiheit spricht in vielen Zungen, aber es ist immer dieselbe Sprache. Ähnliche Geschichten wie die nachfolgende, die mir während meines Aufenthalts in China zu Ohren gekommen, sind im letzten Krieg auch von polnischen und jugoslawischen Partisanen erzählt worden.

Die Einwohner der Stadt Schen Jang, die am Tage nach einem geglückten Überfall von Partisanen und Abteilungen der Achten Marscharmee auf eine fette Nachschubkolonne der Kuomintangtruppen an ihren Hausmauern gemeinsame Bekanntmachungen des Generalissimus Tschiang Kai-schek und seines amerikanischen Beraters Wedemeyer lasen, in denen ein Preis von hunderttausend Goldyüan für den Kopf des "Banditenführers" Ho Lung versprochen wurde, fanden am nächsten Morgen neben jedem dieser Anschläge einen andern folgenden Inhalts:

"Auch ich setze Kopfpreise aus. Für den Papiertiger Tschiang, tot oder lebendig, zehn Yüan. Für den General aus Amerika einen Yüan. Mehr sind sie nicht wert. Ho Lung, Divisionskommandeur der Befreiungsarmee."

Der Schmiedehammer

In den obersteirischen Dörfern konnte man um die Jahreswende 1939/40, wenn gerade kein SS-Mann oder Nazibeamter in der Nähe war, manche abenteuerliche Geschichte über einen Grobschmied Xaver N. aus B. hören, von dem die Behörden behaupteten, er sei erwiesenermaßen längst gestorben, während die Geschichtenerzähler überzeugt waren, daß ihr Held eher den Tod zum Teufel schicken als sich von ihm holen lassen würde.

Der Schmied hatte auf obrigkeitlichen Befehl hin seine Werkstatt schließen und als Arbeiter in einen Linzer Rüstungsbetrieb gehen müssen. Als er den ersten Urlaub erhielt und sein Heimatdorf aufsuchte, fand er die Werkstatt erbrochen und völlig ausgeräumt. Nur der alte Schmiedehammer seines verstorbenen Vaters lag noch in einer Ecke. Zuerst glaubte Xaver N. an einen Einbruch, doch wurde er von Nachbarn belehrt, daß die Alteisensammler der NSDAP dagewesen und alles Metallene mitgenommen hatten. Der Verrechnungsschein sei beim Bürgermeister hinterlegt und könne in zwei Wochen auf dem Steueramt zur Einlösung präsentiert werden.

Den Schmied erfaßte, als er dies hörte, ein unbändiger Zorn. Er rief das ganze Dorf zusammen und schwor vor den entsetzten Bauern, daß er es den "preußischen Dieben" eintränken werde. Damit hob er den väterlichen Hammer hoch und ließ ihn mit aller Wucht auf das Schild mit dem Hitlerabzeichen niedersausen, das sich an der Tür des Gemeindeamtes befand. Das Hakenkreuz ging in Trümmer. Hierauf verschwand Xaver N. mit der Versicherung, er werde sich in der Bezirksstadt sein Recht holen.

Er ward nicht wieder gesehen. Einige Wochen später sickerte durch, daß er auf der Alteisen-Sammelstelle der Nationalsozialistischen Partei einen Sturmführer, der ihn barsch abgefertigt, mit den Worten: "Habt ihr schon das andere gestohlen, so nehmt auch noch den Hammer hier!" durch einen fürchterlichen Hieb niedergeschlagen habe. Einer Schwester, die sich nach seinem weiteren Schicksal erkundigte, wurde mitgeteilt, daß Xaver N. im Gefängnis gestorben sei. Sie erhielt auch einen ordentlich ausgestellten Totenschein, doch wurde ihr die Auslieferung der Leiche verweigert.

Als in der Folgezeit bald hier, bald dort das Hoheitszeichen über der Tür einer Polizeistation oder eines Gemeindeamtes zertrümmert gefunden wurde, ohne daß es jemals gelungen wäre, den Täter zu fassen, verbreitete sich zuerst in B. und später in der ganzen Obersteiermark das Gerücht, daß Xaver N. gar nicht tot sei, sondern sich den Nazis entzogen habe und nun im Lande umherstreife, ungreifbar, unaufspürbar. Und Jahre später, als die ersten Partisanentrupps an der steirisch-jugoslawischen Grenze und im Salzburgischen auftauchten, tuschelte man sich an den Dorfbrunnen und in den Spinnstuben zu, Xaver N., der Rächer mit dem Schmiedehammer, sei einer von den Führern der neuen Freiheitskämpfer.

Nachkommen oder Vorfahren?

Wir amerikanischen Soldaten, die im zweiten Weltkrieg oder nachher nach England gekommen sind, haben dort wie die Affen im Dschungel gehaust, wofür ich das englische Volk verspätet um Entschuldigung bitte.

Aus dem Brief eines Lesers, Lewis Grant, an die New-Yorker Zeitscbrift "Life"

Im Staate Tennessee, der — nicht etwa deshalb, weil die übergroße Mehrheit seiner Einwohner aus Schwarzen besteht, sondern wegen des Rassedünkels der Weißen, die dort regieren — zu den dunkelsten der Nordamerikanischen Union gezählt werden muß, wurde im Jahre 1952 ein Lehrer mit Namen Abe Gallaghan vor den Richter seines Wohnorts geladen, um sich gegen die von den Eltern mehrerer Schüler erhobene Anklage zu verteidigen, er habe im Unterricht auf die Frage eines Jungen, ob der Mensch vom Affen abstamme, nicht mit einem unzweideutigen Nein geantwortet, was als Anerkennung der Darwinschen Entwicklungslehre gedeutet werden müsse. Nun ist diese aber nach einem vor nicht allzu langer Zeit in Tennessee eingeführten Gesetz aus dem Schulunterricht verbannt, und jeder, der sie lehrt, straffällig. Gallaghan, obwohl er das wußte, leugnete nicht, ein Anhänger besagter wissenschaftlicher Lehre zu sein, erklärte aber, daß er willens sei, seine Ansicht über die Entstehung der Arten, zumindest was die Tennesseer angehe, zu widerrufen, denn es liege auf der Hand, daß sie bestenfalls die Vorfahren, keineswegs jedoch die Nachkommen der Affen sein könnten.

Was daraufhin mit Gallaghan geschehen, ist uns nicht zu Ohren gekommen, doch erscheint schon das oben Berichtete des Papiers und der Tinte wert, die an die Aufzeichnung gewendet wurden.

Das Wort Hiobs

An der rauchgeschwärzten Mauer der Synagoge von Kowel, in deren zum Gefängnis gemachten Betsaal die Nazis Hunderte jüdischer Männer, Frauen und Kinder zusammengepfercht hatten, um sie nach und nach lebendig zu begraben oder zu vergasen, fanden Presseberichterstatter, die nach der Vertreibung der Deutschen die befreite Stadt besuchten, unter verschiedenen Inschriften mit letzten Wünschen auch den hebräischen Hiobvers: "Ach Erde, bedecke mein Blut nicht, und mein Geschrei finde keine Ruhestätte!"

Darunter hatte eine andere Hand in Russisch vermerkt: "Gelesen. Gehört. Beherzigt. Bei der Einnahme Kowels wurde von der zweiten Kompanie des x-ten Garderegiments der Roten Armee die gesamte SS-Garnison des Stützpunktes Kowel-Süd, dreihundertzweiundvierzig Offiziere und Mannschaften stark, da sie sich nicht ergeben wollte, im Kampfe aufgerieben. I.I. Glazunow, F. A. Foiblman, Sergeanten, auf dem Wege nach Berlin."

Tausend und eine Zunge

Als die englischen Soldaten und belgischen Partisanen, die das Ardennenstädtchen Florennes befreiten, in das Gebäude der deutschen Kommandantur eindrangen, fanden sie in einer der Kellerzellen die Leiche eines Knaben. Es handelte sich wie alsbald festgestellt wurde, um den dreizehnjährigen Pierre Etienne Delvaux, den die Gestapo aufgegriffen hatte, um Näheres über den Aufenthaltsort seiner zwei älteren Brüder, Mitglieder einer Partisanenabteilung, zu erfahren. Eingedenk der Abschiedsworte seiner schon vorher verhafteten Mutter: "Ein einziger Gedanke: nichts gestehen." biß sich Pierre Etienne Delvaux vor dem Verhör die Zunge ab. Er wurde daraufhin mit dem Gewehrkolben niedergemacht.

Die Bürger von Florennes, die ihn wie einen gefallenen Heerführer zu Grabe geleiteten, setzten ihm einen Denkstein mit folgender Inschrift: "Seine Tat spricht in tausend Zungen zur Nachwelt." Sie haben damit nicht zuviel gesagt.

Der weiße Rabe

Zu derselben Zeit, da bekannt wurde, daß in den zwei oberschlesischen Vernichtungslagern Auschwitz und Birkenau eine Million und siebenhundertfünfzehntausend Juden ermordet und zu Kunstdünger verarbeitet worden waren; zu derselben Zeit, da bekannt wurde, daß die SS vierzehnjährige Hitlerjungen "zwecks Erlernung von Härte" zur Teilnahme an der Vergasung polnischer Frauen kommandiert hatte… zu derselben Zeit wurde auch der Fall des Majors Rethmayer bekannt, dem die Mitglieder der im Bezirk von Arras operierenden Maquistruppen den Namen "der weiße Rabe" gaben, weil er, als deutscher Stadtkommandant von Arras, mehreren französischen Geiseln und gefangenen Freiheitskämpfern zur Flucht verholfen hatte. Als die deutschen Behörden und Truppen die Stadt vor den anrückenden Verbündeten räumten, blieb Rethmayer auf seinem Posten. Eine Trikolore in der Hand, empfing er die erste Patrouille der Maquisarden auf der Kommandantur.

"Ich bin Ihr Gefangener", sagte er zu dem Führer der Patrouille.

"Sie irren sich", wurde ihm geantwortet, "Sie sind unser Mitbürger." Es stellte sich heraus, daß das Komitee der Widerstandsbewegung beschlossen hatte, der Einwohnerschaft von Arras vorzuschlagen, den Major Rethmayer für den Rest seines Lebens in ihrer Stadt als Bürger unter Bürgern leben zu lassen.

Sonst noch was?

Als ein deutsches Sondergericht in Kopenhagen der wegen Einverständnisses mit dem Feinde verhafteten Monica Wichfeld verkündete, daß sie zum Tode durch Erschießen verurteilt sei, öffnete die unerschrockene Dänin ihre Handtasche, besah sich im Spiegel und fragte, während sie gemächlich ihre Nase puderte: "Sonst noch was, meine Herren?"

Das Todesurteil wurde vom Kommandanten der deutschen Besatzungstruppen gnadenweise aufgehoben und Monica Wichfeld in das Konzentrationslager Fuhlsbüttel gebracht, wo sie noch zehn Monate lang Gelegenheit hatte, über den Begriff der Gnade, wie ihn die Nazis verstehen, nachzudenken. Sie fand das gleiche Ende, das rund siebentausend andere Insassen des genannten Lagers fanden: durch Verhungern. Die musterhaft geführte Statistik der Lagerkommandantur buchte diese Fälle in der Rubrik "natürliche Todesursachen".

Der Barbier von Rostow

Nach der Befreiung Rostows wurde die Geschichte eines alten Theaterbarbiers bekannt, der — von den Deutschen gezwungen, in der Friseurstube des Offiziershotels zu arbeiten — immerzu darauf aus war, einem der Eroberer beim Rasieren die Kehle durchzuschneiden, welches Vorhaben er freilich im entscheidenden Augenblick dann doch nicht ausführte. Vielmehr griff er, als ein eingeseift vor ihm sitzender SS-Leutnant sich damit rühmte, die drei Kinder einer Partisanenfrau wie Läuse geknackt zu haben, nach einem schweren Eichenschemel und hieb dem Schwarzen mit einigen fürchterlichen Schlägen die Schädeldecke ein. Er entkam wie durch ein Wunder und hielt sich bis zur Ankunft der Sowjettruppen in den Kanälen unter dem zerstörten Theatergebäude verborgen.

"Und warum hast du statt deines Messers den Schemel benützt?" wurde er gefragt, als er seinen Fall zu Protokoll gab und dabei erwähnte, daß ihm beinahe die Kraft zum letzten Schlage gefehlt habe, "das wäre doch, scheint es, viel leichter gewesen."

"Ja, so scheint es", gab der Barbier zurück, "aber ihr müßt wissen, ich habe dieses Messer schon über dreißig Jahre im Gebrauch; es ist ein ehrliches Messer und mir sozusagen ans Herz gewachsen, und da sollte ich damit einem, der sich rühmt, Kinder wie Läuse geknackt zu haben… Nein, nein, versteht nur: das konnte ich dem Messer doch nicht antun!"

Die kleinen Schrauben

Auf dem Bankett, das nach dem Abschluß der Konferenz von Jalta stattfand, wurden viele Trinksprüche ausgebracht. Aber nur zwei von ihnen sind über den Kreis der Tischgenossen hinaus bekannt geworden.

Der eine wurde, ganz im Geiste und in der bilderreichen Ausdrucksweise Sir Winstons, von dessen Sekretär gesprochen. Nachdem er die Energien Roosevelts, Stalins und Churchills mit riesigen Schwungrädern verglichen, bat er die Anwesenden, auf das Wohl der "großen Drei" anzustoßen. Dies geschah. Darauf stand Stalin auf und sagte: "Schwungräder sind gut und notwendig. Aber was wären sie ohne die kleinen Schrauben? Ich schlage vor, wir trinken auf die kleinen Schrauben!"

Das Mädchen von Krasnodar

Als die erste Kosakenpatrouille in das von der zurückflutenden deutschen Kaukasusarmee geräumte Krasnodar einritt, fand sie auf dem Hauptplatz der vandalisch zerstörten und nahezu völlig entvölkerten Stadt ein etwa achtzehnjähriges Mädchen damit beschäftigt, in einer roh zusammengezimmerten Holzbude Bücher zum Verleih an Soldaten und heimkehrende Einwohner zurechtzulegen.

Auf eine Frage des Offiziers, der die Patrouille führte, gab das Mädchen zur Antwort, daß sie Polina Udowenko heiße, von Beruf Türhüterin der städtischen Bibliothek sei und während der deutschen Besetzung nächtlicherweile die ganzen Bücherbestände — zwanzigtausend Bände — weggeschafft und in einem Schuppen an der Stadtgrenze versteckt habe. Dergestalt seien, als die Nazis vor ihrem Abzug das Bibliotheksgebäude anzündeten, nur die leeren Regale verbrannt, und der Bibliotheksdienst könne sofort wieder aufgenommen werden.

Ob ihr bei den nächtlichen Bergungsexpeditionen niemals der Gedanke gekommen sei, daß die deutschen Posten sie überraschen und niederschießen könnten, wollte der Offizier wissen. Und Polina darauf: Gewiß, damit habe sie immer gerechnet, aber Bücher seien schließlich Munition, und Munition dürfe dem Feinde doch nicht überlassen werden.

Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten

(In der Kleistschen Manier)

In einer von seinen unübertrefflichen Anekdoten", sagte bei einer geselligen Zusammenkunft mit New-Yorker Freunden ein deutscher Emigrant, ehemaliger Offizier der Internationalen Brigaden, "läßt Kleist einen alten Hauptmann erklären, er wisse drei Geschichten, von deren Glaubhaftigkeit er selbst vollkommen überzeugt sei, während sie anderen wohl so unwahrscheinlich vorkommen würden, daß er Gefahr liefe, für einen Windbeutel gehalten zu werden, wenn er sie zum besten geben wollte. "Denn", so heißt es bei Kleist weiter, "die Leute fordern als erste Bedingung von der Wahrheit, daß sie wahrscheinlich sei, obschon, wie die Erfahrung lehrt, die Wahrscheinlichkeit durchaus nicht immer auf Seiten der Wahrheit ist" — was ich zum Beispiel durch drei Histörchen beweisen könnte, die denen des Hauptmanns in der erwähnten Anekdote weder an Unwahrscheinlichkeit noch an Wahrhaftigkeit nachstehen."

"Erzählen Sie", riefen einige der Zuhörer, "erzählen Sie!" — denn man kannte den Emigranten als verläßlichen und schätzenswürdigen Mann, der sich niemals der Großsprecherei schuldig machte.

Der Emigrant meinte lächelnd, er wolle der Gesellschaft den Gefallen tun, versicherte aber im voraus, daß er in diesem besonderen Falle keinen Anspruch auf ihren Glauben erhebe.

Die Freunde dagegen sagten ihm diesen bereitwillig zu; sie forderten ihn nur auf, zu reden, und horchten.

"Im Feldlazarett, 1937, vor Teruel", begann der Emigrant, "machte ich die Bekanntschaft eines Artilleriekorporals aus Böhmen, der — obwohl an Kopf und Hüften nicht unerheblich verwundet — die Belegschaft unseres Krankensaales durch seine Schnurren und Späße ständig bei guter Laune erhielt, was eine um so erstaunlichere Leistung war, als ihm neben seiner tschechischen Muttersprache nur wenige Brokken eines seltsamen, aus Spanisch und Französisch gemischten Soldatenkauderwelschs zur Verfügung standen. Dennoch erachtete er es für überflüssig, sich weitere Sprachkenntnisse anzueignen. Warum das Gehirn unnötig belasten, argumentierte er, wenn es auch so gehe? Bei dieser Meinung blieb er, allen Belehrungsversuchen zum Trotz. Unser Beisammensein ging übrigens ebenso plötzlich und zufällig zu Ende, wie es begonnen. Ich wurde, kaum daß der Zustand meiner Wunde es erlaubte, nach einem Lazarett an der Mittelmeerküste gebracht. Den Tschechen sah ich im weiteren Verlaufe des Krieges nicht wieder; auch bekam ich von ihm in der Folgezeit nie mehr etwas zu hören, bis mich vor wenigen Tagen, auf einem Gang durch das Hafenviertel an der Battery, der Zufall mit einem Waffengefährten aus Spanien, der jetzt als Maschinist zur See fährt, zusammenführte. Als wir über einem Glas Toddy alte Erinnerungen austauschten und dabei auf das Feldlazarett von Teruel, wo auch er kurz nach mir gelegen, zu sprechen kamen, überraschte mich mein Kamerad mit der Mitteilung, daß er auf einer seiner letzten Reisen nach dem Vorderen Orient unserem böhmischen Spaßvogel wiederbegegnet sei. Der Tscheche hatte das Schicksal so vieler braver Spanienkämpfer geteilt, die — nach ihrem Übertritt auf französisches Gebiet — zuerst in verschiedenen Konzen trationslagern am Fuße der Pyrenäen gefangengehalten und dann nach Nordafrika verschickt und zum Straßenbau in der Wüste gepreßt wurden. Die Gefangenschaft mit all ihren Härten vermochte nicht, den Spaßvogel um seinen Witz und guten Mut zu bringen, dagegen ließ sie ihn die frühere Abneigung gegen das Studium fremder Sprachen aufgeben; er lernte, so sauer es ihn auch ankam, nacheinander Französisch, Spanisch, Englisch und Arabisch — immer von dem Gedanken besessen, daß es ihm einmal gelingen werde, auszubrechen und sich nach Ägypten durchzuschlagen. Nach mehreren Fehlschlägen glückte ihm endlich, im Sommer 1942, zusammen mit zwei anderen Gefangenen die Flucht aus dem Arbeitslager, doch zeigten sich seine beiden Gefährten den mörderischen Strapazen einer Wüstenwanderung nicht gewachsen und starben am Ende der ersten Woche eines elenden Todes. Den sicheren Untergang vor Augen, setzte der Tscheche gleichwohl die Flucht fort. Wider alle vernünftige Erwartung, ja auch nur Hoffnung, erreichte er nach drei weiteren Wochen eines der kleinen britischen Forts an der ägyptischen Grenze. Obwohl völlig erschöpft und seiner Sinne kaum mehr mächtig, wollte er die Wache dennoch in einem der neuerlernten Idiome ansprechen, als er sich zu seinem maßlosen Erstaunen auf tschechisch angerufen hörte. Er war, wie sich herausstellte, mit einer geradezu magnetischen Genauigkeit auf den einzigen Punkt der ganzen nordafrikanischen Front zugewandert, wo sich, seit ganz kurzer Zeit, ein aus tschechoslowakischen Freiwilligen gebildeter Truppenteil — eine leichte Flugabwehrbatterie — in Stellung befand."

"Wie?" fragten einige der Mitglieder der Gesellschaft verwundert und glaubten nicht richtig gehört zu haben, "der einzige Punkt? Und der Tscheche, ohne es zu wissen, geradewegs darauf zu? Durch die ganze Sahara?" Die Gesellschaft hatte Mühe, ein Gelächter zu unterdrücken.

"Das war die erste Geschichte", sagte der Emigrant, indem er sich seine ausgegangene Pfeife neu stopfte, und schwieg.

"Beim Himmel!" platzte ein Zahnarzt (ohne den man sich eine New-Yorker Gesellschaft nur schwer vorstellen kann) los, "da haben Sie recht; diese Geschichte ist von der Art, daß man sie nicht für glaubhaft hält."

"Die zweite Geschichte", hob der Emigrant an, "spielt in ihrem Schlußteil, mit dem ich anfangen möchte, gleichfalls in Nordafrika. Als die Verbündeten zum entscheidenden Sturm auf Tunis und Bizerta, wohin sich die Reste der deutsch-italienischen Orientarmee zurückgezogen hatten, ansetzten, erschien bei einem Stoßtrupp der im Zentrum vorgehenden Amerikaner ein Mann, der sich als ein den Nazis entlaufener russischer Kriegsgefangener zu erkennen gab. Von dem kommandierenden Offizier nach hinten, zum nächsten Stabsquartier gewiesen, bat der Russe eindringlich, bei dem Stoßtrupp bleiben und sich an der im Gange befindlichen Aktion beteiligen zu dürfen. Schon wollte der Kommandeur die Bitte abschlagen, als der Trupp von mehreren, jählings aus einem Versteck hervorbrechenden Panzern angegriffen wurde. Bei der Abwehr des Überfalls und in den späteren Verfolgungskämpfen zeichnete sich der Russe über die Maßen aus. Ohne Schußwaffe, nur mit einem Dolchmesser in der Faust, stürzte er sich auf die Feinde, wobei er bald den Stahl, bald auch nur seine Fäuste in einer solchen Weise gebrauchte, daß seine eigenen, neugewonnenen Kameraden neben der Bewunderung auch Schauder empfanden. Doch machte diese Regung einem zornigen Mitgefühl Platz, als ihnen der Russe während einer Kampfpause den Grund für seine fürchterliche Tapferkeit enthüllte. Er war, nach dem deutschen Einfall in die Ukraine, als Zivilgefangener aus seinem Dorf weggeführt und ins Ruhrgebiet verschleppt worden, wo er sich alsbald in eine der Totengräberkolonnen eingereiht fand, denen es oblag, die von den Erschießungskommandos der SS wegen Sabotage oder auch nur zur Abschreckung massenhaft niedergemähten Geiseln aus den Reihen der ausländischen Arbeiter zu verscharren. Durch diese entsetzliche Arbeit an den Rand der Raserei gebracht, mußte er es auch noch erleben, daß ihm eines Tages aus dem Leichenhaufen, für den seine Kolonne die Grube aushob, ein bekanntes Gesicht entgegenstarrte — das seiner Schwester, die er bisher zu Hause und wegen ihrer großen Jugend vor dem Verschicktwerden geschützt geglaubt hatte…"

"Und diese Begegnung", fragte die Gesellschaft, "hat sich tatsächlich zugetragen?"

"Nicht nur das", versetzte der Emigrant, "der Russe entdeckte später unter den Toten, die er zu begraben hatte, auch noch einen Vetter."

"Unglaublich! Unerhört!" rief die Gesellschaft.

Der Zahnarzt meinte, daß der Erzähler die Geschichten die seinen Satz belegen sollten, gut zu wählen wisse.

"Die dritte Begebenheit", fuhr der Emigrant fort, "trug sich in Bosnien zu, bei der Einnahme von Banjaluka durch die jugoslawischen Partisanen. Ein deutscher Wachtmeister, der beim Kommando der Geheimen Feldpolizei Dienst getan hatte, warf, als er sah, daß die in Panik geratene Besatzung die Waffen niederlegte, seinen Uniformrock weg, um sich vor dem Strick zu retten, der, wie allgemein bekannt, jedem "Schwarzkragen" gewiß war. Dann ließ er sich gefangennehmen. Beim Verhör im Stab der Partisanen gab er sich für einen eben erst aus dem Reich nach Jugoslawien gesandten Reservisten aus, der nur auf die erstbeste Gelegenheit, Schluß zu machen und überzugehen, gewartet habe. Schon glaubte er das Verhör glücklich überstanden zu haben, als ein Partisanenoffizier, der scheinbar unbeteiligt beiseitegestanden, sich plötzlich mit furchtbar verzerrtem Gesicht an ihn wandte: "Und was hast du in Novisad gemacht?" Der Wachtmeister, indem er sich vergeblich bemühte, dem Blick des Offiziers standzuhalten, stotterte: "In… wo? Das muß ein Irrtum sein" Aber der Offizier, während er seine Pistole zog, wies statt jeder Antwort auf einen Ring an der Hand des Wachtmeisters; es war derselbe Ring, den er am Tage des Kriegsausbruchs seiner Braut, einem Mädchen von Novisad, geschenkt hatte, das — wie ihm unterdessen zu Ohren gekommen — zu den Opfern der von den Nazis gleich nach der Besetzung des Ortes veranstalteten "Nacht der langen Messer" gehörte."

"Himmel, Tod und Teufel!" stieß der Zahnarzt hervor. "Dixi!" schloß der Emigrant, nahm seinen Hut und ging weg.

"Herr X.!" riefen die anderen ihm nach, "Herr X.!" Sie wollten die Quelle dieser abenteuerlichen Geschichte wissen.

"Lassen Sie ihn", meinte ein Mitglied der Gesellschaft, "Kleist, in der schon genannten Anekdote, erachtet es noch für notwendig, seinen Hauptmann in Schutz zu nehmen, indem er anführt, daß es Tatsachen gibt, von denen der Dichter im Hinblick auf ihre offenbare Unglaubhaftigkeit keinen Gebrauch machen kann, indes der Geschichtsschreiber sie wegen der Unverwerflichkeit der Quellen aufzunehmen hat — wohingegen wir heutzutage beinahe versucht sind, einen Vorfall für ausgezeichnet und ungewöhnlich zu halten, wenn er der Abenteuerlichkeit und Unwahrscheinlichkeit ermangelt."

Der Ersatz

Durch ein zerschlagenen Gefangenen abgepreßtes Geständnis gelang es der Berliner Geheimen Staatspolizei, einen der Organisatoren des unterirdischen Widerstandes in seinem Unterschlupf aufzuspüren und nach heftigem Kampf angeschossen in ihre Gewalt zu bekommen.

Da das Gefängnislazarett überfüllt war, wurde der Verwundete vorläufig in die Charite gebracht, wo man ihn zu andern Festgenommenen und Verhörten in ein Zimmer der chirurgischen Abteilung legte.

Von einem gutgesinnten Wärter erfuhren die Zimmerinsassen, wer der Neuankömmling war und daß er im Laufe des Tages abgeholt und nach der berüchtigten Folterhöhle in der General-Pape-Straße geschafft werden sollte, wo damals — es war zu Beginn des Dritten Reiches — alltäglich Gefangene eingeliefert und Leichen abgeholt wurden. Sie beschlossen sofort, dem Bedrohten zur Flucht zu verhelfen. Vergebens weigerte er sich, ein Opfer anzunehmen, von dem er wußte, daß es die Rache der SS herausfordern würde; sie gaben ihm alles Geld, das sie hatten, und ein paar Kleidungsstücke und drängten ihn dann fast mit Gewalt aus dem Zimmer.

Er konnte kaum die Straße erreicht haben, als ein Trupp SS in das Zimmer drang und lärmend nach dem "neueingelieferten Aas" verlangte, für das man den Leichenwagen bereits mitgebracht habe.

Bevor noch der Truppführer, vor dem leeren Bett angelangt, Verdacht schöpfen konnte, hatte sich schon ein junger Neuköllner Arbeiter, der nach einer Hausdurchsuchung mit zertrümmerter Schulter hierhergebracht worden war, als der Gesuchte gemeldet.

Ohne ihm Zeit zu lassen, seine Habseligkeiten zusammenzupacken — wozu auch? er würde sie ja doch nicht mehr brauchen! — , nahmen ihn die SS-Männer in die Mitte und stießen ihn hinaus.

Seine Genossen sahen ihn noch vom Fenster aus, wie er unten auf dem Lastauto inmitten der Schwarzen — blaß, aber mit einem schönen und stolzen Lächeln um die fest aufeinandergepreßten Lippen — den heilen Arm hob, die Faust zum Gruß geballt.

Eine Woche später wurde sein Leichnam in verlötetem Sarg zur Beerdigung freigegeben. Am gleichen Tag war der Entkommene von seinen Verwundungen so weit genesen, daß er die unterirdische Arbeit wiederaufnehmen konnte.

Das beste Buch

Diese Anekdote habe ich in verschiedener Form, je nach dem Lande, in dem sie sich ereignet haben soll, erzählen hören, doch glaube ich, daß keine andere Fassung sich mit der hier aufgezeichneten vergleichen läßt, weil sie, wie eine winzige Spiegelscherbe, ein weit größeres Stück Wirklichkeit, als ihre Fläche vermuten läßt, auffängt und zurückwirft.

Ein New-Yorker Börsenmakler, der über einer ebenso gewagten wie einträglichen Baissespekulation vergessen hatte, sich rechtzeitig nach einem Geschenk für die gerade vor Jahresfrist heimgeführte dritte Gattin, zukünftige Erbin eines beträchtlichen Vermögens, umzusehen, fragte zwischen Tür und Angel seine Sekretärin, was er vor dem Nach-Hause-Jagen schnell noch kaufen könne.

"Wie wäre es mit einer von diesen neuen Armbanduhren aus Platin?" schlug die Sekretärin vor.

Der Makler schüttelte bedauernd den Kopf. "Geht nicht. Hat sie schon zu Weihnachten bekommen."

"Nun, dann schenken Sie ihr ein goldenes Feuerzeug."

"Zu dumm! Hat sie auch schon", lautete die bekümmerte Antwort.

"Dann vielleicht ein Buch?"

"Ein Buch?" entgegnete zögernd der wackere Spekulant, indes sein Blick durch das Fenster zu dem gegenüberliegenden Wolkenkratzer schweifte, einem im griechischen Tempelstil erbauten Bankpalast der Manufacturers' Trust Company, von dessen Giebel ein Werbeplakat in mannshohen Lettern die lapidare Weisheit "Das beste Buch — dein Bankbuch!" verkündete. "Ein Buch? Gottverdammich, hat sie auch schon!"

Der arische Papagei

In Prag erzählte mir einer der wenigen Juden, die sich während der deutschen Besetzung versteckt halten und so dem Schicksal, deportiert oder vergast zu werden, entgehen konnten, daß die Nazis im Jahre 1943, als ihre Wehrmachtsberichte fast nur noch von Frontbegradigungen und Loslösungen vom Feinde zu melden wußten, einen siegreichen Feldzug gegen die Hunde, Katzen, Kanarienvögel und Papageien in (wie es im Braunwelsch des Dritten Reiches hieß) rassisch minderwertigen Haushalten durchführten. Diese Tiere mußten der Gestapo ausgeliefert werden, die sie nach Abfassung eines Protokolls zur Vergiftung in das Lager Milovice schickte.

Als ob sie es darauf angelegt hätten, zur Niedertracht und Abscheulichkeit auch noch etwas makabre Lächerlichkeit hinzuzufügen, richteten die Herren von der Gestapohauptstelle eine besondere Kommission ein, deren Aufgabe es war, über das Schicksal von Tieren in "rassisch gemischten" Haushalten zu entscheiden.

Vor diese Kommission wurde eines Tages die nichtjüdische Frau eines Verwandten meines Gewährsmannes gerufen, um Auskunft über die Rassezugehörigkeit ihres Papageis Ruprecht zu geben.

Die Frau, durch die Vorladung nicht wenig in Schrecken versetzt, erklärte weinend, sie könne keine bestimmte Aussage machen, glaube aber, daß Ruprecht, da er den größeren Teil seines Lebens in ihrem Elternhaus zu Frankfurt verbracht habe, wohl als arisch angesehen werden könne.

Das Argument fand Gnade bei dem Vorsitzenden der Kommission, einem Oberinspektor Brunner, der sich von seinen Freunden in leichten Stunden gern "Judenknacker" nennen ließ. Der Papagei durfte am Leben, allerdings nicht weiter in einem Haushalt bleiben, der — hier sei das Protokoll zitiert, das uns erhalten geblieben ist — in rassischer Hinsicht einen Gefahrenherd darstellte. Er wurde deshalb nach Frankfurt zu der Schwester seiner Besitzerin geschickt. Der Transport erfolgte auf dem Luftwege, um dem Tier eine beschwerliche Eisenbahnfahrt zu ersparen. Die amtliche Genehmigung für diese ungewöhnliche Flugsendung wurde vom "Judenknacker" aus eigenem Antriebe besorgt, war er doch, wie sein Führer, ein Freund der Tiere. Vorausgesetzt freilich, daß es sich um rein deutschblütige Exemplare handelte.

Sägemehl

Von den unzähligen Geschichten aus dem spanischen Bürgerkrieg scheint mir eine besonders bemerkenswert, zum ersten, weil sie den Geist der Republikaner, ihren Mut und ihr Pathos so treffend widerspiegelt, und zum andern, weil ich sie aus dem Mund eines ihrer Gegner gehört habe.

Es war in einer jener kleinen Pariser Gaststätten, die von Russen — ehemaligen zaristischen Offizieren oder Händlern — betrieben werden. Auf dem Tisch, an den ich mich gesetzt hatte, lag ein Zeitungsblatt, das in großen Lettern von dem letzten verzweifelten Kampf einer republikanischen Abteilung im verratenen Madrid erzählte. Nicht nur die Soldaten und Offiziere, auch viele Frauen — Angehörige der umzingelten Truppe — waren niedergemacht worden.

"Wie schrecklich", sagte mit einemmal ein Gast, der am gleichen Tisch saß, und wies auf die Zeitung, "wie schrecklich! Aber haben sie es denn anders verdient, diese Roten? Nun, jetzt ist es aus mit ihnen für immer."

Keiner von den andern Gästen ging auf diese Worte ein, und der Mann, der so gesprochen hatte, erwartete wohl auch nichts anderes. Um so größer war sein und unser aller Erstaunen, als der Kellner, ein hagerer Mensch, der auf dem linken Fuß lahmte, mit lauter Stimme erklärte: "Ob sie es verdient haben, weiß ich nicht; aber was das Aus- und Zu-Ende-Sein anlangt, so möchte ich daran zweifeln…"

Er wurde von dem andern unterbrochen. "Was?" rief dieser erstaunt. "Das sagen Sie? Sind Sie nicht selber in Spanien gewesen, auf der Seite der Weißen?"

"Ja", entgegnete der Kellner, "ich bin unten gewesen, Sergeant in der Armee des Generalissimus, bis…" Er lüpfte das linke Hosenbein und ließ uns einen Holzfuß sehen. Dann fuhr er fort: "Aber wahrscheinlich hätte ich, auch ohne verwandet zu sein, die Armee verlassen. Warum? Hören Sie zu! Es war nach unserem Durchbruch zum Meer. Die Republikaner hatten zwar ihre Front wiederhergestellt, aber wir drückten sie noch immer zurück; sie hatten wenig Munition, und vor allem hungerte ihr Hinterland. Unsere Flieger bombardierten täglich mehrere Male die Städte hinter der feindlichen Front. Eines Tages warfen sie nach einem großen Luftangriff auch einige weiße Brote ab, die an Fallschirmen niederschwebten; sie trugen Zettel mit der Inschrift: "Das ißt man bei uns. Ergebt euch, und ihr kriegt auch die Bäuche voll." Und wissen Sie, was die Antwort war? Sie wurde uns am nächsten Tag von einer feindlichen Patrouille über das Drahthindernis geworfen: ein Paket mit Sägemehl und dazu die Botschaft "Das müssen wir fressen, und doch lieben wir die Freiheit!" Sehen Sie, damals faßte ich den Entschluß, wegzugehen, denn ich sagte mir: Was habe ich eigentlich hier zu suchen? Und ich wäre um Beurlaubung eingekommen, hätte mich nicht gerade an jenem Tage ein Granatsplitter getroffen."

Das Auge der Mutter

Im reichsten Lande der Welt, im einzigen Lande, das sich — wie uns in diesen Januartagen des Jahres 1947 immer wieder stolz und mahnend vorgehalten wird — den paradiesisehen Zustand der völlig freien kapitalistischen Wirtschaft zu erhalten verstanden hat, geschah es vor kurzem, daß einet Mutter von fünf kleinen Kindern durch das "Staatsjournal" von Wisconsin bekanntgab, sie könne wegen der seit Kriegsende maßlos gestiegenen Unterhaltskosten ihre Familie weder genügend ernähren noch einigermaßen anständig kleiden und biete deshalb eines ihrer Augen zu Transplantierungszwecken dem Meistbietenden an. Von dem Erlös wolle] sie eine Farm für sich und die Kinder kaufen.

Ob das von ihr geplante Geschäft zustande kam, ist nicht bekannt geworden. Die Zeitungen meldeten nur, daß die: Frau wohltätige Spenden im Betrage von zweihundertundfünf Dollar — und eine Verwarnung wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses erhielt.

Liebe zum Lied

Wo man singt, da laß dich ruhig nieder, Böse Menschen haben keine Lieder.

Kreuzstichinschrift auf einer Schlummerrolle in Hitlers "Bergbof"

Der Todestango

Im Laufe des Nürnberger Prozesses gegen Göring und Konsorten kamen auch die Vorgänge in den Vernichtungslagern Belzec und Janowski zur Sprache, wo an die 130 000 Juden von den Nazis vergast, erschossen, erhängt und gepfählt worden waren.

Die Hinrichtungen fanden zu den Klängen eines "Todestangos" statt, den jüdische Musiker auf Befehl des Lagerkommandanten komponieren und spielen mußten. Zuletzt wurde das ganze Orchester in einem Graben vor dem Lager Janowski abgeschlachtet.

Ave-Maria

Bei der Einlieferung eines Schubs französischer Frauen in das Konzentrationslager Auschwitz mußten sich die Gefangenen im schneebedeckten Hof bis aufs Hemd ausziehen, worauf ihnen die Haare abgeschnitten wurden. Nur Ärztinnen und Musikerinnen blieben, weil zu besonderen Diensten ausersehen, im wörtlichen Sinne des Wortes ungeschoren.

Als ein junges Mädchen auf die Frage nach ihrem Beruf angab, Sängerin zu sein, befahl ihr der leitende SS-Führer, auf der Stelle eine Probe ihrer Kunst zu geben. Bloßfüßig im Schnee stehend, mit blauen Lippen, sang die Gefangene das "Ave-Maria" von Gounod.

Wie ein Augen- und Ohrenzeuge des Vorfalles spater zu berichten wußte, wurden die Zuhörer ohne Ausnahme zu Tränen gerührt: Häftlinge sowohl wie auch SS-Manner. Die letzteren allerdings griffen, kaum daß der Gesang verklungen war, zu ihren Ochsenziemern, um den Eingelieferten die übliche Begrüßung zu verabfolgen.

Der Marquis de L…

Nachdem die Geheime Staatspolizei monatelang vergeblich nach dem Hauptschlupfwinkel flüchtiger Mitglieder der französischen Widerstandsbewegung im Gerichtsbezirk von V… gefahndet hatte, gelang es ihr endlich, mit Hilfe eines verräterischen Sergeanten aus den Reihen der "Hurenmiliz" (wie das Sicherheitskorps des Marschalls Petain von allen Patrioten genannt wurde) auf die richtige Spur zu gelangen. Diese führte zu dem Schloß des Marquis de L…, eines gichtbrüchigen alten Herrn, der — weit und breit als unversöhnlicher Gegner der Republik und Führer einer royalistischen Vereinigung bekannt — von den Nazis niemals der Verbindung mit den Revolutionären des Untergrundes verdächtigt worden war.

Vor den SS-Hauptmann gebracht, der die Haussuchung in seinem Schloß leitete, leugnete der Marquis mit keiner Silbe, daß er Feinden der Besatzungstruppen Unterkunft, Nahrung und Ausrüstung gewährt hatte.

Ob ihm bekannt sei, fragte der Hauptmann, daß sich unter seinen Schutzbefohlenen vornehmlich Kommunisten und anderes lichtscheues Gesindel befunden?

Für ihn habe nur das eine Gewicht gehabt, lautete die Antwort des Marquis: daß sie Franzosen auf der Flucht vor dem Feind Frankreichs waren.

Der Hauptmann, indem er eine laute Lache anschlug, bemerkte höhnisch, daß der französische Adel noch viel tiefer, als gemeinhin angenommen, gesunken sein müsse, wenn er aus freien Stücken bei der Auslieferung des Landes an die Roten Handlangerdienste leiste.

Darauf der Marquis: "Mein Herr, ich für meinen Teil ziehe ein rotes Frankreich bei weitem einem solchen vor, das vor Schande errötet."

Sprach´s umschlang mit einer Kraft, die man seinen gichtigen Armen nicht zugetraut hatte, den völlig übetraschten Hauptmann und stürzte sich mit ihm aus dem Fenster.

Die unbekannten Mädchen und der bekannte General

In den ersten Wochen des Jahres 1954 veröffentlichte die amerikanische Zeitschrift "Life" eine von ihrem nach Malaya entsandten Berichterstatter aufgenommene Photographie, die niemand, der noch einer menschlichen Regung fähig ist, ohne tiefe Bewegung betrachten kann. Man sieht darauf mehrere junge Chinesinnen, die — den Kopf leicht vorgeneigt — in einer Sandmulde knien. Ihre Kleider sind zerrissen, ihre Hände gefesselt; auf ihren ebenmäßigen Gesichtern liegt der sanfte Schein gleichmütiger Ruhe und Tapferkeit.

Das Bild, zweifellos die einzige Photographie dieser Mädchen, ist alles, was von ihnen übriggeblieben. Es wurde wenige Minuten vor ihrer Hinrichtung durch ein britisches Erschießungskommando geknipst.

Sonst wissen wir nichts von ihnen. Um so mehr ist uns über den bekannt, auf dessen Befehl sie, wie zweihunderttausend ihrer Mitbürger, die gleich ihnen nicht zu Verrätern an den Partisanen im Dschungel werden wollten, vom Leben zum Tode befördert wurden, um "Malaya zu befrieden". Er,General Templer, Hochkommissar der britischen Kolonie, ist nach dem Zeugnis seiner redseligen Gemahlin, der eine genaue Kenntnis des Mannes nicht abgesprochen werden kann, ein musterhafter Ehegatte, ein vorzüglicher Psalmensänger und ungewöhnlicher Tierfreund. Er trinkt seinen Tee mit Milch, aber ohne Zucker, raucht mäßig, zieht Scotch allen anderen alkoholischen Getränken vor, sammelt alte Bibeln und ist ein leidlicher Golfspieler, der 90 bis 100 Schläge für eine Partie braucht. Und da er nur das Herz und Gemüt, nicht jedoch die Rückenflosse und das Gebiß eines Haifisches besitzt (im Gegenteil, die Bilder von ihm, es gibt ihrer eine ganze Menge, zeigen ihn als distinguierten Herrn mit angesilberten Schläfen und rosigen Bäckchen), könnte man beinahe glauben, er sei ein Mensch.

Die Internationale

Eine Anekdote aus dem ersten Jahr der Hitlerherrschaft

Bei einer sogenannten Großfahndung nach den Druckern und Verteilern der Flugschriften, die bald von den Dachgärten der Warenhäuser herunterflatterten, bald in die Briefkästen der Kleinwohnungen fielen, bald wieder zwischen den Seiten der Telefonbücher in den Fernsprechzellen auftauchten, wurden in der westfälischen Industriestadt E… sechshundert Arbeiter festgenommen und einem Befehl des Polizeipräsidenten gemäß nicht ins Untersuchungsgefängnis, sondern in die SA-Kaserne am K… markt eingeliefert.

Den Zweihundert, die sich nach mehrstündigem Verhör noch auf den Beinen zu halten vermochten, wurde befohlen, im Hof vor der versammelten SA Aufstellung zu nehmen und die Internationale zu singen.

Was mit diesem Befehl bezweckt war: eine bloße Verhöhnung der Verhafteten oder eine Aufreizung der von den Mühen des Verhörs etwas ermüdeten SA-Männer zur Unterdrückung der "Revolte", ist unbekannt. Der Befehl wurde nicht befolgt. Hätte man von den Arbeitern verlangt, sie sollten das Vaterunser beten oder den Arm zum Hitlergruß heben oder was sonst bei solchen Gelegenheiten in SA-Kasernen und Konzentrationslagern von geprügelten Gefangenen gefordert wurde, sie hätten nach allem, was vorangegangen war, vielleicht gehorcht. Aber sie weigerten sich, das Lied, das sie in hundert Versammlungen, bei tausend Demonstrationen, an all ihren Feiertagen gesungen hatten, hier auf Befehl der SA zu singen.

Als die Braunen darauf mit dem Gewehrkolben antworteten, faßten die Gefangenen sich an den Händen. Einige Kolbenhiebe lang konnten sie sich so, gleichsam ein einziger Körper, noch aufrecht erhalten, dann stürzten sie alle zu Boden Bald waren sie nur noch ein wirres Knäuel zerschlagener Leiber.

Aus diesem Knäuel stieg, als die SA schon, in Gruppen rechts schwenkend, zur Schnapsausgabe abmarschierte, eine einzelne heisere Stimme empor und sang nun das Lied, das zu singen die Gefangenen sich nicht hatten zwingen lassen.

Die allgemeine Überraschung und eine Zähigkeit, die man dem zerbrochenen Körper des Sängers, eines schmächtigen Burschen, nicht zugemutet hätte, ließen es geschehen, daß zwei Strophen der Internationale verklangen, bevor die Stimme zum Schweigen gebracht wurde.

Zuviel Hirn

Die "New York Times", der man in solchen Dingen für gewöhnlich Glauben schenken darf, berichtete Anno 1947 über einen in mancher Hinsicht merkwürdigen Vortrag des Londoner Gehirnchirurgen Sir Allen Dickson Wright vor seinen Kollegen von der Königlichen Akademie der Wissenschaften und Künste. Sir Allen, ein Virtuose in seinem Fach, erläuterte die von ihm zur Heilung schwerer Melancholie erfolgreich angewandte Leukotomie — eine Operation, die darin besteht, daß die Schädeldecke des Kranken geöffnet und etwa ein Fünftel des Hirns entfernt wird. Bei den zur Veranschaulichung seiner Methode angeführten Beispielen handelte es sich fast ausschließlich um Bankiers, Börsenmakler und Industrielle, die an einer gemeinhin als Erschlaffung des Geschäftsgeistes (tired businessman's feeling) bekannten schwermütigen Apathie litten. Insbesondere hob Doktor Wright den Fall eines Fabrikdirektors aus Sheffield hervor, der von dem besagten Leiden in einem solchen Grade befallen wurde, daß er jegliche Arbeit aufgeben und sich zuletzt in ein Sanatorium für Trübsinnige zurückziehen mußte. Nach glücklich durchgeführter Leukotomie konnte der Geheilte nicht nur seinen Beruf wiederaufnehmen, er zeichnete sich sogar vor den übrigen Direktoren durch die Fähigkeit, schnelle Entschlüsse zu fassen und die Verantwortung für gewagte Geschäfte zu übernehmen, dermaßen aus, daß er alsbald in die Londoner Zentrale des Unternehmens berufen und dort nicht lange danach zum Vorsitzenden des Verwaltungsrates gemacht wurde.

Nach den Worten Sir Allens soll der Sheffielder Fabrikdirektor nur einer von Tausenden seinesgleichen sein, deren vorzeitiges Versagen auf ein Zuviel an Hirn zurückzuführen ist, welchem Übel nunmehr durch Leukotomie schnell und ohne übermäßige Gefahr abgeholfen werden kann.

Auf Einwände mehrerer Akademiker entgegnete Doktor Wright, daß dieser Eingriff keineswegs eine revolutionäre Neuerung, sondern nur die systematische Vervollkommnung einer bereits von den Alten geübten chirurgischen Praxis darstelle Wie man an Hand von Skelettfunden in Mexiko und Peru nachweisen könne, sei die Kunst der Schädeltrepanation schon den Azteken und Inkas bekannt gewesen. Der Anblick von Wahnsinnigen, die ihre Stirne gegen Felsen oder Bäume stießen, habe zweifellos die Medizinmänner der Vorzeit auf den Gedanken gebracht, daß in den Köpfen der Kranken böse Geister wohnten, denen man durch Öffnung der Schädeldecke einen Ausgang schaffen müsse. Im Grunde — schloß Sir Allen mit einer Ironie, deren wahrer Natur es keinerlei Abbruch tut, daß sie weder ihm noch seinen Zuhörern, noch auch den Redakteuren der "New York Times" bewußt ward — könne man demnach die leukotomische Heilung erschlafften Unternehmergeistes durch Wegschneiden des überschüssigen Gehirns als eine bloße Rückkehr zur Theorie unserer Vorfahren in grauen Zeiten auffassen.

Seltenes Beispiel von Mutterliebe

Es war in den letzten Apriltagen des Jahres 1945 — der Krieg ging zu Ende, die siegreichen russischen Truppen standen an der Grenze Thüringens, die Amerikaner an der Elbe da fuhr vor dem Gemeindeamt des Dorfes Ebenrode, in dem sich ein vorgeschobenes Kosakenkommando befand, die auf einem abseits gelegenen Gehöft wohnende Bäuerin Katharina Kleinmetz mit einem schwer beladenen Ochsenkarren vor und erklärte dem Wachtposten, sie habe für die Herren Russen etwas mitgebracht. Dieses Etwas stellte sich als ein Klafter Holz, eine Gans, ein Sack Kartoffeln und der gefesselte jüngste Sohn der Kleinmetz, Hans Georg, Unterscharführer in einem Regiment der Waffen-SS, heraus.

Befragt, was das bedeuten solle, erzählte die weit über ihre Jahre hinaus gealterte Frau, sie sei in der vergangenen Nacht, kaum eingeschlummert, durch verstohlenes Klopfen am Fenster geweckt worden. Zu ihrem freudigen Schrecken habe sie in dem Einlaßbegehrenden ihren Jüngsten erkannt, den sie, da seit vielen Wochen von ihm keine Nachricht mehr gekommen, schon aufgegeben hatte wie seinen Vater und seine drei älteren Brüder, die sämtlich den nichtsnutzigen Tod für Führer und Reich gestorben waren. Hans Georg, der wie ein Wolf über das Brot und die Milch hergefallen sei, die sie ihm mit zitternden Händen als erstes vorgesetzt, habe halb gesättigt wieder aufbrechen wollen, um zu seinem abgesprengten Kampftrupp zu stoßen, der versuchen wollte, die feindlichen Linien zu durchbrechen und den Anschluß an die zurückflutenden deutschen Divisionen zu finden. Sobald ihr klargeworden, daß sich der Junge in seiner Verblendung allem Zureden, allen Gründen der Vernunft und des Gefühls verschließet! würde, sei sie nur noch in ihn gedrungen, er solle wenigstens sein völlig zerrissenes Schuhwerk gegen die väterlichen Schaftstiefel, die sie aus einem Versteck im Stall holen wolle, umtauschen.

Das Weitere könnten sich die Herren Russen wohl denken, schloß die Kleinmetz, indem sie auf den Stirnverband Hans Georgs wies und durch eine Geste andeutete, wie sie ihn durch einen Hieb mit dem Axtstiel betäubt hatte.

Das hätte doch auch schlecht ausgehen können?" fragte durch einen Dolmetscher der sie verhörende Offizier.

"Ja, gewiß", gab die Kleinmetz zu, "aber was blieb mir anderes übrig? Sehen Sie, ich sagte mir: Wenn es nach seinem heilen Kopf geht, zieht er davon, und ich kriege ihn mein Lebtag nicht wieder zu Gesicht, da ist es schon besser, ich weiß ihn mit verbeultem Schädel bei Ihnen in Gewahrsam."

Das Gespenst im Opernhaus

Nach der Befreiung Wiens von den Nazis ging unter den russischen Truppen, die als erste in die Stadt eingedrungen waren, folgende Geschichte um, die ihresgleichen wohl nicht so leicht findet.

Bei einer der großen Judenverfolgungen im Jahre 1944 gelang es dem vierzehnjährigen Hans Bustin, den SS-Leuten, die ihn mit seiner Familie in einen für das Vernichtungslager Auschwitz bestimmten Viehwagen verfrachten wollten, im letzten Augenblick zu entwischen. Über ein Jahr lang trieb sich der Junge in Wien herum, immer in Gefahr, von einer Gestapostreife aufgegriffen zu werden. Während einiger Wochen fand er bei einem Arzt, der seine Eltern gekannt hatte, Unterschlupf. Nur durch einen glücklichen Zufall entging er der Verhaftung, als sein Versteck den Nazis verraten wurde. Auch das von einer warmherzigen Blumenfrau gewährte Asyl im Keller ihres Hauses erwies sich als unsicher. Um wenigstens während weniger Stunden ein Dach über dem Kopf zu haben, schlich er sich eines Abends in die Oper ein, wo er im Keller zwischen Gas- und Wasserrohren und allerhand Theatergerümpel einen ruhigen Schlafplatz zu finden hoffte. Sein Unglück wollte es, daß gerade an diesem Abend einer der Inspizienten auf den Gedanken kam, den Keller nach ausrangierten, aber noch brauchbaren Möbelstücken zu durchsuchen. Er näherte sich dem Winkel, in dem Hans Bustin lag, und hätte den Eindringling zweifellos entdeckt und — strammer Nationalsozialist, der er war — an die Gestapo ausgeliefert, wäre der Junge nicht in seiner Verzweiflung auf den Ausweg verfallen, sich ein zerfetztes Bajazzokostüm überzuwerfen und mit dumpfem Gestöhn an dem entsetzten Inspizienten vorbeizuhuschen. Dieser Vorfall gab Anlaß zu einem Gerücht unter den Theaterleuten, daß es im Keller des Opernhauses spuke; und dieses Gerücht hinwiederum sicherte dem Flüchtling ein Obdach, das er benützen konnte, bis ihm und anderen "Untergetauchten" die Stunde der Befreiung schlug.

"Uns kann keenerl"

Unter den Verhafteten, die kurz vor Weihnachten 1934 nach der Durchsuchung eines Häuserblocks im Berliner Osten zum Verhör in die SA-Kaserne General-Pape-Straße geschafft wurden, befand sich auch der Maschinenschlosser P…, in dessen Wohnung man einen Abziehapparat und das auf Wachsmatrizen geschriebene Manuskript einer illegalen Zeitung gefunden hatte.

Auf die von Kolbenstößen und Fußtritten begleiteten Fragen, wer das Manuskript verfertigt und von wem es P… erhalten habe, antwortete er, er sei Kommunist und verrate seine Genossen nicht. Der Sturmbannführer, der ihn verhörte, meinte darauf, er solle sich nicht mausig machen, man sei in der General-Pape-Straße schon mit ganz anderen fertig geworden, und gab dann Befehl, das "Schwein kirre zu machen".

Als das trotz Anwendung erprobter Mittel, wie Ansengen der Fußsohlen und Brechen der Finger, nicht gelang und der Gefangene auch in den Pausen zwischen den Ohnmachten stumm blieb, ließ der Sturmbannführer den Sohn des P… holen und vor dem Vater halbtot prügeln. Aber der Alte blieb stumm.

Sinnlos vor Wut, gab der Sturmbannführer seinen Leuten Order, den Kerl in den Keller zu schaffen.

Die Geschichte der Revolution berichtet von großen und stolzen Worten, mit denen zum Tode verurteilte Kämpfer starben. Die Pariser Kommunarden riefen, an der Mauer des Friedhofs Pere Lachaise stehend, den Füsilieren des Generals Gallifet ihr "Vive la Commune!" entgegen; Levine sprach bei der Verkündung des Todesurteils das Wort von den Kommunisten, die nur Tote auf Urlaub sind; die gefangenen Roten Kommissare von Baku sangen, als man sie zur Exekution führte, die Internationale. Der Maschinenschlosser p… tat nichts dergleichen. Als die SA-Männer unten im Keller die Revolver entsicherten, sagte er nur auf gut berlinerich:

"Uns kann keener!"

Der weiße und der schwarze Hund

Der Tiergarten menschlicher Dummheit und Niedertracht enthält nicht nur, wie in einer der vorangehenden Anekdoten berichtet, Papageien arischen und nichtarischen Geblüts, sondern auch anderes abstruses Getier.

Wenn man zum Beispiel als Fremder, den es danach gelüstet, die Denkwürdigkeiten der Stadt Washington in Augenschein zu nehmen, durch die entlegeneren Straßen ihres Nordwestviertels streift, kann es einem geschehen, daß man unversehens auf einen kleinen Friedhof stößt, dessen Firmenschild unter den Worten "Für unsere vierfüßigen Lieblinge" den Vermerk "Nur für weiße Klienten" trägt.

Wer nun etwa auf den Gedanken gerät, daß im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten schließlich auch die Tiere menschliche Unsitten annehmen könnten, wird durch die — in einem Bericht des Ausschusses zur Bekämpfung der Rassenungleichheit in der amerikanischen Hauptstadt wiedergegebene — Auskunft der Friedhofsdirektion eines Besseren | belehrt. Den Hunden, so heißt es dort mit dem in Geschäftsdingen gebotenen heiligen Ernst, mache es wohl nichts weiter aus, ohne Rücksicht auf die Hautfarbe ihrer Herren innerhalb einer und derselben Mauer beerdigt zu werden. Dagegen würde die Leitung eines Friedhofunternehmens von gewissem Rang durch die Zulassung verschiedenrassiger Besitzer von Hundeleichen sich einen unverzeihlichen Verstoß gegen die herrschenden Sitten zuschulden kommen lassen und dergestalt den sicheren Ruin herausfordern.

PS: In den öffentlichen Blättern der Vereinigten Staaten kann man immer wieder lesen, daß Washington heute — wir schreiben das Jahr 1948 — die unbestreitbare Metropole der westlichen Demokratie und christlichen Kultur ist.

Der Zeuge Zachow

Im Reichstagsbrandprozeß kam es bei der Vernehmung eines Zeugen, des Arbeiters Zachow, zu einem Vorfall, der — gemessen an anderen Szenen, die sich bei der Gerichtsverhandlung abspielten — vielleicht klein und wenig erwähnenswert scheinen mag, der jedoch gleichwohl zu den zutiefst ergreifenden Episoden jenes denkwürdigen Prozesses gehört.

Als der Vorsitzende den Zeugen ins Verhör nahm, brach dieser, ein vorzeitig gealterter, weißhaariger Mann, den eine jahrelange Erwerbslosigkeit und die Haft im Konzentrationslager offensichtlich gebrochen hatten, in Tränen aus und redete die Richter mit Titeln an, wie sie im Verkehr zwischen Leibeigenen und Herren üblich gewesen sein mögen. Trotzdem ließ er sich weder durch Zureden noch durch unmißverständliche Drohungen zu einer Aussage verleiten, die dem Oberreichsanwalt hätte von Nutzen sein können. Um dem Gericht nun wenn schon keinen Belastungszeugen, so doch einen reuigen Sünder vorzuführen — war doch Zachow verhaftet worden, weil er Kameraden, die den Gedanken an Widerstand nicht aufgegeben hatten, seine letzten zwanzig Pfennig für ihren "Kampffonds" zugesteckt hatte —, stellte der Oberreichsanwalt dem Zeugen die Frage, welcher Partei er sich nun, wenn er die Wahl hätte, anschließen würde. Worauf Zachow nach einer längeren Pause, in der er sichtlich mit sich rang, wohl wissend, daß eine befriedigende Antwort seine Freilassung, eine unbefriedigende seine Rücksendung ins Konzentrationslager und wahrscheinlich sogar die "Erschießung auf der Flucht" bewirken werde, dennoch erwiderte, er würde, weil er ein Arbeiter sei, für die Kommunisten stimmen.

Er wurde nach dieser zitternd und mit verlöschender Stimme gegebenen Antwort von zwei Wachmeistern in die Mitte genommen und eilig aus dem Saal getun ihn nachher nicht wieder gesehen.

Das blaue Tuch

Unter den vom Westberliner Rundfunk irregeführten und durch feindliche Agenten aufgehetzten Treptower Arbeitern, die am 17. Juni 1953 ihre Arbeit niedergelegt und sich in der Nähe des Rathauses zusammengerottet hatten, um nach Berlin zu marschieren, erschienen mit einemmal vier Junge Pioniere namens Carola Richter, Peter Barnick, Werner Schmidt und Wolfgang Schremmer und begannen selbstverfertigte Flugblätter folgenden Inhalts zu verteilen: "Arbeiter! Arbeiter, unterlaßt den Streik, denn ihr schadet euch selber. Nehmt die Arbeit wieder auf! Eure Thälmannpioniere."

Der in Kinderschrift auf blau liniierte Seiten aus einem Schulheft geschriebene Aufruf verfehlte seine Wirkung nicht. Von den schon zur Demonstration Entschlossenen wurden viele, nachdem sie die Flugblätter gelesen, wankend und verließen den Sammelplatz; andere fingen untereinander und mit den Rädelsführern zu diskutieren an; der ganze Haufe wurde von Unsicherheit und Mißbehagen befallen.

Als daraufhin einer der Rädelsführer in der Absicht, die sinkende Stimmung zu heben und die unbequemen Knirpse einzuschüchtern, auf diese zutrat und drohend fragte: "Wer hat euch befohlen, die Wische zu verteilen?" antwortete der Jüngste, indem er sich an sein Pioniertuch faßte: "Der, in dessen Namen wir das blaue Tuch tragen, Ernst Thälmann."

Der Bleistift

Von den vielen Anekdoten, die über Ludwig Renn im Umlauf sind, erscheint mir eine Aufzeichnung besonders wert, weil sie, gleichsam in der Nußschale, alles enthält, was diesen in vieler Hinsicht bemerkenswerten Mann kennzeichnet: seinen Mut, seine Bescheidenheit, seinen Humor und seine Höflichkeit, welch letzte nicht, wie es so häufig vorkommt, einen Mangel an Gemüt verdeckt, sondern aus einem reinen und warmen Herzen kommt.

Es war im spanischen Bürgerkrieg. Die italienischen Legionäre Francos hatten die Front der Republikaner durchbrochen und jagten diese vor sich her. Schon glaubten sie, einen entscheidenden Sieg errungen zu haben, als ihnen ein Gegenstoß zum Verhängnis wurde. Sie verloren nicht nur das Gelände, das sie bereits gewonnen hatten, sondern auch die ganze Schlacht.

Den Umschwung bewirkte vornehmlich ein Stabsoffizier der Internationalen Brigaden, der sich barhaupt und nur mit einem Bleistift in der Hand den flüchtenden Republikanern in den Weg stellte, sie durch seine Kaltblütigkeit und Umsicht zum Sammeln brachte und die aufs neue geordnete Truppe zusammen mit einigen eilig herbeigerufenen Verstärkungen zum Gegenangriff führte. Es war der Schriftsteller Ludwig Renn.

Erst in einer Kampfpause nach der geglückten Operation holte ihn sein Adjutant ein, der beim Alarm hinter ihm hergestürzt, aber im Durcheinander der Schlacht von ihm getrennt worden war.

"Hier Ihr Stahlhelm und Ihre Pistole, Genosse Kommandant!" rief er noch ganz außer Atem. "Und ich kann Ihnen nicht sagen, wie peinlich es mir ist, daß ich damit so spät komme. Ich bitte um Entschuldigung."

"Nict doch", entgegnete Renn, "wenn jemand sich zu entschuldigen hat, so bin ich es. Ich habe mir, ohne Sie zu fragen, Ihren schönen langen Bleistift ausgeborgt, und was gebe ich Ihren zurück? Einen jämmerlichen Stummel!" Bei diesen Worten überreichte er dem andern den Rest, der von dem Bleistift übriggeblieben, nachdem ihn eine Maschinengewchrkugel getroffen hatte. Dann schloß er: "Dabei hat mir schon meine Mutter immer geraten, auf geliehene Sachen besonders aufzupassen. Ich weiß wirklich nicht, wie es passiert ist, daß ich diesmal nicht daran gedacht habe."

Vom Gouverneur, der das Gruseln kennenlernte

Als der Gouverneur des nordamerikanischen Bundesstaates Massachusetts, Fuller, bald nachdem er die Vollstreckung der Todesstrafe an den unschuldig verurteilten Arbeitern Sacco und Vanzetti angeordnet hatte, im Laufe einer Europareise nach Berlin kam, wurde seine Ankunft auf Weisung der Behörden geheimgehalten. Dies geschah, um ähnlichen "peinlichen Szenen" vorzubeugen, wie sie sich in Paris abgespielt hatten, wo der hohe Gast durch "unwillkommene Besuche" zahlreicher Protestdelegationen gezwungen worden war, mehrmals das Hotel zu wechseln und schließlich vorzeitig abzureisen.

Die Vorsichtsmaßregeln der Berliner Behörden schienen zu klappen. Fuller gelangte unerkannt ins Eden-Hotel. Doch kaum hatte er sich zum ersten Imbiß niedergesetzt, läutete das Telefon.

"Gouverneur Fuller?" fragte eine Stimme auf englisch. "Am Apparat. Wer spricht dort?"

"Die Geister von Sacco und Vanzetti, die du gemordet hast!"

Der Imbiß blieb ungegessen, und Fuller fuhr mit dem nächsten Zug ab.

Die Stimme, vor der er die Flucht ergriff, war die Egon Erwin Kischs, der sich auf irgendeine Weise Kenntnis von Fullers Anwesenheit im Eden-Hotel verschafft hatte.

Die Zauberurne

Bei den Wahlen, die von der mit amerikanischer Hilfe zur Macht gelangten Regierung des iranischen Generals Zahedi veranstaltet wurden, um ein Parlament zu erhalten, das willfährig genug wäre, die Verstaatlichung der Ölfelder rückgängig zu machen und das flüssige Gold des Landes aufs neue den ausländischen Erdölgesellschaften auszuliefern, besuchte Loy Henderson, Botschafter der Vereinigten Staaten, das Wahllokal in der großen Teheraner Moschee Sepahsalar, um sich "von dem demokratischen Charakter der Wahl" zu überzeugen.

In der Moschee befand sich, als der Botschafter mit einem ganzen Troß amerikanischer und britischer Zeitungskorrespondenten dort eintraf, nur ein einziger Wähler, ein kleiner spitzbäuchiger Basarhändler. Er wurde angesichts der hohen Gäste von der Kommission mit besonderer Höflichkeit registriert und durfte, ohne erst das übliche Kreuzfeuer drohender Fragen bestehen zu müssen, seinen Stimmzettel einwerfen.

Nachdem er dies besorgt, verneigte er sich vor der Wahlurne dreimal bis zur Erde. "Warum tut er das?" fragte der Botschafter aus Amerika. Seine Frage wurde dem Händler übersetzt, worauf dieser, nach einer weiteren Verneigung, in vollem Ernst antwortete: "Ich erweise dieser geheimnisvollen Urne nur den Respekt, der ihr gebührt. Sie verfügt über Zauberkräfte. Wenn man eine Stimme für die Opposition hineinwirft, wird sie drinnen in eine Stimme für Zahedi verwandelt. Das ist doch ein Wunder, wie man es nicht alle Tage erlebt."

Es gibt Zeugen, die beschwören können, daß diese Geschichte der Wahrheit entspricht. Dagegen gibt es keine Zeugen, die mitzuteilen vermöchten, was nachher mit dem Spitzbauch geschehen ist.

Die Geschwister von Eavensbrück

Die nachfolgende Geschichte wurde mir von Anna Seghers erzählt, als wir uns nach sieben Jahren des Exils (die sie in Mexiko, ich in den Vereinigten Staaten verbracht hatte) im Hause eines gemeinsamen New-Yorker Freundes wiedersahen.

"Ich habe dir", sagte Anna gleich nach den ersten Worten der Begrüßung, "den Stoff zu einer Anekdote mitgebracht. Es handelt sich um einen Vorfall von der Art, wie du sie in deinen "Unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeiten" beschrieben hast."

Sie sprach in der ihr eigenen zerstreuten und zugleich überaus eindringlichen Weise, mit dem Glimmer des Traums in den jung gebliebenen Augen unter dem weiß gewordenen Haar. "Ja, ich kann mir den Bericht über diesen Vorfall nur in deiner Anekdotensammlung vorstellen, und deshalb bekommst du auch den Stoff geschenkt. Sonst hätte ich mir ihn nämlich selbst behalten."

Sie lachte, fuhr dann aber mit doppelter Eindringlichkeit fort: "Du mußt mir nur versprechen, daß du dir dazu auch die richtige Moral ausdenken wirst, damit es zum Schluß nicht etwa so aussieht, als werde die ganze Geschichte bloß erzählt, um das Walten einer gnädigen Vorsehung zu zeigen… Aber was denn?" unterbrach sie sich im selben Atemzug, "was wäre das für eine Vorsehung, die, um ihr gütiges Walten an drei Menschen zu erweisen, Hunderttausende in den Gaskammern und auf den Hinrichtungsstätten der faschistischen Vernichtungslager umkommen lassen muß! Nein, mit dem, was man ein Mirakel der Vorsehung nennt, hat der Fall, von dem ich dir erzählen will, nichts zu tun; wohl aber ist er im besten Sinne des Wortes wunderbar. Du weißt doch", sie neigte sich über den Tisch zu mir und senkte ihre Stimme "ich glaube an Wunder. Freilich ist es eine besondere Gattung; ich heiße sie die Wunder der Wirklichkeit, und wenn ich ihnen begegne, fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt — in die Zeit, da die Märchen noch zum Alltag gehörten."

Verloren in den Rauch ihrer Zigarette blickend, machte sie eine Pause.

Dann begann sie unvermittelt mit ihrer Geschichte, die ich hier wiederzugeben versuche, wie sie mir, über die Jahre hin, im Ohr haftengeblieben ist.

Als nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches bekannt wurde, daß sich unter den sogenannten entwurzelten Personen, welche die Landstraßen Deutschlands und die Sammellager der Alliierten bevölkerten, zahlreiche Kinder von vergasten und lebendig verbrannten Juden befanden, beschlossen die wenigen jüdischen Emigrantenfamilien, die auf der Flucht vor den Nazis ein Asyl in Mexiko gefunden hatten, dreißig dieser Waisen in ihre neue Heimat kommen zu lassen und an Kindes Statt bei sich aufzunehmen.

Es kostete Mühe, Geduld und Geld über alle Maßen, das Unterfangen in die Wege zu leiten, und mehr als einmal waren die Mitglieder des mit seiner Durchführung betrauten Komitees nahe daran, vor den unzähligen Transportschwierigkeiten, bürokratischen Tücken, Paßhindernissen und anderen Hürden mehr zu kapitulieren. Schließlich gelang es jedoch, auch die letzten Widrigkeiten zu überwinden, und an einem Herbsttag des Jahres 1946 sahen die nach dem Hafen von Veracruz gerufenen Pflegeeltern ihre künftigen Adoptivkinder die Fallreeptreppe eines brasilianischen Frachtdampfers heruntersteigen und auf sich zukommen. Jeder der kleinen Ankömmlinge hatte ein Medaillon aus Pappe mit seinen — zumeist sehr dürftigen — Personaldaten umgehängt. Zwei der Medaillons waren blank. Über ihre Träger, einen ungefähr sechsjährigen Knaben und ein etwas jüngeres Mädchen, hatte das Hilfskomitee trotz eifrigster Nachforschungen nichts anderes in Erfahrung bringen können, als daß sie in der Nähe des Konzentrationslagers Ravensbrück gefunden worden und daß sie vermutlich Geschwister waren.

Als sich bei der nach einem lange vorher festgelegten Plan vorgenommenen Aufteilung der Waisen auf die Adoptiveltern herausstellte, daß die Geschwister von Ravensbrück (so hatte man die beiden, deren Identität nicht feststand, getauft) voneinander getrennt und bei verschiedenen Familien — der Junge in Acapulco, das Mädchen in Puebla — untergebracht werden würden, fing die Kleine, indem sie sich verzweifelt an den Bruder klammerte, herzbrechend zu weinen an und konnte weder durch Zureden noch durch Liebkosungen beruhigt werden.

So rührend erschien das Mädchen in seinem Kummer den Eheleuten B., bei denen es Aufnahme finden sollte, daß sie sich, ohne Rücksicht darauf, wie schwer es ihnen fallen würde, entschlossen, auch den Knaben zu sich zu nehmen. Welches Vorhaben allerdings leichter gefaßt als ausgeführt war, denn die Familie aus Acapulco wollte den Jungen zunächst unter keinen Umständen freigeben, und es bedurfte vieler beredter Vorstellungen, vieler Tränen und Versprechen, bis sie sich umstimmen ließ.

Endlich aber war es soweit, und die B.s konnten mit den beiden Geschwistern nach ihrem Wohnort Puebla abreisen. Dort angelangt, machte Frau B. sich sogleich daran, die Kinder, die noch in dem Zeug steckten, das sie bei ihrer Auffindung im Ravensbrückischen getragen, frisch einzukleiden. Sie hatte die alten Kleider schon zu einem Bündel für den Lumpensammler zusammengeschnürt, als ihr der Gedanke kam, den Geschwistern je ein Kleidungsstück — eine Schürze und einen Rock — als Andenken an ihre dunkle Frühzeit aufzuheben.

Wer beschreibt die Erschütterung der Frau, als sie beim Säubern des Rockes einen mit halbverwischten Bleistiftkritzeln bedeckten Zettel entdeckte, dessen Botschaft lautete:

"Ich schreibe diese Zeilen eine Stunde vor meinem Abtransport nach dem Vergasungslager in der wahnwitzigen und doch nicht untergehenwollenden Hoffnung, daß meine zwei Kinder mit dem Leben davonkommen und Unterschlupf und Hilfe bei großherzigen Menschen finden könnten. Wenn diese Hoffnung sich erfüllt, bitte ich die Beschützer meiner Kinder, ein übriges zu tun und von ihrer Rettung meine Schwester, das einzige Mitglied unserer Familie, das sich ins Ausland retten konnte, zu benachrichtigen…"

Diese Schwester im Auslande war aber niemand anders als Frau B.

Der Zauberer

Egon Erwin Kisch kannte eine ganze Reihe von Taschenspielerstücken. Er liebte es sehr, sie vorzuführen, und gab mit der ihm eigenen Ironie gern zu, es sei etwas Wahres an den Reden boshafter Freunde, die da behaupteten, ihm bereite ein literarischer Triumph nur halb soviel Freude wie ein Erfolg als Zauberkünstler. Häufig und mit besonderem Stolz sprach er davon, daß ihn in seiner ganzen Magikerlaufbahn das Glück nur ein einziges Mal im Stich gelassen habe. In Wirklichkeit gab es der Durchfälle zwei. Doch von dem zweiten erfuhr ich erst spät und nicht durch ihn. Dagegen hörte ich die Geschichte des ersten mehrmals aus seinem eigenen Munde.

"Das kam so", pflegte er zu erzählen, "ich hatte einmal in der Pariser Emigrationszeit auf einer Weihnachtsfeier für die Kinder unserer Genossen aufzutreten. Alle waren von mei-nen Zauberkunststücken begeistert, nur ein Dreikäsehoch zeigte nicht die geringste Teilnahme. Ihr könnt euch denken, daß ich mich besonders anstrengte, ihn wenigstens zu einem Lächeln zu bringen; es war sozusagen eine Sache der Berufsehre. Aber der Junge blieb völlig gleichgültig. Schließlich hielt ich es nicht länger aus und fragte ihn rundheraus, ob er an meiner Zauberei etwas auszusetzen habe. Dabei ließ ich wie unabsichtlich drei Fünf-Francs-Stücke, mit denen ich spielte, verschwinden. Das ist, wie ihr wißt, eine meiner Glanznummern. Der Knirps zuckte auch dabei mit keiner Wimper. "Geld wegmachen", meinte er geringschätzig, "das können meine Eltern auch, bei uns zu Hause ist meistens keines da. Aber Geld herzaubern, ja, das wäre was!" Da war natürlich nichts zu machen, denn wer von uns verstand schon I im Exil Geld herzuzaubern?"

Die Kenntnis von Kischs zweitem Mißgeschick auf dem Gebiet der weißen und schwarzen Magie verdanke ich einem Freund, der es als Begleiter des Rasenden Reporters auf einer Eisenbahnfahrt in Mexiko miterlebte. Kisch freundete sich im Handumdrehen mit den anderen Passagieren, fast durchwegs Indios, an und begann alsbald zu zaubern. Eine Weile ging alles vortrefflich, bis plötzlich ein Weißer, der bis dahin stumm in seiner Ecke gesessen, laut auflachte, sich ins Gesicht griff und das rechte Auge aus der Höhle holte. Der gläserne Augapfel auf der Handfläche des Rivalen brachte Kisch um allen Erfolg. "Ich habe ihn selten so aufgebracht gesehen wie damals", schloß mein Gewährsmann seine Geschichte. ""Was für ein Schwindler!" rief er ein über das andere Mal aus. "Unsereins lernt seine Magikerkunststücke im Schweiße des Angesichts, strengt sich beim Zaubern ehrlich an, und so ein hergelaufener Kerl läßt sich einfach ein Auge ausschlagen und blufft dann die Leute mit seiner billigen Imitation aus Glas. Wenn das nicht Schmutzkonkurrenz ist!"…"

Ehre, wem Ehre gebührt

Vornehmen und begüterten Besuchern der chilenischen Stadt Sewell wird von den Direktoren der Braden Company, einer New-Yorker Unternehmung, der alle Minen von Sewell gehören, gern ein Denkmal gezeigt, das einen Indio in Bergmannstracht darstellt. Der Mann, dem dieses Monument — auf Kosten der Firma, wie die Herren Direktoren niemals zu erwähnen vergessen — gesetzt wurde, hieß Abraham Quintana und war ein Häuer mit sechzig Dienstjahren. Auf dem Sockel steht: "Ehre, wem Ehre gebührt. Dem ältesten Minenarbeiter. Braden Company" und darunter: "Bronzeguß, Produkt der Vereinigten Staaten".

Außer dem Denkmal erhielt Quintana von der Braden Company nichts geschenkt, und auch das Denkmal durfte er sich für gewöhnlich nur aus einiger Entfernung ansehen, denn es steht auf dem Gelände der Grubendirektion, dessen Betreten den Indios nicht ohne weiteres gestattet ist. De Verlegenheit, Abraham Quintana eine Altersrente abschlagen zu müssen — Unterstützungen dieser Art widersprechen dem von der Company über alles hochgehaltenen Grundsatz freien Unternehmertums —, entgingen die New-Yorker Herren durch eine glückliche Fügung des Schicksals: Der Alte starb an einem Herzschlag im Schacht. Für die Witwe hatte natürlich ihr Sohn zu sorgen, ein Bergmann wie sein Vater. Dies tat er auch bis zu dem Tage, an dem er fristlos entlassen wurde, weil er es gewagt hatte, der Gewerkschaft beizutreten und auf einer ihrer Versammlungen über die vollen Taschen der Aktionäre und die leeren Bäuche der Arbeiter zu sprechen. Da er in Sewell keine wie immer geartete Arbeit mehr bekam — so ergeht es nämlich in dieser chilenischen Stadt jedem Chilenen, den die Herren aus New York auf ihre schwarze Liste gesetzt haben —, mußte er sich von dannen scheren. Seine Mutter konnte er, für den es auch in der Umgegend, ja in der ganzen Provinz weder einen dauernden Verdienst noch eine Bleibe gab, nicht mit sich nehmen. Sie blieb in Sewell. Es gelang ihr, sich eine Weile mehr schlecht als recht durchzuschiagen, dann ging es nicht weiter. Nachbarn, die sie am Verhungern fanden, wurden bei der Grubendirektion vorstellig, um eine Rente für die Witwe des Mannes zu erbitten, dem das Unternehmen — Ehre, wem Ehre gebührt! — ein Denkmal errichtet hatte. Sie erhielten einen abschlägigen Bescheid. Die Braden Company sei keine Wohlfahrtsanstalt, und wohin geriete man, wenn man erst einmal anfinge, seine eigenen Grundsätze zu durchlöchern? Auch käme eine Unterstützung in diesem Falle nicht so sehr der Witwe eines treuen Betriebsangehörigen wie der Mutter eines gefährlichen Hetzers zugute, und obschon es in der Schrift heiße, daß man seinen Feinden vergeben solle, so sei damit nicht gesagt, man habe ihnen sein gutes Geld nachzuschmeißen.

Genossen des Sohns, der sich verborgen halten mußte, brachten die Greisin in einem Nachbarort, Ramcugua, unter. Dort sorgt die Gewerkschaft für sie. Was die Braden Company anlangt, so ist die Angelegenheit für sie erledigt. Im übrigen hat die Direktion den Aufwand nicht gescheut, die etwas unansehnlich gewordene Inschrift auf dem Denkmalssockel neu vergolden zu lassen; sie weiß schließlich, was sie sich, ihrer Stadt Sewell und deren Besuchern von Distinktion und Vermögen schuldig ist.

Kannitverstan

Ein holländischer Pfeffersack, der sich einbildete, viel von Kunstdingen zu verstehen, weil er einen erklecklichen Teil seiner — aus dem Handel mit den Kolonien stammenden Profite in Bildern und Plastiken anlegte, ließ sich durch einen Pariser Kunsthändler bei Picasso einführen und sagte nach einem Rundgang durch das Atelier des Malers: "Sie entschuldigen schon, Meister, ich verstehe alle Ihre Werke mit einer Ausnahme."

"Und die wäre?"

"Ihre Taube. Die ist mir zu primitiv. Die verstehe ich nicht."

Und Picasso darauf, ohne eine Miene zu verziehen: "Verstehen Sie Chinesisch, mein Herr?"

"Chinesisch?" entgegnete, indem er verdutzt die Augen aufriß, der Holländer. "Nein, aber…"

"Aber sechshundert Millionen verstehen es", bemerkte Picasso, öffnete die Türe und komplimentierte den kunstverständigen Pfeffersack hinaus.

Onkel Soras Gehlen und Werthers Lotte

Wer unterfängt sich, zu behaupten, daß die von Onkel Sam wieder zu Macht und Glanz gebrachten "Soldaten des Führers" keinen Sinn für humanistische Kulturwerke hätten?

In einem der Prozesse gegen dingfest gemachte Agenten der in amerikanischem Auftrag von einem ehemaligen Hitlergeneral geleiteten Organisation Gehlen gestand der Angeklagte, ein gewisser Schröder, bei dem man neben Sprengstoffen, Giftampullen, Rezepten zu Brandstiftungen und anderen Gaben des goldenen Westens erstaunlicherweise auch ein Buch gefunden hatte, ihm sei dieses von seinem Boß mit der Weisung übergeben worden, einen Satz daraus als Schlüssel für die Chiffrierung von Spionageberichten zu verwenden. Das Buch war Thomas Manns Roman "Lotte in Weimar".

Nur ein halber Schritt

John Foster Dulles, Außenminister in Präsident Eisen howers "Kabinett der großen Geschäftsleute", war dafür bekannt, daß er im Umgang mit Verhandlungspartnern, die seiner Politik der Stärke die Stärke ihrer Politik entgegensetzten, nicht nur die diplomatische, sondern auch die Höflichkeit schlechthin außer acht ließ, wobei er sich gern den Anschein eines altamerikanischen Biedermanns gab, der nichts auf der Welt fürchtet, nur Gott, und im übrigen kein Blatt vor den Mund nimmt. So bemerkte er einmal am Schluß einer internationalen Konferenz, auf der er mit allen Mitteln eine von der Sowjetdelegation vorgeschlagene Einladung der chinesischen Volksregierung zu hintertreiben versucht hatte, zu dem neben ihm stehenden Wyschinski, er halte, auch wenn er sich nächstens mit den Roten aus China an einen Tisch setzen müsse, an seiner Meinung fest, die da| laute, daß — nichts für ungut! — vom Kommunisten zum Verbrecher nur ein Schritt sei.

Worauf Wyschinski, indem er, verschmitzt blinzelnd, die Entfernung zwischen sich und dem anderen maß, "Ganz Ihrer Meinung, Mister Dulles!" entgegnete. "Manchmal, nichts für ungut, ist es auch nur ein halber."

Wer den Penny nicht ehrt

Gegen Ende des Jahres 1954 machte in den kanadischen Provinzzeitungen ein Bericht aus Winnipeg die Runde, demzufolge vor das dortige königliche Gericht ein gewisser John F. Smallman gebracht worden war, weil er einen vom Viehmarkt heimkehrenden Händler betrunken gemacht, niedergeschlagen und der ganzen Barschaft — es handelte sich um vierundsiebzig Dollar — beraubt hatte. Während des Prozesses stellte sich zum allgemeinen Erstaunen heraus, daß Smallman zu den reichsten Männern im Staate Manitoba gehörte. Auf die Frage des Richters, was ihm, einem zehnfachen Millionär, eine so geringfügige Summe wie die bei dem Raub erbeutete habe bedeuten können, entgegnete Smallman nicht ohne einige Indignation im Tonfall, er entstamme einer Familie, in der man seit undenklichen Zeiten nach der Lehre erzogen werde, daß, wer den Penny nicht so lieb habe wie den Dollar, niemals dazu komme, einen Dollar zu wechseln, geschweige denn Reichtümer zu sammeln.

John F. Smallman wurde, wie nicht anders zu erwarten, unter Zubilligung mildernder Umstände bedingt zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilt und gegen eine entsprechende Kaution auf freien Fuß gesetzt.

Der Bericht über den Prozeß war überschrieben: "Verirrung eines Mannes von Vermögen".

Sorge um den Menschen

Soweit überhaupt durch unsere Kraft etwas für die Beseitigung der Folgen geschehen kann — ich denke hier an die materiellen Schäden, die der Nationalsozialismus den von ihm Verfolgten zugefügt hat hat das deutsche Volk die heilige Pflicht, zu helfen, auch wenn dabei von uns, die wir uns persönlich unschuldig fühlen, Opfer verlangt werden, vielleicht schwere Opfer.

Bundeskanzler Konrad Adenauer

In dem badischen Städtchen S… lief zu Beginn des Jahres 1953 folgende Redensart um: "Ein Mann ein Wort, ein Kanzler ein Wortbruch."

Das kam so:

Zur selben Zeit, da bekannt wurde, daß der wegen Beihilfe zu Mord und Totschlag im Lager von Bergen-Belsen verurteilten Oberwachtmeisterin Hertha Ehlert von einem Adenauerschen Ministerium die sogenannte Heimkehrent-Schädigung zugesprochen worden war, wies die Wieder gutmachungsbehörde des Landes Baden-Württemberg d um eine Rente ansuchenden Markus W… aus S… mit der Begründung ab, die fettarme Kost im Konzen trationslager müsse seiner Gesundheit förderlich gewesen sein. Markus W… hatte, als die Nazis ihn hinter Stacheldraht setzten, ein schweres Gallenleiden.

Item

Die "Süddeutsche Zeitung" wußte im November 1954 von einer Entscheidung der westdeutschen Wiedergutmachungsämter zu berichten, einer Entscheidung, die — so unglaublich sie uns vorkommen mag — doch auf keinerlei Weise, weder durch ein Über- noch durch ein Untermaß aus der üblichen Praxis dieser Behörden hervorsticht.

Die besagten Ämter hatten, da sie der Meinung gewesen, das von den Nazis eingerichtete Getto zu Sosschnowitz habe eine Umzäunung aus Stacheldraht gehabt, drei Jahre lang an ehemalige Gettobewohner Haftentschädigung ausgezahlt. Als sie jedoch eines Tages feststellen zu können glaubten, daß die Nazis das Getto uneingezäunt gelassen und bloß I auf jeden, der es zu verlassen versucht, scharf geschossen hatten, stellten sie nicht nur alle weiteren Zahlungen an die ehemaligen Insassen des Sosschnowitzer Gettos ein, sondern machten sich ohne Verzug daran, die schon ausgezahlten Beträge wieder einzutreiben.

Merke: In derselben "Süddeutschen Zeitung" stand zur selben Zeit zu lesen, daß dem ersten Leiter der Hitlerschen Geheimen Staatspolizei, Regierungsrat Diehls, bis zur endgültigen Regelung seiner Pensionsansprüche von Rechts und Gesetzes wegen ein Übergangsgehalt gewährt werden mußte.

Und zum dritten

Als die sechsundsiebenzigjährige Rosa L… in Bonn um eine Rente einkam, weil ihr Mann von den Hitlerschen nach Riga verschickt und im dortigen Getto liquidiert worden war, wurde sie aufgefordert, urkundlich nachzuweisen, daß L… tatsächlich zu der angegebenen Zeit und an dem angegebenen Orte den Tod gefunden habe. Diesen Nachweis konnte die Witwe nicht erbringen. Man hatte das Getto in großer Eile liquidiert und keine individuellen Totenscheine ausgestellt. Doch ließ sich einwandfrei beweisen, daß alle 27 000 Insassen des Gettos ermordet worden waren. Allein dieser Umstand gereichte Frau L… zu besonderem Nachteil. Sie konnte nämlich infolgedessen auch keine Zeugen nennen, die den Tod ihres Mannes hätten bestätigen können, und so wurde sie abschlägig beschieden.

Merke: Nichts wäre falscher, als den Bonner Behörden Voreingenommenheit gegen Frau L… vorzuwerfen. Nur einen Tag später entzogen sie mit dem gleichen unwandelbaren Respekt vor dem Buchstaben des Gesetzes der Witwe eines im letzten Jahr der Hitler-Herrschaft hingerichteten Arbeiters die bisher gewährte Rente, weil eine Nachprüfung ihres Falles ergeben hatte, daß der Hingerichtete Gelder für die Hinterbliebenen Ernst Thälmanns gesammelt und sich dergestalt "der Unterstützung einer Gewaltherrschaft" schuldig gemacht habe.

Der Blinde, der Taube und der Lahme

Als die Franzosen nach dem Abschluß des Waffenstillstands in Indochina der vietnamesischen Freiheitsarmee die ersten Kriegsgefangenen übergaben, stellte sich heraus, daß diese in ihrer übergroßen Mehrheit nicht Soldaten, sondern Bauern waren, deren sich das französische Expeditionskorps als Geiseln, oder um überhaupt Gefangene in den Händen zu haben, bemächtigt hatte. Unter den wenigen Soldaten — es waren ihrer kaum ein Dutzend vom Tausend — zogen drei die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Der eine hatte im Kampf das Augenlicht verloren, der zweite war infolge schwerer Malaria ertaubt, und den dritten hatten die Wachmannschaften im Lager lahm geprügelt. Im Augenblick der Übergabe zog der Blinde plötzlich unter seinem Kittel eine rote Fahne mit gelbem Stern — die Fahne des freien Vietnam — hervor und schwenkte sie hoch über seinem Kopf und den Köpfen der Kameraden.

Bei näherer Besichtigung erwies sich, daß die Fahne von seltsamer Beschaffenheit war. Für das Fahnentuch hatte der Blinde sein einziges Hemd hergegeben. Der Lahme hatte mit Blut aus seinen Wunden für den dunkelroten Farbton gesorgt. Und der Taube hatte sich von dem wenigen Quinacrin, das er als Mittel gegen seine Fieberanfälle erhielt, so viel erspart, daß der Stern gelb gefärbt werden konnte.

Die Fahne war schon zwei Jahre alt. Der Blinde, der Taube und der Lahme hatten sie heimlich in der Gefangenschaft angefertigt, weil man doch, wie sie sagten, am Tage des Sieges nicht ohne Fahne dastehen durfte.

"Und ihr habt immer an diesen Tag geglaubt?" fragte ein ausländischer Korrespondent.

"Ja", erwiderte der Lahme. "Wir sind ihm immer entgegenmarschiert."

"Wir haben sein Kommen immer gehört", sagte der Taube der die Frage von den Lippen des Dolmetschers ablas.

"Wir haben ihn immer vor uns gesehen", fügte, der Blinde hinzu.

"Es klingt unglaublich", schließt der Bericht des ausländischen Korrespondenten, "aber so war es: Da standen die drei, da wehte ihre Fahne, und da blaute der Tag des vietnamesischen Sieges."

Immer dasselbe

Mütter bringen Kinder zur Welt. Keine gleicht der anderen Und doch ist es immer dasselbe. Blumen sprießen im Frühling. Jede unterscheidet sich von der anderen. Und doch ist es immer dasselbe.

Warum sollte es uns wundern, daß Menschen in derselben Weise für den Frieden kämpfen, auch wenn sie verschiedene Gesichter haben, verschiedene Sprachen sprechen und in verschiedenen Landstrichen wohnen?

Im Dorfe Mutsuras auf der griechischen Insel Kreta rotteten sich, als amerikanische und britische Soldaten darangingen, auf dem Dorfanger einen Flugplatz für die nordatlantischen Streitkräfte anzulegen, die Frauen mit ihren Kindern zusammen und erklärten dem fremden Kommandeur, daß sie dieses Vorhaben nicht dulden würden.

Als die Soldaten die Bäume auf dem Anger fällen wollten, wurden sie mit Steinen beworfen.

Als sie Wasser aus dem Brunnen schöpften, fand sich Kot darinnen.

Als sie mit Traktoren und Erdbaggern angefahren kamen, versperrten ihnen die Frauen und Kinder mit ihren Leibern den Weg.

Nach drei Tagen gaben die Eindringlinge ihr Vorhaben auf.

Raymonde Dien legte sich auf die Schienen einer französischen Eisenbahn, um den Transport von Material für den "schmutzigen Krieg" in Vietnam zu verhindern. Die Einwohner des japanischen Fleckens Uzinada hockten hundertacht Tage und Nächte auf ihrer Straße und blockierten so die Zufahrt zu einem im Bau befindlichen Schießplatz der Besatzungstruppen. Badische Jungarbeiter mauerten, ohne der Gefahr für Leben und Freiheit zu achten, viermal die von den Amerikanern angelegten Sprengkammern unter den Brücken der Neckartalbahn zu. Eskimos auf Grönland zerbrachen ihre Schlitten, um nicht Vorräte für eine Gruppe amerikanischer Militäringenieure fahren zu müssen, die das Terrain eines neuen Stützpunktes vermaßen.

Mütter bringen Kinder zur Welt. Blumen sprießen im Frühling. Menschen kämpfen für den Frieden. Daß sie es in derselben Weise tun, auch wenn sie verschiedene Gesichter haben, verschiedene Sprachen sprechen und in verschiedenen Himmelsstrichen wohnen — wen könnte das wundern?

Die Steine reden

In Famagusta auf Zypern — wer erinnert sich bei diesem Namen nicht an die Erzählungen von Fortunat und seinen Söhnen? — ereignete sich vor kurzem eine Geschichte, die vielleicht weniger wunderbar, aber dennoch nicht weniger merkenswert ist als das Fortunatmärchen.

Eines Tages war an den Mauern vieler Häuser zu lesen: Es lebe der Friede und die Vereinigung Zyperns mit dem griechischen Mutterland!"

Der britische Gouverneur gab sofort Befehl, diese Aufschriften zu entfernen. Das kostete nicht wenig Mühe und Geld, aber weder mit dem einen, noch mit dem anderen wurde gespart. Am Abend war die Arbeit getan. Am nächsten Morgen stand an den Mauern: "Es lebe der Krieg und die Kolonialherrschaft! Der britische Gouverneur." Wieder wurde die Schrift getilgt. Während der Nacht bewachten Patrouillen der Polizei und des Besatzungsheers die "gesäuberten" Mauern. Am nächsten Morgen leuchteten vom Turm der Kathedrale die Worte: "Wenn ihr die Schrift auch wegwischt, die Steine reden!"

Gründlichkeit, Ordnungsliebe und Geschäftsgeist

Diese Geschichte wird erzählt, weil so viele Menschen kommen und sagen: "Man lasse geschehen sein, was geschehen ist, und wecke die Toten nicht auf!" Weil so viele Menschen kommen und das sagen, darum wird diese Geschichte erzählt.

Der Kommandeur des Vernichtungslagers Petrikow, ein ehemaliger Buchhalter und späterer SS-Führer namens Müller, liebte es, seinen Opfern, bevor er sie erschießen ließ — man war in Petrikow auch im vorletzten Kriegsjähr noch nicht ganz auf der Höhe und benutzte zur Liquidierung von zwanzigtausend jüdischen Männern, Frauen und Kindern statt des rationellen Giftgases die Schußwaffe —, lange Reden über das zu halten, was er den deutschen Charakter und dessen Tugenden nannte, wobei er insbesondere die Gründlichkeit und Ordnungsliebe hervorhob.

Daß er diese beiden in hohem Grade und dazu noch ein gerüttelt Maß von Geschäftsgeist besessen haben muß, geht aus einem Brief hervor, den man nach dem Sieg über die Hitler-Armee im Kleidermagazin des Petrikower Lagers gefunden hat. Der Brief stammt von einer Unbekannten, über die wir nur wissen, daß ihr Vorname Rahel und sie selbst am 26. April 1943 noch unter den Lebenden gewesen ist, und es heißt darin: "In Petrikow schaut es so aus: Vor dem Grab wird man ganz nackt entkleidet, muß niederknien und wartet auf den Schuß. Angestellt stehen die Opfer und warten, bis sie dran sind. Dabei müssen sie die ersten, die Erschossenen, in den Gräbern sortieren, damit der Platz gut ausgenützt und Ordnung ist. Die ganze Prozedur dauert nicht lange. In einer halben Stunde sind die Kleider der Erschossenen wieder im Lager. Nach der Aktion hat der Judenrat eine Rechnung über dreißigtausend Zloty für verbrauchte Kugeln bekommen. Die mußten bezahlt werden."

Über das weitere Schicksal des Müller haben wir nichts weiter erfahren können, doch ist hundert gegen eins zu wetten, daß er, wenn noch am Leben, irgendwo westlich der Elbe in angenehmsten Verhältnissen seine Tage verbringt. Auch deshalb wird diese Geschichte erzählt, und ihr solltet sie, traun,fleißig weitererzählen.

Nachschrift. Im Juli des Jahres 1955 stand in Münchener Zeitungen zu lesen, daß ein Abgeordneter der Christlich-Sozialen Union, Heinrich Junker, im bayrischen Landtag den Antrag eingebracht habe, die öffentliche Besichtigung des Krematoriums im ehemaligen Konzentrationslager Dachau nicht weiter zu gestatten, um so "der Propaganda, in diesem Krematorium seien Opfer des Nationalsozialismus vergast oder lebendig verbrannt worden", ein Ende zu machen. Diese Propaganda schädige unter anderem auch den Fremdenverkehr.

Stahl

Als der Schneidergeselle Hensel, dem die Partei der Arbeiterklasse die Leitung der Maxilütte anvertraut hatte, die Ingenieure des Werks zusammenrief, auf daß man miteinander bekannt werde, fand er sich einer schier unübersteigbaren Mauer des Mißtrauens und der Geringschätzung gegenüber.

"Seien wir offen", sagte Hensel, der gewohnt war, den Stier bei den Hörnern zu packen, "Sie trauen mir einfach nicht die Fähigkeit zu, die Maxhütte zu leiten."

"Wie könnten wir's auch", fragte nach einigem Zaudern einer der Ingenieure, "wo Sie noch nie ein Stück Stahl in der Hand gehabt haben?"

"Doch: die Nadel!" entgegnete Hensel und schlug damit die erste Bresche in die Mauer. Im Jahre darauf hatte er, der nachts studierte, um tags Berichte prüfen und Anordnungen geben zu können, die Achtung der Ingenieure in solchem Maße erworben wie kein "gelernter Direktor" vor ihm.

Herz und Hose

Auch das Lachen ist eine Waffe. Die Dänen wußten sie im Kampf gegen die verhaßte braune Okkupation nicht schlecht zu gebrauchen, wie die nachfolgende Geschichte bezeugt, die sich im Jahre 1944 zu Kopenhagen begeben hat.

Eines schönen Sommertags mußten alle dänischen Gäste das Hotel d'Angleterre räumen, um Platz für einen hohen Würdenträger des Dritten Reichs zu machen. Zum Schutze des kostbaren Besuchs bezogen mehrere schwer bewaffnete SS-Soldaten vor dem Hoteleingang Wache, und zu ihrem Schutze wiederum wurde vor jedem Posten ein Stahlschild aufgestellt. Diese Schilde, nicht unähnlich den Blechschirmen der Pariser Straßenabtritte, ließen von den hinter ihnen Stehenden nur Kopf und Stiefel sehen. Einem der Soldaten fiel es nun auf, daß die vorbeikommenden Dänen bei seinem Anblick stutzten und ihren Weg dann mit einem höhnischen oder grimmigen Feixen fortsetzten. Als er daraufhin hinter seiner Schutzwehr hervortrat, um nachzuschauen, was die Vorübergehenden zu solcher Reaktion veranlaßt haben mochte, stach ihm eine mit Kreide auf den Stahl gekritzelte Inschrift in die Augen. Sie lautete: "Ich habe keine Hose an, wohin nur mit meinem Herzen?"

Die Träne des Löwen

Als der achtzigjährige Churchill, dem Drängen seiner eigenen Partei nachgebend, die auf diese Weise ihre Aussichten im Wahlkampf zu verbessern hoffte, vom Amte des Premierministers zurücktrat, besuchte ihn nach einem alten Brauch des Hofzeremoniells die Königin in seinem Amtssitz, Downingstreet 10, um mit ihm und seinen nächsten Mitarbeitern zu tafeln. Die Zeitungen, die mit der bei solcher Gelegenheit gebotenen Ehrfurcht und Genauigkeit über die Toiletten, Speisen, Getränke und Trinksprüche berichteten, ließen auch die Rührung zu ihrem Rechte kommen, indem sie übereinstimmend erwähnten, daß im Auge des alten Löwen eine Träne geglänzt habe, als ihm von Ihrer Majestät beim Abschied die Hand zum Kuß gereicht wurde.

Einer seiner alten Freunde, Lord E…, soll daraufhin zu dem Schatzkanzler, Sir B…, bemerkt haben, man hätte diese Träne konservieren und im Panzerkeller der Bank von England verwahren sollen, denn sie stelle wegen ihres Seltenheitswertes eine größere Kostbarkeit dar als die indischen Juwelen der Krone.

In der Tat, wie kostbar war diese Träne, wenn man bedenkt, was die Augen des Löwen in seinem langen Leben alles zu sehen vermocht hatten, ohne feucht zu werden: die ersten Konzentrationslager im Burenkrieg und die Gräber der durch seine dilettantischen Schlachtpläne hingeopferten englischen Regimenter auf Gallipoli; die Greuel der von ihm angezettelten und verlorenen Interventionsfeldzüge gegen die junge russische Revolution und das Martyrium der in Kenia, Malaya und anderen Kolonien gejagten und hingerichteten Freiheitskämpfer. Ja, wie kostbar war doch die Träne, die da aufglänzte im Auge des Löwen über einer vom Whisky sanft geröteten Nase!

Das Zögern des Reverend Tanimoto

Die amerikanische Rundfunkgesellschaft NBC widmete eine inrer sonntäglichen Fernsehsendungen, die unter dem Titel "Das ist euer Dasein!" laufen, dem Leben und Wirken eines im zarten Jünglingsalter zum Christentum bekehrten, von Missionaren nach Kalifornien gebrachten, dort zum Methodistenpriester ausgebildeten und später in seine Heimat zurückgeschickten Japaners namens Kijoschi Tanimoto.

Der gelbhäutige Seelsorger wurde dem Publikum als Hirte einer einzigartigen Herde präsentiert: als Betreuer von fünfundzwanzig jungen Mädchen aus Japan, denen die Großherzigkeit kalifornischer Millionäre gestattet hatte, der Segnungen einer neuerdings hochentwickelten ärztlichen Kunst, der plastischen Chirurgie, teilhaftig zu werden, die es fertigbringt, auch zur Unkenntlichkeit verstümmelten Gesichtern einen Schein menschlichen Aussehens zurückzugeben — welch Samariterdienst in diesem Falle seine besondere Note durch den Umstand erhielt, daß die Mädchen Einwohner der ersten von einer amerikanischen Atombombe getroffenen Stadt, Hiroshima, waren.

Der japanische Reverend, heißt es in einem Pressebericht über jene Fernsehsendung, habe mit dumpfer Stimme und unbewegter Miene von der Katastrophe erzählt, bei der er wie durch ein Wunder mit dem Leben davongekommen; dann sei auf der Bühne ein kräftiger Amerikaner erschienen und dem nichtsahnenden Tanimoto als Mr. Robert Lewis, vormals Pilot des Flugzeugs "B-29, Encla Gay" vorgestellt worden, desselben, das die Bombe auf Hiroshima abgeworfen hatte.

Ob Tanimotos Miene auch weiterhin unbewegt blieb, ist uns nicht bekannt. Aus dem bereits erwähnten Bericht erfahren wir nur, daß er die ihm entgegengestreckte Hand des Mr. Lewis erst "nach einem leichten Zögern" ergriff, worauf dieser, der gegenwärtig den Posten eines Personalchefs bei der Henry Heide Inc., Konfekterzeugung, Manhattan, bekleidet und sich einer beneidenswerten Frische und Unbekümmertheit zu erfreuen scheint, die Geschichte des Bombenabwurfs, so wie er ihn erlebt hatte, zum besten gab.

"Eine Unterhaltung erster Klasse!" lautet das abschließende Urteil des ungenannten Reporters, dem wir den merkwürdigen Bericht — die Quelle unserer Anekdote — verdanken.

Wer's nicht glaubt, zahlt weniger als im Märchen, nämlich nur den Preis für ein Heft der Zeitschrift "Time" vom 23. Mai 1955.

Der gute und der schlechte Geschmack

Vom Senat der Vereinigten Staaten wurde, als aus allen Tielen des Landes Klagen über eine erschreckende Zunahme der von Jugendlichen begangenen blutigen Untaten einliefen, ein besonderer Ausschuß eingesetzt, der unter anderem den Einfluß der sogenannten Horror-Comics auf die Jugend untersuchen sollte, jener billigen Bildheftchen, deren haargenaue Schilderungen von Morden, Sittlichkeitsdelikten und Grausamkeiten aller Art nach Ansicht der meisten Erzieher und Jugendrichter eine wahre Schule des Verbrechens darstellen. Ganz anderer Meinung war freilich der vor dem Ausschuß als Experte erscheinende Vorsitzende des Verbandes der Comics-Industrie, Mister William A. Graines. Mit der Würde und dem Selbstbewußtsein eines Mannes, der zweihunderttausend Dollar im Jahr macht, erklärte er, seine Firma sei stolz auf die Heftchen, die sie produziere. Es gebe wohl auch einen bestimmten Personenkreis, der daran keinen Gefallen finde, doch das sei eine Sache des persönlichen Geschmacks. Er, Graines, wisse sich jedenfalls mit dem, was man den guten Geschmack des achtbaren amerikanischen Bürgers nenne, in voller Übereinstimmung.

Hier nun zog einer der Senatoren, der Ehrenwerte Estes Kefauver, ein Heft hervor, dessen Titelblatt mit dem grellfarbigen Bild eines Mannes geschmückt war, der in der Rechten eine Axt, in der Linken einen abgehackten Frauenkopf hielt, und fragte, ob Mister Graines auch angesichts dieses seines Produkts an der soeben geäußerten Ansicht festhalte.

Natürlich, erwiderte ohne Wimperzucken der biedere Erzeuger von Greuelheftchen. Es komme allerdings, setzte er verbindlich hinzu, bei solchen Bildern auf gewisse Nuancen an, die man beachten müsse. Was er damit meine, wollte Kefauver wissen.

Und der andere darauf: "Ja, sehen Sie, Senator, wenn zum Beispiel der Gentleman auf dem Titelblatt den Kopf der Lady etwas höher hielte, so daß man das aus dem Hals tropfende Blut sehen könnte, dann wäre das mit dem guten Geschmack nicht mehr vereinbar."

Wundert es jemand, daß der Ausschuß in seinem Bericht an das Hohe Haus zu dem Schluß kam, von einer Kontrolle der Comics-Industrie abzuraten, weil eine solche Maßnahme sowohl gegen das Prinzip der Pressefreiheit als auch gegen das Ideal des freien Unternehmertums verstieße.

Eisele

"Wir sind dazu da, unsere Kinder für das Leben, nicht für den Tod zu erziehen!" pflegte Anton Eisele, Lehrer in Enddersdorf im Schwäbischen, zu seinen Nachbarn am Tisch des Dorfkrugs zu sagen. Er sagte es auch zu sich selbst, als er in der dunklen Zeit, da der Bonner Kanzler Adenauer mit allen Mitteln die Wiederaufrüstung für einen Krieg in fremden Diensten betrieb, seine Schüler einen Aufsatz mit dem Thema "Warum wird uns die Remilitarisierung ins Verderben führen?" schreiben und die Aufsatzhefte von den Eltern oder anderen erwachsenen Verwandten der Kinder lesen und unterzeichnen ließ.

Er wurde von einem ehemaligen SS-Mann, der es, wie im Bonner Staat üblich, wieder zu Amt und Ehren gebracht hatte, angezeigt und daraufhin in Stuttgart vor Gericht gestellt.

Nach Verlesung der Anklageschrift, die den Lehrer beschuldigte, staatsgefährdende Gedanken verbreitet zu haben, fragte der Richter unseren Eisele, warum er gerade dieses Aufsatzthema gewählt habe.

Eisele, in Miene und Gebaren die Unschuld selber, entgegnete, die Lehrer seien doch von ihrer vorgesetzten Behörde angewiesen worden, die Themen für den deutschen Aufsatz aus der Gegenwart zu nehmen.

Die Antwort rief auf den Gesichtern der Zuhörer, deren es eine ganze Menge gab, war doch halb Endersdorf zur Gerichtsverhandlung gekommen, kein schlechtes Grinsen hervor, und nicht einmal der Richter konnte ein Lächeln unterdrücken.

Da griff der Staatsanwalt ein. Obwohl ein schneidiger Herr und von soldatischem Gehaben, zwang er seiner Stimme die sanftesten Töne ab. Ob der Angeklagte vielleicht von jemand dazu angestiftet worden sei?

"An-ge~stif-tet?" gab Eisele zurück und wiegte nachdenklich den mächtigen Schädel.

"Jawohl: angestiftet!" wiederholte der Staatsanwalt und setzte hoffnungsvoll hinzu: "Steckt vielleicht eine — fremde Macht dahinter?"

Wieder wiegte Eisele den Kopf. "Kann schon sein, Herr Staatsanwalt. Ja, so was steckt wohl dahinter."

Unter den Zuhörern entstand ein Getuschel; der Richter beugte sich so weit vor, daß der Tisch unter seinem Gewicht knarrte; und der Staatsanwalt preßte ganz heiser heraus: "Aha! Und wer war's?"

"Wer?" erwiderte Eisele und schneuzte sich umständlich in sein großes blau-weiß gewürfeltes Taschentuch. "Die Oberpostdirektion, Herr Staatsanwalt. Mir hat das Soldatenspielen schon lange nicht gefallen. Dann hab ich eines Tags einen Brief gekriegt, aus München, da war ein Poststempel drauf mit einem Spruch: "Mitdenken, mitreden, mithandeln — dein Beitrag zur Demokratie!" Recht hat die Oberpostdirektion, hab ich gesagt. Und dann hab ich den Aufsatz schreiben lassen."

Anton Eisele verlor den Prozeß, er wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Aber, so sagte er später im Dorfkrug von Endersdorf zu seinen Nachbarn, das Geld reue ihn nicht, denn ihm scheine, daß er am Ende mehr gewonnen als verloren habe. Und dem Chronisten scheint desgleichen.

Der Weg des Hirten

Einer Moskauer Delegation, die — nachdem zwischen der Sowjetunion und Israel diplomatische Beziehungen angeknüpft worden waren — das "Heilige Land" bereiste, wurde unter anderem auch ein Kibuz, eine der auf primitiver Gütergemeinschaft beruhenden landwirtschaftlichen Genossenschaften, gezeigt.

Der Vorsitzende des Kibuz konnte es sich nicht versagen, die Gäste bei jeder Gelegenheit auf den, wie er ihn nannte, urwüchsigen Sozialismus seiner Genossenschaft hinzuweisen. "Nehmen Sie zum Beispiel unseren Schafhirten", sagte er, als man nach einem Rundgang durch die Ställe und Felder zu den Weideplätzen kam, "der Mann verkörpert schon durch seinen Werdegang unser Prinzip der vollständigen Gleichheit und Brüderlichkeit. Er war früher Universitätsdozent in Heidelberg. Ich weiß nicht, ob Sie mir in Ihrem Lande einen ähnlichen Fall nennen könnten."

"In der Tat, das könnten wir nicht", erwiderte eines der Delegationsmitglieder aus dem Lande des Sozialismus, "bei uns ist es nämlich genau umgekehrt, wir versuchen aus Schafhirten Universitätsdozenten zu machen."

Der Flüchtling

Der Dichter Hans Marchwitza wurde während eines Besuchs im Ruhrgebiet, wo er in seiner Jugend harte Jahre als Bergmann verlebt hatte, von einem Wachtmeister der Adenauerschen Bundespolizei, bei dem er sich nach einer Fahrtverbindung erkundigte, gefragt, ob er "nicht auch Flüchtling" sei.

"Ich? Flüchtling?" entrüstete sich Marchwitza, der vor kurzem in der Deutschen Demokratischen Republik mit einem Nationalpreis ausgezeichnet und zum Mitglied der Akademie ernannt worden war. "Wie kommen Sie darauf?"

"Ganz einfach", entgegnete der Wachtmeister. "Ich habe an Ihrer Aussprache erkannt, daß Sie aus Oberschlesien sind: Da müssen Sie doch von dort vertrieben worden sein."

Jetzt nickte Marchwitza, daß ihm der weiße Schopf in die Stirn fiel. "Allerdings. Und schon 1910. Da haben mich di Grafen von und zu Henkell-Donnersmarck, dieselben, dem es heute bei euch noch so gut geht und die damals Besitzer der inzwischen zum Volkseigentum gewordenen schlesischen Gruben waren, durch ihre Hungerlöhne aus der Heimat vertrieben. Und wenn Sie noch mehr davon hören wollen…"

Doch auf mehr war der Wachtmeister nicht erpicht.

Die Baude im Riesengebirge

Winter 1934 trafen sich des öfteren in einer abgelegenen Riesengebirgsbaude Genossen aus dem Böhmischen und Genossen aus Deutschland. Die einen brachten Zeitungen und Flugschriften, die anderen Nachrichten. Man blieb nur eine Nacht beisammen, aber in den wenigen Stunden wurde viel gesprochen. Mehrere der Geschichten habe ich bereits aufgeschrieben. Hier sind zwei weitere. Der sie erzählte, war ein Kumpel aus dem Mansfelder Revier.

Blut und Boden

In dem schwäbischen Dorf G…, dessen Einwohner, kleine Bauern, sich aus Angst vor den Zwangsversteigerungen und im Glauben an die Versprechungen der Nationalsozialisten diesen schon früh angeschlossen hatten, dann aber, als unter Hitler alles beim alten blieb, die Steuern und der Bodenzins nicht abgeschafft wurden, die Reichen reich blieben und die Armen arm, in eine große Verbitterung gerieten, erschien am "Erntetag" eine Abteilung der SA aus der Kreisstadt, um die freiwillige Winterhilfsspende einzutreiben.

Als ein Truppführer und drei SA-Männer zu dem Christoph V… kamen, einem alten Bauern, dessen hitziger Sohn im Konzentrationslager saß, weil auf seinem Scheunentor gestanden hatte: "Hitler gib Brot, sonst gehen wir tot!", sagte der Alte, er habe nichts zu verschenken, und wenn sie durchaus Spenden brauchten, so sollten sie dorthin gehen, wo etwas zu holen sei: zu den Herren Gutsbesitzern und Fabrikdirektoren. Auch als man ihn und nachher, vor seinen Augen, die Frau mit dem Ochsenziemer "gekitzelt" hatte, blieb er bei seiner Weigerung, und erst als die Braunen sich anschickten, das Enkelkind, die Tochter des im Konzentrationslager Gefangengehaltenen, zu schlagen, rief er, es sei gut, sie sollten das Kind loslassen, er wolle ihnen zeigen, wo das Korn versteckt liege.

Er führte die vier auf die Tenne, wies ihnen einen Strohhaufen und sagte, daß darunter die Frucht zu finden sei, man brauche nur das Stroh wegzuräumen, so stoße man auf die Getreidesäcke.

Der Truppführer bückte sich, um in das Stroh zu greifen. Da riß der Alte, bevor die SA-Männer auch nur ahnten, was vor sich ging, einen Dreschflegel von der Wand und ließ diesen, weit ausholend, mit voller Wucht auf den Schädel des Truppführers niedersausen. Dabei rief er, so laut, daß man es bis in die Stube hinein hören konnte: "Friß dich satt, Nimmersatt! Friß dich satt, Nimmersatt!"

Man fand ihn, den die Braunen mitnahmen, später mit gefesselten Händen erhängt am Ast eines Nußbaumes.

"Auf der Flucht erhängt", sagten die Bauern.

Hundegustav

Jetzt kann man davon berichten, jetzt, da alle, die daran beteiligt waren, tot oder in Sicherheit sind.

Also wir hatten einen Verbindungsmann bei den Braunen, einen von der sogenannten alten Garde der SA, einen westfälischen Kumpel, der ehrlich an die Volksgemeinschaft und die anderen nationalsozialistischen Märchen geglaubt hatte und der von dem, was nach Hitlers Machterschleichung kam, grausam enttäuscht worden war.

Zuerst ließ er uns, ohne sich zu erkennen zu geben, von Zeit zu Zeit eine Warnung zugehen: wenn eine Fahndung bevorstand, oder eine unserer Anlaufstellen ausgehoben werden sollte, oder sonst ein größerer Schlag gegen uns geplant war. Später nahm er die unmittelbare Verbindung mit uns auf, und schließlich arbeitete er mit einer Selbstverständlichkeit und eine Eifer für unsere Sache wie ein alter, lang erprobter Genosse.

Wie er hieß, wieß ich nicht; es tut auch nichts zur Sache. Wir nannten ihn,weil er den ersten Zettel an uns so unterzeichnet hatte: Hundegustav.

Hundegustavs Hilfe kam uns sehr gelegen. Die Organisation war durch die Verhaftungen im Frühjahr und Sommer außerordentlich geschwächt worden und kam, da immer Wieder jemand hochging, nicht recht vom Fleck. Hundegustav führte uns auf die Spur des Spitzels, der die meisten der verhafteten Genossen verraten hatte, und Hundegustav war es auch der den Braunen ein paar Papierchen in die Hände spielte, aus denen hervorging, daß der Kerl nicht nur für sie, sondern auch für uns arbeitete — worauf sie beschlossen, den "Doppelspitzel" unschädlich zu machen. Sie holten ihn nachts aus dem Bett und ließen ihn in der Talsperre ersaufen.

Jetzt konnten gefährdete Verbindungen wiederaufgenommen, zersprengte Gruppen neu gesammelt werden. Die Arbeit kam in Schwung. Die Zellenzeitungen erschienen pünktlich und tauchten in den Betrieben und Arbeitersiedlungen auf.

Die Gestapo bemühte sich auf jede mögliche Weise, unsere unterirdische Organisation aufzurollen, wie sie das nennen, aber außer einigen Zeitungsbündeln oder vier, fünf beim Flugblattverteilen erwischten Frauen bekamen sie nichts und niemand zu fassen, und unsere Arbeit erlitt durch diese durchaus zufälligen Schläge keine Unterbrechung.

Hundegustav war als Meldegänger dem Stab der SA zugeteilt. Er tippte mehr als einmal in seiner Freizeit unsere Flugzettel auf der Schreibmaschine des Stabes ab. Wenn wir ihn zur Vorsicht mahnten, meinte er lachend, ihm geschehe nichts, unter dem Leuchter sei es am dunkelsten. Und er habe so viel gutzumachen und nachzuholen, daß wir ihm diese paar "Überstunden" zubilligen müßten.

Sie erwischten ihn auch nicht, aber da ereignete sich die Sache mit dem Kurier aus Berlin. Der wurde durch einen jener Zufälle verraten, die man beinahe bösartig nennen könnte. Ein Mädchen, mit dem er vor Jahren etwas gehabt hatte, jetzt Braut eines SS-Führers, erkannte ihn, ohne daß er es merkte, und hetzte ihm die Gestapo auf den Hals. Er war gerade mit Karl bei mir in meiner Laube, als sie angerückt kamen, zehn oder zwölf Mann hoch. Es war Nacht, und sie hatten Angst oder waren von dem Mädchen aufgehetzt worden, kurz, sie knallten los, kaum daß sie "Hände hoch!" gebrüllt hatten. Glücklicherweise ging die Glühbirne sofort in Scherben, so daß es dunkel wurde. Wir konnten durch die Hintertür entwischen. Aber sie hatten auch draußen Posten stehen und veranstalteten eine richtige Treibjagd auf uns. Dem Kurier und mir gelang es trotzdem, zum Fluß hinunter und über das Wasser zu entkommen. Aber Karl fiel ihnen in die Hände, er wurde an der Schulter verwundet und stürzte.

Von ihnen waren zwei Mann verletzt, einer leicht, einer schwer. Vielleicht hatten sie einander angeschossen, vielleicht war der eine oder andere von den Schüssen getroffen worden, die der Kurier abgegeben hatte, um sie an unserer Verfolgung zu hindern. Für sie stand fest, daß es unsere Schüsse gewesen waren. Sie fielen über Karl her und hätten ihn totgetrampelt, wenn nicht einer geschrien hätte: "Halt, laßt mal! Nehmt das Schwein mit, es muß erst verhört werden!"

Sie schleppten Karl zur Stabswache. Dort war Hundegustav. Er hatte gerade Dienst. Als sie Karl hereinschleiften, mußte er glauben, es sei alles verloren, denn Karl war es ja, mit dem er zusammenarbeitete. Er blieb aber, wie Karl später erzählte, ganz ruhig, nur das Blut wich ihm aus dem Gesicht.

Ob die Kerle das merkten und Verdacht schöpften oder ob sie ohne besondere Absicht handelten, war nicht zu erkennen: Kurz, sie forderten Gustav auf, einen Ochsenziemer zu holen und den Gefangenen zu verhören; sie selbst seien zu müde zu dieser Prozedur. Hundegustav lehnte ab. Er tue so etwas nicht, erklärte er, das sei eines alten Kämpfers unwürdig und dazu sei er auch gar nicht da.

Wenn sie nicht schon vorher mißtrauisch waren, so wurden sie es jetzt. Zuerst krakeelten sie, dann aber entschied der Sturmführer: Gut, wenn Hundegustav glaube, er sei nicht dazu da Verhaftete zu prügeln, so solle er recht haben; aber zum Schießen sei er doch wohl da, und so werde er eben schießen; aus dem Gefangenen sei ja doch nichts herauszubekommen Er gab auch gleich den Befehl zum Abmarsch h dem Steinbruch. Dort wurden gewöhnlich die Erschießungen "auf der Flucht" vorgenommen.

Der letzte Teil des Weges zum Steinbruch ist eine Art hohle Gasse. Nur zwei Menschen können dort nebeneinander gehen. Karl bekam Hundegustav zum Nebenmann. Es kann sein daß der es so eingerichtet hatte. Es kann aber auch sein, daß die anderen gerade diese beiden zusammengehen ließen, um Hundegustav eine Falle zu stellen. Wie dem auch sei, Karl hatte die Möglichkeit, seinem Nachbarn ein paar Worte zuzuflüstern. Er bat Hundegustav, keine Dummheiten zu machen; mit ihm selbst sei es ohnehin aus, da dürfe nicht noch ein zweiter der Unsrigen kaputtgehen. "Schieß als erster, Gustav", drang er in ihn, "das wird für dich gut sein und auch für mich. Immer noch besser so hinüberzukommen, als totgeprügelt. Schieß in den Kopf, dann ist es gleich vorbei, und du kannst für unsere Sache weiterarbeiten." Aber Gustav wollte davon nichts hören. "Ich weiß schon, was ich zu tun habe", sagte er. Und als Karl sich nochmals anschickte, ihn eines anderen zu belehren, ließ Hundegustav ihm keine Zeit mehr. "Lauf!" rief er laut, "lauf!" Die zwei, die vor ihnen gingen, fuhren herum, aber da schoß Hundegustav schon, und die zwei stürzten. Dann schoß er nach der andern Seite, in den Hohlweg hinein. Er war ein ausgezeichneter Schütze, aber er hatte nur sechs Patronen in der Waffe. Fünf Schüsse gab er auf die Braunen ab, den sechsten jagte er sich selbst in die Schläfe. Bevor er abdrückte, rief er noch: "Es lebe die Kommune!"

Karl konnte in der Verwirrung entkommen. Die Braunen hatten zuviel mit ihren fünf Getroffenen zu tun. Der Sturmfuhrer und sein Stellvertreter waren darunter.

Vor einer Woche haben wir Karl über die Grenze in Sicherheit gebracht, seine Wunde ist nicht gefährlich. Die Genossen unserer Gruppe sind unbelästigt geblieben, Hundegustav hat offenbar kein belastendes Material bei sich oder zu Hause gehabt. Und unsere Arbeit geht weiter. Das könnt ihr schon daraus ersehen, daß ich zu diesem "Treff" gekommen bin.

Schatten und Sonne

Der erste, den das nach dem blutigen Februar 1934 gegen die Wiener Arbeiter eingesetzte Standgericht abzuurteilen hatte war der Gärtner Münichreiter, ein schmächtiger Mann, dem eine Maschine die linke Hand und eine lange Arbeitslosigkeit die Lunge verkrüppelt hatten. Er war bei den Kämpfen im Stadtbezirk Hietzing von den Regierungstruppen mit zerschmetterter Hüfte und durchschossenem Arm hinter einer zerstörten Barrikade aufgelesen worden und wurde, nachdem der Polizeiarzt festgestellt hatte, daß er verhandlungsfähig sei, weil nach dem Gesetz nur schwere Erkrankung, nicht jedoch schwere Verwundung einen Vertagungsgrund darstelle, vom Standgericht zum Tode durch den Strang verurteilt.

Auf derselben Tragbahre, auf der man ihn in den Gerichtssaal getragen hatte, wurde er auch zum Galgen geschafft. Er starb als ein Mann, mit dem Lied von der Fahne rot auf den Lippen.

Bei der Witwe sprach wenige Tage später eine Dame der besten Wiener Gesellschaft vor, eine Abgesandte des "Hilfskomitees für die Hinterbliebenen getöteter Arbeiter", das von der Frau des "christlichen Bundeskanzlers", desselben, der auf die Arbeiter hatte schießen und elf von ihnen hinrichten lassen, geleitet wurde. Als die Dame eine Geldspende anbot und vorschlug, die Münichreiterkinder in einem Heim unterzubringen, wo es ihnen, wie sie sagte, unvergleichlich besser gehen werde als zu Hause, "im Schatten des Gerichteten", erwiderte die Mutter, sie verstehe zwar ihre Worte nicht so wohl zu setzen wie ihr ungebetener Besuch, aber sie wisse, daß die Kinder in diesem Schatten zu aufrichtigeren und wertvolleren Menschen aufwachsen dürften als in der Sonne einer Gnade, die von Arbeitermördern komme. Sprach's, öffnete die Türe und drehte der Dame den Rücken.

Klingelpuetz

Nach dem Bericht eines Gefängniswärters

Unter den Hinrichtungen, die im Dritten Reich bereits zu den alltäglichen Begebenheiten zählen — gibt es ihrer doch so viele, daß sogar der preußische Scharfrichter Gröpner an seinen Vorgesetzten schreibt, er fühle sich seinem Amt seelisch und körperlich nicht mehr gewachsen und bitte, es in jüngere, kräftigere Hände, etwa die seines Mitbürgers, des magdeburgischen Roßschlächters Bollmann, legen zu dürfen —, unter diesen Hinrichtungen wird die der sechs Arbeiter Wäser, Willms, Hammacher, Horsch, Moritz und Engel im Hofe des Kölner Gefängnisses Klingelpuetz für immer einen besonderen Platz einnehmen.

Als den Verurteilten, denen wohl die Qual monatelanger Fesselung und der Druck des ungeheuerlichen Urteils, nicht aber Angst vor dem Tode anzusehen war, vor dem Richtblock noch einmal das Verdikt und dann die Order Seiner Exzellenz, des preußischen Ministerpräsidenten, die Hinrichtung zu vollstrecken, vorgelesen wurde, riefen sie: "Wir sind keine Mörder!" — "Wir sind Revolutionäre!" — "Es lebe die Weltrevolution!"

In diesem Augenblick ertönte von den Fenstern einiger Zellen, in denen Genossen der Verurteilten saßen, die Internationale.

Das große, unsterbliche Lied der Arbeiter klang über den Hof, während der erste der sechs ergriffen, an den Klotz geschnallt und durch einen einzigen Hieb enthauptet wurde. Es klang über den Hof, als der Kopf des zweiten und der Kopf des dritten Verurteilten fiel; es tönte weiter, als der Henker — sei es, daß die Kräfte ihn verließen, sei es, daß der Schnaps, dem er vor Beginn der Hinrichtung überreichlich zugesprochen hatte, jetzt seine Hände zittern machte — bei der vierten fünften Vollstreckung fehlschlug und erst beim zweiten und dritten Hieb die Köpfe von den Körpern zu trennen vermochte. Und es erklang immer noch, als der sechste der Fensterputzer Engel, der die Schlußtakte des Liedes laut mitsang, angeschnallt und — da der Henker diesmal wieder richtig zuhieb — mit einem einzigen furchtbaren Schlag geköpft wurde.

I n die Zellen der Gefangenen, die gesungen hatten, drang in der Nacht SS ein und prügelte sie, bis keiner mehr einen Ton hervorbrachte. Zur selben Zeit verteilten jedoch die Kölner Kommunisten fünftausend Flugblätter mit der Kunde von der Hinrichtung in der Stadt und schrieben mit großen weißen Kalkbuchstaben auf das Pflaster vor dem Gefängnis: "Wir werden euch rächen!"

Bericht des Propagandaministeriums

Das Propagandaministerium ließ als "Richtigstellung von Greuelnachrichten" folgende Darstellung durch den "Neuen Deutschen Pressedienst" verbreiten:

Die Hinrichtung war auf sieben Uhr dreißig morgens festgesetzt worden. Die in der Umgebung der Gefängnisse sehr zahlreichen Bewohner haben von ihr nichts bemerkt. In den Straßen blieb der Verkehr normal.

Kurz nach sieben Uhr fanden sich die zur Hinrichtung der Mörder bestellten Persönlichkeiten auf dem Schauplatz ein: der Generalstaatsanwalt, die Richter und zwölf Bürger der Stadt, unter ihnen der Oberbürgermeister, der Gefängnisdirektor, mehrere SA-Führer und der Polizeipräsident von Köln. Schlag sieben Uhr dreißig begann das Sterbeglöckchen zum erstenmal zu läuten. In diesem Augenblick wurde der erste Verurteilte aus seiner Zelle herausgerissen und in den Hof gebracht. Der Delinquent ließ sich ohne Widerstand bis zu einem Tisch führen, hinter dessen anderer Seite der Generalstaatsanwalt in seiner roten Robe stand. Dieser las mit lauter Stimme den Paragraph 221 des Strafgesetzbuches vor und verkündete die Ablehnung des Gnadengesuches durch den Ministerpräsidenten Göring.

Auf die Frage: "Haben Sie noch etwas zu sagen?" antworteten vier der Verurteilten mit "Nein".

Zwei von ihnen, Willms und Hammacher, erklärten:

Willms: "Ich verlange, daß man auf meine Frau und meine Kinder Rücksicht nimmt."

Hammacher: "Ich bin kein Mörder! Ich bin ein politischer Kämpfer!"

Während der Verlesung der Strafgesetzbestimmung standen die zum Tode Verurteilten mit dem Rücken einer kleinen, niedrigen und langgestreckten Plattform zugewendet, an deren Ende sich eine Art Richtblock erhob. Dieser Hinrich-tungstisch, der mit schwarzem Tuch zugedeckt war, befand sich ungefähr fünfzehn Schritte rückwärts und konnte von den Verurteilten nicht bemerkt werden.

Sobald jeder einzelne die Erklärung abgegeben hatte, daß er nichts mehr sagen wolle, stürzten sich zwei Gehilfen des Scharfrichters auf ihn, banden ihm die Augen zu, schleppten ihn an den Hinrichtungstisch und fesselten ihn dort.

Während einer der Gehilfen mit beiden Händen den Kopf des Verurteilten auf den Richtblock drückte, verrichtete der Henker sein Werk. Unmittelbar danach trat er auf den Generalstaatsanwalt zu und teilte ihm mit: "Hinrichtung in zwanzig Sekunden ausgeführt!"

Die kürzeste Hinrichtung hatte vierzehn Sekunden, die längste zwanzig Sekunden gedauert.

Bei allen Verurteilten ging die Exekution mit einem einzigen Streich des Beils vonstatten. Auch bei Hammacher gab es keinen zweiten Schlag, nur mußte der Scharfrichter zweimal schneiden, um den Kopf vom Rumpf zu trennen.

Es ist also unzutreffend, daß der Scharfrichter einen falschen Schlag geführt hat. Ebenso unrichtig ist es, daß sich der Zuschauer Nervosität oder vor Entsetzen und Empörung eine beträchtliche Aufregung bemächtigt hat.

Neunzigtausend

Zu Beginn des Monats November konnte man in den kurhessischen Zeitungen eine amtliche Mitteilung finden, des Inhalts daß die Geheime Staatspolizei den Kommunisten Ludwig Schleenbecker aus Gießen suche. Schleenbecker — so hieß es in der Mitteilung, auf deren wörtliche Wiedergabe in jener barbarischen Sprache, die von den Führern des Dritten Reichs für deutsch ausgegeben wird, wir verzichten wollen Schleenbecker habe wiederholt in den Städten und auf dem Lande aufrührerische Flugblätter verteilt und werde deshalb wegen Hochverrats verfolgt; jeder, der etwas über ihn in Erfahrung bringe, müsse davon sofort das Geheime Staatspolizeiamt verständigen; Landjäger und Polizeibeamte seien angewiesen, bei einem Zusammentreffen mit Schleenbecker unverzüglich von der Schußwaffe Gebrauch zu machen; wer immer dem Hochverräter Unterschlupf oder Beistand gewähre, sei zu verhaften und unter Anklage zu stellen.

Das war im November.

Um die Weihnachtszeit konnte man in den kurhessischen Zeitungen die gleiche Mitteilung noch einmal lesen, ergänzt durch die Ausschreibung eines Kopfpreises. Schleenbecker trieb sich noch immer in den Städten und auf dem Lande umher und verteilte weiterhin kommunistische Flugschriften. Im Januar war aus den Zeitungen nichts über Schleenbecker zu erfahren. Im Februar wurde sein Kopfpreis auf das Dreifache erhöht. Von da an wurde nichts mehr über ihn gemeldet. Vielleicht hat ihn die Geheime Staatspolizei gefaßt. Vielleicht auch nicht. Vielleicht faßt sie ihn morgen. Oder übermorgen. Aber auch wenn sie ihn faßt… es gibt hunderttausend Schleenbeckers in Deutschland. Man kennt ihre Namen nicht, aber gerade sie, so sagen die Genossen, sind die größten Helden, ihre Namen kann das Geheime Staatspolizeiamt nicht einmal in die Zeitung setzen; es merkt von ihnen nur, wie gut sie arbeiten, aber es weiß nicht, wie sie heißen und wer sie sind.

Nach den Pressemeldungen einer Woche:

…klebten dreimal am Morgen, wenn die Angestellten der preußischen Staatsdruckerei zur Arbeit kamen, an den Schränken im Ankleideraum rote Zettel mit Hammer und Sichel — die Täter blieben unbekannt…

…fuhren plötzlich, am hellichten Tage, vielleicht zweihundert Radfahrer durch die N… straße im Berliner Osten und sangen den "Roten Wedding" und die "Internationale" — sie blieben unbekannt…

…fanden die Bewohner eines Neubaublocks in Berlin-T… zwischen den Blättern des "Völkischen Beobachters", den ihnen SA-Männer in die Wohnung gebracht hatten, die verbotene "Rote Fahne" — die Täter blieben unbekannt…

…verteilte eine nationalsozialistische Propagandakolonne in Charlottenburg einen Stoß Aufrufe, den sie "zum Verteilen bestimmt!" in ihrem Vereinslokal gefunden hatte; erst als man mit der Arbeit beinahe zu Ende war, bemerkte jemand, daß es getarnte kommunistische Aufrufe waren — die Täter blieben unbekannt…

…erschoß sich der Buchdrucker S… in seiner Wohnung, der sechsten, seit er, ein früherer Kommunist, in die Dienste der Gestapo getreten war; er hatte fünfmal die Wohnung wechseln müssen, weil trotz schärfster Bewachung immer wieder am Haustor, an den Flurwänden, an der Wohnungstür die Worte "Spitzel! Arbeitermörder!" aufgetaucht waren, man hatte sie auch an die Tür der letzten Wohnung gemalt — die Täter blieben unbekannt…

…erhielten in Schöneberg Passanten, die nichts für die Winterhilfe geben wollten, von den Sammlern Briefumschläge mit einer "letzten Mahnung" in die Hand gedrückt; die Umschläge enthielten illegale Schriften — die Täter blieben unbekannt…

In ihrem Bericht an das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale meldete die KPD Anfang 1934 über neunzigtausend eingeschriebene Mitglieder. Neunzigtausend Sheleenbeckers. Man sucht sie. Man jagt sie. Man setzt Kopfpreise auf sie aus. Es nützt nichts. Sie geben nicht nach. Sie werden mehr und mehr. Sie sind die Stärkeren, sie wissen: Sie werden die Sieger von morgen sein.

Der alte Liebermann

Ein Kunsthändler aus Brüssel traf wenige Wochen nach Hitlers Machterschleichung Max Liebermann, der — sei es wegen seines hohen Alters, sei es, weil er den richtigen Augenblick zur Emigration versäumt zu haben oder anderswo nicht leben zu können glaubte — in Berlin geblieben war, im Kaffeehaus Kranzler Unter den Linden. Der Maler saß allein an einem versteckten Tisch im Hintergrund des großen Saales und kritzelte Fratzen auf die Rückseite der Speisekarte.

"Ihr Aussehen gefällt mir nicht, Meister", sagte der Belgier nach den ersten Worten der Begrüßung. "Essen Sie nicht zuwenig? Wie geht es Ihnen überhaupt?"

"Ach, wissen Sie", entgegnete Liebermann, "heutzutage kann man gar nicht soviel fressen, wie man kotzen möchte."

Wasser

"Wenn Gott will, heißt es in der Redensart, schießt ein Besen. Doch was ist ein solches, übrigens weder bewiesenes noch beweisbares Wunder göttlicher Vorsehung gegen das, was ich ein Mirakel der Dialektik nennen möchte. Jawohl, ein Mirakel der Dialektik, das sich an diesem Ort tatsächlich begeben und aus ein wenig klarem Wasser, also einer gemeinhin für völlig unschädlich gehaltenen Flüssigkeit, eine furchtbare Waffe gemacht hat. Aber das will erklärt sein…"

Diese Worte sprach mein Freund E…, als er mich durch das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald führte, wo er zu Hitlers Zeiten viele Jahre als Häftling verbracht hatte.

"Dort drüben", sagte er, indem er den Krückstock hob, ohne den er nicht mehr gehen kann, seitdem ihn die Nazis lahm geschlagen, "dort drüben arbeitete ich als Sanitätsgehilfe. Es war die Serumstation. Die SS-Ärzte entwickelten damals, im vierten Kriegsjahr, einen neuen Impfstoff gegen den Flecktyphus und benutzten bei ihren Experimenten Gefangene als Versuchskaninchen. Tausende gingen dabei elend zugrunde, ohne daß wir — die illegale kommunistische Gruppe — etwas tun konnten… Wenigstens anfangs."

E… schwieg und zeichnete mit dem Stock Kreise in den Sand des Weges, doch mußte er währenddem in meinem Sinn gelesen haben, denn als er den Mund wieder öffnete, antwortete er auf das, was ich mich und ihn im stillen gefragt hatte. "Und später? Später fanden wir Mittel und Wege, eine große Anzahl von Häftlingen mit dem Serum zu impfen, und wir hätten noch viel mehr retten können, wenn es uns nicht an Spritzen und Nadeln gefehlt hätte. Denn diese waren begreiflicherweise viel schwerer zu beschaffen als das Serum."

E… machte wieder eine Pause, und als er im Reden fortfuhr, zeigte sich, daß er abermals meine Gedanken erraten hatte. "Begreiflicherweise? Nun ja, wenn wir ein Instrument beiseite schafften, war es nicht mehr da, und sein Fehlen konnte jeden Augenblick von den Nazis bemerkt werden. Die Folgen einer solchen Entdeckung kannst du dir wohl selbst ausmalen. Dagegen war einer Eprouvette, der wir das Serum entnahmen, nichts anzusehen, weil wir sie einfach mit Wasser wieder füllten. Schließlich hatten wir alles so gut organisiert, daß das Umfüllen im großen vorgenommen werden konnte, und im letzten Kriegsjähr wurden die Regimenter der Waffen-SS, für die das bei uns erzeugte Serum bestimmt war, gegen Flecktyphus nur mit aqua destillata geimpft. Mit klarem, destilliertem Wasser."

Schnappschüsse

Der Chefarchitekt von Berlin, Henselmann, traf einmal in einer Düsseldorfer Gesellschaft mit einem westdeutschen Baumeister zusammen, der vor kurzem eine Reise durch die Deutsche Demokratische Republik und einige mit ihr befreundete Staaten unternommen hatte.

Auf die Frage, wie es ihm dabei ergangen sei, antwortete er "Sehr gut!", setzte aber eilig hinzu, er würde, obwohl ihm die sozialen Errungenschaften des Ostens imponierten und er dort zweifellos ein viel größeres Wirkungsfeld finden könnte, doch nie und nimmer mit Henselmann oder einem von dessen Fachkollegen jenseits der Elbe tauschen.

"Und warum nicht?" wollte Henselmann wissen.

"Weil mir gewisse Dinge bei euch gegen den Strich gehen. Doch das läßt sich wohl am besten durch ein Erlebnis veranschaulichen, das ich gleich zu Beginn meiner Reise in Berlin hatte. Ich wollte das sowjetische Ehrenmal vor dem Brandenburger Tor photographieren, aber kaum hatte ich meine Kamera gezückt, als ein russischer Offizier auftauchte und mir durch Zeichen zu verstehen gab, daß ich das Knipsen unterlassen müsse. Bei uns im Westen ist mir so etwas nie begegnet. Besonders die Amerikaner haben mich so gut wie alles photographieren lassen. Das sind Kleinigkeiten, gewiß, aber gerade in solchen Kleinigkeiten offenbart sich mir das Vorhandensein oder Fehlen des Sinns für wahre Zivilisation und Freiheit. Doch das verstehen Sie vielleicht gar nicht?"

"Ich und das nicht verstehen?" rief Henselmann und setzte seine unschuldigste Lausbubenmiene auf. "Da kennen Sie mich schlecht. Mir sagen solche Kleinigkeiten nicht weniger als Ihnen. Aber am besten exemplifiziere ich das auch an einem Erlebnis. Als ich noch Professor in Weimar war, hatte ich zuweilen ausländischen Gästen die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen. Eines Tages spielte ich den Führer für mehrere Offiziere der Sowjetarmee. Das Goethe-Haus am Frauenplan hatte es ihnen besonders angetan, und der Kustos, dem dies ebenso auffiel wie schmeichelte, entfernte im Sterbezimmer das Absperrungsseil und lud die Besucher aus Rußland ein, Bett und Lehnstuhl des Dichters aus nächster Nähe zu besichtigen. Doch die Offiziere wehrten mit einer Scheu, die schon an Erschrecken grenzte, ab und bestanden darauf, daß das Seil sofort wieder angebracht würde. Wenige Tage später fügte es der Zufall, daß ich eine Gruppe amerikanischer Offiziere ins Goethe-Haus begleitete. Auch für sie ließ der Kustos im Sterbezimmer das Seil hinunter. Er war damit noch nicht fertig, als sich einer der Yankees, ein noch jugendlicher Oberst, in Goethes Lehnstuhl warf und einem seiner Kumpane "Wonderful, Jimmy!" zurief und "Knips die ganze Filmrolle!" und "Boy, oh boy, das gibt ein paar Schnappschüsse fürs Leben!""

Der Schemel

Einer der neuen Menschen unserer Zeit, einer ihrer friedlichen Helden — ob es nun der Steiger Sepp Wenig war oder der Häuer Franik oder ihrer beider Vorbild Hennecke, kann ich nicht sagen, denn die Anekdote, von der hier die Rede ist, wird in jedem Grubenrevier anders erzählt — wurde, als er jungen Bergleuten seine Neuerermethoden erklärte, vom Wißbegierigsten unter ihnen gefragt, was für die Erzielung außerordentlicher Erfolge bei der Arbeit das Wichtigste sei: das Suchen nach immer besseren Methoden, die fortwährende Vervollkommnung der eigenen Fachkenntnisse oder das richtige Verständnis für freiwillige Disziplin und Zusammenarbeit.

Der Gefragte sann nur einen Augenblick lang nach und entgegnete dem jungen Kumpel, indem er ihn ebenso verschmitzt wie aufmunternd anlächelte: "Wenn du einen dreibeinigen Schemel hast — welches Bein ist wohl das wichtigste?"

Nachbemerkung

Die Jahre des Widerstandskampfes gegen den Faschismus und des zweiten Weltkrieges haben in der progressiven Literatur Deutschlands ein bisher vernachlässigtes und mißbrauchtes Genre zu neuen Ehren gebracht — die Anekdote und die Kalendergeschichte.

Die Volksbewegungen im Gefolge der Oktoberrevolution und im Kampf gegen den Faschismus hatten die anonyme Tat und den Heroismus der einfachen Menschen im Gegensatz zu den Handlungen sogenannter großer Männer immer stärker hervortreten lassen. Der antifaschistische Schriftsteller war Chronist, Sammler und Bearbeiter dieser vom Volksmund pointierten und weitergetragenen wahren oder gut erfundenen Episoden, wobei natürlich auch den gut erfundenen Episoden eine gesellschafdiche und politische Wahrheit zugrunde liegen mußte.

So ist auch F. C. Weiskopf zur Anekdote gekommen. In einer Zeit, da der "unterirdische Krieg" nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern die einzige Form des Kampfes sein konnte, in Tausende von Einzelaktionen, anonymen Heldentaten und einsamen Martyrien aufgesplittert, bot der Bericht, die Skizze, die Kurzgeschichte oft die beste Möglichkeit, um der Welt die Untaten der Faschisten und den Widerstandskampf der Antifaschisten vor Augen zu führen. Die Anekdote trat aus dem Bereich des Bildungswitzes und der Histörchensammlung "großer Männer" wieder in die Nähe der "anonymen Volksgeschichte, der Legende und des Volksliedes", nahm die volkstümlichplebejische Tradition der Kalendergeschichte wieder auf, die in Johann Peter Hebels "Schatzkästlein" einst den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht hatte. Die Zeit war da, so schrieb Weiskopf in der Notiz zur früheren Ausgabe des "Anekdotenbuches", "die Anekdote in ihrer ursprünglichen Bedeutung wiederherzustellen: als pointiert vorgetragene, merkwürdige (das ist des Merkens würdige) Kurzgeschichte, die Vorgänge, Verhaltensweisen und Charaktere gewissermaßen blitzartig erhellt, dergestalt, daß die Mit- und Nachwelt den Kern eines Menschen, die Quintessenz einer Situation, den Herzpunkt eines gesellschaftlichen oder historischen Zustandes präsentiert bekommt".

F. C. Weiskopf hat die Anekdote einmal das "liebste Kind" seines schriftstellerischen Schaffens genannt. Ständig hat er seine Aufzeichnungen neu überarbeitet, ergänzt und gesichtet. Mehrere Ausgaben und Fassungen sind dem eigentlichen "Anekdotenbuch" von 1955 vorausgegangen, das unserem Taschenbuch unter Hinzufügung neuer Stücke — es handelt sich um die letzten 27 Anekdoten, die, überwiegend aus dem Nachlaß, den Grundstock zu einem zweiten, nun unvollendeten Band ("Das andere Anekdotenbuch") bilden sollten — zugrunde gelegt wurde. Sie gehen zurück auf jene erste Sammlung von Skizzen, Berichten und Kurzerzählungen, die in der Schriftenreihe der "Neuen deutschen Blätter" unter dem Titel "Die Stärkeren" 1934 in Prag erschienen. "Episoden aus einem unterirdischen Krieg" waren hier zusammengetragen, Zeugnisse des antifaschistischen Widerstandes und der Hitler-Barbarei in Deutschland, Geschichten, wie sie von der Zeit selbst geschrieben worden waren. Später erfaßte die Sammlung auch andere Bereiche des antifaschistischen Kampfes: Krieg in Spanien, organisierter Widerstand in der Tschechoslowakei oder in Norwegen, französische Resistance, Vaterländischer Krieg der Sowjetunion. Aus den "Stärkeren" waren die "Unbesiegbaren" geworden; sie erschienen 1945 mit dem Untertitel "Berichte. Anekdoten. Legenden. 1933 bis 1945" im Aurora-Verlag, New York. In der fünf Jahre später erscheinenden Ausgabe "Elend und Größe unserer Tage" ist die Konzentration noch stärker geworden, die Hinwendung zur klassischen Anekdote ist vollzogen, was in dem Band "Das Anekdotenbuch" von 1955, bereichert durch neue Thematik aus der Sphäre des amerikanischen Imperialismus, pointierte Kurzberichte aus dem antiimperialistischen Kampf der Völker und aus dem neuen Leben in unserer Republik, auch im Haupttitel zum Ausdruck kam.

Die Anekdote begleitete das Leben eines Dichters, dessen Schaffen stets mit dem politischen Tageskampf verbunden war. Bevor noch die ersten Romane von ihm erschienen, hatte sich Weiskopf als Mitarbeiter an Zeitschriften, als Publizist bereits einen Namen gemacht. Die zweisprachige Herkunft bestimmte seinen Lebensweg. "Ich bin 1900 in Prag geboren", schreibt Weiskopf in einer autobiographischen Skizze. "In meiner Familie wurde nach dem Vater deutsch, nach der Mutter tschechisch gesprochen. Außerdem noch — weil meine Mutter die Französische Revolution, allerdings auch Napoleon bewunderte — viel französisch. Es war eine Familie aus dem alten Österreich. Im letzten Jahr des ersten Weltkriegs wurde ich von der Schulbank weg "einrückend gemacht", wie es im k. u. k. Militärjargon hieß. Beim Militär wurde ich Sozialist, dank einem ungarischen Leutnant, der mir eines Tages eine Broschüre zeigte und fragte: "Kennst du das?" (Es war Marxens "Lohn, Preis und Profit") und der mir, als ich verneinte, den dienstlichen Befehl gab, Marx zu lesen. Schon nach kurzer Zeit brauchte ich keinen Befehl zur Fortsetzung solcher Lektüre. Nach Kriegsende zurück ins Gymnasium, Beteiligung an der Schülerratsbewegung. Universität, erster Kontakt mit der tschechischen Arbeiterbewegung, Diskussionen und Seminare im "Marxisticke Sdruzeni" und in der "Freien Vereinigung sozialistischer Akademiker", zwei linkssozialistischen Studentenvereinen. Eintritt in die damalige Sozialdemokratie und Anschluß an die Linke innerhalb der Partei. Erlebnis des Gründungskongresses der Kommunistischen Partei im Jahre 1921."

In diese Zeit greift Weiskopf in seinem ersten größeren erzählerischen Werk "Das Slawenlied" von 1931 zurück. "Roman aus den letzten Tagen Österreichs und den ersten Jahren der Tschechoslowakei", so heißt der Untertitel dieses Buches, in dem, noch stark autobiographisch geprägt, das Schicksal eines Menschen des Jahrgangs 1900 aus dem bürgerlichen "deutschen Prag" gestaltet ist, sein Übergang von der bürgerlichen Klasse zum Proletariat. Später, in den Jahren des Exils, nahm Weiskopf dieses Thema wieder auf, er plante einen Romanzyklus "von Krieg zu Krieg", dervon 1913 bis 1939 spielen sollte. Ausgeführt davon sind "Abschied vom Frieden (1913-14)", englisch 1946, deutsch 1950 erschienen, ein Gesellschaftsbild Österreich-Ungarns vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs, und "Inmitten des Stroms (1917)", 1955 veröffentlicht, das die Handlungsfäden des ersten Buches fortführt und die Auswirkungen der Oktoberrevolution auf die habsburgische Monarchie schildert. Dazwischen liegen Werke wie "Lissy oder Die Versuchung" (1937), "Vor einem neuen Tag" (englisch 1942, deutsch 1944), "Himmelfahrtskommando" (englisch 1944, deutsch 1945) und viele Erzählungen, Essays, Reisebücher und Nachdichtungen.

Mit seinem vielfältigen schriftstellerischen Werk, seinem unermüdlichen politischen Kampf ist Weiskopf tief in der Literatur und im öffentlichen Bewußtsein unserer Zeit verankert. Er starb am 14. September 1955. Viele Menschen in vielen Ländern, die er formte, habe er hinterlassen, sagte Stephan Hermlin an seinem Grabe, "und dreißig Bücher, die immer weiter neue Menschen formen werden".