Die amerikanische Originalausgabe erschien 1978 im Verlag Pinnacle Books, Inc.

Für Wiescka, Roland und Daniel,

mit Liebe,

und für die Ford-Werke in Dearborn, Michigan,

mit Dank.

Die aufgehende Sonne findet mich,
Die Morgendämmerung im Osten sieht mich.
Das kann nur bedeuten,
Coyote wird mich finden,
Mit seinem blutverschmierten Mund!
Dort naht der verrückte Coyote,
um seinen Hals eine Kette aus Augäpfeln,
Sein Mund ist rot, seine Hände sind rot.
Verrückter Coyote
Singt ein wahnsinniges Lied
Und plötzlich faucht der Wind aus dem Westen!

– Lied der Navaho-Indianer

Anmerkung des Autors

Der Dämon, dem Sie in diesem Buch begegnen werden, war (und ist) ein echter indianischer Dämon. Die Legenden, von denen Sie hören werden, sind in den Zelten der großen Medizinmänner schon vor langer Zeit erzählt worden.

Es ist selbstverständlich möglich, die übernatürlichen Kräfte des indianischen Volkes einfach als Aberglaube abzutun. Doch während ich über diese besonders bösartige Erscheinung schrieb, erlebte ich eine Pechsträhne voller eigenartiger Zufälle. Unvorhersehbare Ereignisse brachen über mich herein: der Tod meines Stiefvaters, ein Verkehrsunfall bei 70 Meilen pro Stunde, bei dem mein neuer Mustang gegen eine Mauer krachte, meine Frau wurde ebenfalls in einen Verkehrsunfall verwickelt, außerdem verlor ich zahllose persönliche Dinge, etwa Scheckbücher und Andenken. Seltsam war auch, dass ich beim Schreiben immer wieder ins völlig Nebensächliche abirrte. Es war, als ob das Buch sich dagegen sträubte, geschrieben zu werden.

Aber jetzt ist es fertig, endlich, und ich hoffe, dass Sie die unheimliche Vergangenheit Amerikas nun etwas besser verstehen werden und dass dieses Buch Ihnen auch für zukünftige Überlegungen hilfreich sein wird.

Falls Sie es überhaupt wagen – denn dieser Dämon verzeiht nicht, und er kann niemals sterben.

Graham Masterton

Los Angeles, 1978

1

Der alte Mann betrat mein Büro und schloss die Tür. Er trug eine zerknitterte Leinenjacke und eine grüne Fliege. In seinen mit Leberflecken gesprenkelten Händen hielt er einen Panamahut, den die kalifornische Sonne mit den Jahren gegrillt zu haben schien. Auf einer Hälfte seines Gesichtes zeigten sich noch ziemlich viele weiße Bartstoppeln, daraus schloss ich, dass er sich nicht gründlich rasiert hatte.

Er sagte: »Es geht um mein Haus. Es atmet.« Es klang wie eine Entschuldigung.

Ich lächelte und erwiderte: »Nehmen Sie Platz.«

Er setzte sich auf die Kante des Bürostuhls und leckte sich über die Lippen. Sein altes Gesicht wirkte freundlich und neugierig; so jemanden wünscht man sich als netten Großvater. Er war einer von dieser Sorte älterer Herren, mit denen ich gerne an einem Herbstnachmittag auf dem Balkon gesessen hätte, um eine ruhige Partie Schach zu spielen.

»Sie müssen mir nicht glauben, falls Sie es nicht wollen, junger Mann. Aber ich habe schon einmal angerufen und dasselbe berichtet«, betonte er.

Ich überflog die Liste auf meinem Schreibtisch. »Stimmt. Sie haben vergangene Woche angerufen, richtig?«

»Und die Woche davor.«

»Und Sie sagten der Kollegin, Ihr Haus würde …«

Ich hielt inne und sah ihn an und er erwiderte den Blick. Er beendete den Satz nicht und ich nahm an, dass er hören wollte, dass ich es aussprach. Ich lächelte bürokratisch knapp.

Mit seiner freundlichen, spröden Stimme sagte er: »Ich bin aus der alten Wohnung meiner Schwester in dieses Haus gezogen. Ich habe einige Sachen verkauft und konnte daher bar bezahlen. Es war ziemlich günstig. In der Mission Street habe ich schon immer leben wollen. Aber nun, also …«

Er senkte den Blick und fummelte an seinem Hutrand.

Ich griff nach meinem Kugelschreiber. »Können Sie mir bitte Ihren Namen nennen.«

»Seymour Wallis. Ich bin ein pensionierter Ingenieur. Hauptsächlich Brückenbau.«

»Und Ihre Adresse?«

»1551 Pilarcitos.«

»Okay. Und Ihr Problem ist Lärm?«

Er schaute wieder auf. Seine Augen zeigten die Farbe blasser Kornblumen, nachdem sie zwischen den Seiten eines Buches getrocknet worden sind.

»Nicht Lärm«, sagte er sanft. »Atmen.«

Ich lehnte mich in dem schwarzen Kunstledersessel zurück und klopfte mit dem Kugelschreiber gegen meine Zähne. Ich war hier im Gesundheitsamt wirklich an absurde Beschwerden gewöhnt. Es gab eine Frau, die kam regelmäßig vorbei, und sie behauptete, dass Dutzende Krokodile, die von Kindern in den 60er-Jahren die Toilette hinabgespült worden waren, wieder zurück in die Kanäle unter ihrem Apartment in Howard and Fourth geschwommen seien und jetzt versuchen würden, durch das S-Rohr raufzuklettern, um sie zu fressen. Dann gab es da noch den jungen Schwachkopf, der glaubte, dass sein Wasserboiler gefährliche Strahlen abgebe.

Aber, absurd oder nicht, ich wurde dafür bezahlt, dass ich freundlich zu diesen Leuten war, ihnen geduldig zuhörte und sie beruhigte, dass San Francisco weder Schwärme von Krokodilen beherberge, noch dass hier irgendwo grüne Kryptonit-Klumpen versteckt sind.

»Ist es vielleicht möglich, dass Sie sich irren?«, fragte ich. »Es könnte doch Ihr eigenes Atmen sein, das Sie hören.«

Der alte Mann zuckte kurz die Achseln, als wollte er sagen, dass dies wohl möglich sei, jedoch ziemlich unwahrscheinlich.

»Vielleicht strömt ja ein Luftzug durch Ihren Kamin? Manchmal bläst die Luft durch einen alten Schornstein herab und findet ihren Weg durch Risse in den Ziegelsteinen der Feuerstelle.«

Er schüttelte den Kopf.

»Gut.« Ich fragte weiter. »Wenn es nicht Ihr eigenes Atmen ist und auch kein Luftzug im Kamin, können Sie mir dann verraten, was Sie als Ursache vermuten?«

Er hustete und nahm ein sauberes, aber verknülltes Taschentuch heraus, um sich den Mund abzutupfen.

»Ich glaube, dass es Atmen ist«, sagte er. »Ich glaube, dass irgendein Tier in der Wand gefangen ist.«

»Hören Sie Kratzen? Füßegetrampel? Irgend so etwas?«

Er schüttelte wieder den Kopf.

»Nur Atmen?«

Er nickte.

Ich wartete, um zu erfahren, ob er noch irgendetwas erwidern wollte, aber das war offensichtlich nicht der Fall. Ich stand auf und ging zum Fenster, von dem aus ich auf das Apartmenthaus nebenan sehen konnte. An warmen Tagen sah man manchmal Stewardessen, die dienstfrei hatten und sich in knappen Bikinis auf dem Dachgarten sonnten. Heute war dort aber nur ein älterer mexikanischer Gärtner mit dem Umtopfen von Geranien beschäftigt.

»Falls in Ihrer Wand wirklich ein Tier eingeschlossen ist, dann kann es ohne Wasser und Nahrung nicht sehr lange überleben. Falls es aber nicht eingeschlossen ist, dann könnten Sie hören, wie es herumläuft«, sagte ich.

Ingenieur Seymour Wallis starrte seinen Hut an. Er war gar kein Spinner, sondern ein ziemlich redlicher, praktischer Mann, wurde mir bewusst. Sich auf den Weg hierher zum Gesundheitsamt zu machen, um seine Geschichte über das körperlose Atmen zu erzählen, musste ihn echte Überwindung gekostet haben. Er wollte bestimmt nicht als verrückt angesehen werden. Aber wer will das schon?

Ruhig, aber bestimmt sagte er: »Es hört sich an wie das Atmen eines Tieres. Ich weiß, so etwas ist nur schwer zu glauben, aber seit drei Monaten höre ich es jetzt, fast die gesamte Zeit, seitdem ich dort wohne, und es ist absolut eindeutig.«

Ich wandte mich wieder um. »Kann man irgendetwas riechen? Irgendwelche störenden Rückstände? Ich meine, haben Sie Exkremente von Tieren oder so etwas in Ihren Schränken gefunden?«

»Es atmet, das ist alles. Wie ein Hund an einem heißen Tag. Es keucht und keucht, die ganze Nacht lang – und manchmal keucht es sogar am Tag.«

Ich ging zum Schreibtisch zurück und setzte mich wieder in meinen Sessel. Seymour Wallis sah mich aufmerksam an, als könne ich einfach eine Lösung aus der unteren linken Schublade hervorzaubern; aber ich war nur dazu befugt, Ratten, Kakerlaken, Termiten, Wespen, Läuse, Flöhe und Wanzen auszurotten. Für Atmen war ich nicht zuständig.

»Mr. Wallis«, fragte ich so freundlich wie möglich, »sind Sie sicher, dass Sie hier bei der richtigen Stelle sind?«

Er hustete. »Haben Sie einen anderen Vorschlag?«

Ich begann mich wirklich zu fragen, ob ein Psychiater hier nicht besser angebracht und er dabei sei, verrückt zu werden, aber es ist ziemlich schwer, dies einem netten alten Mann ins Gesicht zu sagen. Und angenommen, das Atmen war wirklich da?

»Wenn kein Schmutz vorhanden ist und sich keine sichtbaren Anzeichen für den Grund des Atmens finden lassen, dann weiß ich eigentlich nicht, warum Sie beunruhigt sind. Es ist vielleicht nur ein ungewöhnliches Phänomen, verursacht durch die Bauweise Ihres Hauses«, sagte ich.

Seymour Wallis hörte zu, mit einem Gesichtsausdruck, der bedeutete: Sie sind ein Bürokrat und müssen solch beruhigendes Zeug sagen, aber ich glaube kein Wort davon. Als ich verstummte, lehnte er sich in seinem Plastiksessel zurück und nickte eine Weile nachdenklich vor sich hin.

»Falls Sie sonst noch irgendetwas benötigen, falls Sie Ihre Schaben oder Ratten vernichtet haben wollen, dann kümmern wir uns darum.«

Er sah mich fest und unbeeindruckt an. »Ich will Ihnen die Wahrheit sagen«, meinte er rau. »Die Wahrheit ist, dass ich Angst habe. In diesem Atmen ist etwas, das mir eine Gänsehaut verursacht. Ich bin nur hierhergekommen, weil ich nicht wusste, wohin ich hätte sonst gehen können. Mein Arzt sagt, dass mein Gehör völlig in Ordnung ist. Mein Installateur sagt, dass die Leitungen im Haus alle okay sind, und mein Psychiater sagt, dass es keine drohenden Anzeichen einer Verkalkung gibt. Das ist ja alles sehr beruhigend, aber ich höre das Atmen immer noch und ich habe wirklich Angst.«

»Mr. Wallis«, erwiderte ich, »ich kann wirklich nichts tun. Atmen fällt nicht in meine Zuständigkeit.«

»Sie könnten zu mir kommen und es hören.«

»Das Atmen?«

»Nun, Sie müssen es nicht.«

Ich hob entschuldigend die Hände. »Mr. Wallis, es geht nicht darum, dass ich nicht will. Ich habe nur dringendere Dinge in diesem Amt zu tun. Wir haben einen verstopften Kanal in Folson und die Leute dort sind bestimmt mehr an ihrem eigenen Atmen als an dem irgendeines anderen interessiert. Es tut mir leid, Mr. Wallis, ich kann Ihnen nicht helfen.«

Er rieb sich müde die Stirn, stand auf und meinte niedergeschlagen: »In Ordnung, ich verstehe, was Vorrang hat.«

Ich ging um meinen Schreibtisch herum und öffnete ihm die Tür. Er setzte seinen alten Panamahut auf und blieb einen Augenblick stehen, als ob er nach Worten suchte, um noch etwas zu sagen.

»Wenn Sie sonst noch etwas hören, etwa, wie etwas läuft, oder wenn Sie Exkremente finden …«

Er nickte. »Ich weiß, dann rufe ich Sie an. Heutzutage ist das Problem einfach, dass jeder ein Spezialist ist. Sie können Kanäle reinigen, aber Sie können nicht so etwas Seltsamem zuhören wie einem Haus, das atmet.«

»Tut mir leid.«

Urplötzlich griff er nach meinem Handgelenk. Seine knochige alte Hand war überraschend stark und es fühlte sich an, als ob mich ein nackter Adler gepackt hätte.

»Warum hören Sie nicht auf, ständig zu sagen, dass es Ihnen leidtut, und tun stattdessen etwas Nützliches?«, fragte er. Er trat so dicht an mich heran, dass ich die roten Äderchen in seinen Augen erkennen konnte. »Wenn Sie hier fertig sind, warum kommen Sie anschließend nicht mal vorbei und hören fünf Minuten zu? Ich habe schottischen Whisky da, den mein Neffe aus Europa mitgebracht hat. Wir könnten einen Drink nehmen und dann könnten Sie zuhören.«

»Mr. Wallis …«

Er ließ mein Handgelenk los, seufzte und rückte seinen Hut zurecht. »Bitte verzeihen Sie mir«, sagte er ausdruckslos. »Ich glaube, dass mir meine Nerven einen kleinen Streich gespielt haben.«

»Schon gut«, sagte ich. »Hören Sie zu, sollte ich nach Feierabend noch Zeit finden, komme ich vorbei. Heute Abend muss ich noch zu einer Besprechung, aber danach versuche ich es.«

»Sehr schön«, sagte er, ohne mich anzusehen. Er wollte nicht die Kontrolle über seine Gefühle verlieren und strengte sich sehr an, sich zusammenzureißen.

Dann sagte er: »Es könnte der Park sein, wissen Sie. Es könnte etwas mit dem Park zu tun haben.«

»Mit dem Park?«, fragte ich verblüfft.

Er runzelte die Stirn, als ob ich irgendetwas völlig Belangloses gesagt hätte. »Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben, junger Mann.«

Dann ging er den langen polierten Flur entlang. Ich stand im Türrahmen und schaute ihm nach. Überraschend begann ich in der klimatisierten Luft zu frösteln.

Wie üblich wurde die abendliche Sitzung von Ben Pultik beherrscht, dem Leiter der Abteilung für Müll. Pultik war ein kleiner, breitschultriger Mann, der aussah wie ein schmaler Garderobenschrank, über den ein gemustertes Jackett gestülpt wurde. Er arbeitete schon seit einer Ewigkeit in der Müll-Abteilung und betrachtete sein Ressort als eine der wichtigsten Aufgaben der Menschheit, was es, wenn man so will, ja auch war – doch nicht in dem Sinne, wie er es sah.

Wir saßen um den Konferenztisch, rauchten viel zu viel und tranken wässrigen Kaffee aus Plastikbechern, während sich der Himmel draußen vor den Fenstern purpurn und mattgold färbte und die Türme und Dächer von San Francisco wie Sand glitzernd in der Pazifiknacht verschwanden.

Pultik beschwerte sich, dass die Besitzer ausländischer Restaurants die Küchenabfälle nicht fachgerecht in schwarzen Plastikmüllsäcken sammelten, und seine Mannschaft deshalb ihre Overalls ständig mit exotischen Essensresten beschmutzte.

»Einige meiner Männer haben einen jüdischen Glauben«, sagte er und zündete seinen Zigarettenstummel wieder an. »Und das Letzte, was die sich wünschen, ist, sich von oben bis unten mit Essen einzusauen, das nicht koscher zubereitet worden ist!«

Morton Meredith, der Chef der Abteilung, saß mit verkrampftem Lächeln in seinem Sessel am Kopf des Tisches und versteckte hinter seiner Hand ein Gähnen. Der einzige Grund, warum wir diese Sitzungen abhielten, war der, dass man im Rathaus darauf bestand; die Angestellten sollten sich untereinander Anregungen geben – doch der Gedanke, von Ben Pultik stimuliert zu werden, war wie die Idee, bei McDonald’s Muscheln à la farcies zu bestellen. Die stehen dort nämlich gar nicht auf der Karte.

Kurz vor neun Uhr, nach einem ermüdenden Bericht der Schädlingsbekämpfer, verließen wir das Gebäude und traten hinaus in die warme Abendluft. Dan Machin, jung und dürr wie eine Bohnenstange, der beim Forschungslabor des Gesundheitsamtes beschäftigt war, kam über den Platz auf mich zugelaufen und schlug mir auf den Rücken.

»Wie wär’s mit einem Drink? Bei diesen Sitzungen trocknet einem ja die Kehle aus.«

»Klar«, antwortete ich. »Ich habe Zeit genug zum Totschlagen.«

»Zeit und Fliegen.«

Warum ich Dan Machin mochte, weiß ich eigentlich nicht genau. Er war drei oder vier Jahre jünger als ich, seine Haare stoppelig-kurz geschnitten wie der Weizen in Kansas, und er trug eine große, altmodische Brille, die immerzu von seiner Stupsnase rutschen wollte. Seine Jacken – mit Lederaufnähern an den Ellbogen – waren immer zu groß, seine Schuhe ständig ausgelatscht; doch er hatte einen leisen Humor, der mir gefiel. Obwohl Dans Gesicht ziemlich blass war, weil er zu viele Stunden im Büro verbrachte, bewegte er sich gut beim Tennis.

Vielleicht erinnerte mich Dan Machin an die Zeit meiner wohlbehüteten Jugend in einem Vorort von Westchester, wo an allen Häusern Kutscherlampen leuchteten und alle Hausfrauen die Haare blond und mit glänzendem Spray fixiert trugen. Sie fuhren ihre Kinder in großen Buicks herum und im Herbst wurde durch den Geruch von brennendem Laub das Halloweenfest angekündigt. Seither hatte ich einiges wirklich Übles durchgemacht, unter anderem eine schmutzige Scheidung und eine leidenschaftliche, aber hoffnungslose Affäre. Jedenfalls war es nett zu wissen, dass ein solch heiles Amerika noch existierte.

Wir überquerten die Straße und gingen durch die enge Nebenstraße der Gold Street zu Dans Lieblingsbar, das Assay Office. Es bestand aus einem sehr hohen Raum mit einer altmodischen Terrasse; die Holzmöbel waren mit Messingbändern verziert und zeugten noch von einem längst vergangenen San Francisco. Wir fanden einen Platz an der Wand und Dan bestellte uns zwei Coors.

»Ich hatte eigentlich vor, heute Abend nach Pilarcitos zu fahren«, erzählte ich ihm und zündete mir eine Zigarette an.

»Aus Vergnügen oder beruflich?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Weder das eine noch das andere.«

»Das klingt geheimnisvoll.«

»Ist es auch. Heute kam ein alter Mann zu mir ins Büro und erzählte, dass er ein Haus besitzt, das atmet.«

»Atmet?«

»Genau das. Um genauer zu sein: Es hechle wie Lassie. Er wollte wissen, ob ich etwas dagegen tun kann.«

Das Bier kam und Dan trank einen großen Schluck, wobei ein weißer, schaumiger Schnurrbart zurückblieb, der ihm ganz gut stand.

»Es ist keine Fallströmung im Kamin«, erzählte ich ihm. »Es ist auch kein Tier, das in den Wänden gefangen ist. Es ist wirklich ein echter Fall unerklärlichen Atmens.«

Das sollte eigentlich ein Witz sein, aber Dan schien es ernst zu nehmen: »Sagte er sonst noch etwas? Hat er gesagt, wann es passiert? Zu welcher Tageszeit?«

Ich stellte mein Glas ab. »Er meinte, dass es immer da sei. Er lebt erst seit einigen Monaten in dem Haus, und seither ist es immer zu hören. Er hat wirklich Angst. Ich vermute, der alte Kauz glaubt, dass es eine Art Geist ist.«

»Tja, das könnte sein«, murmelte Dan.

»Oh, sicher – und Ben Pultik ist den Müll leid.«

»Nein, ich meine es ernst«, beteuerte Dan. »Mir sind schon solche Fälle zu Ohren gekommen, bei denen Leute Stimmen und so etwas gehört haben. Unter bestimmten Bedingungen können Geräusche, die irgendwann in einem alten Raum verursacht worden sind, nochmals vernommen werden. Ab und zu haben Leute berichtet, dass sie Unterhaltungen gehört hätten, die vor Jahrhunderten stattgefunden haben müssen.«

»Woher weißt du das alles?«

Dan zupfte sich an seiner kleinen Nase, als wolle er sie verlängern, und ich könnte schwören, dass er tatsächlich leicht errötete. »Um ehrlich zu sein«, erwiderte er verlegen, »bin ich schon immer sehr an Geistererscheinungen interessiert gewesen. Das zieht sich durch unsere Familie.«

»So ein hartgesottener Wissenschaftler wie du?«

»Na, hör mal, sie sind nicht alle so idiotisch, wie man immer meint, diese ganzen Geisterweltgeschichten. Es gibt da völlig verblüffende Fälle. So erzählte meine Tante immer, dass sich der Geist von Buffalo Bill jede Nacht auf ihre Bettkante gesetzt hat, um ihr Geschichten aus dem alten Westen zu erzählen.«

»Buffalo Bill?«

Dan legte sein Gesicht in selbstkritische Falten. »Das hat sie behauptet. Vielleicht hätte ich ihr das nicht glauben sollen.«

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. In der Bar herrschte ein angenehmes Stimmengewirr. Gerade brachte man gebratene Hähnchen und Rippchen herein, was mich daran erinnerte, dass ich schon seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte.

»Meinst du, ich sollte mir das mal ansehen?«, fragte ich Dan, während mir ein Mädchen in einem T-Shirt auffiel, über deren Busen ›Oldsmobile Rocket‹ gedruckt stand.

»Na ja, sagen wir mal: Ich würde gehen. Hmm, vielleicht sollten wir zusammen hingehen. Ich würde gern ein Haus hören, das atmet.«

»Du würdest also gehen? Okay, wenn du das Taxigeld mit mir teilst, dann fahren wir hin. Aber glaube nicht, dass ich für den Burschen garantieren kann. Er ist sehr alt und vielleicht leidet er nur an Halluzinationen.«

»Eine Halluzination ist eine Täuschung.«

»Allmählich fange ich an zu glauben, dass das Mädchen dort in dem T-Shirt eine Sinnestäuschung ist.«

Dan drehte sich um und sein Blick traf den des Mädchens. Er lief dunkelrot an.

»Mensch, so was tust du ständig«, beklagte er sich irritiert. »Die müssen doch glauben, dass ich der reinste Sex-Maniac bin.«

Wir tranken unser Bier aus und nahmen ein Taxi zur Pilarcitos Street hinauf. Es war eine dieser kurzen, verschlungenen Straßen, in denen man sein Auto parkt, wenn man ein japanisches Restaurant auf der Hauptstraße besuchen will, und das man dann nachher, weil man zu viel Tempura und Sake intus hat, nie mehr wiederfindet. Die Häuser waren alt und still, mit Türmchen, Giebeln und schattigen Eingängen, und in Anbetracht, dass die Mission Street nur einige Hundert Meter entfernt verlief, schienen sie seltsam vor sich hin zu brüten und nicht mit der Gegenwart verbunden.

Dan und ich standen im warmen Abendwind vor der Nummer 1551 und sahen zu dem gotischen Turm und dem mit Holz verkleideten Balkon auf, an denen die graue Farbe absprang wie Schuppen von einem toten Fisch.

»Du glaubst also nicht, dass ein solches Haus atmen kann?«, fragte er mich und rümpfte die Nase.

»Ich glaube nicht, dass irgendein Haus atmen kann. Aber es riecht, als ob die Rohrleitungen mal überprüft werden müssen.«

»Um Gottes willen«, klagte Dan. »Keine Fachgespräche mehr nach Dienstschluss. Glaubst du, dass ich zu Cocktailpartys gehe und dabei die Haare meiner Gastgeber nach Läusen absuche?«

»Bei dir würde mich das nicht wundern.«

Ein rostiges schmiedeeisernes Tor und fünf Stufen führten zum überdachten Vorbau. Ich drückte das Tor auf, das aufstöhnte wie ein sterbender Hund. Dann gingen wir die Stufen hinauf und suchten im Dunkeln nach einer Klingel. Alle Fenster der unteren Etage, die zur Straße zeigten, waren dunkel und geschlossen, sodass uns Pfeifen oder Rufen aussichtslos schienen. Unten am Hügel raste ein Polizeiwagen mit heulender Sirene vorbei und ein Mädchen, das mit zwei jungen Männern die Straße entlangstolzierte, kicherte laut. All dies geschah innerhalb unserer Sicht-und Hörweite und doch herrschte hier am Eingang zu Nummer 1551 nichts als dunkles Schweigen und ein Gefühl, als wirbelten vergessene Jahre an uns vorüber, die aus dem Briefkasten und unter der verzierten Vordertür herausrannen wie der Sand aus Säcken.

»Hier ist ein Klopfer«, sagte Dan. »Vielleicht sollte ich ein paarmal klopfen.«

Ich schielte in die Finsternis. »Solange du dabei nicht ›Nimmermehr‹ zitierst.«

»Jesus«, sagte Dan. »Sogar der Türklopfer ist gruselig.«

Ich trat etwas näher heran und schaute ihn an. Es war ein gewaltiger, antiker Klopfer, der vom Alter und Wetter ganz schwarz geworden war. Er hatte die Form einer seltsamen, knurrenden Kreatur, etwas zwischen Wolf und Dämon – nicht gerade einladend, fand ich. Jemand, der so etwas freiwillig an seine Vordertür hing, musste etwas seltsam sein, es sei denn, er hatte an Albträumen Spaß. Unten auf dem Türklopfer stand ein einzelnes Wort eingraviert: Rückkehr.

Weil Dan noch zögerte, benutzte ich den Klopfer drei-oder viermal. Der Klang hallte leise drinnen im Haus wider und wir warteten geduldig vor der Tür, dass Seymour Wallis reagierte.

»Was, glaubst du, ist das? Das Ding da auf dem Klopfer?«, fragte Dan.

»Keine Ahnung. So eine Art Wasserspeier, vermute ich.«

»Für mich sieht es mehr nach einem verfluchten Werwolf aus.«

Ich griff in meine Jackentasche und holte eine Zigarette heraus. »Du hast zu viele alte Horrorfilme gesehen.«

Gerade wollte ich noch einmal klopfen, als ich drinnen schlurfende Schritte sich nähern hörte. Mehrere Riegel wurden oben und unten von der Tür fortgeschoben und dann öffnete sie sich knarrend einen Spalt, bis sie von einer Sicherheitskette gestoppt wurde. Ich sah Seymour Wallis’ blasses Gesicht vorsichtig durch den Spalt spähen, als ob er Verbrecher erwartete – oder die Zeugen Jehovas.

»Mr. Wallis?«, fragte ich. »Wir kommen, um das Atmen zu hören.«

»Oh, Sie sind es.« Offensichtlich war er erleichtert. »Bitte warten Sie einen kleinen Augenblick, ich mache sofort auf.«

Er schob die Kette fort und die Tür knarrte noch ein Stück weiter auf. Seymour Wallis trug einen kastanienbraunen Bademantel und Pantoffeln, aus denen seine dünnen, nackten, behaarten Beine ragten.

»Ich hoffe, dass wir Sie nicht gerade von der Abendtoilette abhalten«, sagte Dan.

»Nein, nein. Kommen Sie herein. Ich habe mich nur gerade fertig gemacht, um ein Bad zu nehmen.«

»Ihr Klopfer gefällt mir«, sagte ich, »obwohl er etwas unheimlich ist, nicht wahr?«

Seymour Wallis widmete mir ein kurzes Lächeln. »Vermutlich – aber er hing bereits an der Tür, als ich einzog. Ich weiß nicht, was er darstellen soll. Meine Schwester glaubt, es könnte der Teufel sein, aber ich bin da nicht so sicher. Und weshalb ›Rückkehr‹ darunter steht, werde ich wohl niemals erfahren.«

Wir standen in einer hohen, muffigen Diele, ausgelegt mit schäbigem braunem Teppichboden. Überall an den Wänden hingen gelblich verblasste Drucke, Zeichnungen und gerahmte Briefe. Einige der Rahmen waren leer und manche zerbrochen, aber die meisten enthielten erdfarbene Ansichten vom Mount Taylor und Cabezon Peak, andere stockfleckige Landkarten und unleserliche, handgeschriebene Zeugnisse.

Das Geländer der Wendeltreppe neben uns war aus dunklem Mahagoni gedrechselt und obendrauf sahen wir eine Bronzefigur – ein Bär, der aufgerichtet stand und anstelle der Schnauze mit einem Frauengesicht versehen worden war. Die Stufen, massiv, aber schmal, wuchsen hinauf in die Dunkelheit der ersten Etage wie eine Rolltreppe in die schwarze Stille der Nacht.

»Wir gehen besser hier entlang«, meinte Seymour Wallis und führte uns durch die Diele zu einer Tür. Über ihr hing ein schäbiger Hirschkopf mit verstaubtem Geweih und nur noch einem Auge.

Dan sagte: »Nach Ihnen«, und ich war mir nicht sicher, ob er sich über das Haus lustig machte. Es konnte jedenfalls nicht noch unheimlicher werden.

Wir betraten ein kleines, stickiges Büro. Rundherum standen leere Regale, auf denen früher einmal Bücher aufgereiht gewesen sein mussten, denn die bräunlich gemusterte Tapete hinter ihnen zeigte noch die Schatten, wo sie einst gestanden hatten. In der Ecke, unter einem melancholischen Bild des frühen San Francisco, standen ein Schreibtisch mit fleckiger lederbezogener Platte und ein Holzstuhl, an dessen Rückenlehne zwei Stäbe fehlten. Seymour Wallis hatte die Fensterläden unten gelassen und die Luft des Zimmers war stickig und säuerlich. Es roch nach Katzen, Lavendelkissen und Insektenmittel.

»Hier höre ich die Geräusche stärker als in jedem anderen Raum«, erklärte Wallis. »Meistens in der Nacht, wenn ich hier sitze und Briefe schreibe oder meine Bilanzen überprüfe. Zuerst hört man nichts. Doch dann spitze ich die Ohren und bin sicher, es zu hören. Sanftes Atmen, als habe jemand den Raum betreten und stehe eine Weile etwas von mir entfernt da und beobachte mich. Ich versuche, na ja, ich habe versucht, mich nicht umzudrehen. Aber ich muss zugeben, dass ich es doch immer tue. Und natürlich ist niemand da.«

Dan ging über den abgetretenen Läufer. Die Bodenbretter knackten unter seinen Füßen. Er nahm einen Sternenkalender von Seymour Wallis’ Schreibtisch und sah ihn einige Augenblicke prüfend durch.

»Glauben Sie an das Übernatürliche, Mr. Wallis?«

»Das hängt davon ab, was Sie unter Übernatürlich verstehen.«

»Tja, Geister.«

Wallis schaute erst mich und dann wieder Dan an. Ich glaubte, er fürchtete, wir wollten ihn zum Narren halten. In seinem dunkelbraunen Bademantel sah er aus wie einer von diesen älteren Herren, die darauf bestehen, am Weihnachtstag ein kurzes Bad im Meer zu nehmen.

»Ich habe meinem Kollegen hier schon erzählt, dass es Häuser gibt, die als Empfänger für Töne und Unterhaltungen aus der Vergangenheit dienen. Falls in ihrem Inneren etwas besonders Erregendes passiert, dann speichern sie die Geräusche im Gefüge der Mauern ab wie ein Aufnahmegerät und wiederholen sie später, wieder und immer wieder. Erst letztes Jahr gab es da einen Fall in Massachusetts: Ein junges Paar behauptete, es höre bei Nacht immer wieder einen Mann und eine Frau in ihrem Wohnzimmer streiten, aber sobald sie nach unten gingen, sei niemand da. Sie konnten tatsächlich Namen verstehen, und als sie im örtlichen Kirchenregister nachsahen, stellten sie fest, dass die Leute, die sie ständig hörten, 1860 in ihrem Haus gewohnt hatten.«

Seymour Wallis rieb sich sein stacheliges Kinn. »Sie wollen mir sagen, dass dieses Atmen, das ich höre, von einem Geist ist?«

»Nicht gerade ein Geist«, sagte Dan. »Es ist nur ein Echo aus der Vergangenheit. Es mag wohl beängstigend sein, ist aber nicht gefährlicher als die Töne, die aus dem Fernseher kommen. Es sind nur Geräusche, mehr nicht.«

Wallis setzte sich langsam auf den alten Stuhl und sah uns sehr ernst an. »Kann ich es dazu bringen, mich allein zu lassen?«, fragte er. »Ich meine, können Sie es vielleicht austreiben?«

»Ich befürchte, nein«, antwortete Dan. »Dazu müsste man das Haus abreißen. Was Sie hören, ist mit der Struktur des Hauses selbst verbunden.«

Ich hüstelte und sagte höflich: »Ich fürchte, da gibt es einen Ratsbeschluss gegen den Abriss dieser alten Häuser. Sie gehören zu Unterabschnitt 8.«

Seymour Wallis sah sehr müde aus. »Wissen Sie«, sagte er, »seit Jahren schon wollte ich eines dieser Häuser besitzen. Ich ging immer wieder hier vorbei und bewunderte ihr Alter, ihren Charakter und ihren Stil. Schließlich gelang es mir, eines zu ergattern. Dieses Haus bedeutet mir unsagbar viel. Es stellt für mich alles dar, was ich in meinem Leben versucht habe, um die alten Normen gegen die leichte, falsche, betrügerische, moderne Welt zu bewahren. Schauen Sie sich um! Hier gibt es kein Stück Formica, kein Gramm Plastik oder eine Spur von Glaswolle. Der Fries um die Decke ist aus echtem Gips, diese Bodenbretter stammen von einem alten Segelschiff. Schauen Sie, wie breit sie sind. Dann sehen Sie sich die Türen an. Sie sind solide und hängen richtig. Die Scharniere sind aus Messing.«

Er hob den Kopf, und als er sprach, klang seine Stimme sehr gerührt.

»Dieses Haus gehört mir. Und wenn ein Geist oder ein Geräusch in ihm ist, dann will ich es heraushaben. Ich bin der Herr hier. Bei Gott, ich werde es mit jeder übernatürlichen Kraft aufnehmen, denn es ist mein gutes Recht.«

»Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass ich Ihnen nicht glaube«, sagte ich, »denn ich bin sicher, dass Sie das, was Sie uns erzählt haben, wirklich gehört haben. Aber glauben Sie nicht, dass Sie vielleicht einfach überarbeitet sind? Vielleicht sind Sie nur müde.«

Seymour Wallis nickte. »Ich bin müde, das stimmt. Aber ich bin nicht so müde, dass ich nicht um das kämpfen würde, was mir gehört.«

Dan sah sich im Raum um. »Vielleicht könnten Sie mit diesem Atmen eine Einigung treffen. Irgendeinen Kompromiss schließen.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Also, ich weiß nicht, ob ich es selbst verstehe. Aber es gibt viele Spiritisten, die zu glauben scheinen, dass man mit den Geistern einen Pakt schließen kann, damit sie einen in Ruhe lassen. Ich meine, der Grund, warum es an einem Ort spukt, könnte einfach darin liegen, dass der Geist nicht frei ist, dahin zu gehen, wohin Geister eben verschwinden. Vielleicht versucht dieser atmende Geist, Sie dazu zu bringen, ihm bei etwas zu helfen. Ich weiß nicht. Es ist nur so ein Gedanke. Vielleicht sollten Sie einen Versuch unternehmen und mit ihm reden.«

Ich hob eine Augenbraue.

»Was schlagen Sie denn vor, was ich sagen soll?«, fragte Wallis vorsichtig.

»Seien Sie einfach geradeheraus. Fragen Sie, was er will.«

»Oh, jetzt hör aber auf, Dan«, fuhr ich dazwischen. »Das ist lächerlich.«

»Nein, das ist es nicht. Wenn Mr. Wallis das Atmen hören kann, dann kann das, was immer da atmet, ihn vielleicht auch hören.«

»Wir wissen überhaupt noch nicht, ob das Atmen wirklich existiert.«

»Aber angenommen, es atmet etwas.«

Wallis erhob sich. »Ich vermute, dass ich Sie nur überzeugen kann, wenn Sie es selber hören. Warum trinken wir nicht ein Glas Scotch? Dann setzen wir uns eine halbe Stunde hierhin, falls Sie die Zeit haben, und lauschen.«

»Ja, das würde ich gern«, sagte Dan.

Wallis schlurfte aus dem Zimmer und kam nach einem kurzen Augenblick mit zwei Holzstühlen zurück. Wir setzten uns, steif und unbequem, während er wieder davonschlurfte, um die Flasche zu holen.

Ich beschnüffelte die stickige Luft. Es war heiß und muffig in dieser kleinen Bibliothek und ich wünschte mich jetzt zurück in mein Büro, ein kaltes Bier trinkend.

Dan rieb sich kribbelig die Hände. »Das wird noch ganz aufregend.«

»Glaubst du, dass wir es hören werden?«

»Sicher werden wir es hören. Ich sagte dir doch: Ich glaube an solche Sachen. Einmal schon hätte ich fast einen Geist gesehen.«

»Du hast ihn fast gesehen? Was soll denn das heißen?«

»Ich wohnte mal in einem alten Hotel in Denver und ging eines Nachts gerade in mein Zimmer zurück, als ich sah, wie das Zimmermädchen dort herauskam. Ich steckte meinen Schlüssel ins Schloss und es fragte mich: »Sind Sie sicher, dass Sie ins richtige Zimmer wollen, Sir? Da drinnen nimmt ein Gentleman gerade ein Bad.« Nun, ich überprüfte meine Schlüsselnummer und es war das richtige Zimmer, also ging ich hinein. Das Mädchen kam mit, um nachzusehen, und als ich ins Badezimmer kam, war da niemand, der ein Bad nahm, kein Wasser in der Wanne, nichts. Hotels werden gerne von Geistern heimgesucht.«

»Bestimmt, und das Gesundheitsamt gerne von Märchenerzählern.«

In diesem Moment betrat Wallis den Raum mit einem angelaufenen Silbertablett, auf dem eine Whiskykaraffe und drei Gläser standen. Er setzte es auf den Tisch und schenkte uns die Gläser großzügig voll. Danach nahm er auf seinem Stuhl Platz und nippte an dem Scotch, als prüfe er ihn, ob er vergiftet sei. Draußen in der Halle schlug eine Uhr, die ich vorher nicht gesehen hatte, zehnmal an: Bommm …

Bommm … Bommm … Bommm …

»Haben Sie etwas Eis, Mr. Wallis?«, fragte Dan.

Wallis schaute ihn verwirrt an, schüttelte dann den Kopf, »Tut mir leid. Der Eisschrank ist kaputt. Ich wollte ihn schon längst reparieren lassen, aber meistens esse ich auswärts, deshalb war es eigentlich noch nicht nötig.«

Dan hob sein Glas. »Also, dann auf das Atmen, wer immer es verursacht.«

Ich trank den warmen puren Scotch und verzog das Gesicht.

Wir warteten schweigend fast zehn Minuten. Es ist erstaunlich, wie viele Geräusche man macht, wenn man Whisky in völliger Stille trinkt. Nach einer Weile konnte ich das Ticken der Uhr draußen in der Vorhalle hören, sogar noch das entfernte Murmeln des Verkehrs auf der Mission Street. Und da war noch das Rauschen meines eigenen Blutes, das durch meine Gehörgänge zirkulierte.

Wallis unterdrückte ein Husten: »Noch etwas Whisky?«

Dan hielt sein Glas hin, aber ich sagte: »Falls ich noch mehr trinke, dann höre ich Glocken, aber kein Atmen.«

Wir lehnten uns wieder zurück und das Holz der Stuhllehnen knackte unangenehm.

Dan fragte: »Wissen Sie etwas über die Geschichte des Hauses, Mr. Wallis? Irgendetwas, was helfen könnte, diesem geheimnisvollen Atmer auf die Spur zu kommen?«

Seymour Wallis rückte nervös einige Sachen auf seinem Schreibtisch zurecht – Stifte, Brieföffner, Terminkalender – und schaute Dan mit demselben mutlosen Gesicht an, das er auch gemacht hatte, als er in mein Büro getreten war.

»Ich habe die Grundbucheinträge durchgesehen – sie reichen zurück bis ins Jahr 1885, als man das Haus gebaut hat. Der erste Besitzer war ein Samenhändler, danach hat es ein Schiffskapitän gekauft. Aber hier geschah nichts Ungewöhnliches. Kein Mord oder so etwas.«

Dan trank noch etwas Whisky. »Vielleicht hält sich der Atmer hier auf, weil er in diesem Haus glücklich war. Das passiert manchmal. Ein Geist spukt in einem Haus und versucht, sein altes Glück zu wiederholen.«

»Ein glücklicher Atmer?«, fragte ich skeptisch.

»Genau«, verteidigte sich Dan. »So etwas hat es schon gegeben.«

Wir schwiegen wieder. Dan und ich saßen ganz ruhig da, aber Seymour Wallis zappelte ein wenig und kratzte sich voller Unruhe. Die Uhr schlug die halbe Stunde und wir warteten weiter und hörten immer noch nichts. Das Schweigen des Hauses umgab uns und wurde durch keinen Laut gestört – in diesem Gebäude lebten seit mehr als hundert Jahren Menschen, doch nun stand es bewegungslos und still, kein Fensterladen rührte sich.

Ich stellte mein Whiskyglas auf eine Ecke von Seymour Wallis’ Schreibtisch. Er sah kurz auf und ich lächelte, aber er schaute zur Seite und biss sich auf die Lippen. Wahrscheinlich machte er sich Sorgen, dass es heute Abend nicht atmete und wir glauben würden, dass er entweder ein Lügner oder völlig verrückt sei.

Jetzt machte Dan: »Psssscht.«

Ich erstarrte und lauschte. »Ich höre nichts.«

Wallis hob seine Hand. »Es ist zuerst immer sehr leise, doch es wird dann lauter. Hören Sie.«

Ich spitzte meine Ohren. Man vernahm immer noch das Ticken der Uhr in der Halle, immer noch das Geräusch des Verkehrs. Aber da war noch etwas anderes, ja, so leise, dass wir angestrengt die Stirn krausten, als wir versuchten, es zu hören.

Zuerst klang es wie ein leises Flüstern, als wehe der Wind ein Stück Seide durch den Raum. Aber nach und nach wurde es lauter. Ich konnte nur noch Dan anschauen, um festzustellen, ob er auch hörte, was ich hörte, um sicher zu sein, dass es keine Selbsttäuschung war oder durch einen Luftzug verursachte Geräusche.

Es atmete. Langsames, tiefes Atmen, wie das Atmen eines Schlafenden. Es atmete ein und aus, ein und aus, als würden die Lungen endlos gefüllt und geleert – das Atmen von jemandem, der schlief und schlief und niemals den Morgen erleben sollte.

Jetzt verstand ich, warum Seymour Wallis Angst hatte. Dieses Geräusch, dieses Atmen, konnte einem eine eisige Gänsehaut verursachen. Es war das Atmen von jemandem, der niemals wieder aufwacht. Es hatte mehr mit dem Tod als mit dem Leben zu tun, und es ging immer weiter, lauter und lauter, bis wir unsere Ohren nicht mehr spitzen mussten, sondern einfach nur dasaßen und uns gegenseitig in Schrecken und Angst ansahen.

Es ließ sich unmöglich bestimmen, woher das Atmen kam. Es kam von überall. Ich sah mir sogar die Wände an, um ganz sicher zu sein, dass sie sich nicht bei jedem Atemzug bewegten. Wallis hatte recht. Das Haus atmete und es war nicht tot, wie wir zuerst geglaubt hatten, nein, es schlief.

Ich flüsterte: »Dan, Dan!«

»Was ist los?«

»Sprich zu ihm, Dan, wie du es vorhin gesagt hast. Frage, was es will!«

Dan leckte über seine Lippen. Überall um uns herum atmete es weiter, langsam und schwer. Einige Male glaubte ich, dass es aufhört, dann jedoch kam wieder ein tiefer Atemzug und noch einer, als ob es so schon mehr als hundert Jahre geatmet hätte und vermutlich immer so weiteratmen wird.

Dan hustete. »Ich kann nicht.« Seine Stimme klang rau. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Wallis selbst saß nur da, verkrampft und ruhig, zum ersten Mal an diesem Abend, seinen Whisky noch unberührt in der Hand.

Langsam, vorsichtig stand ich auf. Das Atmen veränderte sich nicht. Es war jetzt so laut, als läge ich dicht neben jemandem im Bett, der mir in der Dunkelheit sein Gesicht zugewandt hatte.

»Wer ist da?«, fragte ich.

Es kam keine Antwort. Das Atmen ging weiter.

»Wer ist da?«, fragte ich, jetzt viel lauter. »Was willst du? Sage uns, was du willst, und wir werden dir helfen!«

Das Atmen ging weiter, obwohl ich irgendwie meinte, dass es schroffer wurde. Es war jetzt auch schneller.

»Mach es nicht, um Himmels willen!«, bat Dan.

Ich ignorierte ihn und ging in die Mitte des Raumes. Laut rief ich: »Wer immer hier auch atmet, höre mir zu! Wir möchten dir helfen! Sage uns, was wir für dich tun können, und wir werden dir helfen! Gib uns ein Zeichen! Zeige uns, dass du uns bemerkst!«

Seymour Wallis sagte: »Bitte, ich glaube, das ist gefährlich. Lassen Sie uns einfach nur zuhören … Lassen wir es in Frieden.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wie können wir das? Dan glaubt an Geister und Sie sagen, dass es Ihnen Angst macht. Also, auch ich höre es, und wenn ich es hören kann, dann muss da irgendetwas sein, denn ich glaube nicht an Geister und bin auch nicht sonderlich verängstigt.«

Das Atmen wurde immer schneller. Es war immer noch das Atmen eines Schlafenden, aber eines Schlafenden, der träumt, oder eines Schlafenden, den Albträume quälen.

Wallis stand auf, sein Gesicht war verzerrt und blass. »Mein Gott, so laut ist es noch nie gewesen. Bitte, sagen Sie nichts mehr. Lassen Sie es in Ruhe, dann geht es wieder fort.«

»Wer auch immer hier atmet!«, rief ich heiser. »Wer immer auch da ist! Hör zu! Wir können dir helfen! Wir können dir helfen, dieses Haus zu verlassen!«

Das Atmen raste jetzt nahezu, keuchte, winselte. Seymour Wallis hielt sich vor Grausen die Ohren zu und Dan saß erstarrt auf seinem Stuhl, das Gesicht völlig blutleer. Bisher hatte ich keine Angst gehabt – aber das hier war Wahnsinn. Das war einfach eine Schauerfantasie.

Das Atmen steigerte sich mehr und mehr, als arbeite es sich auf einen Höhepunkt zu, den Gipfel einer grotesken Anstrengung. Jetzt war es das keuchende Atmen eines Läufers, der zu weit und zu schnell läuft, das Atmen eines Tieres in Panik. Und dann krachte es plötzlich, dass ich die Augen zukniff, und Dan Machin wurde runter von seinem Stuhl gerissen und durch den halben Raum geschleudert. Seymour Wallis kreischte wie eine Frau und fiel auf die Knie. Ich hörte irgendwo im Haus Glas klirren und Gegenstände prasselten und krachten zu Boden. Dann war es still.

Ich öffnete die Augen. Wallis hockte auf dem Boden, erschüttert, aber unverletzt. Doch um Dan machte ich mir Sorgen; er lag auf dem Rücken und bewegte sich nicht, sein Gesicht war unheimlich bleich.

Ich hob den Stuhl auf, kniete neben ihm nieder und tätschelte seine Wange. »Dan? Bist du in Ordnung? Dan!«

»Vielleicht rufe ich besser einen Krankenwagen«, bot Wallis an.

Mit einem Daumen schob ich eines von Dans Augenlidern in die Höhe. Der Augapfel zuckte, also lebte er noch, aber er musste eine sehr starke Gehirnerschütterung oder einen Schock erlitten haben – solche Sachen hatte ich in der Army aufgeschnappt.

Während Wallis im Krankenhaus anrief, deckte ich Dan mit meiner Jacke zu und schaltete das alte Heizöfchen ein, um ihn warm zu halten. Dan bewegte sich nicht, er zitterte nicht einmal. Er lag einfach flach auf dem Rücken, bleich und still, doch als ich dicht an seinem Mund horchte, konnte ich schwach sein Atmen hören. Ich schlug mehrmals auf seine Wangen, doch er rührte sich nicht.

»Sie werden gleich hier sein.« Wallis legte den Hörer wieder auf.

Ich hob den Kopf. Einen Augenblick lang glaubte ich, ich hörte das Atmen wieder, dieses leise, rasselnde Atmen. Aber es war Dan, er kämpfte ums Überleben. Das Haus selbst schien wieder in seinen alten, mysteriösen Schlaf zurückgekehrt zu sein.

Wallis kniete sich langsam und mühsam neben mich. »Haben Sie irgendeine Vermutung, was das war? Dieses Geräusch? Diese starke Kraft? Ich konnte es nicht glauben. So was ist bisher noch nie passiert.«

»Ich weiß nicht. Vielleicht wurde irgendein Druck freigesetzt – vielleicht gibt es hier so etwas wie einen Luftdruck, der ab und zu abgelassen werden muss. Verdammt, ich weiß nicht, was es gewesen ist.«

»Glauben Sie immer noch, dass es ein Geist ist?«

Ich sah ihn an. »Sie?«

Wallis überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Wenn es ein Geist ist, dann muss es ein verdammt mächtiger sein. Ich habe noch nie gehört, dass ein Geist Leute flachlegen kann.«

Er sah auf Dans bleiches Gesicht und biss sich auf die Lippen: »Glauben Sie, dass er wieder gesund wird?«

Was sollte ich antworten? Ich konnte nur in der staubigen Bibliothek knien, hilflos die Achseln heben und auf den Krankenwagen warten.

Als ich Dan am folgenden Morgen besuchte, saß er aufrecht in seinem Bett. Er hatte ein grün angestrichenes Privatzimmer erhalten, mit Aussicht auf die Bucht, und die Schwestern hatten Blumen ins Zimmer gestellt. Er war wohl immer noch blass und die Ärzte hielten ihn unter Beobachtung, aber er war wieder ganz fröhlich. Ich gab ihm die neue Ausgabe des Playboy und die Morgenausgabe des Examiner und zog mir einen der Besucherstühle ans Bett.

Er klappte den Playboy in der Mitte auf und warf einen schnellen, kritischen Blick auf eine Brünette mit riesigen Brüsten. »Genau das kann ich jetzt brauchen«, sagte er trocken. »Einen kurzen Adrenalin-Schock.«

»Ich dachte mir, das wirkt besser als Benzedrin. Und, wie geht es dir?«

Er ließ das Magazin sinken. »Ich bin mir nicht sicher. So allgemein fühle ich mich eigentlich okay. Nicht schlimmer, als hätte mir jemand mit einem Baseball-Schläger eins auf den Kopf gegeben …«

Er verstummte und sah mich an. Sogar hinter seiner Clark-Kent-Brille wirkten seine Augen ungewöhnlich winzig. Vielleicht lag das an den Medikamenten, die sie ihm verabreicht hatten. Vielleicht hatte er auch eine leichte Gehirnerschütterung. Jedenfalls sah er nicht mehr wie der Dan Machin aus, den ich gestern Abend zu einem Drink getroffen hatte. Er wirkte irgendwie leblos, als ob sein Mund zwar etwas sagen würde, doch er selbst an etwas völlig anderes dachte.

»Du wirkst verändert«, sagte ich. »Meinst du das vielleicht?«

»Ich fühle mich nicht wie ich selbst … Ich weiß nicht, was es ist, aber mir geht es irgendwie merkwürdig.«

»Hast du irgendetwas Seltsames während dieser Explosion bemerkt?«

Er zuckte die Achseln. »Ich erinnere mich gar nicht daran. Ich erinnere mich nur an das Atmen und wie es immer stärker wurde, aber was danach passiert ist, weiß ich nicht mehr. Ich habe das Gefühl, dass ich angegriffen wurde.«

»Angegriffen? Wovon?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Dan. »Es ist wirklich schwer zu erklären. Wenn ich es dir beschreiben könnte, würde ich es tun. Aber ich kann nicht.«

»Glaubst du immer noch, dass es ein Geist oder Gespenst war?«

Er strich sich mit der Hand durch die kurzen Haare. »Ich bin nicht so sicher. Es könnte so etwas wie ein Poltergeist gewesen sein, weißt du, diese Geister, die Gegenstände verrücken. Es kann aber auch ein Erdbeben gewesen sein. Vielleicht verläuft genau unter dem Haus eine Spalte.«

»Plötzlich suchst du wieder nach einer normalen Erklärung. Ich habe auch schon daran gedacht, aber die Zeitungen berichten nichts über ein Beben. Im Büro habe ich heute auch herumgefragt, aber niemand hat etwas bemerkt.«

Dan nahm sich ein Glas Wasser. »Tja, ich habe auch keine Ahnung. Vielleicht war es ein Geist. Aber ich habe immer geglaubt, dass Geister eigentlich völlig harmlos sind … Weißt du, sie gehen umher, tragen den Kopf unterm Arm, rasseln mit ihren Ketten, mehr aber auch nicht.«

Ich ging zum Fenster und sah hinab auf die Autos, die über die Golden Gate Bridge fuhren. Der Nebel war in die Höhe gestiegen, doch ein letzter Schleier schmiegte sich noch um die Pfeiler der Brücke und gab dem Bild etwas Verschmiertes, wie bei einem Aquarell.

»Heute Abend werde ich nochmals ins Haus gehen«, sagte ich. »Ich möchte mir alles wirklich genau anschauen und herausbekommen, was da passiert. Bryan Corder von der Technischen Abteilung wird mitkommen. Ich habe heute Morgen mit ihm gesprochen und er vermutet, dass eine Fallströmung dahintersteckt.«

Als ich mich umdrehte, schien Dan gar nicht zugehört zu haben. Er saß aufrecht im Bett und starrte geistesabwesend durch das Zimmer; sein Unterkiefer war heruntergefallen.

»Dan? … Hast du mir zugehört?«

Er blinzelte mich an.

»Dan?«

Ich ging schnell zum Bett hinüber und nahm seinen Arm.

»Dan, ist alles in Ordnung? Du siehst wirklich krank aus.«

Er leckte über seine Lippen, als seien sie sehr trocken.

»Klar«, sagte er unsicher. »Ich bin okay. Ich glaube, ich brauche nur etwas Ruhe, das ist alles. Seit ich aus der Betäubung erwacht bin, habe ich nicht besonders geschlafen. Ich hatte ständig Träume.«

»Warum bittest du die Krankenschwester nicht um eine Schlaftablette?«

»Ich weiß nicht. Es waren ja nur diese Träume.«

Ich setzte mich wieder und sah ihn aufmerksam an. »Was denn für Träume? Albträume?«

Dan nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. »Nein, nein, keine Albträume. Ich meine, sie waren etwas unheimlich, doch sie haben mir keine Angst verursacht. Ich habe von dem Türklopfer geträumt, du weißt doch, dem am Haus des alten Wallis. Aber er war weit mehr als ein Türklopfer. Ich habe geträumt, dass er zwar an der Tür hing, aber trotzdem mit mir sprach. Anstatt aus Metall war er aus echtem Haar und Fleisch, und er hat zu mir gesprochen … wollte mir etwas mit dieser ruhigen, flüsternden Stimme erklären.«

»Was hat er gesagt? Dass man im Wald kein Feuer anzünden soll?«

Dan schien gar nicht zu bemerken, dass ich das als Scherz gemeint hatte, denn er schüttelte ernst den Kopf.

»Er sagte, ich solle irgendwo hingehen und dort etwas suchen, aber ich habe nicht verstanden, was es ist. Er erklärte es wieder und wieder, aber ich verstand es einfach nicht. Es hatte etwas mit dem Bären auf dem Geländer von Mr. Wallis’ Wendeltreppe zu tun, du erinnerst dich sicher, die kleine Bärenfigur mit dem Gesicht einer Frau. Aber ich begriff den Zusammenhang nicht.«

Ich betrachtete Dans blasses Gesicht eine Weile nachdenklich, bis ich lächelte und freundschaftlich seine Hand drückte. »Weißt du, woran du leidest, Dan, mein alter Freund? Post-Geist-Delirium. Das ist eine Art übersinnliche postnatale Depression. Du musst dich jetzt einige Tage ausruhen, dann wirst du dich überhaupt nicht mehr daran erinnern, was dich eigentlich so bedrückt hat.«

Dan zog eine Grimasse. Er schien mir nicht recht zu glauben.

»Hör zu«, sagte ich, »wir werden heute Abend das Haus durchsuchen und was dich auch immer umgeworfen hat, wir werden es finden. Und nicht nur das – wir werden es auch lebend mitbringen, damit du es in deinem Labor in einem Einmachglas aufbewahren kannst.«

Dan versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht wirklich. »Okay«, erwiderte er leise. »Tu, was du willst.«

Ich saß noch einige Minuten bei ihm, aber Dan schien keine Lust auf ein weiteres Gespräch zu haben. Also drückte ich ihm noch einmal freundschaftlich die Hand.

»Ich schaue morgen noch mal vorbei. Etwa um dieselbe Zeit.«

Dan nickte, ohne aufzusehen.

Ich ließ ihn alleine und trat auf den Krankenhausflur.

Ein Arzt wollte gerade in Dans Zimmer. Als er mich beim Öffnen der Tür streifte, fragte ich: »Herr Doktor?«

Der Arzt schaute mich ungeduldig an. Er war ein kleiner Mann mit sandfarbenem Haar, spitzer Nase und unter seinen Augen hingen rotblaue Tränensäcke wie die Rüschen eines altmodischen Theatervorhangs. Ein Namensschild auf dem Jackenaufschlag wies ihn als Doktor James T. Jarvis aus.

Ich nickte in Richtung von Dans Zimmer. »Ich möchte mich nicht aufdrängen. Ich bin nur ein Freund von Mr. Machin, kein Verwandter oder so. Aber ich möchte gerne wissen, ob er okay ist. Ich meine, er erscheint mir heute ziemlich eigenartig.«

»Was meinen Sie mit eigenartig?«

»Na, sie kennen das sicher. Er ist nicht ganz er selbst.«

Doktor Jarvis schüttelte den Kopf. »Das ist nicht ungewöhnlich nach einer heftigen Gehirnerschütterung. Geben Sie ihm ein paar Tage zum Auskurieren.«

»War das wirklich nur eine Gehirnerschütterung?«

Der Doktor sah sich den Krankenbericht auf dem Klemmbrett an. »Ja, mehr nicht. Abgesehen von dem Asthma.«

»Asthma? Wieso Asthma? Er hat kein Asthma.«

Der Arzt sah mich kalt an. »Wollen Sie mir meinen Job beibringen?«

»Natürlich nicht. Aber ich spiele mit Dan Tennis. Er leidet nicht an Asthma. Er hat auch nie welches gehabt, soweit ich weiß.«

Der Arzt legte seine Hand auf den Türgriff zu Dans Zimmer. »Nun ja, das ist halt Ihre Sicht, Mr. …«

»Und wie ist Ihre Sicht?«, fragte ich.

Der Doktor grinste. »Tut mir leid, aber das ist vertraulich zwischen mir und meinem Patienten. Wenn er allerdings kein Asthma hat, dann leidet er mit Sicherheit an einer Erkrankung der Luftwege. Durch die Gehirnerschütterung hat sie sich verschlimmert; er musste vergangene Nacht drei oder vier Stunden unter einer Sauerstoffmaske liegen. Ich glaube nicht, dass ich schon einmal einen solch schweren Fall wie diesen erlebt habe.«

Eine hübsche brünette Krankenschwester kam in einer engen weißen Tracht den Gang entlang. Sie trug ein Tablett mit Injektionsspritzen und Arzneifläschchen.

»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, Dr. Jarvis«, sagte sie. »Mrs. Walters brauchte wieder einen Wechsel.«

»Ist schon in Ordnung«, antwortete Dr. Jarvis. »Ich führe hier gerade ein fachliches Gespräch mit Mr. Machins gebildetem Freund. Ich lerne sehr viel dabei und es tut mir fast leid, aber jetzt muss ich gehen.«

Er öffnete die Tür zu Dans Zimmer etwas weiter, aber ich hielt seinen Arm fest und sagte: »Bitte, nur noch eine Sache.«

Er blieb stehen und schaute auf meine Hand, als ob gerade etwas Schmutziges seinen Ärmel berührt habe.

»Hören Sie.« Er schien sauer zu werden. »Ich weiß ja nicht, welche angeborene Sachkenntnis Sie auf dem Gebiet der diagnostischen Medizin haben, aber ich muss jetzt die Behandlung Ihres Freundes fortsetzen. Also, entschuldigen Sie mich.«

»Es geht nur um das Atmen. Es könnte wichtig sein.«

»Natürlich ist es wichtig«, erwiderte Dr. Jarvis sarkastisch. »Wenn unsere Patienten nicht mehr atmen, werden wir ernsthafte Schwierigkeiten bekommen.«

»Würden Sie mir bitte zuhören?«, grollte ich. »Vergangene Nacht waren Dan und ich in etwas verwickelt, das mit Atmen zu tun hatte. Ich muss wissen, warum Sie glauben, dass er einen Asthma-Anfall gehabt hat.«

»Verdammt, wovon reden Sie eigentlich? Etwas, das mit Atmen zu tun hatte? Meinen Sie, dass Sie Drogen geschnüffelt haben, oder so etwas?«

»Ich kann es nicht erklären. Es waren keine Drogen. Aber es könnte wirklich sehr wichtig sein.«

Dr. Jarvis schloss die Tür wieder und seufzte mit übertriebener Verzweiflung. »Gut. Wenn Sie es wirklich wissen müssen, Mr. Machin keuchte und schnappte nach Luft. Ungefähr alle 90 Minuten begann er heftig zu atmen und das steigerte sich bis zu einem hechelnden Röcheln. Das war alles. Es war ernst und es war ungewöhnlich, aber es gab keinen Anhaltspunkt dafür, dass es keine regulären Asthma-Attacken waren.«

»Aber ich habe es Ihnen doch gerade gesagt. Er hat kein Asthma.«

Dr. Jarvis senkte den Kopf und sagte ruhig: »Würden Sie jetzt hier verschwinden. Die Besuchszeit ist zu Ende und das Letzte, was ich brauche, sind altkluge Ratschläge. In Ordnung?«

Ich wollte noch etwas erwidern, doch dann riss ich mich zusammen. Wahrscheinlich wäre ich selbst genauso verdrießlich gewesen, wenn jemand in mein Büro gekommen wäre, um mir klarzumachen, wie man Wanzen ausrottet. Ich hob die Hände mit einer versöhnlichen Geste. »Okay. Ich verstehe. Tut mir leid.«

Die Schwester öffnete die Tür und trat ins Zimmer, während ich mich umdrehte, um zu gehen.

»Ich wollte wirklich nicht unhöflich sein«, entschuldigte sich Dr. Jarvis. »Aber ich weiß, was ich tue. Sie können um fünf Uhr wiederkommen, wenn Sie wollen. Bis dahin werden wir etwas mehr wissen.«

In dieser Sekunde hörten wir einen schrillen Entsetzensschrei aus Dans Zimmer. Dr. Jarvis sah mich an und ich ihn, und dann stießen wir beide die Tür weit auf und liefen ins Zimmer. Was ich jetzt sah, konnte ich nicht glauben. Es geschah vor meinen Augen, aber ich konnte es nicht glauben.

Die Schwester stand erstarrt vor Schreck neben Dan Machins Bett. Dan selbst saß aufrecht im Bett, in einem blau gestreiften Krankenhausschlafanzug, dies war so weit völlig normal und gewöhnlich. Doch Dans Augen … grauenvoll. Seine Brille lag auf dem Boden. Seine Augen waren blutunterlaufen – es waren die Augen eines bösen Hundes, die in der Nacht von einer Taschenlampe erfasst werden, oder vielleicht sehen so die Augen eines Dämons aus.

Er atmete ein und aus, ein und aus, mit den tiefen, stöhnenden Atemzügen, die wir in Seymour Wallis’ Haus in der vergangenen Nacht gehört hatten, dieses schwere endlose Atmen eines Schläfers, der nie mehr erwachen kann. Dan atmete wie das Haus selbst, wie alles, das uns in den düsteren, alten Räumen Angst eingeflößt hatte. Und es schien, als ob das Krankenzimmer mit jedem Atemzug kälter wurde.

»Mein Gott! Was ist das?«, keuchte Dr. Jarvis.

2

Eines der schlimmsten Dinge, die man im Leben entdecken kann, ist, dass einige von uns es draufhaben – und andere eben nicht. Ich schätze, dass es so auch ganz richtig ist. Hätte jeder junge Mann das Talent, Flugzeuge zu fliegen, Rennwagen zu fahren oder in einer Nacht 20 Frauen zu lieben, dann würde es wohl nicht mehr viele Freiwillige geben, die verstopfte Kanalrohre reinigten. Aber es ist immer schwer, wenn man entdeckt, dass man selbst es nicht draufhat und man anstatt ein luxuriöses Leben voller Spaß und Anerkennung in Beverly Hills zu führen, einem Job von neun bis fünf Uhr im öffentlichen Dienst nachgehen muss.

Ich bin das Kind von klugen, wohlhabenden Eltern aus Westchester, New York. Als mein Vater einen Schlaganfall erlitt, verließ ich meine Mutter mit ihrem Haus und ihrem Versicherungsgeld und machte mich auf nach Westen. Ich glaube, ich wollte Fernsehmoderator werden oder etwas ähnlich Grandioses, doch nachher war ich froh, überhaupt etwas zum Essen zu verdienen.

Ich habe eine Frau geheiratet, die sieben Jahre älter war, hauptsächlich, weil sie mich an meine Mutter erinnerte, und zum Glück reichte sie die Scheidung ein, nachdem sie mich mit einer Serviererin aus dem Fox im Bett ertappte. Diese Affäre ging ebenfalls in die Brüche. So blieb ich alleine zurück – mittellos. Ich musste nun zum ersten Mal in meinem Leben für mich selbst sorgen, zu mir selbst finden und mir klar darüber werden, was ich wirklich erreichen konnte und was nicht.

Mein Name ist John Hyatt, einer dieser Namen, von denen die Leute glauben, dass sie ihn nicht vergessen werden, aber sie vergessen ihn doch. Ich bin 31, ziemlich groß und ich trage gerne dunkle, gut geschnittene Sportjacken und weite graue Hosen im Stil der 50er-Jahre. Ich lebe allein im obersten Stockwerk eines Apartmentblocks in der Townsend Street, mit meiner Stereoanlage, meinen Topfpflanzen und meiner Sammlung von Taschenbüchern mit zerknitterten Buchrücken.

Ich glaube, dass ich hier mit meiner Arbeit eigentlich glücklich und zufrieden bin – aber sind Sie schon einmal abends ausgegangen, an irgendeinen ruhigen Ort, haben über eine Bucht geschaut, mit den zwinkernden Lichtern, wie es sie überall in Amerika gibt, und dann kam ihnen der Gedanke: Hey, das kann doch wirklich nicht alles im Leben sein?

Glauben Sie jetzt nicht, dass ich einsam bin. Bin ich nicht. Ich verabrede mich sogar öfter mit Frauen und habe gute Freunde, die mich zu Swimmingpool-Partys und zu Barbecues einladen. Aber an dem Abend, als wir zum Haus von Seymour Wallis gingen, machte ich gerade eine Phase der Antriebslosigkeit durch und war mir nicht sicher, was ich eigentlich vom Leben erwartete oder was das Leben von mir erwartete. Ich schätze, dass eine Menge Menschen dasselbe fühlten, als Präsident Carter gewählt wurde. Bei Nixon wusste man wenigstens, auf welcher Seite man stand.

Eventuell half mir das, was mit Dan Machin passiert war, wieder zu meiner alten Selbstsicherheit zu finden. Das war etwas so Unheimliches, so Entsetzliches, dass man an nichts anderes mehr denken konnte. Sogar einige Sekunden nachdem wir ins Zimmer gestürzt waren, Dan seine Augen geschlossen hatte und auf sein Kissen zurücksank, zitterte ich noch vor Schock und Entsetzen. Ich spürte die prickelnde Spannung der Angst bis in meine Handflächen.

Die Krankenschwester stammelte: »Er … er …«

Dr. Jarvis trat vorsichtig an Dans Bett, nahm sein Handgelenk und prüfte den Puls. Dann atmete er tief ein und hob eines von Dans Augenlidern. Ich bemerkte, dass ich einen Schritt zurücktrat – nur für den Fall, dass das Auge noch immer in dieser roten Farbe glühte, doch dem war nicht so. Es sah wieder normal grau aus, aber es war offensichtlich, dass Dan wieder bewusstlos geworden war.

»Schwester, ich brauche sofort eine gesamte Diagnoseausrüstung hier. Und lassen Sie Dr. Foley ausrufen.«

Die Schwester nickte und verließ den Raum. Man merkte ihr an, dass sie froh war, etwas tun zu müssen, das sie ablenkte.

Ich trat an Dans Bett und schaute auf sein blasses, fiebriges Gesicht. Er sah gar nicht mehr wie der gewitzte Hinterwäldler aus Kansas aus. Die Falten um seinen Mund waren zu tief und seine Blässe zu weiß. Immerhin atmete er wieder normal.

Ich schielte rüber zu Dr. Jarvis. Er kritzelte etwas auf seinen Notizblock, sein Gesichtsausdruck war gleichzeitig konzentriert und besorgt.

»Wissen Sie, was das war?«, fragte ich leise.

Er sah weder auf, noch gab er eine Antwort.

»Diese roten Augen. Wissen Sie, wodurch so etwas hervorgerufen werden kann?«

Er hielt im Schreiben inne und starrte mich an. »Ich möchte zu gern wissen, was es mit dem Atmen gestern Abend auf sich hat, mit dem Sie beide zu tun hatten. Sind Sie sich absolut sicher, dass keine Drogen im Spiel waren?«

»Hören Sie, das würde ich Ihnen doch sagen. Es hatte etwas mit einem Haus oben in Pilarcitos zu tun.«

»Ein Haus?«

»Genau. Wir arbeiten beide für das Gesundheitsamt. Der Besitzer hat uns gebeten, sein Haus zu untersuchen und dessen Atmen zuzuhören. Er sagte, dass sein Haus ein atmendes Geräusch machen würde, und er wusste nicht, was es war.«

Dr. Jarvis prüfte wieder Dans Puls. »Haben Sie herausgefunden, was es verursacht hat?«, fragte er. »Ich meine, dieses Atmen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass Dan eben genauso geatmet hat. Es ist fast so, als sei das Atmen des Hauses auf ihn übergegangen. Als ob er davon besessen ist.«

Dr. Jarvis legte seinen Block neben Dan Machins Schüssel mit Weintrauben. »Sind Sie ein aktives Mitglied im Club der Verrückten oder nur ein zahlendes?«, fragte er.

Dieses Mal spielte ich nicht den Beleidigten. »Ich weiß, dass es schwer zu verstehen ist«, sagte ich. »Ich verstehe es ja selbst nicht. Aber Besessenheit scheint mir der richtige Ausdruck. Ich habe das Haus atmen hören und ich hörte Dan atmen, als seine Augen ganz rot waren. Es klang ganz genauso.«

Dr. Jarvis sah Dan an. Er schüttelte den Kopf: »Es ist offensichtlich psychosomatisch. Er hat dieses atmende Geräusch vergangene Nacht gehört und es hat ihn so erschreckt, dass er sich damit identifiziert und aus Sympathie ebenso atmet.«

»Tja, das kann sein. Aber was war mit seinen Augen?«

Dr. Jarvis atmete tief durch. »Ein Lichteffekt«, erwiderte er ruhig.

»Ein Lichteffekt? Jetzt machen Sie aber mal halblang!«

Dr. Jarvis sah mich an, kalt. »Sie haben mich gehört«, schnauzte er. »Es war ein Lichteffekt.«

»Ich habe doch seine Augen genau gesehen! Und Sie auch!«

»Ich habe nichts gesehen. Zumindest nichts, was medizinisch unmöglich ist. Und ich glaube, dass wir beide uns darüber im Klaren sein sollten, bevor wir uns bei irgendjemandem den Mund verbrennen.«

»Aber die Krankenschwester …«

Dr. Jarvis machte eine abfällige Handbewegung. »In diesem Krankenhaus sind Schwestern nicht mehr als Hausmädchen in hübschen Uniformen.«

Ich beugte mich über Dan und betrachtete sein wächsernes Gesicht und wie seine Lippen sich im Schlaf bewegten und flüsterten.

»Doktor, dieser Mann ist mehr als einfach nur krank«, sagte ich. »Mit ihm stimmt wirklich etwas nicht. Was können wir denn jetzt tun?«

»Wir können nur eines tun. Seine Krankheit bestimmen und ihn angemessen medizinisch behandeln. Tut mir leid, Teufelsaustreibungen machen wir hier leider nicht. Ich glaube auf keinen Fall, dass es etwas Schlimmeres ist als ein fortgeschrittener Fall von Hypersuggestion. Ihr Freund ist in dieses Haus gegangen und wurde hysterisch, als er glaubte, das Atmen zu hören. Es war möglicherweise sein eigenes Atmen.«

»Aber ich habe es doch auch gehört.«

»Mag sein«, meinte Dr. Jarvis kurz angebunden.

»Doktor«, sagte ich ärgerlich.

Aber Dr. Jarvis kam mir zuvor, bevor ich weiterreden konnte: »Bevor Sie anfangen, mir mangelnde Fantasie vorzuwerfen, denken Sie bitte daran, dass ich hier arbeite«, schnauzte er. »Alles, was ich tue, muss vor dem Direktorium begründet werden. Falls ich hier etwas von dämonischer Besessenheit und Augen erzähle, die in der Dunkelheit rot glühen, dann werde ich meine Beförderung vorübergehend zu den Akten legen können. Außerdem wird man meine Arbeitsmöglichkeiten und die notwendigen Finanzen stark einschränken.«

Er kam um das Bett herum und sah mir gerade in die Augen. Leise und eindringlich sagte er: »Ich habe auch gesehen, dass die Augen von Mr. Machin rot wurden. Doch wenn wir etwas unternehmen wollen, irgendetwas Wirksames, dann sprechen wir besser nicht laut darüber. Verstehen Sie das?«

Ich sah ihn neugierig an: »Wollen Sie mir sagen, dass Sie glauben, dass er wirklich besessen ist?«

»Ich versuche, Ihnen gar nichts zu sagen. Ich glaube nicht an Dämonen und ich glaube auch nicht an Besessenheit. Aber ich glaube, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Etwas, das wir aber selbst herausfinden müssen, ohne dass das Krankenhaus davon erfährt.«

In diesem Augenblick bewegte sich Dan und stöhnte. Ich spürte, dass mir die Haare im Nacken alarmierend zu Berge standen, aber als er sprach, war er offensichtlich ziemlich normal.

»John …«, murmelte er. »John …«

Ich beugte mich über ihn. Seine Augen waren nur einen Schlitz weit geöffnet und seine Lippen ganz rissig.

»Ich bin hier, Dan. Was ist los? Wie fühlst du dich?«

»John …«, flüsterte er. »Lass mich nicht gehen …«

Ich schaute zu Dr. Jarvis hinüber. »Es ist alles in Ordnung, Dan. Niemand will dich gehen lassen.«

Dan hob schwach eine Hand. »Lass mich nicht gehen, John. Es ist das Herz, John. Lass mich nicht gehen

Dr. Jarvis beugte sich näher zu Dan. »Ihr Herz? Tut Ihnen das Herz weh? Spüren Sie irgendwelche Krämpfe – oder Schmerzen?«

Dan schüttelte den Kopf, nur eine schwache Andeutung. »Es ist das Herz«, flüsterte er so leise, dass es kaum zu hören war. »Es schlägt und schlägt und schlägt. Es schlägt noch immer. Es ist das Herz, John, es schlägt noch weiter! Es schlägt noch!«

»Dan«, flüsterte ich eindringlich. »Dan, du darfst dich da nicht so hineinsteigern! Dan, um Gottes willen!«

Dr. Jarvis deutete kurz an, dass ich jetzt schweigen sollte. Dan lag schon wieder ruhig auf seinem Kissen. Die Augen hielt er geschlossen. Sein Atmen wurde langsamer und wieder regelmäßig, langsam, qualvoll und schwer, und obwohl es mich immer noch an das Atmen erinnerte, das wir in Seymour Wallis’ Haus gehört hatten, schien er doch endlich etwas Ruhe zu finden. Ich richtete mich wieder auf. Ich fühlte mich ausgelaugt und müde.

»Er wird jetzt Ruhe haben, zumindest für ein oder zwei Stunden«, sagte Dr. Jarvis leise. »Diese Anfälle scheinen in regelmäßigen Abständen von 90 Minuten aufzutreten.«

»Haben Sie dafür irgendeine Erklärung?«

Er zuckte die Achseln. »Dafür könnte es viele Gründe geben. Aber 90 Minuten ist der Zeitzyklus des REM-Schlafes, die Art Schlaf, bei dem die Leute ihre lebhaftesten Träume haben.«

Ich schaute hinunter auf Dans graues, eingefallenes Gesicht. »Vorhin hat er zu mir etwas über Träume gesagt«, meinte ich. »Er hat von Türklopfern geträumt, die lebendig wurden, und von Figuren, die sich bewegten. Es hatte alles etwas mit dem Haus zu tun, das wir gestern Abend besucht haben.«

»Gehen Sie wieder dorthin? Zu dem Haus?«, fragte Dr. Jarvis.

»Ich hatte vor, heute Abend noch einmal hinzufahren. Einer meiner Ingenieure glaubt, dass die Geräusche von einem ungewöhnlichen Fallstrom stammen könnten. Warum?«

Dr. Jarvis fixierte Dan weiterhin. »Ich würde gern mitkommen, deshalb frage ich. Hier geht etwas vor, das ich nicht verstehe, ich will es aber verstehen.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Plötzlich sind Sie sich wohl gar nicht mehr so sicher?«

Er brummte. »Okay, das habe ich wohl verdient. Aber ich würde mich wirklich gern anschließen.«

Ich schaute noch einmal zu Dan. Er lag jung und blass wie ein Leichnam auf seinem Krankenhausbett. Sehr leise antwortete ich: »In Ordnung. Es ist 1551 Pilarcitos. Punkt neun Uhr.«

Dr. Jarvis nahm einen Kugelschreiber und notierte sich die Adresse. Dann, bevor ich ging, sagte er noch: »Hören Sie, tut mir leid, dass ich vorhin so grob zu Ihnen war. Sie müssen bedenken, dass wir hier immer eine Menge Freunde und Verwandte haben, die zu viel ›General Hospital‹ anschauen und glauben, dass sie alles besser wüssten. Ich meine, wir müssen uns ständig verteidigen.«

Ich blieb stehen, dann nickte ich. »Okay. Ich verstehe Sie. Bis um neun also.«

An diesem Nachmittag wurde vom Ozean her eine graue Wolkenbank hereingeweht, die Regen mit sich brachte. Ich saß bis halb zwei Uhr nervös und zappelig am Schreibtisch, dann nahm ich meinen Regenschirm und ging spazieren. Mein unmittelbarer Vorgesetzter, der pensionierte Seeleutnant Douglas P. Sharp, würde wahrscheinlich genau diesen Nachmittag für eine Stippvisite wählen, aber im Augenblick war mir das absolut gleichgültig. Ich war zu besorgt, zu nervös und zu betroffen von dem, was Dan zugestoßen war.

Ich überquerte die Bryant Street. Einige centstückgroße Regentropfen fielen auf den Bürgersteig. Die Luft war angefüllt mit einer magnetischen Spannung.

Ich glaube, ich kannte mein Ziel, auf das ich die ganze Zeit zusteuerte. Ich ging in die Brannan Street, und dort war es: The Head Bookstore. Ein kleiner, rot angestrichener Laden, der drinnen von einer Reihe nackter Glühbirnen beleuchtet wurde, vollgestopft mit Taschenbüchern aus zweiter Hand. Weltatlanten, Poster und wertloser Plunder standen zum Verkauf.

Ich trat ein, die Klingel schrillte. Ein bärtiger junger Bursche sah hinter der Theke auf und sagte: »Hallo. Suchen Sie etwas Bestimmtes?«

»Jane Torresino?«

»Oh, klar. Sie ist hinten, packt gerade Castanedas aus.«

Ich zwängte mich durch die Regale voller Marx, Seale und indianischem Räucherwerk, duckte mich unter der kleinen Tür, die zum Lagerraum führte. Ja, Jane war da. Sie saß auf dem Boden und sortierte Yaqui-Weisheit in saubere Stapel.

Erst schaute sie nicht auf und ich lehnte mich in den Türrahmen und beobachtete sie. Sie gehörte zu den Frauen, die immer hübsch und strahlend aussehen, ganz gleich, wie lässig sie sich anziehen. Heute trug sie enge weiße Jeans und ein blaues T-Shirt, auf das eine lächelnde Katze gedruckt war. Jane war schlank, hatte sehr langes, mittelblondes Haar, in das kleine Locken frisiert worden waren und das mich immer an Botticelli erinnerte. Ihr Gesicht war scharf und gut geschnitten mit großen Kulleraugen.

Ich hatte sie das erste Mal bei einer Party in Daly City getroffen, wo die zweite Wiedergeburt von Christus gefeiert wurde, die von einem Weisen des 18. Jahrhunderts prophezeit worden war. Der Hauptehrengast, was nicht wirklich verwundert, tauchte dann gar nicht auf. Entweder war das vorausgesagte Datum falsch oder aber er hatte nicht Daly City gewählt für seine Wiederkunft. Ich konnte ihm das nicht verübeln. Doch wenn auch mit der zweiten Wiederkehr alles schieflief, so lief es zwischen Jane und mir goldrichtig. Wir trafen uns, redeten, tranken viel zu viel Tohay und fuhren danach zu meiner Wohnung, um uns zu lieben. Später, ich erinnere mich gut, trank ich im Bett starken Kaffee, den sie mir aufgebrüht hatte. Ich war sehr glücklich über das, was das Leben mir so großzügig in den Schoß gelegt hatte.

Aber so lief es natürlich nicht weiter. Diese Nacht – die Wiedergeburts-Nacht – war unsere erste und einzige geblieben. Jane bestand darauf, dass wir nur gute Freunde seien, und so trafen wir uns zu gemeinsamen Kino-Besuchen, zum gemeinsamen Essen und das Licht der Kerzen, das dabei über der spaghetti bolognaise so romantisch schien, galt mir alleine. Schließlich akzeptierte ich unsere Freundschaft als solche und schaltete jeden Gedanken an ein Liebesleben mit Jane aus.

Jedoch hatte sich eine angenehme Verbindung angebahnt, die zwar sehr vertraulich war, aber niemals fordernd. Manchmal trafen wir uns dreimal in einer Woche. Dann wieder hatten wir monatelang keinen Kontakt. Heute, als ich mit meinem Regenschirm und meinen Sorgen über Dan Machin erschien, war es mein erster Besuch seit sechs oder sieben Wochen.

»Das Gesundheitsamt schickt Ihnen beste Grüße und hofft, dass Ihre Rohrleitungen gut funktionieren.«

Sie schaute mich über ihre rosa gefärbte Lesebrille an und lächelte: »John, ich habe dich wochenlang nicht gesehen!«

Sie stand auf und kam auf Zehenspitzen vorsichtig durch die Bücherstapel auf mich zu. Wir gaben uns einen Kuss, einen sehr keuschen, dann meinte sie: »Du siehst müde aus. Ich hoffe, du schläfst nicht mit zu vielen Frauen.«

Ich grinste: »Sollte das ein Problem sein? Dann wäre ich gern etwas müde.«

»Komm nach draußen«, sagte sie. »Wir haben heute Morgen eine neue Lieferung mit Büchern bekommen, deshalb die Unordnung. Hast du Zeit für einen Kaffee?«

»Sicher. Ich habe mir wegen guter Führung heute Nachmittag selbst freigegeben.«

Wir verließen den Buchladen und gingen über die Straße zu Prokic’s Deli, wo ich uns Cappuccino und Alfalfa-Sandwiches bestellte. Aus irgendeinem Grund hatte ich ein Faible für Alfalfa-Sandwiches. Dan Machin (Gott möge ihn schützen) hatte gemeint, dass ich mich wahrscheinlich in ein Pferd verwandele. Ich würde, statt Mist zu entsorgen (wie er sagte), übergehen zur Produktion von Mist.

Jane setzte sich ans Fenster und wir beobachteten, wie der Regen draußen auf die Straße herabstürzte. Ich zündete eine Zigarette an und rührte in meinem Kaffee; die ganze Zeit sah sie mich stumm an, als ob sie wüsste, dass ich ihr etwas erzählen wollte.

»Du siehst gut aus«, meinte ich. »Die Zeit vergeht und du wirst mit jeder Stunde immer hübscher.«

Sie schlürfte ihren Cappuccino. »Du bist doch nicht gekommen, um mir Komplimente zu machen.«

»Nein, das nicht. Aber ich will auch keine Gelegenheit dazu versäumen.«

»Du siehst besorgt aus.«

»Sieht man mir das an?«

»Ja, extrem.«

Ich lehnte mich auf dem wackligen Stuhl zurück und stieß Rauch aus. Direkt über Janes Kopf hing ein Poster an der Wand, das für die Legalisierung von Haschisch warb, doch nach dem unterschwelligen Aroma in Prokic’s Deli zu urteilen, war sowieso niemand von den Gesetzen beeindruckt – man konnte hier hereinspazieren, ein Glas Milch und ein Salami-Sandwich kaufen, und kam high wieder raus.

»Hast du in deinem gesamten Leben schon einmal etwas erlebt, das so absolut seltsam war, dass du nicht wusstest, wie du es begreifen kannst?«, fragte ich.

»Was meinst du mit absolut seltsam?«

»Also, manchmal passieren doch seltsame Dinge, oder? Du siehst jemanden auf der Straße, den du für tot gehalten hast, oder so etwas Ähnliches. Nur ein einzelner Vorfall. Aber mit absolut seltsam meine ich eine Situation, die ganz seltsam anfängt und dann immer seltsamer wird.«

Sie schob sich die Haare aus der Stirn. »Das ist es, was dich so belastet?«

»Jane«, meine Stimme klang ganz rau, »es belastet mich nicht. Es macht mich verrückt.«

»Willst du darüber reden?«

»Es klingt alles so lächerlich.«

Sie schüttelte den Kopf. »Erzähle es mir trotzdem. Ich liebe lächerliche Geschichten.«

Langsam, mit vielen Unterbrechungen und Erklärungen, erzählte ich ihr alles, was in Seymour Wallis’ Haus passiert war. Das Atmen, die Freisetzung von Energie, wie Dan Machin ohnmächtig wurde. Dann beschrieb ich den Zwischenfall im Krankenhaus und Dans unheimlich glühende Augen. Ich erzählte ihr auch von seinen seltsam geflüsterten Worten: Es ist das Herz, John, es schlägt noch weiter!

Jane hörte mir die ganze Zeit mit ernstem Gesichtsausdruck zu. Dann legte sie eine ihrer langfingrigen Hände auf meine. »Darf ich dich etwas fragen? Wirst du nicht beleidigt sein?«

Ich ahnte, was sie fragen wollte. »Wenn du glaubst, dass ich hier eine Show abziehe, um uns wieder zusammenzubringen, dann irrst du. Alles, was ich gerade erzählt habe, ist passiert, und nicht letzten Monat oder letztes Jahr. Es ist hier in San Francisco in der vergangenen Nacht und hier in San Francisco heute Morgen passiert. Es ist Wirklichkeit, Jane, ich schwöre es.«

Sie griff über den Tisch und nahm sich eine von meinen Zigaretten. Ich hielt ihr meinen Glimmstängel hin und sie zündete sie sich an der glühenden Spitze an. »Es klingt so, als ob dieses Ding, dieser Geist oder was immer es ist, ihn besetzt. Es klingt wie Der Exorzist oder so …«

»Das habe ich auch schon gedacht. Aber ich fand es zu blöd, um es auszusprechen. Ich meine, um Gottes willen, diese Dinge passieren doch nicht wirklich.«

»Vielleicht doch. Nur weil sie nie jemandem passieren, den wir kennen, heißt das ja nicht, dass sie überhaupt nicht passieren.«

Ich drückte meine Zigarette aus und seufzte: »Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen und doch glaube ich es einfach nicht. Er saß aufrecht in seinem Bett und ich sage dir, Jane, seine Augen glühten. Er ist doch ein ganz normaler junger Typ, der für die Stadt arbeitet, er trägt noch einen Bürstenhaarschnitt wie ein Junge, und er sah aus wie der Teufel.«

»Was kann ich tun?«, fragte Jane.

Ich schaute aus dem Fenster, vor dem Leute standen, die sich vor dem Regen schützten. Der Himmel hatte eine seltsame grüne Metallfarbe angenommen und die Wolken bewegten sich schnell über die Dächer der Brannan Street. Heute früh, bevor ich zu Dan gegangen war, hatte ich mit Seymour Wallis telefoniert, um mich mit ihm für eine weitere Besichtigung des Hauses zu verabreden, und er hatte mich dasselbe gefragt: »Was kann ich tun? Himmelherrgott, sagen Sie mir, was kann ich tun?«

»Ich weiß es wirklich nicht«, antwortete ich Jane. »Aber vielleicht kannst du heute Abend mitkommen, wenn wir das Haus besichtigen. Du verstehst doch etwas von Okkultismus, oder? Geister und Gespenster und all dieser Kram. Ich möchte gern, dass du dir mal den Türklopfer des alten Wallis anschaust, und auch drinnen so einiges. Vielleicht finden wir irgendeinen Anhaltspunkt. Ich weiß es nicht.«

»Warum ich?«, meinte sie ruhig. »Es gibt bestimmt bessere Experten für Okkultismus. Ich verkaufe nur Bücher darüber.«

»Du liest sie aber doch auch, oder?«

»Sicher, aber …«

Ich griff nach ihrer Hand. »Bitte, Jane, tu mir den Gefallen, geh mit. Es ist um neun Uhr heute Abend, in der Pilarcitos Street. Ich weiß nicht, warum ich dich dort brauche, aber ich fühle, dass ich dich brauche. Wirst du kommen?«

Jane berührte ihr Gesicht mit den Fingerspitzen, als wollte sie sich vergewissern, dass sie existierte, immer noch 26 Jahre alt war und sich über Nacht nicht in jemand anderen verwandelt hatte.

»In Ordnung, John, wenn du mich wirklich dabeihaben willst … und solange es kein Versuch ist, mich irgendwie zu verführen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Kannst du dir ein Paar vorstellen, das John und Jane heißt? Das würde nie klappen.«

Sie lächelte stumm.

Ich ging an diesem Abend etwas früher zur Pilarcitos Street. Aufgrund des bewölkten Himmels war es viel schneller dunkel geworden als sonst. Das düstere Haus wurde von Schatten und Regen verhüllt. Während ich draußen stand und wartete, hörte ich Wasser in der Regenrinne gurgeln und sah das feuchte Dach schieferdunkel glänzen. Bei diesem Wetter, in dieser Finsternis, schien Nummer 1551 in sich selbst zusammenzukriechen, sich schwermütig und unbehaglich zu fühlen, inmitten der von Regen gepeitschten Stadt.

Ich hatte noch einmal kurz im Krankenhaus angerufen, aber die Schwester sagte, dass Dan noch immer schlief und es wäre keine Veränderung eingetreten. Dr. Jarvis sei im Augenblick nicht im Dienst, deshalb könne ich nicht mit ihm über Dans Fortschritte reden, doch wahrscheinlich, mit etwas Glück, könnte ich ihn wohl heute Abend erreichen.

Auf der anderen Seite der Bucht wanderte ein Wetterleuchten umher und weit in der Ferne hörte ich das Grollen eines Unwetters. So, wie der Wind jetzt blies, würde der Sturm in einer halben Stunde über die Stadt hinwegziehen.

Ich öffnete das Gartentor und ging die Stufen zur Eingangstür hinauf. In der Dunkelheit konnte ich noch soeben die Umrisse des Türklopfers mit seinem grinsenden Wolfsgesicht ausmachen. Vielleicht war ich nur nervös und dachte zu sehr an den Traum von Dan Machin, aber der Türklopfer schien seine Augen zu öffnen und mein Nahekommen zu beobachten. Ich erwartete schon beinahe, dass er reden und etwas flüstern würde, wie Dan es sich eingebildet hatte.

Widerwillig streckte ich meine Hand aus, um den Klopfer zu nehmen und gegen die Tür zu schlagen. In dem Augenblick, als ich zugriff, ließ ich auch schon wieder los – für den Bruchteil einer Sekunde, nur einen abwegigen Moment lang, schien es, als hätte ich Borsten statt Bronze angefasst. Doch ich packte wieder zu, denn mir war bewusst, dass ich mir solche Sachen nur einbildete. Der Türklopfer war grotesk, sein Gesicht war wild und bösartig, aber er bestand aus nichts anderem als gegossenem Metall. Als ich ihn auf die Tür schlug, verursachte er einen lauten, schweren Knall, der drinnen durch das Innere des Hauses hallte.

Ich wartete, lauschte dabei dem Geräusch des sanft fallenden Regens und dem Sausen der Autos auf der Mission Street. Erneut grollte der Donner und das Wetterleuchten ging wieder los, inzwischen viel näher. Im Haus hörte ich das Öffnen einer Tür und wie sie geschlossen wurde, dann folgten Schritte, die sich der Eingangstür näherten.

Die Riegel und Ketten rasselten und dann schaute Seymour Wallis durch den Spalt. »Sie sind es«, meinte er. »Sie sind aber früh dran.«

»Ich wollte mit Ihnen reden, bevor die anderen kommen. Darf ich eintreten?«

»Aber natürlich«, sagte er und öffnete die schwere, knarrende Tür.

Ich betrat die muffige Halle. Sie war noch immer so alt und roch so stickig, wie ich sie gestern empfunden hatte, und obwohl durch den Knall vergangene Nacht die Rahmen gerissen und die Glasscheiben gesprungen waren, hingen die trübseligen Zeichnungen des Mount Taylor und Cabezon Peak immer noch an der schäbigen Tapete.

Ich ging zu der seltsamen Bärenstatue hinüber, die auf dem Endpfosten des Treppengeländers stand. Gestern Abend hatte ich sie nicht sonderlich beachtet, aber jetzt sah ich, dass das Frauengesicht ziemlich hübsch war, friedlich und gefasst, mit geschlossenen Augen.

»Das ist wirklich eine außergewöhnliche Skulptur.«

Wallis war noch damit beschäftigt, die Tür zu verriegeln. Er wirkte heute Abend älter und steifer in seiner ausgebeulten grauen Hose und der weiten grauen Strickjacke, deren Ärmel er hochgekrempelt hatte. Er roch nach Whisky.

Er beobachtete, wie ich mit der Hand über den Bronzerücken des Bären strich.

»Ich habe sie gefunden«, sagte er. »Schon vor einigen Jahren, als ich drüben in Fremont arbeitete. Wir haben eine Verkehrsbrücke für den Park gebaut und dabei haben wir sie ausgegraben. Seitdem habe ich sie immer bei mir gehabt. Sie gehörte nicht mit zum Haus.«

»Dan Marchin hat heute Morgen davon geträumt«, erzählte ich.

»Wirklich? Ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum er von ihr träumen sollte. Es ist doch nur eine alte Skulptur. Ich weiß nicht mal, wie alt sie ist. Was würden Sie schätzen? 100 Jahre, 200 Jahre?«

Ich sah mir das demütige Gesicht der Bärenfrau näher an. Ich weiß nicht, weshalb, aber der Gedanke an einen Bären mit dem Gesicht einer Frau gab mir ein unangenehmes, gruseliges Gefühl. Ich vermute, es lag ganz einfach an der gesamten Atmosphäre in Wallis’ Haus. Aber wer hatte eine solch seltsame Figur geschaffen? Was sollte sie ausdrücken? Hatte sie eine symbolische Bedeutung? Zumindest war es sicher, dass sie nicht nach einem lebenden Modell modelliert worden war – das hoffte ich jedenfalls.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Experte. Ich kenne mich nur im Gesundheitswesen aus.«

»Kommt Ihr Freund auch? Der Ingenieur?«, fragte Wallis, während er mich in sein Büro führte.

»Er hat es gesagt. Außerdem kommen noch ein Arzt, wenn Sie nichts dagegen haben, und eine Bekannte von mir, die einen auf esoterische Literatur spezialisierten Buchladen in Brannan führt.«

»Ein Arzt?«

»Ja, es ist der, der Dan behandelt. Wir hatten heute einen kleinen Zwischenfall.«

Wallis ging zu seinem Schreibtisch hinüber und schenkte mit zitternder Hand zwei volle Gläser Scotch ein. »Zwischenfall?«, fragte er, den Rücken mir zugewandt.

»Es ist schwer zu beschreiben. Aber ich habe das Gefühl, dass das, was auch immer wir vergangene Nacht hier hörten, Dan sehr aufgeregt hat. Er hat sogar so ähnlich geatmet. Der Arzt glaubte zuerst, dass Dan Asthma hätte.«

Wallis drehte sich um, in jeder Hand ein Glas, gefüllt mit bernsteinfarbenem Scotch. Sein Gesicht sah in dem grünen Schattenlicht der Schreibtischlampe angespannt und geradezu gespenstisch aus. »Wollen Sie mir damit sagen, dass Ihr Freund genauso geatmet hat, wie das Atmen sich hier im Haus anhört?«

Er war so aufgeregt, dass ich ganz verlegen wurde. »Ja, genau das. Dr. Jarvis dachte, dass es vielleicht psychosomatische Gründe habe. Sie wissen, selbst verursacht. Das passiert hin und wieder nach einer schweren Gehirnerschütterung.«

Seymour Wallis gab mir den Whisky und setzte sich dann. Er sah so perplex und nachdenklich aus, dass ich mir die Frage nicht verkneifen konnte: »Was ist los? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Dollar verloren und dafür einen Nickel gefunden.«

»Es ist das Atmen«, sagte er. »Es hat aufgehört.«

»Aufgehört? Woher wissen Sie das?«

»Ich weiß es nicht. Nicht genau. Nicht sicher. Aber ich habe es gestern Nacht nicht mehr gehört und auch heute noch nicht. Außerdem spüre ich, dass es vorbei ist.«

Ich setzte mich auf eine Ecke des Schreibtisches und nippte an meinen Whisky. Der Whisky war neun Jahre alt und schmeckte reif und mild, aber er passte nicht so besonders gut zu meinem halb verdauten Salatsandwich. Ich hätte besser etwas Solides essen sollen, bevor ich auf Gespensterjagd ging. Ich rülpste leise in meine Faust, während Wallis unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Er sah noch unglücklicher aus.

»Glauben Sie, dass das Atmen sich irgendwie aus dem Haus auf Dan übertragen hat?«, fragte ich.

Er schaute nicht auf, zuckte nur die Achseln und wurde noch unruhiger. »So etwas schleicht sich in die Gedanken hinein, ist doch so, oder? Ich meine, wenn Geister tatsächlich in der Lage sind, einen Ort heimzusuchen, warum sollen sie dann nicht auch eine Person heimsuchen können? Wer kann denn schon beurteilen, was sie können und was sie nicht können? Ich weiß es nicht, Mr. Hyatt. Die ganze verdammte Angelegenheit ist mir ein Rätsel – und ich hab sie satt.«

Eine Weile saßen wir schweigend da. Seymour Wallis’ Büroraum war wie zuvor vollgestellt und luftlos und mich überkam das Gefühl, in einer kleinen Höhle auf dem Boden einer Mine zu hocken, begraben unter unzähligen Schichten aus Felsen. Das Haus gab einem das Gefühl, als wolle es einen unter dem Gewicht eines Jahrhunderts voller Leid und Duldsamkeit erdrücken. Es war kein sonderlich angenehmes Gefühl, nein, es deprimierte mich und machte mich nervös.

»Sie sagten etwas über einen Park«, erinnerte ich ihn. »Als Sie das erste Mal in mein Büro kamen, erwähnten Sie den Park auch schon. Ich weiß gar nicht, was Sie damit meinten.«

»Den Park? Habe ich das?«

»Ja, es klang zumindest so.«

»Ich schätze, Sie haben recht. Seitdem ich an diesem verdammten Park gearbeitet habe, hat mich das Pech verfolgt.«

»War es der Park in Fremont? Wo Sie die Bärenfrau gefunden haben?«

Er nickte. »Es war eine ganz einfache Auslegerbrücke. Nur ein Überweg für Fußgänger, nichts Großartiges. Ich habe davon sicher 20, 30 in den verschiedensten Städten die ganze Küste entlang gebaut. Aber diese war verhext. Die Fundamente stürzten sechs-oder siebenmal zusammen. Drei der Wetbacks, Sie wissen, diese illegalen Mexikaner, wurden sehr schwer verletzt. Einer erblindete. Niemals war man sich einig, wie und wo die Brücke am besten aufgestellt werden sollte. Die Diskussionen mit dem Stadtrat trieben einen in den Wahnsinn. Ich habe vier Monate gebraucht, um diese Brücke aufzustellen, die normalerweise in vier Tagen hätte aufgesetzt werden können. Das schadete natürlich meinem Ruf. Ich kann Ihnen jedenfalls sagen, Mr. Hyatt, dass ich mich seit der Zeit in Fremont verfolgt fühlte.«

Ich hob das Whiskyglas und ließ den Inhalt kreisen, während ich mich umschaute. »Und das hier, dieses Atmen und all das, dachten Sie, es könnte mit dem Pech zusammenhängen?«

Er seufzte. »Ich weiß nicht. Es war nur so ein Gedanke. Manchmal frage ich mich, ob ich verrückt werde.«

In diesem Augenblick ertönte der Türklopfer zweimal.

»Ich mach schon auf«, sagte ich und ging in die schattige Halle, um die Haustür zu öffnen. Während ich die Riegel und Ketten löste, konnte ich nicht anders und blickte kurz hinüber zu der Bärenfrau. Im Dunkeln wirkte sie jetzt größer als bei Licht, struppiger, als ob die Schatten um sie herum zu Pelz gewachsen wären. An jeder Wand um mich herum hingen diese trüben und langweiligen Landschaftsbilder des Mount Taylor und des Cabezon Peak, Drucke, Stiche und Tuschezeichnungen, und sie waren alle bei schlechtestem Wetter gemalt. Da ich immerhin wusste, dass beide Berge im sonnigen New Mexico lagen, erschien es umso seltsamer, dass jede einzelne dieser Dutzend Ansichten an einem regnerischen Tag gemalt worden war.

Der Türklopfer knallte wieder aufs Holz. »Schon gut, schon gut!«, rief ich. »Ich hab euch doch gehört!«

Ich öffnete die Tür und Dr. Jarvis stand mit Jane auf der Schwelle. Es regnete und donnerte noch immer, aber nach der stickigen Enge in Seymour Wallis’ Büro war die Nachtluft kühl und erfrischend. Auf der anderen Straßenseite sah ich Bryan Corder, der mit hochgezogenen Schultern durch den Regen auf uns zukam.

»Ihr beide habt euch wohl getroffen«, sagte ich zu Jane und Dr. Jarvis, während ich sie ins Haus bat.

»Es war ganz zufällig, als wir beide in einem dunklen Türeingang Schutz suchten«, sagte Jane.

Bryan lief die Stufen hoch und schüttelte sich wie ein nasser Hund den Regen aus den Haaren. Er war ein untersetzter, kräftiger, etwa 40 Jahre alter Mann mit einem pausbäckigen, freundlichen Gesicht, das mich an einen lebenslustigen Mönch erinnerte, falls es so etwas gibt. Er griff nach meinem Arm. »Hi, John. Ich hätte es fast nicht geschafft. Und, wie läuft es?«

»Beängstigend«, antwortete ich. Ich meinte es auch so. Bevor ich die Tür schloss, konnte ich nicht widerstehen und schaute noch einmal kurz auf den Türklopfer, nur um zu sehen, ob er immer noch aus Bronze, immer noch leblos und immer noch so scheußlich war wie bisher.

Ich führte sie alle in Seymour Wallis’ Büro und stellte sie ihm vor. Wallis war freundlich, aber zerstreut, als wären wir Grundstücksmakler, die den Wert seines Eigentums beurteilen wollten. Er gab jedem die Hand, bot Whisky an und holte Stühle, aber dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch, starrte auf den schäbigen Teppich und sagte kaum noch etwas.

Dr. Jarvis sah in seiner marineblauen Sportjacke und Hose nun etwas weniger nach einem Mediziner aus. Er hatte ein elegant geschnittenes Gesicht, war klein und rotblond, und ich fing an, ihn zu mögen. Er trank einen Schluck Whisky, hustete und meinte: »Ihr Freund hat keine großen Fortschritte gemacht, muss ich leider gestehen. Er erlitt zwar keinen weiteren Anfall, aber er leidet immer noch unter Atembeschwerden und wir können ihn nicht aus seinem Koma wecken. Heute Abend werden wir noch ein EKG und ein EEG machen, um festzustellen, ob es irgendein Anzeichen einer Hirnschädigung gibt.«

»Hirnschädigung? Aber er ist doch bloß vom Stuhl gefallen.«

»Ich habe erlebt, dass Leute durch den Fall von einem Stuhl gestorben sind.«

»Glauben Sie immer noch an eine Gehirnerschütterung?«, fragte Jane. »Was ist mit seinen Augen?«

Dr. Jarvis drehte sich auf seinem Sitz herum. »Würde ich glauben, dass es nur eine Gehirnerschütterung ist und nichts anderes, wäre ich nicht hier. Es scheint so, als ob da noch etwas mit im Spiel ist, aber bis jetzt habe ich noch keine echte Idee, was es sein könnte.«

Bryan fragte: »Ist das hier der Raum, in dem es passierte? Das Atmen und auch das Übrige?«

»Ja.«

Bryan stand auf und ging an den Wänden des Zimmers entlang, tastete sie an einigen Stellen ab und schaute in den Kamin. Hier und da klopfte er mit seinen Knöcheln den Verputz ab, um nach Hohlräumen zu hören. Nach einer Weile blieb er mitten im Raum stehen und blickte sich verwundert um.

»Die Tür war geschlossen?«, fragte er mich.

»Die Tür und die Fenster.«

Er schüttelte langsam den Kopf. »Das ist wirklich seltsam.«

»Was ist seltsam?«

»Also, normalerweise, wenn sich aufgrund von Zugluft oder Luftströmungen ein Druck bildet, dann ist der Kamin frei und der Schornstein nicht blockiert. Aber Sie können Ihre Hand hier in den Kamin halten und es selbst spüren. Hier ist keine Luftströmung vorhanden. Der Schornstein ist komplett zu.«

Ich ging hinüber und kniete mich auf den fadenscheinigen verblichenen Indianerteppich vor der Feuerstelle. Es war einer dieser schmalen viktorianischen Zimmerkamine mit einer verzierten Stahlhaube und einem feuerfesten Gitter. Ich steckte meinen Kopf hinein und schaute hoch in die kalte, nach Ruß riechende Finsternis. Bryan hatte recht, es gab keinen Luftzug, keinen Windhauch. Normalerweise, wenn man unter einem Kaminschacht hockt, kann man die Geräusche der Nacht hören, die herabrauschen, aber in diesem Schornstein war es still.

»Mr. Wallis«, sagte Bryan, »sind Sie sicher, dass dieser Schornstein frei ist? Oder hat ihn jemand zugemauert?«

Wallis bedachte uns mit einem mürrischen Blick. »Der Kamin ist nicht zugemauert. Ich habe erst vor wenigen Tagen ein Feuer gemacht und einige alte überflüssige Unterlagen darin verbrannt.«

Bryan schaute noch einmal den Kaminschacht hinauf. »Also, Mr. Wallis, selbst wenn er zu dem Zeitpunkt noch frei war, jetzt ist er mit Sicherheit zu. Vielleicht hängt das mit den Geräuschen zusammen, die Sie gehört haben. Dürfte ich vielleicht in dem oberen Raum einen Blick in den Kamin werfen?«

»Nur zu«, antwortete Wallis. »Aber ich bleibe hier, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich habe für heute von alldem wirklich genug.«

Wir vier gingen in die Diele und schalteten das schwache Licht ein, das die Treppe beleuchtete. Es war so schwach, weil es von einem grün und gelb gemusterten Glas abgedeckt wurde, das in Staub und Spinnweben gehüllt war. Alles im Haus schien muffig, verblichen und mit Staub bedeckt zu sein, aber genau das nannte Wallis wahrscheinlich Charakter. Mich überkam geradezu eine Sehnsucht nach Plastik und billigen modernen Wohnblöcken.

Als Bryan die erste Stufe betrat, bemerkte Jane plötzlich die Bronzestatue der Bärenfrau.

»Die ist aber ungewöhnlich«, sagte sie. »Gehörte sie schon immer zum Haus?«

»Nein. Seymour Wallis hat sie in Fremont ausgegraben, irgendwo, als er an einer Brücke gearbeitet hat. Er baut nämlich Brücken, zumindest hat er das getan.«

Jane berührte das feierliche Gesicht der Statue, als erwartete sie, dass sie jeden Moment die Augen öffnete.

»Sie erinnert mich an etwas«, sagte sie gedankenvoll. »Sie verursacht mir ein ganz seltsames Gefühl. Es ist fast so, als hätte ich sie schon früher einmal gesehen, aber das kann nicht sein.«

Sie schwieg einige Momente, ihre Hand auf den Kopf der Statue gelegt, dann schaute sie auf. »Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht denke ich später darüber nach. Sollen wir weitergehen?«

Bryan ging voran. Wir folgten ihm so leise wie möglich die alten, quietschenden Treppen hinauf. Es waren zwei Treppen mit jeweils etwa zehn Stufen, dann standen wir auf einem langen Flur, der ebenfalls von einer trüben Glaslampe erleuchtet wurde und mit einem staubigen roten Teppich ausgelegt war. Es sah aus, als wäre das Haus seit 20 oder 30 Jahren nicht mehr renoviert worden, und überall hingen diese tiefgründige Stille und dieser klamme Mief.

»Der Bürokamin muss durch diesen Raum führen«, sagte Bryan. Er führte uns zu einer Tür, die am Ende des Flurs lag. Er drückte den Messinggriff herunter und öffnete sie.

Es war ein kleines, kaltes Schlafzimmer. Es hatte ein Fenster zum Garten hin, in dem sich dunkle, nasse Bäume im Wind und Regen hin und her bewegten. Die Wände waren blassblau tapeziert und wiesen überall Wasserflecke auf. Das wenige Mobiliar bestand aus einem mit Klarlack behandelten Kleiderschrank und einem schäbigen Eisenbett. Auf dem Boden lag altmodisches Linoleum, das vor vielen Jahren einmal grün gewesen sein musste.

Bryan ging zum Kamin, der dem in Seymour Wallis’ Büro glich, nur dass ihn jemand cremefarben gestrichen hatte. Er kniete nieder und lauschte, während wir Übrigen um ihn herumstanden und ihn beobachteten.

»Kannst du etwas hören?«, fragte ich. »Ist er noch blockiert?«

»Ich schätze schon«, antwortete er und strengte dabei seine Augen an, um in der Dunkelheit etwas zu sehen. »Ich muss nur um die Kante herumschauen, dann könnte ich vielleicht …«

Er rückte etwas näher heran und schob seinen Kopf vorsichtig unter der Feuerhaube hindurch.

Dr. Jarvis lachte, aber es war ein nervöses Lachen. »Können Sie etwas erkennen?«

»Ich bin nicht sicher«, antwortete Bryan mit dumpfer Stimme. »Hier ist die Resonanz ganz anders. Eine Art dumpfes Geräusch. Ich bin mir nicht sicher, ob es durch den Schornstein hereinkommt oder ob es durchs ganze Haus vibriert.«

»Wir können hier draußen nichts hören«, sagte ich.

»Dann kommt her«, erwiderte Bryan und kroch weiter, sodass sein ganzer Kopf im Kamin verschwand.

»Ich schätze, dass Sie sich Ihr Haar waschen müssen, bevor Sie wieder in die Zivilisation zurückkehren«, sagte Jane.

»Ach, ich habe schon Schlimmeres getan als das hier«, meinte Bryan. »Abwasserkanäle sind schlimmer als eine ganze Woche Schornsteine.«

»Kannst du jetzt etwas hören?«, fragte ich und kniete mich neben den Kamin.

»Sssshht!«, forderte Bryan. »Jetzt baut sich hier irgendein Geräusch auf. Wieder dieses dumpfe Schlagen.«

»Ich kann immer noch nichts hören«, sagte ich.

»Hier drinnen höre ich es ganz deutlich. Da ist es wieder. Bum-bum-bum-bum-bum-bum-bum. Es ist fast wie ein Herzschlag. Bum-bum-bum – warum messt ihr es nicht? Hast du einen Sekundenzeiger an deiner Uhr?«

»Ich werde es messen«, sagte Dr. Jarvis. »Wenn es ein Puls ist, dann fällt es in mein Fachgebiet.«

»Okay.« Bryan hustete. »Ich beginne jetzt.«

Er hielt seinen Kopf in der Kaminhaube und suchte blind mit seiner Hand umher, bis er Dr. Jarvis’ Knie ertastete. Dann begann er, das, was in seinen Ohren dröhnte, als Takt zu schlagen, und Dr. Jarvis prüfte es mit seiner Uhr.

»Es ist kein Puls«, kommentierte Dr. Jarvis nach einigen Minuten. »Zumindest kein menschlicher Puls.«

»Reicht das?«, hustete Bryan. »Ich bekomme hier nämlich Klaustrophobie.«

»Sie sind der Santa Claustrophobius«, scherzte Jane. »Bringen Sie uns einen Sack voll mit Spielsachen mit?«

»Ach, Blödsinn«, brummte Bryan und fing an, sich wieder herauszuwinden.

Unvermittelt schrie er entsetzlich auf. Ich habe noch nie einen Menschen so schreien hören … Eine Sekunde lang konnte ich mir nicht vorstellen, was passierte. Dann brüllte er: »Holt mich raus! Holt mich raus! Um Himmels willen, holt mich raus!«, und ich wusste, dass etwas Schreckliches mit ihm geschah.

Dr. Jarvis packte eines von Bryans Beinen und schrie: »Zieh! Zieh ihn da raus!«

Vor Furcht erstarrt, packte ich Bryans zweites Bein, und gemeinsam versuchten wir, ihn herauszuziehen. Aber, obwohl nur sein Kopf in dem Kamin hing, schien er darin festzustecken. Er kreischte und schrie und seinen gesamten Körper durchzuckten Todeskrämpfe.

»Holt mich raus! Holt mich raus! Oh Gott, oh Gott, holt mich raus!«

Dr. Jarvis ließ Bryans Bein los und versuchte zu erspähen, was dort in der Kaminhaube vor sich ging. Aber Bryan zappelte und kreischte so grauenhaft, dass es unmöglich war zu erkennen, was vor sich ging.

Dr. Jarvis brüllte: »Bryan! Bryan, hören Sie! Keine Panik! Halten Sie still oder Sie werden sich verletzen!«

Er drehte sich um zu mir. »Irgendwie muss sein Kopf feststecken. Um Gottes willen, versuchen Sie, ihn ruhig zu halten.«

Wir beide rissen an der Kaminhaube, um sie aus der Befestigung der Fliesen zu lösen, aber sie saß durch den Staub und den Ruß der Jahre so fest, dass es uns nicht gelang. Bryan schrie die ganze Zeit, aber dann verstummte er plötzlich und sein Körper sackte auf den Boden des Kamins.

»Oh Gott«, sagte Dr. Jarvis. »Sehen Sie.«

Unter der Haube floss langsam feucht glänzendes Blut hervor, das Bryans Kragen und Krawatte durchtränkte. Jane, die hinter uns stand, würgte. Das war viel zu viel Blut für einen kleinen Schnitt oder einen Kratzer. Es tropfte von Bryans Hemd herab und über unsere Hände, bis es in die Fugen zwischen die Platten des Kaminbodens floss.

»Jetzt vorsichtig«, befahl Dr. Jarvis. »Ziehen Sie ihn vorsichtig herunter.«

Stück für Stück zogen wir Bryans Körper abwärts. Zunächst schien es, als würde sein Kopf immer noch festgehalten, aber dann stieg uns der eklige Geruch von rohem Fleisch in die Nase und er rutschte vollständig aus dem Kamin, fiel auf das Feuergitter.

Ich starrte mit wachsendem Grauen auf seinen Kopf. Ich konnte es kaum ertragen hinzusehen, aber wegsehen konnte ich auch nicht. Von seinem gesamten Kopf war die Haut abgeschält. Nur der nackte Schädel war noch übrig, an dem einige wenige Fetzen Fleisch und Haarbüschel hingen. Sogar die Augen waren aus ihren Höhlen herausgerissen worden, sodass nur noch klebrige Knochen zurückgeblieben waren.

Jane, deren Stimme vor Übelkeit zitterte, sagte: »Oh John, oh mein Gott, was ist passiert?«

Dr. Jarvis legte Bryans Körper vorsichtig nieder. Der Schädel machte auf den Fliesen ein grausiges, knöchernes Geräusch. Dr. Jarvis’ Gesicht war so weiß und geschockt, wie meines wohl auch aussehen musste.

»Ich habe noch nie so etwas gesehen«, flüsterte er. »Noch nie.«

Ich schaute auf den dunklen Schlund des alten viktorianischen Kamins. »Ich will nur wissen, was hat das getan. Um Himmels willen, Doktor, was hängt da oben drin?«

Dr. Jarvis schüttelte stumm den Kopf. Keiner von uns traute sich, in den Kaminschacht zu blicken. Was auch immer Bryan das Fleisch vom Kopf gerissen hatte, ob es ein launenhafter Unfall oder ein bösartiges Tier war, niemand von uns wollte sich dem stellen.

»Jane«, sagte Dr. Jarvis und nahm eine Karte aus seiner Brusttasche, »das ist die Nummer des Elmwood Foundation Hospital, in dem ich arbeite. Rufen Sie Dr. Speedwell an und sagen Sie ihm, was passiert ist. Sagen Sie ihm, dass ich hier bin. Und bitten Sie ihn, uns so schnell wie möglich einen Krankenwagen herzuschicken.«

»Was ist mit der Polizei?«, fragte ich. »Wir können nicht einfach …«

Dr. Jarvis sah skeptisch zum Kamin hinüber. »Ich weiß nicht. Meinen Sie, dass die uns glauben werden?«

»Um Gottes willen, wenn da irgendetwas in dem Kamin steckt, das Leute auseinanderreißt, dann werde ich da nicht hochsteigen und nachsehen. Und Sie werden das auch nicht tun.«

Dr. Jarvis nickte. »Okay«, sagte er zu Jane. »Rufen Sie die Polizei auch an.«

Jane wollte den Raum gerade verlassen, als es zaghaft an die Tür klopfte. Seymour Wallis’ Stimme sagte: »Ist bei Ihnen alles in Ordnung? Ich dachte, ich hätte Schreie gehört.«

Ich ging zur Tür und öffnete. Wallis stand blass und besorgt da und er musste an meinem Gesichtsausdruck gemerkt haben, dass irgendetwas schiefgelaufen war. »Wir hatten einen Unfall«, sagte ich. »Es ist vielleicht besser, Sie kommen nicht herein.«

»Ist jemand verletzt?«, fragte er und versuchte über meine Schulter zu schauen.

»Ja. Bryan ist schwer verletzt. Aber bitte, ich rate Ihnen, nicht hinzuschauen. Es ist ziemlich schlimm.«

Wallis schubste mich zur Seite. »Es ist mein Haus, Mr. Hyatt. Ich will wissen, was hier vor sich geht.«

Ich schätze, er hatte durchaus recht. Doch als er in das Schlafzimmer trat und Bryans Körper daliegen sah, den Schädel grinsend zur Decke gerichtet, erstarrte er. Er vermochte weder zu reden noch sich zu bewegen.

Dr. Jarvis schaute auf. »Rufen Sie doch den Krankenwagen«, sagte er schroff zu Jane. »Je eher wir herausfinden, was hier passiert ist, desto besser.«

Wallis setzte sich schwerfällig auf das schmale Bett, seine Hände in den Schoß gelegt. Er starrte Bryan mit unverhohlenem Grauen an.

»Tut mir leid, Mr. Wallis«, sagte Dr. Jarvis. »Er dachte, er höre irgendein Geräusch im Kamin und steckte seinen Kopf hinein, um nachzusehen, wodurch es verursacht wurde.«

Wallis öffnete seinen Mund, sagte nichts, dann schloss er ihn wieder.

»Wir hatten den Eindruck, dass ihn irgendetwas oder irgendjemand angriff«, erklärte ich. »Als sein Kopf in dem Kamin steckte und wir versuchten, ihn herauszuziehen, schien es, als ob ihn jemand mit gleicher Kraft zurückziehe.«

Geradezu verstohlen schaute Wallis zu dem dunklen, leeren Kamin. »Ich verstehe nicht«, sagte er heiser. »Was versuchen Sie mir zu sagen?«

Dr. Jarvis stand auf. Er konnte für Bryan nichts mehr tun, außer herauszufinden, was ihn getötet hatte. Er sagte ernst: »Entweder hatte er einen fatalen Unfall, Mr. Wallis, oder aber da oben hockt eine Kreatur drin, oder ein Mensch, der Bryan Corder in einem psychopathischen Anfall das Fleisch vom Schädel gerissen hat.«

»Oben im Schornstein? Oben im Schornstein meines Hauses?«

»Ich fürchte, dass es ganz so aussieht.«

»Aber das ist doch Irrsinn. Was zum Teufel lebt in einem Schornstein und zerfleischt Leute derart?«

Dr. Jarvis blickte auf Bryans Körper, dann zurück zu Seymour Wallis. »Das, Mr. Wallis, ist genau das, was wir herausfinden müssen.«

Wallis dachte eine Weile darüber nach, dann rieb er sich durch sein Gesicht. »Das Ganze ergibt doch keinen Sinn. Erst das Atmen und jetzt das hier. Sie müssen mir wohl beipflichten, dass ich das Haus verkaufen muss.«

»Dabei würden Sie bestimmt kein Geld verlieren«, sagte ich gefällig. »Diese alten Villen stehen heutzutage hoch im Kurs.«

Er schüttelte müde den Kopf. »Es geht nicht ums Geld, das kümmert mich wenig. Ich will nur an einem Ort leben, wo solche Dinge sich nicht zutragen. Ich möchte nur etwas Ruhe haben … Der arme Kerl.«

»Na ja, solange der Geist Ihnen nicht folgt, ist ein Umzug bestimmt die beste Lösung für Sie«, meinte ich.

Wallis starrte mich geschockt und ärgerlich an. »Es steckt da in dem verdammten Kamin!«, schnauzte er. »Es hat soeben Ihren Kollegen umgebracht und Sie tun so, als wäre das nicht weiter tragisch. Es ist da oben drin, es versteckt sich, und wer sind Sie, dass Sie mir versichern können, dass es nicht in der Nacht, wenn ich im Bett liege, herauskommt und mich erwürgt?«

»Mr. Wallis«, sagte ich. »Ich bin kein Rod Serling.«

»Ich vermute, dass Sie die Polizei benachrichtigt haben«, erwiderte Wallis, ohne mich weiter zu beachten.

Dr. Jarvis nickte. »Sie müsste bald hier sein.«

In diesem Augenblick kam Jane zurück und erklärte: »Zwei, drei Minuten … Sie hatten einen Wagen in der Nachbarschaft. Ich habe auch das Krankenhaus angerufen, sie schicken sofort einen Krankenwagen her.«

»Danke, Jane«, sagte ich.

»Ich habe eine Waffe, hören Sie«, sagte Wallis. »Es ist zwar nur mein alter Kriegscolt, aber wir könnten in den Schornstein schießen, und was immer es ist, es hätte keine Chance.«

Dr. Jarvis kam zu uns herüber. »Könnten Sie mir bitte einen Kopfkissenbezug geben?«, fragte er. »Ich möchte Mr. Corders Kopf bedecken.«

»Sicher. Nehmen Sie ihn einfach hier von dem Kissen ab. Es ist ein sehr grausamer Anblick. Können Sie sich vorstellen, welches verdammte Tier so etwas tut? Gibt es einen Vogel, der so etwas macht? Vielleicht ist ein Rabe im Kamin gefangen oder ein Schimpanse.«

»Ein Schimpanse?«, fragte ich zweifelnd.

Dr. Jarvis meinte: »Das ist gar nicht so weit hergeholt. Es gibt eine Geschichte von Edgar Allan Poe über einen Affen, der ein Mädchen ermordet und es in einen Schornstein hineinzwängt.«

»Gut, aber wer immer das hier getan hat, muss wirklich sehr wild sein. Es sieht mir eher nach einer Katze oder einer Ratte aus. Vielleicht ist das Tier völlig ausgehungert, weil es schon eine Weile dort gefangen ist.«

Wallis stand von dem Bett auf. »Ich hole meinen Revolver«, sagte er. »Wenn das Vieh da rauskommt, werde ich nicht schutzlos hier herumstehen.«

Draußen auf der Straße näherte sich eine Sirene. Jane drückte meinen Arm. »Sie sind da. Gott sei Dank dafür.«

Ein lautes Klopfen ertönte an der Haustür. Wallis ging hinunter, um zu öffnen. Wir hörten Schritte die Treppe heraufkommen und zwei Polizisten mit regennassen Hemden und Mützen betraten das kleine Schlafzimmer. Sie knieten neben Bryans Körper nieder, ohne uns andere auch nur anzuschauen, als wäre Bryan ihr ständig betrunkener Bruder, den sie heimholen wollten.

»Was soll das Kopfkissen über seinem Kopf?«, fragte einer von ihnen, ein Kaugummi kauender Italiener mit herabhängendem Schnurrbart. Er machte keinen Versuch, das Kopfkissen zu berühren oder den Körper zu bewegen. Wie die meisten der Polizisten an der Westküste hatte er ein gut ausgeprägtes Misstrauen, und eine der ersten Regeln, die er hatte lernen müssen, lautete: Berühre nichts, bevor du nicht weißt, was es ist.

Ich antwortete: »Wir haben das Haus untersucht. Es gab hier einige Geräusche, die Mr. Wallis sehr gestört haben. Mein Name ist John Hyatt und ich arbeite für das Gesundheitsamt. Das hier ist Jane Torresino und hier steht Dr. Jarvis vom Elmwood.«

Der Cop schielte rüber zu seinem Kollegen, einem jungen Iren mit blassgrauen Augen und einem über und über mit Sommersprossen bedeckten Gesicht. »Wie kommt es, dass das Gesundheitsamt noch so spät arbeitet?«

»Tja, also …«, erwiderte ich, »… das gehörte hier nicht zu den üblichen Erkundungen des Gesundheitsamtes. Sie können es eher eine private Arbeit nennen.«

»Was ist mit Ihnen, Doktor?«

Dr. Jarvis lächelte kurz und verkrampft. »Dasselbe gilt für mich. Ich bin hier nebenberuflich tätig.«

»Was ist denn hier eigentlich passiert?«

Ich räusperte mich und erklärte. »Also, meine Herren, das ist Bryan Corder. Er ist Ingenieur bei derselben Abteilung wie ich. Er ist Spezialist für Hausbau und arbeitet normalerweise an der Sanierung von städtischen Gebäuden und solchen Sachen. Wir haben ihn hierhergebeten, weil er sich auskennt mit eigenartigen Geräuschen und Luftströmungen und allem, was mit Trockenfäule zu tun hat.«

Der Polizist sah mich immer noch freundlich an, machte aber keine Anstalten, um den Kopfkissenbezug von Bryans Kopf zu ziehen.

»Er meinte, er hätte ein dumpfes Klopfen im Schornstein gehört«, flüsterte ich fast. »Er steckte seinen Kopf in den Kamin hinein, um es besser zu hören, und, nun ja … das hier ist das Ergebnis. Irgendetwas schien ihn anzugreifen. Wir haben nicht gesehen, was es war.«

Der Polizist blickte seinen Kollegen an, zuckte die Achseln und zog den Kissenbezug herunter.

Ein weiß-gold lackierter Cadillac-Krankenwagen raste durch den leichten Regen, um Bryan Corders Körper ins Elmwood Foundation Hospital zu bringen. Ich stand auf den Stufen des Hauses Nummer 1551 und sah ihn davonfahren. Neben mir zündete sich der Polizei-Lieutenant, der inzwischen eingetroffen war, um den Fall zu übernehmen, eine Zigarette an. Er war ein großer, grüblerischer Mann mit einem nassen Hut und einer schmalen Nase, und wenn er Fragen stellte, klang das höflich und ruhig. Er hatte sich als Lieutenant Stroud vorgestellt und dabei seine Dienstmarke hervorgeholt, wie ein Magier, der eine Papierblume aus dem Nichts der Luft zaubert.

»Tja«, meinte er sanft und blies Rauch aus: »Das war nicht gerade Ihr Abend, Mr. Hyatt.«

Ich knurrte: »Das können Sie laut sagen.«

Lieutenant Stroud rauchte eine Weile. »Kannten Sie Mr. Corder gut?«

»Wir haben in derselben Abteilung gearbeitet. Ich habe bei ihm einmal zu Abend gegessen. Moira ist Spezialistin für Nussplätzchen.«

»Nussplätzchen, hmm, das ist auch meine Schwäche. Ich nehme an, Mrs. Corder wird es hart treffen.«

»Ganz bestimmt. Sie ist eine sehr nette Frau.«

Oben wurde klappernd ein Fenster geöffnet und einer der Polizisten steckte den Kopf heraus. »Lieutenant?«

Stroud trat einen Schritt zurück und schaute hinauf. »Was ist los? Haben Sie etwas gefunden?«

»Wir haben den halben verdammten Kamin aufgerissen, Sir, und da ist absolut nichts. Nur getrocknetes Blut.«

»Keine Spuren von Ratten oder Vögeln? Kein Geheimgang?«

»Nichts, Sir. Sollen wir noch weitersuchen?«

»Noch ein wenig, Kollege.«

Das Fenster schloss sich geräuschvoll und Lieutenant Stroud wandte sich erneut der Straße zu. Die Wolken waren fast alle fortgezogen und am klaren Nachthimmel begannen die Sterne zu funkeln. Unten auf der Mission Street sauste und rauschte der Verkehr vorbei und aus dem oberen Fenster des Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite ertönten die Klänge eines Halleluja-Chors.

»Sind Sie ein religiöser Mann, Mr. Hyatt?«, fragte Lieutenant Stroud.

»Mehr oder weniger«, antwortete ich vorsichtig. »Eher weniger als mehr, ich glaube, dass ich eher abergläubisch als gläubig bin.«

»Dann glauben Sie das wirklich alles … was Sie mir über das Atmen und die Herzschläge im Haus erzählt haben?«

Ich sah ihn aufmerksam an. Seine Augen glänzten und waren hellwach. Ich schüttelte den Kopf: »Tja.«

»Ich muss eine Reihe Alternativen in Betracht ziehen. Entweder starb Mr. Corder durch einen besonders bizarren und unwahrscheinlichen Unfall oder er wurde von einem Tier angegriffen, das im Kamin gefangen saß, oder aber er wurde von einem unbekannten Mann oder einer Frau angegriffen, die irgendwie in den Kamin gelangt waren. Vielleicht wurde er aber auch von Ihnen und Ihren Freunden getötet.«

Ich starrte auf den nassen Bürgersteig und nickte. »Das ist mir klar.«

»Natürlich gibt es auch noch die Möglichkeit, dass irgendein übernatürliches Ereignis stattfand, das irgendwie mit Ihren okkulten Nachforschungen im Hause zu tun hat.«

Ich schaute auf. »Sie ziehen das als eine Möglichkeit in Betracht?«

Lieutenant Stroud lächelte: »Nur weil ich Polizeibeamter bin, heißt das doch nicht, dass ich den Dingen dieser Welt völlig unaufgeschlossen gegenüberstehe. Und auch denen außerhalb dieser Welt. Eines meiner Hobbys ist Science-Fiction.«

Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich erwidern sollte. Vielleicht versuchte dieser große, höfliche Mann, mein Vertrauen zu gewinnen und mich zu der Aussage zu bringen, dass Dr. Jarvis, Jane und ich Bryan in einer verbotenen Zeremonie der Schwarzen Magie geopfert hätten. Aber sein Gesichtsausdruck verriet nichts. Er wirkte intelligent, aber kühl. Er war der erste kultivierte Polizist, dem ich begegnete, und ich wusste nicht ganz, ob ich diese Erfahrung gern machte.

Ich drehte mich wieder zur Tür um und nickte in Richtung des wölfischen Türklopfers. »Was halten Sie denn davon?«

Er hob eine Augenbraue. »Ich habe ihn bemerkt, als ich eben ankam. Er sieht etwas unheimlich aus, nicht?«

»Mein Freund meinte, dass er wie ein Werwolf aussehe.«

Lieutenant Stroud trat etwas zurück. »Nun, damit kenne ich mich nicht aus, Mr. Hyatt. Ich interessiere mich zwar für Science-Fiction, bin aber kein Experte für Vampire und Dämonen und all diese Sachen. Im Übrigen bevorzugen meine Vorgesetzten Mörder aus Fleisch und Blut, die sie einbuchten können. Ich suche immer erst nach einer natürlichen Antwort, bevor ich an eine übernatürliche denke.«

»Natürlich, Sie sind Polizist.«

Die Haustür öffnete sich und Dr. Jarvis kam heraus. Er war blass und sah aus, als ob er den ganzen Abend Blut gespendet hätte. »John, kann ich Sie mal kurz allein sprechen?«

Lieutenant Stroud gab nickend seine Genehmigung. Dr. Jarvis führte mich in die Diele. Neben der Statue der Bärenfrau drehte er sich um und sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, der noch geschockter und ernster war als zuvor.

»Was ist denn los? Sie sehen erschreckend aus.«

Er nahm ein Taschentuch heraus und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich konnte dem Lieutenant davon nichts sagen. Er wird es früher oder später aber doch herausfinden. Aber ich hätte lieber, dass er es von jemand anderem hört, von jemandem, der gerade dort ist.«

In diesem Moment kam Jane die Treppe herunter. Sie sagte: »Sie haben fast das ganze Schlafzimmer auseinandergenommen, aber nicht das Geringste gefunden. John, können wir jetzt gehen? Ich würde meine besten Klamotten für einen Gin-Orangensaft geben.«

»Jane«, sagte Dr. Jarvis. »Sie können ruhig zuhören. Sie waren dabei, als es passiert ist. Sie werden es zumindest glauben.«

Jane fragte stirnrunzelnd: »Was ist denn? Ist etwas passiert?«

Ich nutzte die Gelegenheit, um meinen Arm um sie zu legen und sie männlich beschützend zu drücken. Es ist seltsam, wie die sexuellen Instinkte eines Mannes weiterarbeiten, selbst in Augenblicken der Krise und des Grauens. Aber meine Glut war nicht gerade auf dem Siedepunkt. Und als Dr. Jarvis uns seine Neuigkeiten berichtete, fielen meine Hände zur Seite und ich stand da, erschrocken, erstarrt und erschauernd, überzeugt davon, dass das, was in Seymour Wallis’ Haus vor sich ging, mit jeder vergehenden Stunde düsterer, mächtiger und bedrohlicher wurde.

»Gerade hat das Elmwood angerufen. Sie haben Ihren Freund Bryan Corder sofort ins Leichenhaus gebracht und mit der Leichenöffnung begonnen.«

»Haben sie herausgefunden, woran er gestorben ist?«, fragte Jane.

Dr. Jarvis schluckte verlegen. »Nein, sie konnten es nicht herausfinden. Trotz der Verletzung seines Kopfes ist er klinisch noch nicht tot.«

Mein Unterkiefer klappte dumm herunter. »Er lebt noch? Das kann doch nicht sein!«

»Ich befürchte, dass es aber so ist. Zumindest glauben es die Chirurgen. Verstehen Sie, sein Herz schlägt noch. Sie haben seine Brust abgehorcht, und es schlägt laut und deutlich mit 24 Schlägen pro Minute.«

»24?«, fragte Jane. »Das ist nicht –«

»Nicht menschlich«, fiel Dr. Jarvis ein. »Wirklich nicht menschlich. Aber die Tatsache bleibt bestehen, dass sein Herz schlägt, und solange es noch schlägt, werden sie alles tun, um es weiterschlagen zu lassen.«

Genau in diesem Augenblick meinte ich, ein Flüstern zu hören. Es war wohl einer der Polizisten aus dem ersten Stock. Es war vielleicht auch das Geräusch von Autoreifen auf der nassen Straße. Aber als ich mich unwillkürlich herumdrehte, um zu sehen, woher es rührte, stellte ich fest, dass ich ziemlich nahe an diesem verdammten, widerlichen Türklopfer stand, diesem Türklopfer, auf dem geschrieben war: Rückkehr.

3

Ich wälzte mich einige Stunden auf meinem verschwitzten, zerwühlten Bett hin und her, bis ich um fünf Uhr morgens aufstand und mir eine Kanne starken schwarzen Kaffee machte, den ich mit einem Schuss Calvados verstärkte. Mit diesem Getränk wärmen sich die alten Männer in der Normandie an kalten Dezembertagen auf. Ich stellte mich ans Fenster, schaute auf die verlassene Straße in der Frühe und hatte das Gefühl, dass mein ganzes Leben sich plötzlich seltsam verändert hatte, als ob man mit dem Auto in einer Stadt, die man gut zu kennen glaubt, in die falsche Straße einbiegt und sich dann in einer fremden Gegend wiederfindet, wo die Gebäude dunkel und verfallen sind und die Leute unfreundlich und abweisend.

Um sechs konnte ich meine Neugierde nicht mehr bezwingen und rief das Elmwood Foundation Hospital an, um zu hören, ob Dr. Jarvis seinen Dienst begonnen hatte. Die ausdruckslose Stimme der Sprechstundenhilfe sagte mir, dass Dr. Jarvis keine Gespräche entgegennehme, aber sie notierte sich meine Nummer und versprach, dass er mich zurückrufen würde.

Ich setzte mich wieder auf mein Blumenmuster-Sofa und nippte weiter an meinem Kaffee. Ich hatte die ganze Nacht über alles nachgedacht, was in dem Haus 1551 Pilarcitos passiert war. Noch immer konnte ich nicht verstehen, was eigentlich vor sich ging. Eines war allerdings klar: Welche Kraft oder welcher Einfluss auch immer dieses Haus heimsuchte, es war nichts Wohlmeinendes. Ich zögerte wirklich, das Wort »Geist« zu benutzen, sogar wenn ich in der privaten Atmosphäre meines Apartments darüber nachdachte, aber was zur Hölle konnte es sonst sein?

Es hatten sich so viele seltsame Ereignisse begeben und sie schienen alle nichts miteinander zu tun zu haben. Ich hatte das Gefühl, dass Seymour Wallis wichtiger war, als er selbst wusste. Es war schließlich sein Haus, und er war der Erste, der das Atmen gehört hatte. Er hatte ja selbst gesagt, dass er vom Pech verfolgt wurde, seitdem er in diesem Park in Fremont gearbeitet hatte. Auch besaß er noch immer dieses eigenartige Souvenir aus Fremont, die Bärenfrau auf dem Treppenpfosten.

Ich spürte, und das sehr stark, dass alles, was passierte, nicht rein zufällig geschah. Es war wie der Anfang eines Schachspiels, bei dem die ersten Züge zufällig und beziehungslos erscheinen, aber alle Teil einer wohlüberlegten Strategie sind. Die Frage war nur, wessen Strategie! Und wozu?

Wie Bryan Corders schrecklicher Unfall und Dan Machins unheimliche Gehirnerschütterung allerdings in Verbindung gebracht werden konnten, begriff ich nicht. Ich wollte aber auch nicht zu intensiv darüber nachdenken, weil ich ständig die schrecklichen Bilder von Bryans fleischlosem Kopf vor mir sah, und der Gedanke daran, dass er immer noch lebte, ließ meine Gänsehaut noch schlimmer werden. Auch in meinen besten Zeiten hatte ich schon nicht den stärksten Magen. Ich gehörte zu den empfindlichen Leuten, die den Tintenfisch auf der Meeresfrüchteplatte nicht essen können und die die Frühstückseier stets hart gekocht bestellen.

Das Telefon läutete und Angst kroch mir prickelnd den Nacken hoch. Ich nahm den Hörer und sagte: »John Hyatt. Wer ist am Apparat?«

»John? Ich bin es, Jane.«

Ich nahm einen Schluck Kaffee. »Du bist aber früh auf«, bemerkte ich. »Konntest du nicht schlafen?«

»Konntest du denn?«

»Nun ja, nicht so richtig. Ich muss immer wieder an Bryan denken. Ich habe eben das Krankenhaus angerufen, aber sie haben noch keine Neuigkeiten. Ich hoffe nur, dass er tot ist.«

»Ich weiß, was du meinst.«

Ich trug das Telefon zum Sofa hinüber und streckte mich lang aus. Gerade jetzt wurde ich müde. Vielleicht war es auch nur die Erleichterung, mit jemand Nettem reden zu können. Ich trank den Kaffee aus, wobei ich etwas Kaffeesatz in den Mund bekam, den ich während des übrigen Gespräches von meiner Zunge zu pflücken versuchte.

»Ich rufe an, weil ich etwas herausgefunden habe«, sagte Jane.

»Hat es etwas mit Bryan zu tun?«

»Nicht ganz. Aber etwas, das mit Seymour Wallis’ Haus zu tun hat. Du kennst doch diese ganzen Zeichnungen vom Mount Taylor und Cabezon Peak?«

»Sicher. Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht.«

»Also, ich habe darüber in den Büchern im Laden nachgeschlagen. Mount Taylor liegt in den San Mateo Mountains, Höhe knapp 3500 Meter, und Cabezon Peak liegt im Nordosten im San Doval County, Höhe etwas über 2500 Meter.«

Ich spuckte Kaffeesatz. »Das liegt in New Mexico, richtig?«

»Das stimmt. Echtes Indianergebiet. Und es gibt Dutzende von Legenden über diese beiden Berge, meistens Navaho-Geschichten über Big Monster.«

»Big Monster? Wer zum Teufel ist Big Monster?«

»Big Monster war ein Riese, der über etliche Jahrhunderte den Südwesten terrorisiert haben soll. Er hauste auf dem Mount Taylor. Er hatte ein blau-schwarz gestreiftes Gesicht und trug eine Rüstung aus Feuersteinen – sie war mit den Eingeweiden der Leute und Tiere zusammengewebt, die er niedergemetzelt hatte.«

»Das klingt aber nicht gerade friedfertig.«

»Das war er auch nicht. Er war einer der wildesten Riesen aller Legenden und aller Kulturen. Ich habe ein Buch aus dem 18. Jahrhundert vor mir liegen. Darin steht, dass er alle menschenvernichtenden Dämonen unter sich vereinte und dass ihn kein Sterblicher vernichten konnte. Er wurde jedoch von zwei tapferen Göttern erschlagen, die man die Zwillinge nannte. Sie lenkten seine Pfeile mit einem Regenbogen ab und enthaupteten ihn dann mit einem Blitzschlag. Seinen Kopf warfen sie nach Nordosten, und daraus entstand dann der Cabezon Peak.«

Ich räusperte mich. »Das ist eine sehr nette Geschichte. Doch was hat sie mit Seymour Wallis’ Haus zu tun? Abgesehen natürlich von all den Zeichnungen vom Mount Taylor und Cabezon Peak.«

»Tja, ich bin mir da nicht ganz sicher«, sagte Jane. »Aber hier wird eine Anspielung gemacht auf den Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte. Das verstehe ich nicht so ganz. Wer oder was auch immer derjenige war, der als Erster Worte zur Gewalt benutzte, er war anscheinend mächtig genug, um Big Monsters goldenes Haar abzuschneiden und ihn dadurch zum Gespött zu machen … Und da ist noch etwas. Der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, war ewig und unsterblich, und sein Motto gegenüber allen Göttern und Menschen, die ihn vernichten wollten, war ein Navaho-Spruch, den ich nicht aussprechen kann, der aber etwa so viel bedeutet wie »Zurückkommen auf dem Pfad der vielen Teile.«

»Jane, Schatz, das ergibt alles aber wenig Sinn.«

»John, Liebling, es gibt noch ein anderes Wort für ›zurückkommen‹! Falls du es vergessen hast: ›Rückkehr‹.«

Ich schwang meine Beine vom Sofa und setzte mich gerade hin. »Jane, du klammerst dich an völlig unwahrscheinliche Strohhalme. Ich gebe zu, ich weiß nicht, warum Seymour Wallis diese ganzen Bilder vom Mount Taylor und Cabezon Peak in seinem Haus hängen hat. Ich vermute, sie hingen schon da, als er einzog. Aber du kannst jeden Berg im ganzen Südwesten nehmen und du findest eine Indianerlegende, die über ihn berichtet. Da ist nichts dran, wirklich. Ich meine, wir haben es vielleicht mit einer übernatürlichen Kraft zu tun. Irgendeine unerkannte Macht, die sich bisher im Verborgenen hielt und sich jetzt plötzlich als kinetische Kraft offenbart. Aber mit Navaho-Monstern hat das nichts zu tun. Ich bin überzeugt, so etwas gibt es nicht.«

Jane war nicht beleidigt. »Ich glaube, dass wir dem doch noch etwas nachgehen sollten. Bei dir besteht nur das Problem, dass du zu rational bist.«

»Rational? Ich arbeite für das Gesundheitsamt und du hältst mich für zu rational?«

»Ja, das tue ich. John Hyatt, der vernünftige Staatsbürger – du bist so nüchtern, dass man sogar eine Hotelkette nach dir benannt hat.«

Ich musste lachen. »Hör mal, tu mir bitte einen Gefallen. Rufe für mich im Büro an. Sprich mit Douglas P. Sharp und sage ihm, ich wäre krank. Ich will heute Morgen gern ins Elmwood-Krankenhaus gehen, um mit Dr. Jarvis zu sprechen.«

»Sollen wir uns zum Mittagessen treffen?«

»Warum nicht? Ich komme zum Buchladen und hole dich ab.«

»Rufst du mich an, wenn du weißt, wie es Bryan geht? Ich wäre dir dankbar.«

»Na klar.«

Ich legte den Hörer auf. Eine Weile dachte ich über das nach, was Jane mir gesagt hatte, aber dann schüttelte ich den Kopf und lächelte. Sie liebte Geister, Zauberei und Monster. Sie hatte mich einmal mitgezerrt, um die ganzen alten, originalen Horrorfilme wie Dracula mit Bela Lugosi und Frankenstein mit Boris Karloff anzusehen. Irgendwie war der Gedanke, dass Jane an Geister und Monster im Haus 1551 Pilarcitos glaubte, sehr beruhigend. Das weckte den gutherzigen männlich-väterlichen Chauvinisten in mir. Vielleicht hatte ich sie allein aus diesem Grunde mit dorthin genommen. Wenn Jane an so etwas glaubte, dann konnte es nicht wahr sein.

Das Telefon läutete wieder, als ich mich gerade rasierte. Mit schaumbedecktem Kinn nahm ich den Hörer ab, wie der Weihnachtsmann, der eine Bestellung für das Spielzeug des nächsten Winters entgegennimmt.

»John? Ich bin’s, James Jarvis. Sie wollten zurückgerufen werden.«

»Oh, hallo. Ich wollte nur wissen, wie es Bryan Corder geht.«

Einen Moment blieb es still. »Sein Herz schlägt noch immer.«

»Glauben Sie nicht, dass er weiterleben kann?«

»Das ist schwer zu sagen. Ich wünsche es ihm besser nicht. Auf keinen Fall könnte er wieder in die Welt hinausgehen. Er müsste den Rest seines Lebens unter einem keimfreien Sauerstoffzelt liegen. Das gesamte Gehirn liegt frei, und jede Infektion würde ihn umgehend töten.«

Mit dem Handrücken wischte ich mir den Schaum vom Mund. »Können Sie nicht den Stecker herausziehen und ihn einfach sterben lassen? Ich glaube, dass ich Bryan gut genug kenne, um zu sagen, dass er so nicht weiterleben möchte.«

»Nun«, sagte Dr. Jarvis, »das haben wir.«

»Sie haben was?«

»Wir haben die Systeme zur Lebenserhaltung entfernt. Er bekommt kein Plasma, kein Blut, keine intravenöse Ernährung oder Beruhigung, kein Adrenalin, keinen elektronischen Herzschrittmacher, nichts mehr. Medizinisch müsste er schon seit Stunden tot sein.«

Er schwieg wieder und ich hörte jemanden sein Büro betreten und etwas Unverständliches sagen. Dann meinte Dr. Jarvis: »Das Problem ist, John, dass sein Herz noch immer schlägt und nicht aufhört. Wie schwer seine Verletzungen auch immer sind, ich kann seinen Tod nicht bestätigen, bevor er nicht tot ist.«

»Wie ist es mit Euthanasie?«

»Das ist ungesetzlich. Und so schwer Bryans Verletzungen auch sind, ich kann es nicht tun. Ich nehme schon genug Risiko auf mich, indem ich ihn von den Lebenserhaltungsgeräten trenne. Das kann mich meine Lizenz kosten.«

»Hat seine Frau Moira ihn gesehen?«

»Sie weiß, dass er einen Unfall hatte, mehr nicht. Wir tun natürlich alles, um sie fernzuhalten.«

»Was ist mit Dan Machin? Irgendeine Besserung?«

»Er liegt immer noch im Koma. Aber warum kommen Sie nicht her und sehen sich das selbst an? Ich könnte etwas moralische Unterstützung gebrauchen. Ich konnte hier mit niemandem über die vergangene Nacht reden. Die sind alle so verdammt vernünftig, sie würden doch glauben, dass ich zu einer Sekte oder so was gehöre.«

»Okay. Geben Sie mir eine halbe Stunde.«

Ich rasierte mich, zog mir meine ausgewaschenen Jeans und ein rotes Hemd an, dann bespritzte ich mich mit etwas Rasierwasser. Es ist erstaunlich, was ein Kleiderwechsel für die geistige Verfassung bedeuten kann. Ich machte noch mein Bett, spülte das Kaffeegeschirr, warf Dolly Partons Bild, das in meiner kleinen Diele hing, einen Kuss zu und ging hinunter auf die Straße.

Es war einer von diesen strahlenden Morgen, an denen man die Augen weit aufreißt, um mehr zu sehen. Der blaue Himmel und die vereinzelten weißen Wolken stärkten in mir ganz deutlich die Gewissheit, dass das Leben auch ganz normal sein kann und dass der Unfall in der letzten Nacht nur eine abseitige, bittere Laune der Natur gewesen war.

Ich ging bis zur Straßenecke und winkte mir ein Taxi. Ich hatte früher mal selbst ein Auto besessen, aber all die anfallenden Kosten vom Gehalt eines Angestellten bei der Gesundheitsbehörde bezahlen zu wollen, war wie der Versuch, einen verstopften Kanal mit einer Zahnbürste zu reinigen. Am Ende hatte das Inkassoinstitut einen Mitarbeiter gesandt, der an einem dunstigen Morgen erschien und mit meinem metallicblauen Monte Carlo im Nebeltreiben verschwand. Erst als er fort war, stellte ich fest, dass ich meine Evel-Knievel-Sonnenbrille im Handschuhfach vergessen hatte.

Als wir die Fulton Street hinauf zum Krankenhaus fuhren, einem der höchsten Teak-und Betongebäude mit Sicht auf den Ozean, sagte der Taxifahrer: »Schauen Sie mal die verdammten Vögel da. Haben Sie so etwas schon jemals gesehen?«

Ich sah von meiner Ausgabe des Examiner auf – ich hatte nach irgendeiner Meldung über den Unfall von Bryan Corder gesucht. Wir fuhren gerade zwischen sauber geschnittenen Hecken in den weiten Vorhof des Krankenhauses ein und zu meiner Verwunderung und Beunruhigung wimmelte es auf den Dächern der Gebäude von grauen Vögeln. Es war nicht nur so ein Vogelschwarm, der sich kurz niedergelassen hatte, da saßen Tausende von ihnen. Überall auf der Silhouette des Hauptgebäudes und jedem Nebentrakt, auf der Klinik und den Garagen.

»Das nenne ich sonderbar«, sagte der Taxifahrer, während er den Wagen durch den Vorhof fuhr und am Haupteingang hielt. »Sonderbar mit einem Ausrufezeichen.«

Ich stieg aus dem Wagen und blieb einen Augenblick stehen, um die flatternden grauen Massen zu betrachten. Diese Art Vögel kannte ich nicht. Sie waren groß wie Tauben, aber grau wie gewitterschwerer Himmel, grau wie die stürmische See. Was aber noch schlimmer war: Sie waren ganz still. Sie zwitscherten nicht, sangen nicht. Sie saßen auf dem Dach des Krankenhauses, die warme Brise des Pazifiks spielte mit ihrem dunklen Gefieder, geduldig und lautlos wie Vögel auf einem Grabstein aus Granit.

»Haben Sie den Hitchcock-Film gesehen?«, fragte der Taxifahrer. »Den, wo die Vögel verrückt werden?«

Ich hustete. »Daran musste ich jetzt nicht erinnert werden, danke.«

»Tja, vielleicht ist es das«, sagte der Taxifahrer. »Vielleicht starten die Vögel von hier. Stellen Sie sich das vor.«

Ich bezahlte den Mann und ging durch die automatischen Türen in den kühlen Bereich des Krankenhauses. Alles hier drinnen war sehr geschmackvoll ausgestattet – italienische Holzpaneele auf dem Boden, Gemälde von David Hockney, Palmenbäume und leise Musik. Ins Elmwood Foundation Hospital kam niemand, dessen Krankenversicherung nicht einen ziemlich hohen Beitrag kostete.

Am Empfang saß ein dralles Mädchen in einem engen weißen Kleid. Sie hatte dichtes schwarzes Haar, auf dem die Schwesternhaube wie ein sauber gelegtes Ei thronte.

»Hi«, sagte sie. »Ich bin Karen.«

»Hi, Karen, ich heiße John. Was haben Sie heute Abend vor?«

Sie lächelte. »Heute ist Mittwoch. Mein Abend zum Haarewaschen.«

Ich schaute auf ihre zu einem Bienenkorb hochgesteckten Haare. »Sie meinen, Sie waschen das Ding da? Ich dachte, so etwas würde einfach nur immer wieder frisch lackiert.«

Jetzt war sie beleidigt und drückte einen Knopf, um Dr. Jarvis zu rufen. »Einige von uns achten noch auf gutes Benehmen«, meinte sie sauer.

Etwas verlegen und stumm stand ich da, bis kurz darauf Dr. Jarvis erschien. Er kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu.

»John! Ich bin froh, dass Sie da sind!«

Ich schaute in Richtung der dunkelhaarigen Schwester. »Ich bin ebenso froh …«

Dr. Jarvis führte mich zum Aufzug und wir fuhren zum fünften Stock hinauf. Leise Musik plätscherte beruhigend aus den Lautsprechern: Moon River.

Wir landeten auf einem sauberen Flur, der von trüben Deckenlampen erhellt wurde und an dessen Wänden mittelmäßige Lithografien der Gegend von Mill Valley und Sausalito hingen. Dr. Jarvis ging auf zwei breite Mahagoni-Flügeltüren zu und drückte sie auf. Ich folgte willig und stand dann in einem Beobachtungsraum mit einer durchgehenden Glaswand, die den Blick in die trüben, bläulich erleuchteten Tiefen einer Intensivstation freigab.

Dr. Jarvis meinte: »Treten Sie ruhig näher heran«, also ging ich über den gefliesten Boden und schaute durch das Glas.

Bryans Anblick in diesem bläulichen Raum, wo er mit seinem blanken Schädel auf einem Kopfkissen lag, den voll erhaltenen Körper in einem grünen OP-Kittel, war grausam und furchterregend. Obwohl ich ihn schon zuvor gesehen und den Schock erlebt hatte, als ich versuchte, ihn aus dem Kamin zu ziehen, war dieser Anblick des grinsenden Skelettes zu viel für mich. Noch schlimmer war jedoch der elektrische Bildschirm neben seinem Bett, denn der zeigte, dass sein Herz langsam, aber regelmäßig schlug – kleine wandernde Lichtpunkte, die bedeuteten: »Ich lebe noch immer.«

»Ich glaube es nicht«, flüsterte ich. »Ich kann es mit meinen eigenen Augen sehen, aber ich glaube es einfach nicht.«

Dr. Jarvis kam näher und stellte sich neben mich. Er war sehr blass und die dunklen Ringe unter seinen Augen ließen seine Müdigkeit erkennen. »Ich auch nicht. Aber es passiert wirklich. Sein Herzschlag ist sehr langsam, aber regelmäßig und stark. Falls wir ihn jetzt töten würden, so bestünde kein Zweifel daran, dass wir tatsächlich einen Mord begingen.«

Ein junger Assistenzarzt, der neben uns stand, meinte: »Er kann das nicht mehr viel länger durchhalten, Sir. Er ist wirklich krank.«

Dr. Jarvis zuckte die Achseln: »Er ist nicht nur krank, Perring. Er ist tot. Oder zumindest müsste er es sein.«

Ich starrte vier oder fünf Minuten lang auf Bryans hellen, glänzenden Kopf. Die leeren Augenhöhlen sahen aus wie finstere, höhnische Augen, und die Wangen waren zu einem knochigen Grinsen entblößt. Dr. Jarvis neben mir sagte nichts, aber ich sah aus den Augenwinkeln seine Hände, die während der ganzen Zeit nervös mit dem Kugelschreiber spielten.

In den Tiefen dieses bläulichen Zimmers pochte das Herz immer weiter und weiter, die Lichtsignale huschten beharrlich über den Kontrollbildschirm, hielten Bryan Corder lebendig in einer schrecklichen Hölle, die er niemals sehen oder verstehen würde.

»Ich habe eine Theorie. Möchten Sie sie hören?«, fragte Dr. Jarvis mit rauer Stimme.

Ich war glücklich, meine Augen von der durchsichtigen Glaswand zu lösen. »Klar. Reden Sie. Jane hat auch einige Theorien, aber ich muss Ihnen gestehen, dass sie reichlich seltsam sind.«

»Ich vermute, dass meine nicht weniger seltsam ist.«

Ich griff nach seinem Arm. »Gibt es hier die Möglichkeit, irgendwie an einen Drink zu kommen? Ich könnte wirklich einen gebrauchen.«

»Ich habe einen Kühlschrank in meinem Büro.«

Dankbar verließen wir den Beobachtungsraum und gingen den Flur entlang zu Dr. Jarvis’ Büro. Es war ziemlich eng, gerade genügend Raum für einen Schreibtisch, einen kleinen Kühlschrank und eine schmale Couch; der Blick aus dem Fenster war nur für jemanden eindrucksvoll, der gerne auf die Rückansichten von Gebäuden starrt. Abgesehen von einer billigen Schreibtischlampe, einem Stapel medizinischer Zeitschriften und einer Fotografie, die Dr. Jarvis auf einer altertümlichen Brücke mit einem sommersprossigen, jungen Mädchen zeigte, war der Raum schmucklos und kahl.

Dr. Jarvis zeigte auf das Foto: »Meine Tochter von meiner Ex-Frau, Gott segne sie.« Und mit einem verunglückten Grinsen fügte er hinzu: »Ich nenne den Raum den Besenschrank. Die besten Büros liegen alle auf der Westseite, mit Ausblick auf das Meer, aber man muss mindestens ein Jahrhundert hier arbeiten, um endlich eines davon zu erhalten.«

Aus der Schreibtischschublade nahm er eine Flasche Gin und aus dem Mini-Kühlschrank Tonic und Eiswürfel und mixte für uns beide einen Drink. Anschließend setzte er sich bequem hin und streckte die Füße auf seinem Schreibtisch aus. Einer seiner Schuhe hatte eine durchgelaufene Sohle.

»Jane meint, dass die Ereignisse in Wallis’ Haus etwas mit Indianer-Legenden zu tun haben«, sagte ich. »Mount Taylor soll demnach der Sitz eines riesigen Ungeheuers gewesen sein, Big Monster, und Cabezon Peak ist sein Kopf. Er wurde ihm von einem Blitz abgeschlagen.«

Dr. Jarvis zündete sich eine Zigarette an und bot mir auch eine an. Ich rauchte sehr wenig, aber jetzt hatte ich das Gefühl, die ganze Packung rauchen zu können. Es wurde mir jedes Mal übel, sobald ich an Bryan Corders leere Augenhöhlen dachte, die ins Nichts starrten.

»Tja, ich kenne mich mit Legenden nicht aus«, sagte Dr. Jarvis, »aber es scheint irgendeine Verbindung zwischen dem zu bestehen, was mit Machin geschah, und dem, was Corder passiert ist. Denken Sie einmal darüber nach. Beide wollten in dem Haus in 1551 Pilarcitos ein Geräusch erforschen und beide erzeugen heute das Geräusch, das sie gehört haben. Machin atmet wie das Atmen, das er in Seymour Wallis’ Büro gehört hat, und Corders Herz schlägt genauso wie das Schlagen, das er in Wallis’ Kamin gehört hat.«

Ich schlürfte an meinem Gin Tonic. »Und die Theorie lautet?«

Dr. Jarvis verzog das Gesicht. »Das ist sie. Das ist die ganze Theorie. Die Theorie besteht darin, dass der Einfluss oder die Macht, die dieses Haus beherrscht, sich nach und nach und Stück um Stück aus dem Hause stiehlt.«

»Ja, stimmt«, sagte ich lakonisch. »Und was folgt als Nächstes? Kommen jetzt Beine und Arme? Nasen und Ohren?«

Aber während ich diese Worte laut aussprach, dachte ich etwas ganz anderes. Ich erinnerte mich daran, was Jane mir vor nur ein oder zwei Stunden am Telefon gesagt hatte: Ein Navaho-Spruch, den ich nicht aussprechen kann, der aber etwa so viel bedeutet wie »zurückkommen auf dem Pfad der vielen Teile«.

Und auf dem Türklopfer stand: »Rückkehr.«

»Was ist los?«, fragte Dr. Jarvis. »Sie sehen ganz krank aus.«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich es. Aber irgendetwas, das Jane über diese Indianerlegende gesagt hat, passt zu dem, was Sie gerade sagten. Es gab da einen Dämon oder so etwas, der fähig war, Big Monster zu erledigen, obwohl Big Monster fast unzerstörbar durch Menschen oder Dämonen oder sonst jemanden war. Diesen Dämon nannte man den Ersten, der mit Worten Gewalt ausübte, oder so ähnlich.«

Dr. Jarvis trank seinen Gin Tonic aus und goss sich noch einen ein. »Ich sehe da keine Verbindung«, meinte er.

»Die Verbindung besteht darin, dass das Motto dieses Dämons ein indianisches Sprichwort war, das bedeutete: ›Zurückkommen auf dem Pfad der vielen Teile‹.«

Dr. Jarvis furchte die Stirn. »Und?«

»Und das ist es! Sie sagten, welche Macht auch immer von Wallis’ Haus Besitz ergriffen hätte, sie würde sich nach und nach und Stück um Stück herausschleichen – zuerst das Atmen und jetzt der Herzschlag!«

Dr. Jarvis sah mich lange und unbewegt an, er hob noch nicht einmal sein Glas vom Tisch.

Ich sagte fast verlegen: »Es ist ja nur ein Gedanke. Es schien mir einfach mehr als ein reiner Zufall.«

»Sie wollen also andeuten, dass diese Geräusche in Wallis’ Haus etwas mit einem Dämon zu tun haben, der allmählich von Leuten Besitz ergreift? Stückchenweise?«

»Ist das nicht das, was Sie andeuten wollten?«

Dr. Jarvis seufzte und rieb sich die Augen. »Ich weiß nicht genau, was ich eigentlich meine. Wir sollten vielleicht im Haus anrufen und Mr. Wallis fragen, ob der Herzschlag jetzt auch verschwunden ist.«

»Ja, eine gute Idee. Ich habe den ganzen Tag noch nichts von ihm gehört.«

»Er hinterließ eine Nachricht, dass er angerufen hat«, sagte Dr. Jarvis. »Er wollte sich wahrscheinlich nach Corder erkundigen.«

Dr. Jarvis fand die Nachricht auf seinem Block und wählte Wallis’ Nummer. Er ließ es klingeln, klingeln und klingeln. Schließlich legte er den Hörer auf: »Keine Antwort. Ich vermute, er war so klug und hat das Haus verlassen.«

Ich trank mein Glas aus. »Würden Sie denn dort bleiben? Also ich nicht. Aber ich werde heute am Nachmittag mal dort vorbeischauen. Ich werde mir den Tag freinehmen.«

»Wird San Francisco denn seinen begabtesten Beamten im Gesundheitsamt nicht vermissen?«

Ich drückte meine Zigarette aus. »Ich habe mir bereits Gedanken über einen Wechsel gemacht. Vielleicht gehe ich in die Medizin. Ich habe den Eindruck, dass man dort ein ziemlich idyllisches Leben verbringen kann.«

Er lachte.

Ich trank noch etwas. »Haben Sie die Vögel gesehen?«

»Vögel? Was für Vögel? Ich habe die ganze Nacht bei Corder gewacht.«

»Ich bin überrascht, dass es Ihnen noch niemand erzählt hat. Ihr gesamtes verfluchtes Krankenhaus sieht aus wie ein Vogelschutzgebiet.«

Dr. Jarvis hob eine Augenbraue. »Was denn für Vögel?«

»Keine Ahnung – ich bin kein Ornithologe. Sie sind ziemlich groß und grau. Sie sollten mal rausgehen und sich das ansehen. Machen einen ziemlich düsteren Eindruck. Wäre ich weniger feinfühlig, dann würde ich sagen, es sind Geier, die darauf warten, dass Elmwoods reiche und unglückselige Patienten sterben.«

»Sind es viele?«

»Tausende. Zählen Sie sie mal.«

In diesem Augenblick klingelte Dr. Jarvis’ Telefon. Er nahm den Hörer ab und sagte: »Jarvis.«

Er hörte einen Moment zu und erwiderte dann: »Okay. Ich komme sofort.« Dann knallte er den Hörer hin.

»Stimmt was nicht?«, fragte ich.

»Es geht um Corder. Ich weiß wirklich nicht, wie zur Hölle er es geschafft hat, aber Dr. Crane sagt, dass er versucht haben soll, sich hinzusetzen.«

»Hinzusetzen? Machen Sie doch keine Scherze! Der Mann ist doch so gut wie tot!«

Wir ließen die Drinks stehen und liefen eilig durch den Flur zurück zum Beobachtungsraum. Dr. Crane war dort zusammen mit dem bärtigen Pathologen Dr. Nightingale und einer gut gebauten schwarzen Dame, die mir als Dr. Weston vorgestellt wurde, Spezialistin für Gehirnschäden. Obwohl sie so gut gebaut war, sprach und benahm sie sich wirklich wie ein Spezialist für Gehirnschäden, und mein Interesse schwand dahin. Eines Tages würde sie sicher einen gut aussehenden Neurologen treffen und heiraten.

Was mich erstarren ließ, war das Geschehen hinter der Glasscheibe in den blauen Tiefen der Intensivstation. Ich hatte dasselbe atemlose Empfinden wie jemand, der in ein Schwimmbecken steigt, das zehn Grad zu kalt ist.

Bryan Corder hatte seinen Kopf von uns fortgedreht; wir sahen nur noch den Hinterschädel und die frei liegenden Muskelstränge seines Nackens, rot und sehnig und überzogen von Adern. Doch er bewegte sich, er bewegte sich wirklich – streckte ständig seinen Arm nach vorne, als wolle er nach etwas greifen oder etwas zurückstoßen, und unter dem Bettlaken zuckten seine Beine.

Dr. Jarvis sagte: »Mein Gott, können wir ihn nicht ruhigstellen?«

Dr. Crane, ein bebrillter Facharzt mit einem Kopf, der im Verhältnis zu seinem Körper zwei Nummern zu groß erschien, sagte: »Wir haben schon Beruhigungsmittel verabreicht. Es scheint aber keine Wirkung zu haben.«

»Dann müssen wir ihn aufs Bett schnallen. Wir können ihn nicht umherirren lassen. Es ist doch grotesk!«

Dr. Weston, die schwarze Dame, unterbrach ihn: »Es mag vielleicht grotesk sein, Dr. Jarvis, aber es ist ein einmaliger Vorgang. Vielleicht sollten wir ihn ganz einfach tun lassen, was er möchte. Er wird auf jeden Fall nicht überleben.«

»Um Himmels willen!«, fluchte Dr. Jarvis. »Das ist einfach unmenschlich!«

Wie unmenschlich es wirklich war, das begriff von uns zunächst keiner – bis Bryan sich plötzlich auf einen Ellbogen aufstützte und langsam aus dem Bett schob.

Dr. Jarvis starrte auf die steife Gestalt in dem grünen OP-Kittel mit dem grauenhaften Knochenschädel auf ihren Schultern. Sie stand da allein und hilflos in einem Licht, blau wie ein Blitz, blau wie der Tod.

Dann schrie er seinem Assistenzarzt zu: »Er muss zurück ins Bett! Los, helft mir!«

Der Assistent blieb blass und zu Tode erschrocken stehen, aber Dr. Jarvis drückte die Tür zwischen dem Beobachtungsraum und der Intensivstation auf und ich folgte ihm.

Es roch fremd, seltsam kalt hier drinnen. Es war wie eine Mischung aus Äthylalkohol und etwas Süßem. Bryan Corder – der Rest von Bryan – stand nur vier oder fünf Schritte von uns entfernt, ruhig und unbeweglich, sein Schädel vom gierigen Tod blank gefressen.

»John«, sagte Dr. Jarvis ruhig.

»Ja?«

»Ich möchte, dass Sie seinen linken Arm nehmen und ihn zurück an das Bett führen. Zwingen Sie ihn, rückwärtszugehen. Wenn er das Bett erreicht, können wir ihn zurückdrücken, damit er sich setzt. Dann brauchen wir nur noch seine Beine aufs Bett zu legen, damit er wieder liegt. Sehen Sie die Gurte unter dem Bett? Sobald wir ihn hingelegt haben, werden wir ihn festbinden. Haben Sie mich verstanden?«

»Klar.«

»Haben Sie Angst?«

»Darauf können Sie sonst was wetten.«

Dr. Jarvis leckte sich nervös über die Lippen. »Okay, John, also los!«

Bryans Herzschlag, der in ständigen Lichtpunkten durch die Drähte auf seiner Brust auf den Monitor übertragen wurde, hatte immer noch den langsamen Rhythmus von 24 Schlägen in der Minute. Aber mein Herzschlag verlangsamte sich sicher noch mehr. Mein Mund war trocken vor Angst, meine Beine wurden zu den weichen Beinen von jemandem, der durch Wasser läuft.

Dr. Jarvis und ich näherten uns Bryan, die Hände erhoben, die Augen auf den fleischlosen Schädel gerichtet. Irgendwie spürte ich, dass Bryan noch sehen konnte, obwohl seine Augenhöhlen leer waren. Er schob seine Füße einen Schritt auf uns zu und die rohen Muskeln seines Kiefers begannen sich zu bewegen.

»Mein Gott«, flüsterte Dr. Jarvis, »er versucht etwas zu sagen!«

Einen Augenblick lang glaubte ich, dass ich nicht die Nerven besaß, Bryans Arm zu fassen und ihn zurück zum Bett zu drängen. Angenommen, er würde sich wehren? Angenommen, ich müsste diesen nackten, lebenden Schädel anfassen? Aber dann rief Dr. Jarvis: »Jetzt!« und ich ging unsicher und schwerfällig vorwärts, mein Herz in der Hose. Ich glaube, dass ich sogar laut aufgeschrien habe. Ich schäme mich dessen nicht.

Bryan fiel uns in die Arme. Anstatt ihn zurückzuzwingen, mussten wir ihn ziehen und hoben ihn wie einen Mehlsack auf das Bett zurück. Dr. Jarvis hielt Bryans Hinterschädel, um jede Verletzung zu vermeiden. So legten wir ihn vorsichtig nieder, die Arme an den Körper gelegt, und banden ihn mit den elastischen Gurten fest. Anschließend standen wir da, schauten uns über den lang gestreckten Körper an und grinsten in unterdrückter Furcht.

Dr. Jarvis überprüfte Bryans Herzschlag und seine Lebenszeichen – sie waren immer noch unverändert. 24 Schläge in der Minute, weiterhin kräftig. Atmung langsam, aber regelmäßig. Ich atmete tief durch und wischte mir mit dem Handrücken über die Stirn. Ich schwitzte und zitterte, ich vermochte kaum zu sprechen.

Dr. Jarvis krächzte: »Das übertrifft alles. Dieser Mann muss tot sein. Jeder Lehrsatz der Medizin bestätigt, dass er tot ist. Aber er lebt und atmet und er läuft sogar herum.«

In diesem Augenblick trat Dr. Weston ein. Sie schaute auf Bryan Corder und sagte: »Vielleicht ist es ein Wunder.«

»Ja, vielleicht ist es eines«, entgegnete Dr. Jarvis. »Aber vielleicht ist es auch ein verdammt übler Trick Schwarzer Magie.«

»Schwarze Magie, Dr. Jarvis?«, sagte Dr. Weston. »Ich hätte nicht geglaubt, dass ihr Weiße an so etwas glaubt.«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, brummte er. »Die ganze Sache ist total irre.«

»Irre oder nicht, ich muss meine Untersuchung fortführen«, sagte sie. »Danke, dass Sie ihn so gut festgemacht haben. Und Ihnen auch vielen Dank, Mr. Hyatt.«

Ich hustete: »Ich kann nicht sagen, dass es mir ein Vergnügen war.«

Wir verließen Dr. Weston und ihre Assistenten, damit sie ihre Gehirntests an Bryans entfleischtem Schädel machen konnten, und gingen in den Flur. Dr. Jarvis stand lange an einem der Fenster und starrte über den Parkplatz des Krankenhauses. Dann griff er in die Tasche seines weißen Arztkittels und zog eine Schachtel Zigaretten heraus.

Ich stand etwas abseits, beobachtete ihn und schwieg. Ich nahm an, dass er jetzt lieber allein sein wollte. Er wurde plötzlich mit etwas konfrontiert, das seine grundlegenden Überzeugungen über die Medizin völlig umkrempelte, und jetzt versuchte er den bizarren Schrecken zu begreifen, der sich nur mit abergläubischen Auffassungen erklären ließ.

Er zündete sich eine Zigarette an. »Sie hatten recht mit den Vögeln.«

»Sind sie immer noch da?«

»Tausende davon, überall auf dem Dach.«

Ich trat zum Fenster und schaute hinaus. Da saßen sie, aufrecht, ihre Federn fächelten wild im Wind des Pazifiks.

»Sie sind wie so eine Art verfluchtes Omen«, meinte er. »Was ist los mit ihnen? Sie zwitschern ja nicht einmal.«

»Sie sehen aus, als ob sie auf etwas warten. Ich hoffe nur, dass es nichts Unheilvolleres als ein Paket Vogelfutter ist.«

»Wir sollten uns Machin noch mal anschauen. Ich könnte jetzt etwas Entspannung gebrauchen«, schlug Dr. Jarvis vor.

»Sie nennen das, was Dan passiert ist, entspannend?«

Er zog noch einmal tief an seiner Zigarette und drückte sie dann zwischen Finger und Daumen aus. »Nach dem, was hier gerade eben passiert ist, wäre sogar eine Beerdigung eine Entspannung.«

Wir gingen den Flur entlang bis zu Dans Zimmer. Dr. Jarvis schaute durch das kleine runde Fenster in der Tür und öffnete sie dann.

Dan lag immer noch bewusstlos da. Eine Schwester saß neben seinem Bett – sein Puls, seine Atmung und sein Blutdruck wurden genau überwacht. Dr. Jarvis ging hinüber und untersuchte ihn, hob seine Augenlider, um zu sehen, ob irgendeine Reaktion erfolgte. Dans Gesicht war unnatürlich weiß und er atmete noch immer in diesem tiefen, traumlosen Rhythmus, der auch das Atmen in Seymour Wallis’ Haus charakterisiert hatte.

Während Dr. Jarvis Dans Körpertemperatur überprüfte, sagte ich: »Angenommen …«

»Angenommen, was?«, meinte er zerstreut.

Ich trat näher an Dans Bett heran. Der junge Mann aus Mittelamerika war so ruhig und bleich, dass er wie tot wirkte, abgesehen von diesem hohlen, regelmäßigen Atmen.

»Angenommen, Bryan hat versucht hierherzukommen, um Dan zu besuchen.«

Dr. Jarvis schaute auf: »Warum sollte er das beabsichtigen?«

»Na ja, jeder von ihnen ist Träger der Geräusche, die in Seymour Wallis’ Haus gespukt haben. Vielleicht haben die beiden genügend Gemeinsames, dass sie sich zusammentun möchten. Wissen Sie, dieses ganze indianische Zeug, von dem Jane gesprochen hat, über das Zurückkommen auf dem Pfad der vielen Teile, vielleicht bedeutet das eine Art Wiedergeburt über mehrere verteilt.«

»Ich verstehe nicht.«

»Es ist ganz einfach. Wenn diese Kraft oder dieser Einfluss oder was immer in Seymour Wallis’ Haus herumspukt, völlig auseinandergerissen war, ja, also das Atmen an einem Ort und der Herzschlag an einem anderen, dann versuchen sie vielleicht, wieder zusammenzukommen.«

»John, Sie drehen durch.«

»Sie haben Bryan ohne Kopfhaut herumgehen sehen, und Sie wollen mir sagen, dass ich spinne?«

Dr. Jarvis notierte Dans Temperatur auf seinem Block, dann richtete er sich gerade auf. »Es gibt keinen Grund, nach widersinnigen Antworten zu suchen. Was immer auch vor sich geht, es muss eine einleuchtende Erklärung dafür geben.«

»Und wie soll die aussehen? Ein Mann wird verrückt und ein anderer verliert die Haut auf seinem Kopf, und wir sollen dafür eine logische Erklärung finden? James, hier geht etwas nach einem Plan und mit einer Absicht vor. Jemand will, dass das alles passiert. Es steckt eine Absicht dahinter.«

»Dafür gibt es keinen Beweis. Außerdem wäre es mir lieber, wenn du mich Jim nennst.«

Ich seufzte: »In Ordnung, wenn du es nüchtern, logisch und medizinisch sehen willst, dann mache ich dir keinen Vorwurf. Aber ich habe das Gefühl, jetzt mit Jane und Seymour Wallis reden zu müssen. Jane hat eine Theorie, die man sich mal genau anhören sollte, und ich wette zwei Flaschen Whisky darauf, dass Seymour Wallis mehr weiß, als er uns gesagt hat.«

»Ich mag keinen Whisky.«

»Das ist ja okay.«

Ich nahm mir ein Taxi und fuhr direkt zum Buchladen. Es war inzwischen zwölf Uhr. Als wir von dem Krankenhaus fortfuhren, konnte ich mir einen Blick zurück auf die Vögel nicht verkneifen. Aus der Entfernung wirkten sie wie eine graue, schuppige Verkrustung, als ob das Gebäude selbst an einer ungesunden Hauterkrankung leiden würde. Ich fragte den Taxifahrer, ob er wüsste, was für eine Vogelgattung das sei, aber er wusste nicht einmal etwas mit dem Begriff ›Gattung‹ anzufangen.

Überraschenderweise war Jane nicht da, als ich den dunkelrot gestrichenen Laden auf der Brannan Street betrat. Ihr junger, bärtiger Kollege erklärte: »Ich weiß auch nicht, Mann. Sie sprang einfach auf und ging, vor ungefähr einer halben Stunde. Sie hat noch nicht mal Tschüss gesagt.«

»Wissen Sie nicht, wohin sie gegangen ist? Ich war zum Mittagessen mit ihr verabredet.«

»Sie hat kein Wort gesagt, Mann. Aber sie ist da lang gelaufen.« Er deutete auf den Embarcadero, die Küstenstraße.

Ich ging wieder hinaus. Ein Muster aus Sonnenstrahlen fiel auf den Bürgersteig und ich wurde von der Menge hin und her geschubst, die zu ihrem Mittagessen eilte. Ich schaute mich um, konnte Jane jedoch nirgendwo entdecken. Selbst wenn ich den Embarcadero entlanglief, würde ich sie wahrscheinlich verfehlen. Also ging ich zum Buchladen zurück und sagte dem Jungen, dass Jane mich zu Hause anrufen solle. Dann winkte ich mir wieder ein Taxi herbei und bat den Fahrer, mich zur Pilarcitos Street zu fahren.

Ich war etwas verstimmt, aber auch besorgt. So wie die Dinge in den letzten Tagen gelaufen waren, durch die Dan Machin und Bryan Corder im Krankenhaus lagen, wollte ich besser zu niemandem den Kontakt verlieren. Ich vermochte das unbestimmte Gefühl nicht loszuwerden, dass alles, was geschah, nach einem Plan ablief – als hätte Dan nach 1551 Pilarcitos gehen müssen, und auch, als sei Bryan wohlüberlegt dorthin geführt worden. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn mir etwas ähnlich Schreckliches zugestoßen wäre.

Das Taxi stoppte vor dem Haus und ich bezahlte den Fahrer. Im Sonnenlicht sah das Gebäude schäbig und so grau wie die Vögel auf dem Krankenhausdach aus. Ich öffnete das schmiedeeiserne Törchen und stieg die Stufen hoch. Der Türklopfer grinste mich wölfisch an, aber heute, im hellen Mittagslicht, spielte er mir keinen bösen Streich. Er bestand aus schwerer Bronze, mehr nicht.

Ich klopfte dreimal ziemlich laut. Dann wartete ich und pfiff Moon River. Ich hasste den Song, aber jetzt ging er mir nicht mehr aus dem Kopf.

Ich klopfte noch einmal, aber auch jetzt antwortete niemand. Vielleicht war Seymour Wallis spazieren gegangen. Ich wartete einige Minuten, knallte den Klopfer ein letztes Mal auf die Tür und drehte mich um, um zu gehen.

Doch als ich gerade die Stufen hinuntergehen wollte, hörte ich ein quietschendes Geräusch. Ich schaute zurück: Die Haustür hatte sich ein klein wenig geöffnet. Mein letztes Klopfen musste sie aufgedrückt haben. Sie war offensichtlich weder verschlossen noch hatte man die Kette vorgelegt. Wenn man bedachte, wie viele Riegel, Ketten und Sicherheitsschlösser Wallis an dieser Tür angebracht hatte, dann entsprach es absolut nicht seiner Art, sie völlig unverschlossen zu lassen.

Ich starrte auf die Tür und fragte mich: Was stimmt hier nicht? Aus irgendeinem Grund, den ich nicht erklären kann, lief mir ein Schauder über den Rücken und ich spürte Angst in mir aufsteigen. Aber noch schlimmer war, dass ich genau wusste, dass ich die Tür nicht einfach offen stehen lassen und fortgehen konnte. Ich musste in dieses Haus gehen – das alte Haus, das atmete und in dem Herzschläge zu hören waren – und feststellen, was da vor sich ging.

Langsam stieg ich die Stufen wieder hinauf. Fast eine Minute stand ich vor der halb offenen Tür und versuchte, in dem Stück Dunkelheit, das ich sehen konnte, Schatten und Formen zu erkennen. Der Türklopfer blickte jetzt an mir vorbei, die Straße hinauf, aber sein Lächeln war genauso hochmütig und feindselig wie bisher.

Ich schaute auf den Klopfer und sagte: »Okay, Klugscheißer. Welche scheußlichen Fallen hast du dir diesmal wieder einfallen lassen?«

Der Türklopfer grinste und erwiderte nichts. Ich hatte das auch nicht wirklich erwartet – ich glaube, ich wäre wahnsinnig geworden, hätte er sich gerührt. Doch irgendwie war es schon eine unheimliche Situation, zu erkennen, ob ein Spuk ein Spuk ist und nicht nur ein ordinärer Türklopfer oder ein Schatten oder ein Hutständer …

Ich streckte die Arme aus und stieß die Tür etwas weiter auf, wie ein Mann, der sich über eine abgrundtiefe Grube beugt. Sie erzitterte und knarrte etwas stärker. Drinnen in der Diele hingen Staub und Dunkelheit, auch der modrige Geruch war immer noch stark zu riechen.

Ich schluckte tief, trat ein und rief: »Mr. Wallis? Seymour Wallis?«

Es kam keine Antwort. Sobald ich die Diele betreten hatte, wurden die Geräusche von der Straße dumpfer und schwächer. Ich stand da und hörte nur noch mein eigenes heftiges Atmen.

»Mr. Wallis?«, rief ich noch einmal.

Ich ging zur Treppe. Die Bärenfrau stand noch immer mit geschlossenen Augen auf dem Pfosten des Treppengeländers. Ich blinzelte hoch in die Dunkelheit des ersten Stockes, konnte aber absolut nichts erkennen. Um ganz ehrlich zu sein, ich war auch absolut nicht geneigt hinaufzugehen. Ich beschloss, einen Blick in Seymour Wallis’ Büro zu werfen, und sollte er nicht zu Hause sein, dann würde ich schleunigst von hier verschwinden.

So leise wie möglich ging ich auf Zehenspitzen über den verschlissenen Teppich zu der Tür unter dem verstaubten Hirschkopf. Das Büro war verschlossen, aber der Schlüssel steckte im Schloss. Langsam drehte ich ihn um und hörte das laute Schnappen des Schließmechanismus in der undurchdringbaren Stille der toten Luft, die das Haus scheinbar seit all den Jahren, in denen es hier stand, ausfüllte.

Ich legte meine Hand um den Messingknopf der Tür und drehte ihn. Die Bürotür öffnete sich. Drinnen war es finster, denn die Vorhänge waren noch vorgezogen. Ich griff neben den Türrahmen, um den Lichtschalter zu finden. Meine Finger tasteten über die kühle Tapete und ich drückte den Lichtschalter nach unten, aber es passierte nichts. Die Birne musste durchgebrannt sein.

Nervös drückte ich die Tür weiter auf und trat ein. Ich schaute fast panisch hinter die Tür, um mich zu vergewissern, dass sich dort nichts und niemand versteckte – ein kurzer Schock durchzuckte mich, als ich den Bademantel von Seymour Wallis dort hängen sah. Dann strengte ich meine Augen an und starrte auf die dunklen Umrisse von Seymour Wallis’ Schreibtisch und Stuhl.

Eine Weile konnte ich nicht erkennen, ob dort irgendetwas war oder nicht. Während sich meine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, bildete sich ein Umriss. »Oh Gott.« Die Worte klangen wie ein Röcheln.

Ein riesiger, aufgedunsener Mann saß auf Seymour Wallis’ Stuhl. Sein Kopf war ganz schwarz und aufgebläht, seine Arme und Beine waren zum doppelten Umfang angeschwollen. Sein Gesicht war so dick, dass die Augen nur noch schmale Schlitze bildeten, und seine Finger quollen wie fette, purpurne Schnecken aus den Hemdsärmeln.

Ich hätte ihn niemals erkannt, doch seine Kleidung verriet ihn. Ich zog die Vorhänge ein Stück beiseite. Es war Seymour Wallis. Eine aufgeblähte, angeschwollene, groteske Karikatur von Seymour Wallis.

Ich konnte die Worte kaum aussprechen: »Mr. W-Wallis?«

Die Kreatur rührte sich nicht.

»Mr. Wallis, leben Sie?«

Das Telefon stand auf seinem Schreibtisch. Ich musste sofort Dr. Jarvis anrufen und vielleicht auch Lieutenant Stroud, aber das bedeutete, dass ich an diesem aufgeblähten Körper vorbeimusste. Ich ging vorsichtig auf ihn zu und schaute und schaute, um mir darüber klar zu werden, ob er tatsächlich tot sei. Ich vermutete, dass es so war. Er bewegte sich nicht und es sah aus, als ob jede Vene und Arterie seines Körpers ein Bluterguss sei.

»Mr. Wallis?«

Ich trat ganz nahe heran und ging etwas in die Knie, um ihm direkt in das bläuliche, aufgeblähte Gesicht sehen zu können. Er schien nicht zu atmen. Ich schluckte wieder, um mein Herz zurück in die Brust zu drücken, wohin es gehörte, und beugte mich langsam und nervös vor, um den Telefonhörer abzunehmen.

Ich wählte die Nummer des Elmwood Foundation Hospitals. Es schien Jahrhunderte zu dauern, bevor sich die Telefonistin meldete: »Elmwood-Krankenhaus. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Rufen Sie Dr. Jarvis ans Telefon«, flüsterte ich. »Es ist ein Notfall.«

»Sprechen Sie bitte etwas lauter. Ich kann Sie nicht verstehen.«

»Dr. Jarvis!«, sagte ich heiser. »Sagen Sie ihm, dass es dringend ist!«

»Einen Moment bitte.«

Sie schaltete mich in die Warteschleife, um Dr. Jarvis zu informieren, und eine schmalzige Musik ertönte. Ich blickte besorgt auf Seymour Wallis’ blutunterlaufenes Gesicht und hoffte und betete, dass er nicht plötzlich aufsprang und nach mir griff.

Die Musik verstummte und die Telefonistin sagte: »Es tut mir leid, aber Dr. Jarvis ist gerade beim Mittagessen, und wir wissen nicht, wo er ist. Möchten Sie mit einem anderen Arzt sprechen?«

»Nein, danke. Dann komme ich selbst ins Krankenhaus.«

»Dann benutzen Sie bitte den Südeingang. Momentan sind die Leute vom Gesundheitsamt im Haus, um einige Vögel zu verjagen.«

»Sind die Vögel noch immer da?«

»Oh ja. Sie sitzen überall.«

Ich legte den Hörer auf und ging vorsichtig rückwärts fort von Seymour Wallis. Ich war erst zwei oder drei Schritte auf die Tür zugegangen, als sein Drehstuhl plötzlich herumschwenkte und sein mächtiger Körper seitlich auf den Teppich fiel, aufs Gesicht, und so liegen blieb. Der Schock war so heftig, dass ich wie gelähmt dastand, unfähig wegzulaufen, unfähig zu denken. Aber dann wurde mir klar, dass er entweder tot oder hilflos war, und ich ging hin und kniete mich neben ihn.

»Mr. Wallis?« Ich muss zugeben, dass ich keine Hoffnung auf eine Antwort hatte.

Er blieb regungslos liegen, angeschwollen wie ein Mensch, der wochenlang im Meer herumgetrieben war.

Ich stand wieder auf. Auf seinem Schreibtisch lag ein einfaches Stenoheft, in das er offensichtlich Eintragungen gemacht hatte. Ich nahm es und blätterte einige Seiten zurück. Die Schrift war ziemlich unsicher, wie von einem Kind, das verbissen das Schreiben lernt. Es sah so aus, als hätte Seymour Wallis darum gerungen, seine Notizen zu vervollständigen, bevor die Schwellung ihm das Schreiben unmöglich machte.

Ich hielt das Heft etwas seitlich, damit das Licht von draußen auf die Seiten fallen konnte. Da stand: »Ich weiß jetzt, dass alle diese unseligen Ereignisse in Fremont nur der Beginn eines viel schrecklicheren Geschehens waren. Was wir entdeckten, war nicht das Wesen selbst, sondern ein Talisman, der das Wesen zu neuem Leben anregte. Vielleicht war das Datum für seine Rückkehr schon immer vorherbestimmt. Möglicherweise waren all diese grausigen Ereignisse noch Zufälle, aber über eines bin ich mir ganz sicher: Von dem Tage an, an dem ich den Talisman in Fremont entdeckte, hatte ich gar keine andere Wahl, als das Haus Nummer 1551 zu kaufen. Die uralten Einflüsse waren viel zu stark für jemanden, der so schwach wie ich war und ohne Kenntnis über diese Macht, um Widerstand zu leisten.«

So endete es. Ich verstand es überhaupt nicht. Vielleicht dachte Seymour Wallis, dass sein Unglück bei dem Fremont-Auftrag ihn endgültig eingeholt hätte – nach seinem Zustand zu urteilen, konnte ich ihm gar nicht unrecht geben. Aber in diesem Augenblick hatte ich nur noch den einen Gedanken, raus aus diesem Haus zu kommen und mit Dr. Jarvis zu sprechen. Ich war nun endgültig davon überzeugt, dass in diesem Haus ein feindseliges, brütendes Übel hockte. Wenn bereits drei Leute so qualvoll hatten leiden müssen, weil sie versucht hatten, diesem Übel auf die Spur zu kommen, dann war mir klar, dass ich leicht das vierte Opfer werden könnte.

Ich ging durch die Diele und warf noch schnell einen Blick die Treppe hinauf, für den Fall, dass dort oben etwas Entsetzliches stehen würde, und schlich mich an dem Türklopfer vorbei zum Ausgang. Als ich mich umdrehte, um die Tür zu schließen, sah ich jedoch etwas, was mich fast mehr traf und ängstigte als alles, was vorher passiert war.

Auf dem Treppenpfosten fehlte die Figur. Die Bärenfrau war fort.

Vor dem Krankenhaus versuchten die Männer des Gesundheitsamtes, die grauen Vögel mit lauten Gewehrschüssen zu vertreiben. Ich kannte einen von ihnen, Innocenti, und ging zu ihm, um zu fragen, ob sie Erfolg hätten.

Innocenti deutete angeekelt auf die immer noch reihenweise dahockenden, stummen Vögel, die sich an den Gewehrsalven überhaupt nicht störten.

»Solche Vögel habe ich noch nie gesehen. Sie sitzen einfach da. Auch wenn wir rufen, bleiben sie sitzen. Wenn wir schreien, bleiben sie sitzen. Wir haben Henriques mit einer Holzklapper aufs Dach geschickt, und was tun sie? Sie bleiben sitzen. Vielleicht sind sie schwerhörig. Vielleicht ist es ihnen egal. Sie hocken da und sie scheißen noch nicht einmal.«

»Habt ihr herausgefunden, was es für Vögel sind?«

Innocenti zuckte die Achseln. »Tauben, Raben, Enten, wer kennt sich denn mit Vögeln aus? Ich bin kein Ornithologe.«

»Vielleicht haben sie eine besondere Eigenart?«

»Aber sicher: Sie sind so stinkfaul, dass sie nicht einmal fortfliegen.«

»Nein, aber vielleicht sind sie eine besondere Vogelgattung.«

Innocenti blieb unbeeindruckt. »Hören Sie, Mr. Hyatt, von mir aus können sie sein, was sie wollen, verdammt. Ich weiß nur, dass ich sie irgendwie vom Dach kriegen muss, denn solange ich sie hier nicht herunterhabe, muss ich hierbleiben und versäume deshalb das Abendessen. Wissen Sie, was es heute zu Abend gibt?«

Ich winkte ihm freundlich zu und ging zum Eingang des Krankenhauses hinüber.

»Osso bucco!«, brüllte er mir nach. »Das gibt es heute Abend!«

Ich betrat das Krankenhaus und ging durch das mit italienischen Hölzern ausgelegte Foyer direkt auf die Aufzüge zu. Die stilvolle Metalluhr an der Wand zeigte 19 Uhr an. Es war inzwischen vier Stunden her, seitdem ich Dr. Jarvis aus einer Telefonzelle angerufen und endlich erreicht hatte. Vier Stunden, seitdem der Krankenwagen eingetroffen war und man Seymour Wallis’ entstellten Körper auf einer Bahre aus dem Haus getragen hatte – abgedeckt von einem grünen Tuch, damit kein Passant diesen für einen normalen Menschen viel zu großen Körper sah. Vier Stunden, seitdem Dr. Jarvis und Dr. Crane mit der Leichenöffnung begonnen hatten.

Ich fuhr rauf bis zum fünften Stock und lief dann durch den Flur zu James Jarvis’ Büro. Ich ging hinein, nahm die Ginflasche aus seinem Schreibtisch und ein Tonicwasser aus dem Kühlschrank. Dann setzte ich mich, lehnte mich zurück und trank etwas von dem starken, erfrischenden Getränk, und beim heiligen Antonius und der heiligen Theresa, ich brauchte das.

Den ganzen Nachmittag hatte ich versucht, Jane zu finden. Ich hatte jeden gemeinsamen Freund oder Bekannten angerufen, der mir eingefallen war, bis ich schließlich kein Kleingeld und keine Energie mehr besaß. Währenddessen hatte ich mich bei McDonald’s mit einem Cheeseburger und einer Tasse schwarzem Kaffee gestärkt und dann aufgemacht in Richtung Elmwood. Ich fühlte mich hilflos, verloren, frustriert und verängstigt.

Ich füllte gerade mein Glas mit einem zweiten Gin Tonic, als Dr. Jarvis eintrat und seinen Mantel über den Stuhl warf.

»Hi«, sagte er, etwas kurz angebunden.

Ich hob mein Glas. »Ich habe mich hier häuslich niedergelassen. Ich hoffe, du bist nicht böse.«

»Ach, wieso denn? Mach mir auch einen fertig, wenn du schon dabei bist.«

Ich ließ zwei Eiswürfel in ein weiteres Glas fallen und fragte: »Seid ihr mit Wallis’ Obduktion fertig?«

Er nahm schwerfällig Platz und rieb sich über das Gesicht. »Ja, sind wir. Wir haben die Leichenöffnung abgeschlossen.«

»Und?«

Er sah mich durch seine gespreizten Finger an. Seine Augen waren rot vor Müdigkeit und Konzentration. »Willst du es wirklich wissen? Willst du wirklich in die Sache hineingezogen werden? Du brauchst es nicht, das weißt du. Du bist ja nur Beamter beim Gesundheitsamt.«

»Sicher, es ist wohl so, aber ich stecke doch schon mittendrin. Nun erzähl schon, Jim. Dan Machin und Bryan Corder waren meine Freunde. Und jetzt Seymour Wallis. Ich fühle mich verantwortlich.«

Dr. Jarvis nahm sein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. Zitternd zündete er sich eine an und schob die Schachtel zu mir herüber. Ich ließ sie dort liegen. Bevor ich mich entspannte, wollte ich wissen, was vor sich ging.

Er seufzte und schaute hoch zur Zimmerdecke, als befände sich dort oben ein Teleprompter, auf dem der Text steht, den er sagen musste. »Wir haben jede Möglichkeit in Erwägung gezogen. Ich meine, jede. Aber die körperliche Ausdehnung wurde durch einen Faktor hervorgerufen, allein einen Faktor, und was wir auch immer als Erklärungsversuch ansetzten, wir kamen immer zu demselben Schluss.«

Ich nippte an meinem Gin Tonic. Ich unterbrach ihn nicht. Er würde es mir jetzt sagen, was auch immer.

»Ich schätze, dass die Todesursache offiziell Blutkrankheit lauten wird. Das ist wohl eher eine fromme Lüge, andererseits aber auch die volle Wahrheit. Seymour Wallis litt an einer schweren Blutkrankheit. Er hatte keinen Mangel an roten Blutkörperchen und es gab auch keine Anzeichen für irgendeine Krankheit oder Anämie. Es ist ganz einfach Tatsache, dass er zu viel davon hatte.«

»Zu viel davon?«

Er nickte. »Ein normaler Mensch hat etwa sechs Liter Blut, die durch seinen Kreislauf zirkulieren. Wir haben das Blut aus Seymour Wallis’ Körper geleert und es nachgemessen. Seine Arterien und Venen sowie Kapillaren waren so angeschwollen, weil er 15 Liter Blut darin hatte.«

Ich konnte es kaum glauben. »15 Liter?«

Dr. Jarvis blies den Zigarettenrauch aus. »Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber so ist es nun mal. Glaube mir, wenn ich könnte, würde ich diese ganze Sache unter den Teppich kehren und das überschüssige Blut einfach in den Ausguss schütten.«

Er saß eine Weile still da und starrte auf seinen unordentlichen Schreibtisch. Ich vermutete, dass ihm bei all den Schwierigkeiten mit Seymour Wallis und dessen vermaledeitem Haus keine Zeit mehr für den Papierkram geblieben war.

»War die Polizei schon hier?«, fragte ich.

»Man hat sie informiert.«

»Und was sagt sie dazu?«

»Sie wartet auf das Ergebnis der Leichenöffnung. Das Problem ist nur, dass ich nicht weiß, was ich den Beamten erzählen soll.«

Ich trank mein Glas aus. »Wieso? Erzähl ihnen einfach, dass er eines natürlichen Todes gestorben sei.«

Dr. Jarvis brummte grimmig: »Natürlicher Tod? Mit 15 Litern Blut in sich? Und außerdem ist da ja noch was.«

»Noch was?«

Er schaute mich nicht an, aber ich merkte, wie verwirrt und besorgt er war. »Wir haben das Blut natürlich analysiert, es in die Zentrifuge gesteckt. Dr. Crane ist einer der besten Pathologen. Zumindest wird er danach bezahlt. Er sagt, und das ohne den geringsten Zweifel, dass das Blut, das wir in Seymour Wallis’ Körper fanden, kein menschliches Blut ist.«

Wir schwiegen. Dr. Jarvis zündete sich die nächste Zigarette an der ersten an.

»Es besteht absolut kein Zweifel, dass die gesamten 15 Liter von einer Hundespezies stammen. Was auch immer Seymour Wallis zugestoßen ist, das Blut, mit dem er starb, war nicht sein eigenes.«

4

Jane rief an. Sie bedauerte, dass sie zur Mittagszeit nicht im Laden gewesen sei, und hoffte, dass ich mir keine Sorgen gemacht hätte.

Ich sah Dr. Jarvis an und fragte: »Sorgen gemacht? Weißt du, was passiert ist?«

»Ich habe es im Fernsehen gehört. Seymour Wallis ist tot.«

»Ja, aber es ist noch viel schlimmer. Er starb mit mehr Blut in seinen Adern, als Sam Peckinpah in einem ganzen Film verspritzt. 15 Liter. Und dann erzählt mir Jim hier noch, dass dieses Blut noch nicht einmal sein eigenes war. Sie haben es analysiert und es stellte sich heraus, dass es Hundeblut war.«

»Du machst Witze.«

»Jane, wenn du glaubst, dass ich in der Stimmung für Witze bin …«

»Ich habe das nicht so gemeint«, unterbrach sie mich hastig. »Ich meinte nur, es passt alles zusammen.«

»Passt zusammen? Passt wozu?«

»Zu dem, was ich dir zu sagen versucht habe. Ich bin heute Mittag nach Sausalito gefahren. Ich habe dir doch so einiges über diese indianischen Geschichten erzählt. Na ja, ich habe Freunde in Sausalito, die einige Indianer gut kennen und auch in der indianischen Kultur ziemlich bewandert sind. Sie haben von diesem Dämon, dem Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte, gehört, und sie meinen, dass ich nach Round Valley fahren sollte, um mit einem der Medizinmänner zu sprechen.«

Ich seufzte und sagte nichts.

»John? Hast du gehört?«

»Ja, ich habe es gehört.«

»Aber du hältst es für keine gute Idee?«

»Warte mal bitte einen Moment.«

Ich legte meine Hand über die Sprechmuschel und sagte zu Jim Jarvis: »Jane ist davon überzeugt, dass alles, was sich in Seymour Wallis’ Haus ereignet hat, mit irgendeiner indianischen Legende in Zusammenhang steht. Jetzt will sie mit irgendeinem Medizinmann im Round Valley reden. Was hältst du davon?«

Er zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es eine gute Idee. Jede Theorie ist besser als gar keine.«

Ich nahm meine Hand vom Hörer. »Okay, Jane. Dr. Jarvis meint, dass wir es versuchen sollten.«

»Du hättest mich sowieso nicht davon abhalten können«, meinte sie eingeschnappt.

»Jane«, sagte ich irritiert. »Ich habe den ganzen verdammten Nachmittag damit verbracht herauszufinden, wo du steckst. Wir hatten zwei Verletzte und einen Toten. Es ist für keinen von uns ratsam, jetzt etwas auf eigene Kappe zu unternehmen.«

»Ich wusste nicht, dass du dir solche Sorgen gemacht hast.«

»Du weißt verdammt genau, dass es so ist.«

»Tja, wenn dir so viel an mir liegt, dann kommst du besser mit mir morgen nach Round Valley. Ich leihe mir Bill Thorogoods Wagen.«

Ich legte den Hörer auf. Morgen war wenigstens Samstag, also musste ich mir nicht schon wieder eine neue Entschuldigung für meinen Boss, Douglas P. Sharp, einfallen lassen.

Ich sagte zu Dr. Jarvis: »Jetzt scheine ich mir selbst den Kopf in die Schlinge gelegt zu haben. Ich hoffe nur, dass es das wert ist.«

Er drückte seine zweite Zigarette aus und zuckte die Achseln. »Es gibt Zeiten, da wird man in der Medizin mit Fällen konfrontiert, die einen beleben. Solche Herausforderungen wie schwere Fälle von Vergiftungen oder ungewöhnlich komplizierte Brüche. Dann spürt man, dass es sich lohnt, Arzt zu sein, dafür die Personalpolitik des Krankenhauses, die Streitigkeiten über finanzielle Zuteilungen und das alles zu ertragen.«

Er schaute auf und fügte hinzu: »Und dann gibt es Zeiten wie diese: Man versteht überhaupt nicht mehr, was eigentlich vor sich geht, und man verliert seine Energie. Ich könnte den ganzen Tag zwischen Dan Machin, Bryan Corder und Seymour Wallis herumrennen und wäre doch nicht in der Lage, auch nur das Geringste für sie zu tun.«

Er griff nach den Zigaretten. »Mit anderen Worten, John, fahre zum Round Valley und schätze dich glücklich, dass du überhaupt irgendetwas tun kannst. Ich kann es nicht.«

Ich sah ihn eine Weile an. »Ich wusste nicht, dass Ärzte auch schwermütig werden können. Ich habe geglaubt, das würde nur in Filmen passieren.«

Er räusperte sich. »Und ich habe geglaubt, dass das, was hier im Augenblick passiert, nur in Albträumen passiert.«

Samstagmorgen war ein schöner und klarer Tag. Wir fuhren über die Golden Gate. Der Ozean glänzte unter uns und das Sonnenlicht tanzte in unruhigen Flecken über die Brückenseile und die Pfeiler. Jane saß bequem zurückgelehnt auf ihrem Sitz. Sie trug eine rote Seidenbluse und weiße Levis, auf ihrer Nase ruhte eine riesige Sonnenbrille und um ihr Haar hatte sie ein rotes Tuch gebunden.

Bill Thorogood war der glückliche Besitzer des weißen Jaguars XJ 12 und außerdem großzügig genug, dass er ihn verlieh – ich saß hinter dem Lenkrad und bildete mir ein, ich sei ein angehender Filmstar, der einen Tagesausflug zu einem teuren Restaurant macht, anstatt ein Angestellter des Gesundheitsamtes, der 160 Meilen nach Round Valley zu rasen hatte.

Wir schossen mit 100 Meilen die Stunde durch Marin und Sonoma County, durch Cloverdale, Preston und Hopland. In Ukiah machten wir Mittagspause. Die Sonne stand hoch am Himmel und der Wind blies vom Lake Mendocino herauf. Wir saßen hinter einer niedrigen Windschutzmauer vor einer Raststätte, aßen Chiliburger und beobachteten, wie ein Vater versuchte, seine fünf Kinder zusammen mit Angelzeug, aufblasbaren Booten und Zelten in seinen Kombi zu stopfen. Sobald er endlich alles verstaut hatte, kletterte ein Kind doch wieder heraus und dann musste er noch einmal zum Heck des Wagens gehen, um alles neu zu verstauen.

»Die Flüchtigkeit des Daseins«, bemerkte Jane. »So schnell man etwas tut, so schnell ist es wieder dahin.«

»Ich glaube nicht, dass das Leben flüchtig ist.«

Jane trank Coca-Cola aus der Dose. »Du glaubst also nicht, dass uns jemand als Spielzeug benutzt? Wie im Moment?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, dass die Sache hier sehr viel ernster ist. Aber ich bin überzeugt, dass wir es bekämpfen müssen, egal, was immer es auch ist.«

Sie berührte meine Hand. »Genau das mag ich an dir, John. Du bist immer bereit zu kämpfen.«

Wir stiegen wieder in den Wagen und ich fuhr mit quietschenden Reifen vom Parkplatz. Wir rasten mit 100 weiter nordwärts bis nach Longvale, dann bogen wir ab in die Berge von Dos Rios und Eel River und hinauf in das Round Valley Reservat.

Der Medizinmann, mit dem wir uns treffen wollten, hieß George Thousand Names. Jane wusste nicht mehr über ihn, als dass er einer der ältesten und geachtetsten Medizinmänner des Südwestens war und dass er viel länger in San Francisco und Los Angeles als hier im Norden gelebt hatte. Er hatte für eine indianische Investment-Gesellschaft gearbeitet und sich für die Rechte der Indianer eingesetzt. Inzwischen lebte er wieder im Kreise seiner Familie und jeder, der seinen Rat suchte, musste den Weg ins Round Valley auf sich nehmen.

Der Jaguar schaukelte sich langsam durch die ausgefahrene Furche im Gras, die zwischen hohen Kiefern und flachen Hügeln hoch zum Haus von George Thousand Names führte. Er lebte abseits von den vielen Wohnwagen und Häusern, in denen die übrigen Indianer des Round Valley lebten, oben auf dem bewaldeten Kamm, mit Blick über den Eel River.

Während wir langsam hinaufwippten, kam sein Haus in Sicht. Es war im Chalet-Stil gebaut, mit Zwischenstockwerk, Terrasse und breiten Schiebefenstern.

»Toller Wigwam«, bemerkte Jane.

Ich hielt den Wagen vor der Holztreppe an, die zum Haus hinaufführte. Dann kletterte ich hinaus und blinzelte ins Sonnenlicht, um irgendein Zeichen von Leben zu entdecken. Ich hupte mehrmals, bis eines der Schiebefenster geöffnet wurde und ein kleiner Mann in kariertem Hemd und gut gebügelter Hose auf die Terrasse trat.

»Entschuldigen Sie«, rief ich. »Sind Sie Mr. Thousand Names?«

»Ich bin George Thousand Names. Wer sind Sie?«

»John Hyatt. Und das ist Jane Torresino. Miss Torresino hat einen Termin mit Ihnen vereinbart.«

»Ich bin kein Zahnarzt«, sagte George Thousand Names. »Sie brauchen bei mir keinen Termin. Aber ich erinnere mich. Kommen Sie hoch.«

Wir kletterten die Stufen zur Terrasse hoch. George Thousand Names kam uns entgegen und schüttelte uns die Hand. Hier direkt vor uns stehend sah er noch kleiner aus, ein schmaler und zierlicher alter Mann, dessen Gesicht so zerfurcht und zerklüftet war wie das Blatt eines Kohlkopfes. Er stand jedoch kerzengerade da und strahlte eine innere Würde aus, die mich sofort spüren ließ, dass er ein besonderer Mann war. Um seinen Hals hingen Amulette und Halsketten, die uralt, mächtig und rätselhaft aussahen, aber er trug sie so natürlich, als seien sie nichts weiter als einfacher Schmuck. Um sein Handgelenk trug er eine Armbanduhr von Cartier, echtes Gold, das Ziffernblatt sah aus wie ein Tigerauge.

»Ihre Freunde in Sausalito haben kurz erwähnt, Sie wären besorgt über einige unserer Legenden.« George Thousand Names führte uns ins Haus. Wir traten in einen gemütlichen, eleganten Raum mit polierten Kiefernholzwänden, überall lagen indianische Teppiche und Kissen. Durch eine halb offene Schiebetür sah ich in eine moderne Küche mit Keramikspüle und Mikrowellenherd.

Jane schenkte George Thousand Names einen Tabakkrug, den sie an diesem Morgen in Healdsburg gekauft hatte. »Ich habe gehört, dass das so eine Art Tradition ist«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie mögen Klompen Kloggen.«

George Thousand Names lächelte. »Ich weiß nicht, warum sich Weiße immer so rechtfertigen müssen, wenn es um Tradition geht«, erwiderte er. »Aber das ist wirklich eine gute Marke. Wollen Sie sich nicht setzen? Wie wäre es mit Kaffee?«

Wir setzten uns auf bequeme Kissen, die auf dem Boden lagen, während eine junge Indianerin, wahrscheinlich George Thousand Names’ Haushaltsgehilfin, Kaffee für uns zubereitete. Genau hinter George Thousand Names’ Schulter glitt die Sonne wie ein Speer durch das breite Fenster und umspielte sein bejahrtes Haupt mit einem strahlenden Heiligenschein.

»Sie beide haben etwas auf dem Herzen, was Sie sehr verwirrt«, begann er. »Sie fürchten, dass Sie nicht verstehen, um was es sich handelt, und dass es Sie beide vernichten könnte.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte ich ihn.

»Ganz einfach, Mr. Hyatt. Es steht Ihnen in den Gesichtern geschrieben. Im Übrigen ist es sehr ungewöhnlich, dass Weiße sich an indianische Medizinmänner wenden und um Rat bitten, es sei denn, dass sie spüren, jede mögliche Erklärung, die ihnen ihre eigene Kultur bietet, erschöpft zu haben.«

»Wir sind nicht wirklich sicher, ob es etwas mit Indianer-Legenden zu tun hat, Mr. Thousand Names«, sagte Jane. »Es ist nur eine Vermutung. Aber je mehr wir darüber erfahren, je mehr Dinge passieren, desto mehr scheint es der Fall zu sein.«

»Erzählen Sie mir davon. Von Anfang an.«

Ich erklärte ihm, welchen Job ich bei der Gesundheitsbehörde habe und wie Seymour Wallis mich aufgesucht hatte, um mir über das Atmen in seinem Haus zu berichten. Dann schilderte ich, was Dan Machin zugestoßen war und anschließend Bryan Corder und dann Seymour Wallis selbst. Ich sprach über die Bilder des Mount Taylor und Cabezon Peak. Ich erwähnte auch die Bärenfrau, die inzwischen fehlte, und den Türklopfer mit dem grässlichen Gesicht.

George Thousand Names hörte sich das alles still und unbeweglich an. Als ich fertig war, hob er den Kopf. »Haben Sie eine Vorstellung, was Sie mir da beschreiben?«

Ich schüttelte den Kopf.

Jane sagte: »Aus diesem Grunde sind wir ja zu Ihnen gekommen – wir verstehen das alles einfach nicht. Ich arbeite in einem Buchladen, dort habe ich unter Mount Taylor nachgeschlagen und fand heraus, dass Big Monster irgendwie mit all diesen Geschichten verbunden ist, und der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte. Ich hätte nicht weiter darüber nachgedacht, aber es wurde dort erwähnt, dass der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, auf dem Pfad der vielen Teile zurückkommen wird. Irgendwie hat es da bei mir Klick gemacht. Ich kann nicht einmal erklären, weshalb.«

Das Indianermädchen brachte uns Kaffee in Keramikschalen und frische Pekannuss-Plätzchen. Sie schien ein psychisches Einfühlungsvermögen in meine innersten Gedanken zu haben, so wie George Thousand Names – wie sonst konnte sie meine Schwäche für Nussplätzchen kennen?

George Thousand Names sagte leise: »Jeder indianische Dämon hat einen geläufigen Namen und einen rituellen, genau wie die europäischen Dämonen. Zum Beispiel gab es die Eye Killers, über die man sagte, dass sie von der Tochter eines Häuptlings gezeugt worden wären, die sich selbst mit der Spitze eines bitteren Kaktus missbraucht hatte. Dann gab es, wie Sie schon erwähnten, Big Monster, dessen wahrer Name ganz anders lautete, und dann den Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte.«

Der Medizinmann schien seine Worte sorgfältig zu bedenken. Er biss mit seinen makellosen Zähnen in das Nussplätzchen und kaute eine Weile, bevor er weitersprach.

»Der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, war der schrecklichste und grausamste aller indianischen Dämonen. Er war schlau, listig und tückisch. Sein größtes Vergnügen war es, Hass und Verwirrung zu stiften und seine Lust an Frauen zu befriedigen. Der Grund, warum wir ihn den Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte, nennen, liegt darin, dass seine Spielchen und Gräueltaten in den Herzen der Menschen die ersten Gefühle von Wut und Rache auslösten.

Sie wissen vielleicht, dass es wohlwollende indianische Götter und böse indianische Götter gibt. Im Großen Rat der Götter saßen die bösen Götter mit dem Gesicht nach Norden und die guten mit dem Gesicht nach Süden. Der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, jedoch war so heimtückisch und bösartig, dass er von keiner Seite akzeptiert wurde und allein neben dem Ausgang saß. Er war der Dämon des Chaos und der Unordnung, und die Indianer erzählen manchmal, dass er, als man ihn in den frühen Tagen darum bat, bei der Anbringung der Sterne zu helfen, er seine eigene Handvoll Sterne nahm und sie an den Rand des Nachthimmels warf, und so hat er die Milchstraße geschaffen.«

George Thousand Names nippte an seinem Kaffee.

»Haben wir es damit zu tun? Mit diesem Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte?«, fragte ich.

Das Gesicht des Indianers verriet nichts. Er setzte seine Schale zurück auf die Untertasse und tupfte sich die Lippen sorgfältig mit einem sauberen Taschentuch ab.

»Nach allem, was Sie mir erzählt haben, Mr. Hyatt, ist das mehr als wahrscheinlich.«

Ich wusste nicht, ob er sich über mich lustig machen wollte. Da mir der trockene Humor der Indianer bekannt war, hätte es schon sein können. Ich sah ihn vor mir, wie er im ganzen Round Valley die Geschichte über die dummen Bleichgesichter erzählte, die den weiten Weg hierher unternommen hatten, um seinen Rat zu hören, und dass er ihnen feierlich etwas über einen Dämon erzählt habe, der die Sterne durchs Weltall warf, und wie die Weißen wieder abgebraust seien, im Glauben, gegen ein uraltes Phantom der Rothäute zu kämpfen. Ich sah sie vor mir, wie sie lachten und dabei all ihre verdammten Halsketten rasselten.

»Wahrscheinlich?«, fragte ich vorsichtig zurück. »Was ist bei einem Dämon denn wahrscheinlich?«

Er lächelte: »Ich spüre Ihren Verdacht. Aber ich versichere Ihnen, dass ich in keiner Weise hier ein Spielchen mit Ihnen treibe.«

Ich konnte nicht verhindern, dass ich errötete. Vor diesem Medizinmann hatte ich das Gefühl, einen Bildschirm auf der Stirn zu tragen, der jeden Gedanken von mir eins zu eins übertrug. Egal, wie sein Humor beschaffen sein mochte, er war ein wirklich kluger Kerl.

»Der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, war der einzige indianische Dämon, der den Tod besiegt hat. Er ist viele Male gestorben, manchmal aus verlogenem Liebesbeweis für eine Frau, manchmal infolge einer Strafe, die von den anderen Göttern verhängt worden war. Aber jedes Mal, bevor er in die Unterwelt musste, sorgte er dafür, dass die wesentlichen Dinge, die er brauchte, um zurück ins Leben zu kommen, in der Oberwelt versteckt waren. Sein Atem, sein Herz, sein Blut – und das Haar, das er Big Monster vom Kopf geschnitten hatte.«

Die Sonne war inzwischen hinter George Thousand Names’ Rücken versunken und ich konnte sein Gesicht im Halblicht kaum noch erkennen. Ich fragte entsetzt: »Sein Atem, sein Herz und sein Blut?«

Er nickte. »Deshalb taten Sie gut daran, hierherzukommen, Mr. Hyatt. Aus dem, was Sie mir heute Nachmittag erzählt haben, ist zu schließen, dass der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, entschlossen ist, wieder ins Leben zurückzukehren, und zwar durch das Medium ihrer unglücklichen Freunde.«

»Aber ich verstehe das nicht«, sagte Jane. »Wie kann der Atem und das Blut und so weiter dort sein, im Inneren eines Hauses?«

»Das ist ganz einfach. Der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, wurde vor vielen Jahrhunderten in die Unterwelt verbannt, lange bevor irgendein weißer Mann diesen Kontinent entdeckt hat. In jenen Tagen waren Medizinmänner fast so etwas wie Götter, und wenn sie auch nicht in der Lage waren, ihn zu töten, so konnten sie ihn doch zeitweilig in die Unterwelt zurückschicken. Aus dem, was Sie berichten, schließe ich, dass der Dämon seine lebenswichtigen Teile in einem Wald oder im Erdboden versteckt hat. Als man dann dieses Haus baute, wurde es unwissentlich aus Bäumen oder Steinen errichtet, in denen der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, seine vielen Teile versteckt hatte.«

»Aber was ist mit diesen ganzen Gemälden vom Mount Taylor? Der Dämon kann sie dort wohl nicht aufgehängt haben. Und was ist mit dem Türklopfer?«

George Thousand Names hob die Hände. »Natürlich hat der Dämon diese Gegenstände nicht selbst dorthin gebracht. Aber ich nehme an, dass sein Einfluss auf das Haus seit Jahrzehnten schon sehr stark war. Die Menschen, die unglücklicherweise dort gelebt haben, taten wahrscheinlich viele unbewusste Dinge, um den Weg für eine spätere Rückkehr des Dämons vorzubereiten. Ich vermute, dass der Türklopfer, den Sie geschildert haben, Ähnlichkeit mit dem Gesicht des Dämons besitzt.«

»Und die Bilder.«

»Tja, wer weiß?«, meinte er. »Aber vergessen Sie nicht, dass die alten Indianer Bilder von wichtigen Orten aus vielen verschiedenen Blickwinkeln zu malen pflegten, damit sie versteckte Bodenschätze oder unterirdische Quellen entdecken konnten. Diese ganzen Zeichnungen vom Mount Taylor und Cabezon Peak könnten eine sehr intellektuelle Bildersprache sein – wenn Sie sie alle zusammenlegen, dann könnten Sie vielleicht herausfinden, dass sie zu einem Punkt führen, wo der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, irgendetwas Wichtiges versteckt hat.«

»Was könnte das sein?«, fragte Jane. »Ich meine, was immer es wäre, es muss sehr wichtig sein.«

George Thousand Names lächelte sie wohlwollend an. »Ich mag es eigentlich nicht, Hypothesen aufzustellen, meine Liebe, aber ich vermute, dass diese Bilder den Weg zum abgeschnittenen Haar von Big Monster weisen. Der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, hat Big Monsters Haare abgeschnitten, weil sie magische Eigenschaften hatten … Sie machten den Träger gegenüber menschlichen und übernatürlichen Waffen unverwundbar. Es wird erzählt, es sei so grau wie Eisen, das Haar, und so kräftig wie eine Peitsche. Falls ich mich richtig erinnere, so heißt es in der Legende, dass der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, das Haar in New Mexico versteckte, im Gebiet der Acoma und Canoncito, damit die Zwillingsgötter, die Big Monster getötet haben, es nie finden können. Aber es wurde gefunden und fortgezaubert; niemand weiß, wohin. Ohne das Haar sei der Dämon angreifbar und würde niemals die Stärke erreichen, die er braucht, um in der Welt der Menschen und lebenden Geister verweilen zu können.«

Ich lehnte mich zurück in das Kissen. George Thousand Names war so ruhig, so selbstbeherrscht, dass ich nicht länger annehmen konnte, dass er sich über uns lustig machte. Seine Ausführungen erforderten allerdings eine äußerst starke Vorstellungskraft, um sie zu glauben. Ich war mir nicht einmal sicher, sie grundsätzlich glauben zu können, auch wenn er sie noch so ernsthaft vortrug. Wenn Dan, Bryan und Seymour Wallis nicht gewesen wären, dann hätte ich meinen Kaffee höflich ausgetrunken und wäre gegangen. Aber zwei von ihnen waren krank und der dritte lag tot im Leichenhaus, und was der Indianer uns erzählt hatte, war bisher die einzige Erklärung, die man uns gegeben hatte.

»Wie lautet denn der gebräuchliche Name für den Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte?«, fragte Jane.

George Thousand Names hob eine Augenbraue. »Den haben Sie wahrscheinlich schon gehört. Der Dämon wird gewöhnlich Coyote genannt. Die Hunde der Wüste wurden nach ihm benannt. Dieser Name bedeutet List und Schmeichelei und gemeines Täuschen.«

Ich hustete. »Besteht irgendeine Möglichkeit festzustellen, ob er wirklich herumgeistert? Gibt es ein Zeichen, irgendein Merkmal, an dem wir ihn erkennen können?«

»Wie Poltergeister, die sich vor Feuer fürchten? Oder Vampire?«, meinte Jane.

»Coyote kommt in vielerlei Gestalt, aber Sie können ihn immer erkennen. Er hat das Gesicht eines dämonischen Wolfes und sein Erscheinen wird immer angekündigt von Zeichen des Unheils.«

»Und welche?«

»Etwa Unwetter oder Krankheit oder besondere Vögel oder andere Tiere.«

Ich spürte das vertraute eiskalte Gefühl auf meiner Kopfhaut.

»Graue Vögel?«, fragte ich den Medizinmann. »Graue Vögel, die einfach dasitzen und nie singen?«

George Thousand Names nickte. »Die grauen Vögel sind die ständigen Begleiter Coyotes. Er benutzt ihre Federn, um seine Pfeile zu befiedern. Das ist etwas, was ein indianischer Krieger niemals getan hätte, weil diese grauen Vögel Boten des Verderbens und der Panik sind.«

»Ich habe sie gesehen.«

Zum ersten Mal lehnte sich George Thousand Names vor, sein Gesicht gespannt und bleich. »Sie haben sie gesehen?«

»Tausende von ihnen, wirklich Tausende. Sie sitzen alle auf dem Dach des Krankenhauses, in das Dan Machin, Bryan Corder und Seymour Wallis eingeliefert worden sind. Meine eigene Abteilung der Gesundheitsbehörde war gestern dort, um sie zu vertreiben, aber sie wollen nicht verschwinden.«

»Sind sie immer noch da?«, fragte er, als könne er nicht glauben, was ich sagte. »Sie haben sie mit Ihren eigenen Augen gesehen?«

Ich nickte.

George Thousand Names schaute ins Nirgendwo. Seine Augen, glühend und hell zwischen den vielen Falten seiner Haut, schienen in unsichtbarer weiter Entfernung etwas zu suchen. Er flüsterte mehr zu sich selbst als zu Jane und mir: »Coyote … Es wird also geschehen.«

Ich befeuchtete unsicher meine Lippen. »Mr. Thousand Names«, sagte ich, wobei ich versuchte nicht zu sehr wie ein weißer Tourist zu klingen, der wegen Indianerdecken verhandelt, »können wir irgendetwas tun? Oder gibt es irgendetwas, was Sie tun können, um uns zu helfen?«

Er wandte seinen Kopf ruckartig zu mir und starrte mich an, als ob ich von allen Geistern verlassen wäre. »Ich? Was kann ich denn angesichts eines Dämons wie Coyote ausrichten?«

»Das weiß ich nicht genau. Aber wenn Sie nichts tun können, was zum Teufel können wir dann noch tun?«

George Thousand Names stand auf und ging zu dem offenen Fenster hinüber. Es war jetzt fast fünf Uhr und die Sonne würde höchstens noch zwei Stunden über den Baumspitzen stehen. Er ging hinaus auf die Terrasse.

Jane und ich sahen uns besorgt an, während George Thousand Names stumm dastand und über die Hügel und Flüsse des Round Valleys blickte. Ich stand auf und folgte ihm an die frische Luft. Sie roch nach frischen Tannen und Holzrauch und in der Ferne hörte man, wie jemand Holz hackte.

»Irgendjemand hat dieses alte Übel wieder zum Leben erweckt.« Seine Stimme klang rau. »Irgendwie. Coyote ist wieder eins geworden.«

»Ich verstehe nicht.«

Der Medizinmann drehte sich um und schaute mich an. »Die Götter und die Medizinmänner haben dafür gesorgt, dass Coyote in mehrere Stücke in die Unterwelt gelangte und dass es ihm nicht möglich war, diese Zerlegung rückgängig zu machen. Die ersten vier Male, als er starb, hatte er einen Feuerstein an seinem Körper versteckt, damit er seinen Atem, sein Blut und seinen Herzschlag wiederbeleben konnte. Das letzte Mal, als er starb, versicherten sich die Götter, dass er keinen Feuerstein und keine Axt bei sich trug. Die Einzige, die ihn unter Umständen wieder beschworen haben kann, ist das Bärenmädchen.«

»Mr. Thousand Names«, sagte ich, »ich möchte nicht als dumm gelten, aber diese Legenden sind mir etwas zu hoch. Ich meine, es fällt mir schwer, sie zu akzeptieren.«

Er drehte sich um. »Das ist ganz klar«, meinte er mit flacher Stimme, die weder irritiert noch ungeduldig klang. »Was meinen Sie, was ich empfunden habe, als ich das erste Mal hörte, dass Jesus Christus über das Wasser geschritten ist?«

Jane, die am offenen Fenster stand, sagte: »Erzählen Sie uns etwas über dieses Bärenmädchen. Bitte.«

George Thousand Names massierte müde seinen Nasenrücken mit Finger und Daumen. »Das Bärenmädchen war eine wunderschöne Jungfrau, nach der Coyote gierte. Er hat zigmal versucht, sie zu verführen, aber jedes Mal widerstand sie ihm. Sie war es, die ihn die ersten Male in die Unterwelt schickte, damit er beweisen konnte, dass er glücklich für sie sterben würde. Schließlich unterlag sie doch seinen sexuellen Anstürmen und er schenkte ihr eine Liebesnacht, die sie ihm völlig gefügig machte.

Von diesem Augenblick an flößte Coyote ihr böse Gedanken ein und so veränderte sie sich nach und nach von einer Frau in einen Bären. Ihre Zähne wurden länger, ihre Nägel schärfer und dunkle Haare wuchsen ihren Nacken hinunter. Es wurde ihr größtes Vergnügen, Menschen mit ihren mächtigen Zähnen den Nacken zu zerfleischen.«

»Nicht gerade eine liebenswerte Begleiterin für einen Sonntagabend«, bemerkte ich.

George Thousand Names sah mich mit einem tiefen Blick an, der besagen sollte, dass er gerade nicht für dumme Witze aufgelegt war. »Es ist möglich, dass die Figur von diesem Wallis, die er in Fremont gefunden hat, genügte, um Coyote wieder ins Leben heraufzubeschwören. Sie kann mit einem Zauber versehen sein, wie ein kleines Totem. Hat er irgendwelche Probleme oder Schwierigkeiten in Fremont erwähnt? Irgendeine Krankheit oder einen Streit oder unerklärliche Ereignisse?«

»Ja. Sie bauten eine Fußgängerbrücke in einem Park und offensichtlich lief es mit dem verdammten Ding von Anfang bis Ende schief.«

»Dann ist es das«, sagte er. »Die Statue der Bärenfrau war mehr als nur eine antike Kuriosität. Sie war das ursprüngliche magische Totem, das Coyote die Kraft und den Willen verleihen konnte, um aus seinem Schlaf in der Unterwelt zu erwachen. Und Seymour Wallis hat sie in das Haus gebracht?«

»Glauben Sie, dass das rein zufällig geschah?«, fragte Jane. »Ich meine, es scheint ja ein unglaublicher Zufall, dass er gerade dieses Haus gekauft hat.«

George Thousand Names schüttelte den Kopf. »Von dem Moment an, in dem Seymour Wallis die Figur ausgegraben hatte, war er Coyotes Einfluss ausgesetzt. Er sagte Ihnen doch, dass er sich vom Pech verfolgt fühlte, nicht wahr? Es war kein wirkliches Pech. Es lag an Coyote, der ihn näher und näher an Pilarcitos Street heranführte. Ich wette um jeden Preis.«

»Was meinen Sie?«

»Pilarcitos Street ist die erste Abzweigung nach der Fifth Street hinter Mission.«

Ich nickte: »Das ist richtig.«

Er hielt die Finger von beiden Händen in die Höhe. »Fünf plus eins ist sechs. Dann haben Sie die Nummer 1551. Eins plus fünf ist sechs und fünf plus eins ist sechs. Drei Sechsen – 666. Die Zahl des größten aller Dämonen, egal von welcher Kultur wir sprechen. Das Zeichen der Bestie.«

Mir war plötzlich ganz kalt hier draußen auf der Terrasse. Auch Jane schlotterte im Türrahmen.

»Was sollen wir jetzt nur tun?«, fragte ich.

George Thousand Names kratzte sich im Nacken. »Mit zwei praktischen Schritten sollten wir beginnen. Zunächst müssen Sie Ihren Freund im Elmwood Hospital anrufen, damit er die drei Opfer von Coyote trennt und in verschiedene Krankenhäuser schafft. Das ist lebenswichtig. Zweitens, verschaffen Sie sich diese Bilder vom Mount Taylor und Cabezon Peak und versuchen, das Versteck der abgeschnittenen Haare herauszubekommen. Wenn Sie die von Coyote fernhalten, besteht vielleicht eine kleine Chance.«

Dann fügte er noch hinzu: »Drittens, und das wird schwieriger sein, halten Sie alle Schwestern oder weiblichen Ärzte, überhaupt jede Frau, von den verschiedenen Teilen Coyotes fern. Coyote hungert nach weiblichem Fleisch und darauf ist er möglicherweise jetzt gerade aus.«

Ich atmete tief ein. Wie seltsam und weit hergeholt diese ganze Geschichte auch zu sein schien, ich wusste, dass ich um meines eigenen ruhigen Gewissens willen Dr. Jarvis anrufen und ihm davon erzählen musste. Jim Jarvis war intelligent und er war Vorschlägen gegenüber offen, doch ich fragte mich, was er wohl sagen würde, wenn ich George Thousand Names’ Anweisungen durchgab.

»Mr. Thousand Names, darf ich Ihr Telefon benutzen?«, fragte ich.

»Selbstverständlich. Was halten Sie jetzt von einem Schluck Feuerwasser?«

»Sehr viel. Wie wäre es mit russischem Feuerwasser und Tonic?«

Ich ging über die glänzenden Holzdielen zurück ins Haus und nahm den Hörer ab. George Thousand Names folgte mir und bat das Mädchen um einige Drinks für uns drei. Anschließend setzte er sich im Schneidersitz auf sein kleines Sofa und öffnete seine Tabaksdose. Neben ihm auf dem Kaffeetisch stand ein Pfeifenständer. Keine davon sah aus wie eine Friedenspfeife – es waren zwei teure Meerschaumpfeifen und drei englische Bruyèerepfeifen.

Der Telefonist des Round-Valley-Reservats verband mich mit San Francisco und San Francisco stellte zum Elmwood Foundation Hospital durch. Dr. Jarvis war glücklicherweise zu sprechen.

»Jim? Hier spricht John Hyatt. Ich rufe aus dem Round Valley an.«

»Gott sei Dank, ich habe versucht, dich zu erreichen. Hier ist die Hölle los.«

»Was ist denn los?«

»Hier drehen alle durch. Dein Freund Dan Machin ist aus seinem Koma erwacht und er hat sich mit Bryan Corder eingeschlossen. Wir haben versucht, die Tür aufzubrechen, aber ohne Erfolg. Dr. Crane hat gerade die Polizei angerufen, damit sie die Tür aufbrechen.«

Wieder diese Woge der Angst.

»Er hat sich selbst eingeschlossen? Du willst sagen, sie sind zusammen?«

»Richtig. Ich weiß nicht, was die …«

Plötzlich war die Verbindung unterbrochen. Ich schüttelte das Telefon, aber die Leitung war absolut tot.

George Thousand Names sagte: »Tut mir leid, das passiert hier manchmal. Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«

Ich legte den nutzlos gewordenen Hörer hin. »Ich glaube ja. Dan Machin hat sich mit Bryan Corder in einem Zimmer eingeschlossen. Die Belegschaft des Krankenhauses kommt nicht an sie heran.«

George Thousand Names stopfte weiter seine Pfeife und griff nach den Streichhölzern. »Das klingt, als ob es losgeht«, sagte er. »Vielleicht fahren wir besser hinunter.«

»Wir?«

Das Indianermädchen brachte die Getränke und George Thousand Names hob sein Bourbonglas.

»Sie glauben doch wohl nicht, dass ich den Weißen den größten indianischen Dämon allein überlassen werde, oder? Über dieses Ereignis werden die roten Männer noch in Generationen sprechen. Jetzt trinken wir erst einmal auf die Verwirrung unserer Feinde.«

Ich hob meinen Wodka. »Ich weiß nichts über die Verwirrung unserer Feinde«, meinte ich trocken. »Ich weiß aber verdammt genau, dass ich völlig verwirrt bin.«

In dieser Nacht fuhren wir mit über 90 Meilen pro Stunde nach San Francisco zurück, während Insekten auf der Windschutzscheibe zerklatschten und unsere Gesichter grün im Licht der Armaturenbeleuchtung des Jaguars schimmerten. Mit quietschenden Reifen nahmen wir die Kurven den Berg hinunter, bis wir auf die 101 trafen, auf der wir uns durch Willits, Ukiah, Cloverdale und zurück ins Sonoma County schlängelten. Es war kurz nach Mitternacht, als wir in Marin County ankamen, und erst als ich das Glitzern der Lichter über der dunklen Bucht von San Francisco sah, nahm ich den Fuß vom Gaspedal und fuhr mit 40 über die Golden Gate Bridge.

George Thousand Names hatte bequem auf dem Rücksitz geschnarcht, erwachte aber mit einem Satz, als wir vom Presidio Drive abbogen und in Richtung Krankenhaus fuhren. Er streckte sich und sagte: »Die verflixten englischen Wagen zwingen einen, die ganze Zeit aufrecht zu sitzen. Für wen halten Sie mich eigentlich, für einen Adligen vom Lande?«

»Sie hätten ja nicht mitfahren brauchen«, erinnerte ich ihn, während wir in die Einfahrt bogen und in den Hof des Krankenhauses einfuhren.

»Das wäre ja so, als hätte man versucht, Custer davon abzuhalten, zum Little Big Horn zu reiten.«

»Sind Sie so pessimistisch?«, fragte Jane.

George Thousand Names schnäuzte sich ziemlich laut. »Pessimismus ist nicht gerade eine indianische Eigenschaft. Ich habe das Omen des heutigen Tages befragt, bevor wir losfuhren, und das scheint in Ordnung, obwohl ich hinzufügen muss, dass eine Wolke am Horizont steht, nicht größer als die Faust eines Mannes.«

»Das sind die Vögel«, sagte ich und zeigte nach oben. »Es scheint so, als ob das Gesundheitsamt den Versuch aufgegeben hat, sie fortzujagen.«

Die Scheinwerfer glitten über die Reihen der grauen Vögel, als wir die Einfahrt hochfuhren. Dann parkte ich den Jaguar und wir stiegen aus. George Thousand Names stand in der frischen Nachtluft und starrte auf die stummen, gefiederten Zeugen von Coyotes Wiedergeburt.

»Und?«, fragte ich.

Er nickte. »Es gibt keinen Zweifel. Dies sind die seltenen Vögel, die wir die ›Graue Traurigkeit‹ nennen. Man hat sie in großen Ansammlungen bei Wounded Knee und beim Begräbnis von Sitting Bull gesehen, ebenso als Rain-in-the-Face starb. Es sind die Vögel der Trauer und des Unglücks.«

Jane kam zu mir und fasste nach meiner Hand. Ihre eigene Hand war sehr kalt. »Bedeutet ihre Anwesenheit wirklich, dass Coyote hier ist?«

George Thousand Names hob den Kopf, als ob er in den Wind schnüffelte, und fragte uns: »Können Sie etwas riechen?«

Ich schnupperte. »Nicht viel. Ich habe eine Nasenverkrümmung.«

Jane sagte: »Es riecht wie … Ich weiß nicht genau, wonach. Wie Hunde … Wie Hunde, wenn sie nass sind.«

Er nickte und sagte nichts weiter. Ich nahm Janes Arm und führte sie zu den Krankenhaustüren und er folgte uns, sah dabei ab und zu hinauf zu den Vögeln, der Grauen Traurigkeit. In seinem Blick lag der Ausdruck von Misstrauen und Angst, wie bei einem Jungen, den man in eine Leichenhalle führt, damit er sich den Leichnam seines Vaters ansieht.

Bei den Aufzügen standen zwei uniformierte Wachpolizisten des SFPD. Einer von ihnen kam durch das Foyer auf uns zu und hob die Hand.

»Tut mir leid, Sir. Im Moment darf niemand hier hinein.«

»Ich bin mit Dr. Jarvis verabredet. Er erwartet uns.«

Der Polizist sah uns prüfend an. »Es tut mir leid. Ich habe strikte Anweisungen, niemanden hinaufzulassen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte ich. »Dr. Jarvis hat vor drei oder vier Stunden mit mir telefoniert und wir kommen jetzt extra aus Round Valley.«

»Mister«, sagte der Polizist geduldig. »Es wäre mir auch egal, wenn Sie vom Mars kämen. Meine Befehle lauten: Niemand fährt hoch.«

Der zweite Polizist kam heran: »Das stimmt. So lauten die Befehle.«

»Jetzt hören Sie doch zu, verdammt noch mal …«, entgegnete ich.

George Thousand Names unterbrach mich. »Wir haben eine Erlaubnis«, erzählte er dem Polizisten ruhig. »Möchten Sie sie sehen?«

Die Polizisten schauten ihn misstrauisch an. Aber George Thousand Names griff in seine rote Windjacke und hob eines der goldenen Amulette in die Höhe, die um seinen Hals hingen.

»Was ist das?«, fragte einer der Polizisten.

»Schauen Sie es an«, bat George Thousand Names. »Schauen Sie nur.«

Irgendwie fing er das Licht des Foyers mit dem Amulett auf und ließ es in die Augen der Polizisten scheinen. Die schienen zu blinzeln und erstarrten, dann traten sie einen Schritt zurück, als hätte sie jemand aus dem Weg gestoßen.

Ich sah George Thousand Names an und dann Jane, aber Jane zuckte nur die Achseln.

»Wir haben eine Genehmigung und dürfen hier hinein«, sagte George Thousand Names laut. »Haben Sie verstanden?«

Die beiden Polizisten nickten. Einer von ihnen drehte sich wie ein Schlafwandler um und öffnete uns die Türen des Aufzugs. Wir traten ein. George Thousand Names flüsterte zu mir: »Immer zu Ihren Diensten, Mr. Hyatt«, und ich drückte auf den Knopf für die fünfte Etage.

»Ist das eine Art Hypnose?«, fragte ich, während wir langsam aufwärtsfuhren. »Sie haben das doch mit dem Amulett gemacht?«

Der Medizinmann stopfte es in seine Windjacke zurück. »Wir nennen es ›Den Weg der Freundlichen Eroberung‹. Es ist eine Art Hypnose, ja, aber sie hat den Vorteil, eine Gehorsamstrance für nur wenige Augenblicke herbeizuführen, Augenblicke, an die sich das Opfer nie mehr erinnern wird. Sie können sie nicht auf Leute anwenden, die aggressiv sind oder sich vorgenommen haben, der Hypnose zu widerstehen. Aber es klappt ganz gut bei normalen Menschen, deren Gemütslage ziemlich entspannt ist.«

»Aber werden die Polizisten jetzt nicht nach uns suchen?«, fragte Jane.

George Thousand Names schüttelte den Kopf. »Das ist unwahrscheinlich. Sie werden vielleicht jetzt gerade da unten stehen und die Köpfe schütteln, weil sie das sichere Gefühl haben, dass irgendetwas nicht stimmt, aber sie werden absolut nicht wissen, was es sein könnte.«

Wir erreichten den fünften Stock und die Aufzugtüren öffneten sich. George Thousand Names ging höflich an Janes Seite in den Flur und ich folgte ihnen und schaute mich nach den Anzeichen der schrecklichen Panik um, von der Jim bei seinem Anruf gesprochen hatte.

Der Flur lag ruhig vor uns. Ich horchte einen Augenblick, konnte aber noch nicht einmal die Geräusche eines geschäftigen Privatkrankenhauses vernehmen wie etwa Rollwagen, Gespräche oder Durchsagen für die Ärzte. Nichts – nur das Surren des Aufzugs, als dessen Türen sich hinter uns schlossen und er in eine andere Etage hinauffuhr.

»Ich schlage vor, dass wir es am besten erst einmal in Dr. Jarvis’ Büro versuchen«, sagte ich. »Wenn er nicht dort ist, dann wird er sicher auf der Intensivstation sein, die ist weiter den Flur hinab.«

»Gehen Sie vor«, bat George Thousand Names. »Je eher wir dieses Monster in unsere Gewalt bekommen, desto besser.«

Jane lachte nervös. »Das hört sich ja an wie ein Frankenstein-Film.«

George Thousand Names steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans, verzog das Gesicht und erwiderte pragmatisch: »Es ist schlimmer als das.«

Wir gingen über den weichen roten Teppich bis zu Jims Büro. Ich hielt den Atem an und klopfte an die Tür. Wir warteten, aber es kam keine Antwort.

George Thousand Names, dessen Augen in seinem Ledergesicht ruhig wie die einer Eidechse aussahen, meinte: »Ich hoffe, Sie haben diesem Arzt gesagt, wem er da gegenübersteht.«

Ich öffnete Dr. Jarvis’ Tür und schaute mich prüfend in dem kleinen Zimmer um. Es war sauber und ordentlich. Auf dem Schreibtisch stand noch ein dampfender Kaffeebecher, verlassen, wie die letzte Mahlzeit auf der Marie Céleste. Ein Zigarettenstummel schwelte in dem übervollen Aschenbecher. Die nahezu leere Ginflasche stand auf dem Kunststoffschränkchen.

»Gespenstisch«, flüsterte Jane.

»Sie müssen hinten in der Intensivstation sein«, sagte ich. »Es geht da entlang, auf der linken Seite.«

Als wir um die Ecke bogen, begannen wir zu laufen. Ich weiß nicht, warum. Die Stille gab uns irgendwie das Gefühl der Dringlichkeit – je länger es so totenstill blieb, desto unheimlicher kam uns alles vor. Alles, was wir hörten, war unser eigenes Atmen und das heftige Rascheln der Kleidung, weil wir uns so schnell bewegten.

Ich machte mir nicht einmal die Mühe, an die Doppeltüren der Station zu klopfen. Ich drückte sie einfach auf, hinein in das Flimmern und die Schatten und das blaue Zwielicht der Welt, in der Bryan Corder sein unnatürliches Leben weiterlebte.

Dr. Jarvis war da, ebenso Dr. Crane, Dr. Weston und Lieutenant Stroud von der Polizei; außerdem zwei verwirrte, stämmige Polizisten.

Jim drehte sich um, als wir eintraten. »Du hast es geschafft. Ich hatte schon Angst, dass es nicht klappt.«

»Was ist denn los?«, fragte ich. »Was ist hier passiert?«

Jim nahm meinen Arm und führte mich nach vorne zur Glaswand, die den Blick in die Tiefen der eigentlichen Station freigab. Drinnen brannte immer noch das blaue Licht, aber irgendwie erschien das Licht schwächer und viel unruhiger, ähnlich wie das kalte Leuchten, das in den Nächten über die See schwebt. Ich konnte die Umrisse des Bettes erkennen, Ständer mit Infusionslösungen und einige silberne Geräte, die darumstanden. Ich glaubte, die knochenweiße Wölbung von Bryan Corders Schädel zu erkennen, aber auf dem Bett selbst lag ein undefinierbares Gewirr von verdrehten Gliedern und Fleisch. Genaueres konnte ich nicht unterscheiden, weil es zu dunkel war.

»Dan Machin ist da drin?«, fragte ich. »Ich sehe ihn nicht.«

»Können Sie nicht hineingehen?«, fragte Jane.

Lieutenant Stroud, groß und kultiviert wie immer, antwortete: »Lady, wir stehen hier draußen nicht aus Gesundheitsgründen. Wir haben sechs-oder siebenmal versucht hineinzugelangen, aber jedes Mal wurden wir zurückgetrieben.«

»Zurückgetrieben?«, fragte ich. »Was meinen Sie mit ›zurückgetrieben‹?«

»Versuchen Sie es selbst«, schlug Lieutenant Stroud vor. »Die Tür befindet sich direkt vor Ihnen.«

Ich ging schon vorwärts, aber George Thousand Names sagte, und das sehr leise: »Tun Sie es nicht, Mr. Hyatt. Es lohnt sich nicht.«

Lieutenant Stroud fragte: »Was wissen denn Sie?«

George Thousand Names schaute ihn durch das Dämmerlicht an, und ich sah, dass er ein Lächeln unterdrückte.

»Das ist George Thousand Names, Lieutenant«, sagte ich. »Wir haben ihn heute Nacht vom Round Valley Reservat mitgebracht.«

»Schwätzen Sie immer noch von diesem Indianerkram?«

»Nennen Sie es ruhig Schwätzen«, entgegnete ich gelassen. »Aber bisher ist es die einzige vernünftige Erklärung. George Thousand Names glaubt, dass wir Zeuge der Wiedergeburt eines indianischen Dämons aus der frühen Zeit sind.«

Lieutenant Stroud sah Dr. Jarvis, dann die anderen Ärzte und danach seine beiden Plattfüße an. Dann wandte er sich mit sarkastischem, missratenem Lächeln George Thousand Names zu. »Ein indianischer Dämon aus der frühen Zeit? Ich habe das richtig verstanden?«

George Thousand Names war zu alt und zu selbstbeherrscht, als dass er sich durch Sarkasmus herausfordern ließ. Er nickte nur. »Das ist richtig. Der Name des Dämons lautet Coyote, manchmal wird er auch der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, genannt. Er wird allgemein als ein Dämon der Verwirrung, des Zorns, des Streites angesehen, abgesehen von seiner unersättlichen Gier nach Frauen.«

Lieutenant Stroud lachte auf, kurz und hart. »Der dämonische Frauenschänder?«

George Thousand Names lächelte, blieb aber beherrscht. »Das ist genau richtig, Lieutenant. Der dämonische Frauenschänder. Es gibt ein altes Lied der Navahos, das erzählt, wie Coyote auf einem Bergpfad einst eine junge Frau traf, wie er sie dazu brachte, ihr Kleid für ihn zu heben. Ein charmantes Lied, auf seine Weise. Aber es erwähnt nicht, dass Coyote der wildeste und am fürchterlichsten aussehende Dämon aller Zeiten war und dass er sich nicht gerade wie ein Gentleman benahm, wenn er eine Frau verführte.«

»Was meinen Sie mit nicht wie ein Gentleman benahm?«, fragte Lieutenant Stroud kühl.

»Es sind Damen anwesend.«

»Keine der Damen hier wird sich über anatomische Einzelheiten aufregen, wenn Sie auf so etwas rauswollen.«

»Das ist es nicht«, antwortete George Thousand Names. »Wenn es diesem Dämon gelingt, wieder ins Leben zurückzukehren, dann wird keine Frau in San Francisco vor ihm sicher sein, und ich möchte die Damen nicht unnötig beunruhigen.«

»Spucken Sie es schon aus«, forderte Lieutenant Stroud. »Wenn hier etwas passiert, dann will ich auch wissen, was!«

»Nun gut«, meinte George Thousand Names. »Coyote verführt zunächst seine Frauen, dann behandelt er sie auf eine Weise, die bei den Navahos die ›Pein der Drei‹ heißt.«

Jane sagte: »Mein Gott, davon habe ich gehört.«

George Thousand Names strich ihr über den Arm. »Es war die seltsamste aller alten Foltern, und ihre Geschichte reicht weit zurück in die Zeit vor der Zivilisation der nordamerikanischen Stämme. Viele unserer weisen Männer behaupten, dass es die persönliche Erfindung Coyotes gewesen ist, aber wer kann das wissen?«

Jim krauste die Stirn. »Ich habe nie von der ›Pein der Drei‹ gehört. Was zur Hölle ist das?«

George Thousand Names berührte eines seiner Amulette um seinen Hals. Er sprach mit tonloser Stimme: »Zur ›Pein der Drei‹ gehörte das Aufschneiden eines Frauenmagens, in den wurde ein lebendes Reptil genäht, etwa eine Krusteneidechse. Danach schnitt man ein Pferd auf, manchmal auch eine Kuh, weidete sie aus und die Frau wurde dann in das Pferd eingenäht. Die Kunst der Marter bestand darin, alle drei Opfer, die Echse, die Frau und das Pferd, so lange wie möglich am Leben zu halten.«

Dr. Weston sagte: »Ach, hören Sie auf. Das erfinden Sie doch nur.«

George Thousand Names schüttelte den Kopf. »Prüfen Sie es bei Ihren eigenen Anthropologen nach, wenn Sie wollen. Die Skelette einer Echse, einer Frau und eines Pferdes, ineinandergesteckt wie ein chinesisches Puzzle, wurden am Lake Winnemucca, in Nevada, ausgegraben; und das ist kaum sechs Jahre her. Es war Professor Forrester von der Universität Colorado.«

Lieutenant Stroud zog an seiner Unterlippe. »Okay, Mr. Thousand Names. Wenn Sie also wissen, was sich so alles abspielt, was meinen Sie denn, tut sich hier drinnen?«

Er deutete durch die Glaswand auf die trüben, schattenhaften Formen auf dem Bett der Intensivstation. Irgendetwas bewegte sich dort drinnen, eine Silhouette, massig und dunkel. Sie bewegte sich mit den unkontrollierten krampfhaften Zuckungen, die man bei Insekten beobachten kann, wenn sie aus der Puppe schlüpfen.

George Thousand Names antwortete: »Die graue Traurigkeit zu sehen war mir Beweis genug. Was Sie hier erleben, ist das Zusammenkommen von Coyote, dem widerwärtigsten aller indianischen Dämonen. Als er in die Unterwelt verbannt wurde, versteckte er seinen Atem, sein Blut und seinen Herzschlag, und jetzt ist es ihm gelungen, alle Teile wieder an einem Ort zu versammeln. Er kehrt ins Leben zurück, ob Sie es nun mögen oder nicht.«

Lieutenant Stroud starrte George Thousand Names eine ganze Weile an, seine Augen funkelten aufmerksam in der Dunkelheit. »Sie glauben das also wirklich. Sie glauben wirklich, dass das hier passiert.«

»Das hat nichts mit Glauben zu tun, Lieutenant, oder mit religiösen Vorstellungen – ich weiß, was vor sich geht. Es ist für mich so klar wie für Sie ein platter Reifen. Es ist eine Tatsache«, bekräftigte George Thousand Names.

»Was geht dann da … da drinnen vor sich?«, fragte Jim.

»Holen Sie eine Taschenlampe und Sie werden es sehen«, erwiderte George Thousand Names, meiner Ansicht nach viel zu ruhig. »Der Atem und der Herzschlag vereinigen sich. Bald, dann wird Coyote sein Blut und sein schreckliches Gesicht benötigen.«

»Jane«, sagte ich leise in ihr Ohr. »Der Türklopfer in der Pilarcitos Street. Könntest du ihn holen? Schlag ihn mit einem Hammer von der Tür, falls es nötig ist.«

Jane griff nach meinem Arm. »Ich möchte jetzt nicht von dir fortgehen, John. Jetzt nicht.«

Ich zog eine Zehn-Dollar-Note aus der Tasche und drückte sie ihr in die Hand. »Du wirst ja nicht lange fort sein. Nimm ein Taxi. Aber besorge uns diesen Türklopfer, bevor ihn sich jemand anderes holt.«

Jane blickte mich mit ihren großen, chinablauen Augen an, legte ihren Arm um meinen Hals und küsste mich. »Vielleicht wären wir besser zusammengeblieben, du und ich«, flüsterte sie. Jane verließ den Raum und machte sich auf den Weg zu Seymour Wallis’ Haus.

Lieutenant Stroud sagte: »Wir haben es bereits mit Taschenlampen versucht. Vielleicht liegt es am Glas, aber wir kommen mit dem Lichtstrahl nicht durch.«

George Thousand Names blickte von Lieutenant Stroud zu Dr. Jarvis und dann wieder zurück. »In diesem Fall hat der große Coyote bereits mehr Kraft zurückgewonnen, als ich dachte. Er ist schon so mächtig, dass er Ihr Licht völlig absorbieren kann.«

Dr. Westen sagte: »Absorbieren? Wovon reden Sie?« Es war offensichtlich, dass sie wenig von der ethnischen Folklore dieses George Thousand Names hielt.

»Sie haben die letzte Ausgabe des Scientific American nicht gelesen?«, fragte George Thousand Names. »Wenn ein Gegenstand genügend Dichte hat, dann kann er tatsächlich verhindern, dass Licht von ihm reflektiert wird. Er drängt das Licht auf sich selbst zurück durch seine intensive Abstoßungskraft. Das ist es, was hier vor sich geht. Coyote ist eine Bestie der Unterwelt, und das bedeutet, wenn man es so nennen will: Er ist ein lebendes schwarzes Loch.«

»Meinen Sie, dass er komplett unsichtbar sein wird?«, fragte Jim.

George Thousand Names schüttelte den Kopf: »Nur, wenn er es will.«

»Was ist mit seinem Blut?«, warf Dr. Crane ein. »Wenn sein Herzschlag und sein Atem sich hier verbinden, sollten wir dann nicht versuchen, Mr. Wallis zu isolieren? Er ist doch das Gefäß für das Blut dieses Dämonen, vermute ich.«

»Ja«, antwortete der Medizinmann. »Versuchen Sie, ihn von hier fortzuschaffen. Aber achten Sie auf die Vögel, achten Sie auf jeden magischen Trick, den Coyote versuchen wird, um Sie daran zu hindern.«

»Magische Tricks?«, fragte Lieutenant Stroud skeptisch. »Welche zum Beispiel?«

»Lieutenant, das hört sich vielleicht wie ein Scherz an, ist aber keiner. Wenn ich von magischen Tricks rede, dann meine ich keine Kaninchen, die man aus dem Hut zieht, oder Damen, die man zersägt. Ich rede von Tod, Verletzungen und Illusionen, wie Sie noch keine erlebt haben.«

Ich nickte. »Das könnte stimmen, Lieutenant. Alles, was George bisher gesagt hat, klingt logisch.«

»Wer hat Sie gefragt?«, knurrte Lieutenant Stroud.

Dr. Jarvis sagte: »Es hat keinen Zweck zu streiten, Lieutenant. Keiner von uns hat eine bessere Idee.«

»Meinen Sie das?«, fragte Lieutenant Stroud und drehte sich um. »Vielleicht habe ich eine bessere Idee. Vielleicht ist dieses ganze verfluchte Ding nur ein Schwindel.«

»Ein Schwindel?«, sagte ich. »Sie meinen, wir hätten wegen eines Schwindels einem Mann das Fleisch vom Schädel gerissen?«

»Na ja, dieser ganze dämliche Kram über indianische Dämonen –«

»Kram!«, meinte George Thousand Names zornig. »Sie bezeichnen unsere Dämonen als Kram! Sind Sie verrückt? Wissen Sie, wozu Coyote fähig ist? Haben Sie auch nur die geringste Vorstellung?!«

Lieutenant Stroud wich förmlich zurück vor George Thousand Names’ Ungestüm. »Tja, Sie erwähnten die Pein der Drei …«

»Das ist unwichtig! Das stellte er mit den Frauen an, mit denen er sich vergnügte und an denen er die Lust verlor. Coyote hat Kräfte, die jedes menschliche Vorstellungsvermögen übersteigen. Kräfte, die es für alle guten und bösen Götter zusammen fast unmöglich machen, ihn zu zerstören. Und das ohne die zusätzlichen Kräfte, die er von anderen Dämonen wie Big Monster und den Loogaroos gestohlen hat.«

»Loogaroos?«, fragte Lieutenant Stroud ungläubig.

»So nannten sie die französischen Siedler, als sie nach Amerika kamen. Es ist die Verfälschung des Wortes loups-garous und bedeutet ›Werwölfe‹. Coyote hat von ihnen alle Kräfte übernommen. Er bedeckte seinen Rücken mit dem Fell eines Werwolfes und seinen Kopf mit dem Skalp von Big Monster, und durch sie ist er nahezu unzerstörbar.«

Lieutenant Stroud hörte sich diesen Ausbruch an und stand anschließend lange Zeit schweigend da, während wir alle sein Gesicht beobachteten und uns fragten, was er wohl antworten würde. Zunächst glaubte ich, dass er alles, was George Thousand Names gesagt hatte, als Mist bezeichnen würde, doch dann sah ich, wie sein Gesichtsausdruck sich entspannte und die Falten um seinen Mund sich vertieften, und ich erkannte, dass die feste Überzeugung des Medizinmannes ihn sozusagen überzeugt hatte.

»Ich will wissen, was da drinnen vor sich geht, in dem Zimmer. Ich möchte, dass Sie es mir erklären«, meinte er schließlich.

George Thousand Names trat einen Schritt vor. Das blaue Licht, das aus der Intensivstation strahlte, ließ seine Augen glitzern und vertiefte die Furchen in seinem Gesicht mit azurblauen Linien. Er hob eine seiner faltigen Hände – ums Handgelenk hingen Perlenarmbänder und die Finger waren mit Silberringen geschmückt – und presste die Hand gegen das Glas, als könne er die Vibrationen fühlen, die von der dunklen, verschlungenen Masse ausgingen, die vielleicht Dan war, oder Bryan, oder beide, oder vielleicht auch keiner von ihnen.

Mit der anderen Hand fasste er nach seinem goldenen Amulett und sagte leise: »Es ist die Zeit für Coyote gekommen, sich wieder selbst zum Leben zu erwecken, sich aus dem Lehm des menschlichen Fleisches neu zu formen. Er benötigt Blut, aber er kann auch ohne Blut auferstehen. Er formt sich aus den Körpern derer, die seinen Herzschlag und seinen Atem aufnahmen. Seht!«

Die ganze Zeit, während George Thousand Names die Hand gegen das Glas gepresst hielt, muss er geistig gegen die Kräfte Coyotes gekämpft haben. Als er nämlich ›Seht!‹ sagte, wurde das blaue Licht deutlich heller, und in dieser kurzen und entsetzlichen Helligkeit konnten wir tatsächlich sehen, was er versucht hatte, uns zu erklären. Wir sahen den Anfang des Erscheinens von Coyote, dem Dämon, dem Frauenschänder und Verräter, dem Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte.

Wir sahen Glieder, die sich auf dem Bett hoben und wieder herabsanken. Zunächst wirkte es wie Arme und Beine von Menschen, die in einem dunklen See untergehen – aber dann schien die in sich verknotete Fleischmasse sich zu erheben und fast aufrecht zu stehen. Ich konnte nur sprachlos hinstarren und fühlte, dass mir ein eiskalter Schauer über den Rücken lief.

Auf eine unbeschreibliche Weise waren Dan Machin und Bryan Corder zu einer Kreatur zusammengewachsen. Sie war fast zweieinhalb Meter groß und erhob sich blind von dem Bett. Bryans fleischloser Schädel bildete ihren Kopf, aber sie hatte von den beiden Männern die Beine und auch die Arme, die sie nach uns ausstreckte. Die beiden Rümpfe hatten sich in einem formlosen Doppelleib ineinander verschlungener Muskeln vereinigt, und Dan Machins gespenstisches Gesicht erschien einen Augenblick inmitten des Magens der Bestie, gegen die durchsichtige Haut gepresst, den Mund zu einem höllischen Schrei geöffnet.

Jim stammelte: »Das ist unmöglich!« Dr. Weston stöhnte, als hätte sie Schmerzen. Aber das blaue Licht wurde schon wieder schwächer und wir konnten nur noch die dunklen Umrisse des monströsen Geschöpfes erkennen.

Lieutenant Stroud sagte heiser: »Nun gut, Mr. Thousand Names, was ist das?«

George Thousand Names ging müde vom Fenster fort. »Es ist Coyote«, antwortete er schlicht. »Er nimmt viele Formen an, aber diese bevorzugt er. Er könnte auch als Frau, als Hirsch oder sogar als Fisch erscheinen. Es wird erzählt, dass er seine irdische Gestalt einmal aus einem Mädchen und einer Tarantel gebildet hat. Aber heute Abend wird er glücklich sein. Er hat zwei starke junge Männer für seine Reinkarnation, und unten im Leichenkeller liegt das Blut von Seymour Wallis.«

»Haben Sie die Anweisung erteilt, dass man das Blut fortschafft?«, fragte Lieutenant Stroud.

»Dr. Crane kümmert sich darum«, erwiderte Dr. Jarvis. »Seymour Wallis’ Körper ist jetzt sicher schon auf halbem Weg nach Redwood City.«

»Redwood City?«, fragte der Lieutenant. »Wieso denn nach Redwood City?«

»Elmwood Foundation finanziert ein Forschungscenter für Kälteerzeugung in Redwood. Wir können ihn dort so lange auf Eis legen, wie wir wollen.«

»Und was werden wir damit tun?« Ich wies auf den düsteren Schatten in der Intensivstation. »Wir können da doch nicht einfach zusehen.«

Lieutenant Stroud sah mich ungeduldig an, als ob er sagen wollte, dass ich mich doch verdammt noch mal um meine eigenen Angelegenheiten kümmern solle, aber er ging zu Jim und legte ihm vertraulich die Hand auf die Schulter.

»Doktor«, sagte er. »Ist das Ding eine Bedrohung für menschliche Leben? Für das Leben Ihrer Belegschaft?«

Jim leckte sich über die Lippen. »Dafür habe ich noch keinen Beweis. Bis jetzt habe ich nur außergewöhnliche physiologische Abnormitäten beobachtet. Es hat uns noch nicht bedroht.«

George Thousand Names mischte sich ein. »Coyotes Existenz ist eine Bedrohung! Sobald das Blut wieder in seinen Adern pocht, wird er uns in Stücke reißen!«

»Haben Sie dafür Beweise?«, fragte Lieutenant Stroud. »Ich zweifle nicht an Ihrem Wort, Sir, aber das Ding da drinnen ist ja irgendwie menschlicher Natur und ich kann keine menschlichen Wesen erschießen, es sei denn, ich hätte triftige Gründe zu glauben, dass sie Leben oder Eigentum bedrohen.«

George Thousand Names stand starr wie der Stachel eines Stachelschweins, seine Augen schleuderten Blitze. Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Intensivstation. »Lieutenant, das ist Coyote! Er ist aus der Unterwelt zurückgekehrt! Was kann ich Ihnen noch sagen? Das ist Coyote!«

Lieutenant Stroud schaute zu den beiden Polizisten hinüber – einer von ihnen hob seine Augenbrauen, als wollte er damit sagen, George Thousand Names habe nicht alle Tassen im Schrank.

»Was meinen Sie, Doktor?«, fragte der Lieutenant Dr. Weston. »Ist das ein indianischer Dämon? Oder ist es nur ein medizinisches Monstrum?«

Obwohl Dr. Weston noch zitterte von dem, was sie in der Intensivstation gesehen hatte, antwortete sie: »Es ist ein Monstrum. Es muss eines sein. Ich habe noch nie so etwas gesehen, aber wir können es nicht töten.«

»Angenommen …«, begann Dr. Jarvis.

»Nichts angenommen!«, unterbrach Dr. Weston. »Jim, dieses Geschöpf ist das seltsamste medizinische Ereignis, das wir je gesehen haben. Es ist, als wären siamesische Zwillinge vor unseren Augen entstanden. Wir können es jetzt nicht zerstören. Auf keinen Fall!«

»Dr. Weston«, meldete ich mich, »Sie haben nicht gesehen, wie Bryan Corder verletzt wurde. Sie waren nicht dabei, als die Augen von Dan Machin aufleuchteten wie die des Teufels … Was auch immer da drinnen ist, ob ein Dämon oder nicht, wir müssen unbedingt sichergehen, dass es nicht noch jemanden tötet!«

Dr. Weston wollte gerade antworten, aber dazu kam sie nicht mehr. Was jetzt passierte, war wie ein Autobahnunfall. Er rauschte so schnell an meinen Augen vorbei, dass ich es kaum begreifen konnte. Ich erinnere mich aber noch an zwei lebhafte und schreckliche Dinge, und ich nehme an, dass ich sie nie vergessen werde.

Jim rief plötzlich: »Es kommt hier entlang!«

Als wir uns umdrehten, um auf die Intensivstation zu schauen, hörten wir schon das Klirren zerspringenden Glases. Tausend Teile der Beobachtungsscheibe schwirrten durch den Raum. Einer der Polizisten fiel sofort auf die Knie, sein Gesicht sah aus wie zerhackte Leber, der andere drehte sich zur Seite und hielt die Hände über die Augen – Blut rann durch seine Finger. Meine eigenen Wangen wurden in dem Splitterregen zerschnitten, aber es war nicht das Glas, was mich erstarren ließ.

Es war Coyotes Erscheinung: Aufgerichtet wie eine riesige, bleiche Gottesanbeterin, den grinsenden Schädel regungslos auf dem formlosen Rumpf, drückte er mit seinen vier Armen die Reste der Glaswand beiseite, ohne Zeit zu verlieren.

Und mit ihm kam diese Hitze. Die entsetzliche, glühende Hitze. In der Intensivstation mussten 200 Grad herrschen, und jetzt drang von dort ein trockener, sengender Wind mit Geheul heraus, während Coyote durch das zerbrochene Fenster schnellte.

Lieutenant Stroud riss seine Einsatzwaffe vom Gürtel der Hose und feuerte zweimal auf den monströsen Dämon. Aber Coyote schwang einen Arm in Strouds Richtung, der daraufhin durch den ganzen Raum geschleudert wurde und mit dem Rücken krachend an der Wand landete. Die Pistole schlitterte in die Masse aus zerbrochenem Glas.

Jim schrie: »John, halt ihn fest!« Aber ich wusste, dass es keine Möglichkeit gab, dieses Wesen zurückzuhalten, deshalb riss ich die Tür auf und schrie: »Sinnlos! Um Gottes willen, kommt hier heraus!«

George Thousand Names hielt die Hände schützend über seinen Kopf. Er stolperte so schnell er konnte aus dem Raum. Dr. Weston folgte ihm, dann Jim und ich. Der Polizist mit den blutenden Augen wollte Lieutenant Stroud helfen, aber der Dämon schlug wieder mit seinem Arm zu und der Polizist schrie auf und stolperte hilflos in Richtung Tür.

»Ich brenne!«, schrie er. »Holt mich heraus! Oh Gott! Ich brenne!«

Jim rannte auf ihn zu, aber der Polizist öffnete jetzt den Mund und – eine glühende Flamme leckte zwischen seinen Lippen hervor. Er brannte innerlich, sein Magen und seine Lungen brannten, und jedes Mal, wenn er um Hilfe schreien wollte, strömte die Glut der Flammen aus ihm heraus.

»John! Eine Decke! Hol mir eine Decke!«, rief Dr. Jarvis, aber es war zu spät. Der Polizist fiel gegen die Flurwand und rutschte auf die Knie, wobei er eine Spur brennenden Blutes an der Wand hinterließ. Dann fiel er in sich zusammen, blieb still vor unseren Augen liegen und zu unserem Entsetzen drangen die Flammen, die ihn innerlich verbrannten, jetzt langsam nach außen, züngelten, setzten seine Uniform in Brand und dann seinen gesamten Körper, bis er wie ein ritueller Selbstmörder lodernd vor uns auf dem Boden lag.

Aus dem Innern des Raumes drang ein weiterer heißer Luftzug. Wir hörten ein Brummen und Gestöhn, der Klang eines teuflischen Biestes, das entschlossen war, uns zu vernichten. Plötzlich, wie bei einem Wunder, tauchte Lieutenant Stroud im Türrahmen auf und rollte sich seitwärts auf uns zu. Er schnappte nach Luft wie ein überanstrengter Athlet. George Thousand Names und Dr. Jarvis knieten sich neben ihm nieder.

»Okay, ich bin okay«, sagte er und versuchte aufzustehen. »Mein Rücken ist völlig zerkratzt, aber ich glaube, ich bin okay. Um Himmels willen, lasst uns schnell hier verschwinden. Das Vieh dreht völlig durch.«

»Es dreht nicht durch. Das ist sein natürliches Benehmen«, sagte George Thousand Names. »Er wird uns vernichten und verschlingen, und wir können nichts dagegen tun.«

Lieutenant Stroud stand unter Schmerzen auf, seine Augen fest auf die dunkle Tür gerichtet, hinter der Coyote lauerte.

»Vielleicht können Sie nichts tun, Medizinmann, aber ich weiß, was ich tun werde. Das … das Ding darin hat uns den Krieg erklärt, und wenn es Krieg will, verdammt, dann soll es ihn bekommen!«

George Thousand Names griff nach dem Lieutenant und hielt ihn zurück. »Bitte, Lieutenant. Sie haben es hier nicht mit irgendeiner Kreatur aus dem Fernsehen zu tun. Bomben und Tränengas können Coyote nicht verletzen. Sie können nicht mehr als …«

Seine Worte gingen unter in einem Gebrüll, das das ganze Gebäude erzittern ließ. Türteile, Fetzen von Teppichen, Mörtelstücke und eine trockene, wilde Hitze, die nach Tieren und Tod stank, schlugen auf uns ein. Coyote drängte aus dem Zimmer, um sein Blut und sein Gesicht zu suchen, und er kam, um uns abzuschlachten. Es war Coyote, der Dämon des Zornes und der Angst!

5

Ich war fast bewusstlos. Ein Stück Holz des Türrahmens hatte mich an der linken Seite des Kopfes getroffen und anschließend hatten meine Beine unter mir nachgegeben. Ich lag an einer Seitenwand des Flures, eingehüllt in zerfetzten Teppichbelag, und mir kam es vor, als fiele die ganze Welt um mich herum auf mich herab. Der heiße Hurrikan brüllte und kreischte, Trümmerteile wurden emporgeschleudert und flogen durch den Korridor. Als Coyote auf uns zukam, hörte ich über allem ein Geräusch, als ob jemand in ein Rohr hineinschreien würde, das das Echo immer wieder zurückwarf; ein hoffnungsloses, verzweifeltes Schreien, das mich mehr erschreckte als alles andere.

Ich kniff zum Schutz gegen den glühenden Wind die Augen zusammen und versuchte etwas zu erkennen. George Thousand Names lag gegenüber an der Wand und Lieutenant Stroud hockte neben ihm. Jim stand etwas weiter entfernt; er hatte die Hände über seinem dünnen Haar verschränkt. Nur Dr. Weston sah ich nicht.

Dann schien sich die Luft selbst zu verdunkeln und aus dieser Dunkelheit heraus kam etwas, dass mit Bryan Corder und Dan Machin gar nichts mehr zu tun hatte. Es war eine gespenstische Erscheinung: ein Geist von unheimlicher Dichte, gebildet aus verrenktem Fleisch. Eine Art negatives Glühen umgab die Gestalt, ein Glühen aus düsteren Schatten oder glühender Leere. Sie glitt dunkel über den Korridor, der Knochenschädel lächelte grausig aus dem widerlichen Fleischumhang heraus.

Das Schreien wurde schriller und lauter, als Coyote vorüberschritt, aber da war noch ein anderes Geräusch, das seine Bewegungen begleitete. Es war das Klatschen von toter Haut, das mich an lose im Wind flatternde Teerpappe auf einem Dach erinnerte. Es war fast mehr, als ich ertragen konnte.

Das Geräusch und der Wind schienen für alle Ewigkeiten weiterzudröhnen, aber plötzlich, als ich den Kopf vorsichtig hob, wurde mir klar, dass Coyote an uns vorbeigegangen war, ohne uns zu verletzen. Ich hob den Kopf noch etwas mehr und schaute mich um. Der Dämon war verschwunden.

George Thousand Names flüsterte heiser: »Ich glaube, es ist vorbei, zumindest für eine Weile. Er sucht jetzt nach seinem Blut.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Lieutenant Stroud.

»Sonst hätte er uns getötet und mit viel Freude Dr. Weston vergewaltigt. Er braucht jetzt sein Blut, um leben zu können. Falls er es nicht innerhalb des Mondverlaufes in dieser Nacht bekommt, wird er wieder in die Unterwelt verbannt werden.«

Lieutenant Stroud stand an die Wand gestützt da und tastete über seinen Rücken. »Das ist die erste annähernd gute Nachricht, die ich heute höre. Wir müssen Coyote nur für 24 Stunden von unwissenden Zuschauern fernhalten und das ist dann das Ende.«

George Thousand Names wischte über seine Windjacke. »Ich fürchte, nein, Lieutenant. Was Sie auch tun werden, Coyote wird dafür sorgen, dass er sein Blut bekommt.«

»Was ist mit seinem Gesicht?«, fragte ich. »Sein Gesicht war auf dem Türklopfer.«

»Danach wird er auch suchen.«

»Aber ich habe Jane fortgeschickt, damit sie ihn holt.«

George Thousand Names starrte mich an, sein Gesicht wirkte sehr ernst. »Sie haben Jane fortgeschickt, um den Türklopfer zu holen? Sie haben das wirklich getan?«

Panik stieg in mir auf. »Ja, sicher, ich dachte nur, falls er sein Gesicht nicht findet …«

George Thousand Names sagte: »Großer Geist, behüte uns. Wenn Coyote sie mit dem Ding erwischt, dann wird sie keine Chance haben.«

Lieutenant Stroud trat näher und sah sehr ungeduldig aus. »Tut mir leid, die unheilvollen Warnungen zu unterbrechen, aber was meinten Sie mit dem Blut? Das Blut müsste doch jetzt in Redwood City unter Verschluss sein, richtig, Doktor? Wie soll Coyote es finden, wie soll er an es herankommen?«

»Oh, nun hören Sie schon auf, Lieutenant«, sagte ich ebenso gereizt. »Coyote hat gerade hier faustdickes Glas durchbrochen.«

»Sie habe ich nicht gefragt«, entgegnete Lieutenant Stroud scharf. »Ich fragte hier unseren Experten.«

»Die Antwort auf Ihre Frage ist, dass Coyote so etwas wie ein Hundemonster ist«, sagte George Thousand Names. »Er hat ein übernatürliches Gehör und einen übernatürlichen Geruchssinn. Die alten Legenden erzählen, dass Coyote in der Lage war, das Bärenmädchen durch zehn Speerlängen festen Felsen zu riechen, und er zerstörte dann die Höhle und den halben Berg, um sie zu finden. Das soll am Nacimiento Peak passiert sein, vor so vielen Jahren, dass selbst die Navahos sich nicht erinnern.«

Lieutenant Stroud schaute grimmig drein: »Danke für die optimistische Vorhersage.«

»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte ich.

»Als Erstes werde ich die SWAT-Einsatztruppe alarmieren. Wir werden diese Kreatur finden, egal, was es ist. Dann verpassen wir ihm eine Dosis von dem, was es gerade an uns ausgeteilt hat.«

»Lieutenant«, unterbrach ihn George Thousand Names. »Ich dachte, Sie seien ein kultivierter Mann. Zumindest kultivierter als die meisten Polizisten.«

»Was wollen Sie damit unterstellen?«

Der alte Indianer schaute den Polizisten kalt und ruhig an. »Ihr kraftvolles Feuerpulver ist nutzlos. Würden Sie einen Fuchs mit einem Panzer jagen oder versuchen, einen Moskito mit einem Maschinengewehr zu töten? Coyote ist zu listig für Sie, Lieutenant, zu mächtig, zu gerissen. Sie müssen ihm eine Falle stellen, auf dieselbe Weise, wie die alten Götter es getan haben, indem Sie seine Lust und seine Eitelkeit reizen und ihn dazu beschwatzen, dass er Selbstzerstörung begeht.«

»Sie scherzen? In meinem Bericht über diesen Vorfall muss ich erklären, welche Maßnamen ich anordnete und weshalb ich es tat. Und ich kann mir vorstellen, was meine Vorgesetzten sagen werden, wenn sie lesen, dass ich die Lust und Eitelkeit des Mistkerls reizte und ihn beschwatzte, bis er Selbstzerstörung beging. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.«

Der Lieutenant ging in eines der nahe gelegenen Büros und griff nach dem Telefon. Er haute einige Male auf die Tasten und bekam endlich eine Verbindung. Während er Verstärkung anforderte, sah George Thousand Names Jim und mich an und zuckte die Achseln: »Einem Weißen können Sie nie etwas erklären.«

»Was ist mit Jane? Können wir etwas tun, um ihr zu helfen?«, fragte ich.

»Natürlich«, antwortete der Indianer. »Für uns beide ist es jetzt das Beste, wenn wir zu diesem Haus in der Pilarcitos Street fahren und es mit dem stärksten magischen Bann versiegeln, den wir kennen. Wenn er noch nicht dort ist, denn er wird auf jeden Fall versuchen, den Türklopfer zu stehlen und in den Besitz dieser Bilder vom Mount Taylor und Cabezon Peak zu gelangen.«

»Warum das?«, fragte Jim.

»Ganz einfach, er will das Haar haben, das er Big Monster abgeschnitten hat. Sobald er es findet, ist seine Unsterblichkeit gesichert. Dann werden wir nie mehr in der Lage sein, ihn zu zerstören oder zu verbannen.«

»In Ordnung«, sagte ich. »Worauf warten wir noch?«

Als wir das Krankenhaus durch die Vordertür verließen, fuhren gerade die ersten Lkw und Wagen der SWAT vor und Blaulicht heulte und zuckte durch die Nacht. Wir gingen schnell hinüber zum Parkplatz und stiegen in Dr. Jarvis’ Monte Carlo. Während Jim den Sitz zurückklappte, damit ich auf den Rücksitz kletterm konnte, schaute er zum Krankenhausdach hinauf: »Die Vögel, sie sind verschwunden.«

George Thousand Names schien das alles mit großer Ruhe hinzunehmen. Während er sich auf den Beifahrersitz begab, meinte er: »Natürlich. Sie sind Coyote gefolgt. Sie hängen wie eine Trauerwolke über seinem Kopf. Manchmal scheinen sie die Luft mit dickem Rauch zu erfüllen, manchmal sind sie nahezu unsichtbar. Vögel sind sehr seltsame und magische Geschöpfe, Dr. Jarvis. Sie haben eine übernatürliche Gabe, die die Menschen kaum verstehen.«

Jim startete den Wagen und wir fuhren aus der Krankenhausausfahrt auf die Straßen des mitternächtlichen San Francisco. Es war eine warme, neblige Nacht und die Lichter der Stadt glitzerten durch den Dunst, der kaum zu atmen war. Obwohl es schon spät war, fuhren heute am Samstagabend noch viele Autos herum, und Pärchen spazierten über die abschüssigen Straßen.

Während wir die 17th Street in der Nähe der Delores Street entlangfuhren, sah ich in einer Seitenstraße ein Mädchen in roter Bluse und weißen Jeans. »Jim, das ist Jane! Ich bin sicher, es ist Jane! Fahr zurück!«

Jim hielt am Bordstein und fuhr rückwärts. Ich schaute angestrengt durch das kleine Rückfenster, bis Jane in Sicht kam. Sie ging zielstrebig in Richtung Mission Street. Jim hupte und erst da blieb sie stehen, krauste verwundert die Stirn und kam auf uns zu.

Jim kletterte aus dem Wagen und ich quetschte mich hinter ihm ebenfalls hinaus. Ich ging um den Wagen herum, fasste Jane am Arm und hielt sie fest. Sie war blass, ihre Augen hatten einen feuchten, kurzsichtigen Blick, aber ansonsten schien sie okay zu sein.

»Jane, Jane, was ist los?«

Sie lächelte, aber irgendwie schien sie unkonzentriert.

»Nichts ist los«, flüsterte sie. »Überhaupt nichts ist los.«

»Aber warum hast du denn kein Taxi genommen? Was tust du hier?«

»Hier?«, fragte sie, wobei sie den Kopf hob und mich irritiert anschaute.

»Dies ist die 17th Street. Du solltest doch mit einem Taxi zur Pilarcitos Street fahren.«

Jane fasste sich an die Stirn, als ob sie sich zu erinnern versuchte. »Ach ja, Pilarcitos Street.«

Jim drückte mich freundlich zur Seite und untersuchte Jane kurz. Er hob mit seinem Daumen eines ihrer Augenlider und prüfte ihren Puls. Während er das tat, stand sie still und passiv da. Sie runzelte nur schwach die Stirn, ihre Augen starrten in irgendeine persönliche Ferne, von der ich keine Ahnung hatte.

»Ist sie in Ordnung?«, fragte ich. »Sie kommt mir vor, als ob sie unter einem Schock leidet.«

»Es könnte ein Schock sein«, antwortete Jim. »Andererseits könnte es aber auch eine Art Hypnose oder Trance sein.«

»Meinst du, Coyote …?«

»John, ich weiß nicht, was ich annehmen soll. Aber wichtig ist nur, dass sie in Sicherheit ist. Setzen wir sie in den Wagen und fahren in die Pilarcitos Street. Dann kann unser indianischer Freund hier das tun, was er tun muss, um Coyote aus dem Haus zu halten, und danach können wir Jane mit zurück ins Krankenhaus nehmen.«

George Thousand Names steckte den Kopf aus dem Wagenfenster. »Dauert es noch lange?«, fragte er mich. »Je schneller wir bei dem Haus sind, desto besser. Wenn Coyote es schon erreicht hat, dann haben wir keine Chance mehr.«

Jim und ich halfen Jane auf den Rücksitz des Wagens und fuhren weiter.

Als wir die kurvenreiche Straße hochfuhren, sah das Haus 1551 ebenso dunkel und düster wie bisher aus. Die Fenster ähnelten müden Augen und der schlechte Anstrich schien noch mehr abgeblättert zu sein. Jim fuhr langsam näher. Als wir vor dem Haus ankamen, stellte er den Motor ab und eine Minute lang blieben wir schweigend sitzen.

»Glauben Sie, dass Coyote drin ist?«, fragte ich mit unsicherer Stimme.

»Das kann man unmöglich sagen«, antwortete George Thousand Names. »Falls er da drin ist, dann werden wir es bald merken.«

»Wie?«

»Er wird uns töten.«

Jim wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Aber möglicherweise kann er auch nicht da sein, stimmt’s? Er kann noch immer auf der Suche nach Seymour Wallis’ Blut sein!«

»Natürlich.«

Ich sah Jim an und Jim sah mich an; »Tja«, meinte ich kleinlaut. »Wenn wir hier sitzen bleiben, passiert nichts.«

Wir stiegen aus dem Wagen und gingen herum, um George Thousand Names zu helfen. Jane blieb, wo sie war, still und wahrscheinlich unter einem Schock stehend. Wir drei überquerten den Bürgersteig und blieben vor dem Durchgang zu Haus 1551 stehen, schauten zu den dämmrigen Fenstern, unter denen die Farbe abblätterte.

»Ist der Türklopfer noch da?«, fragte George Thousand Names. »Ich kann es ohne meine Brille von hier aus nicht erkennen.«

Jim und ich spähten in die Schatten. Zunächst dachte ich, dass er verschwunden sei, aber dann sah ich den dunklen Glanz von Bronze und wusste, dass sich Coyote noch auf der Hatz nach seinem Blut befand. Für den Augenblick waren wir in Sicherheit.

Wir öffneten das quietschende Tor und stiegen die Stufen hoch. George Thousand Names stand einen Moment vor dem grinsenden Gesicht auf dem Türklopfer, bis er langsam den Kopf schüttelte: »Wäre ein Indianer an diesem Haus vorbeigekommen und hätte das Gesicht gesehen, er hätte sofort gewusst, um was es sich handelt«, sagte er ruhig. »Es ist genauso provozierend, als hinge das Bild eines Dämons an Ihrer Tür. Jetzt wollen wir aber dafür sorgen, dass Coyote es nie benutzen kann.«

Er griff in eine Tasche seiner Windjacke und zog ein Amulett hervor. Es war ein schmales, goldenes Medaillon mit einem seltsamen, eingekratzten Zeichen. Er hielt es einen Augenblick in den Fingern seiner beiden Hände, anschließend berührte er damit seine Stirn. Dann trat er dicht an den Türklopfer heran und hob die Hand.

»Unerträglicher Coyote, du Teuflischer aus dem Südwesten«, murmelte er. »Dieses Abbild ist für immer durch meine Beschwörung gebunden, für immer vor dir verschlossen. Dieses Abbild wird dich verbrennen, dieses Abbild wird dich erfrieren lassen, dieses Abbild wird dir mit der Kraft der Winde des Nordens entgegenblasen. Du kannst dieses Abbild niemals berühren, dieses Abbild niemals benutzen, ohne dass der Zorn des Großen Geistes für immer über dich kommt.«

Nun herrschte Stille. Ein Lastwagen dröhnte über eine entfernte Straße.

Dann, leise, hörte ich ein zischendes Geräusch. Es war, als ob jemand tief Atem holt. Jemand, der zu reden beginnt.

Eine ruhige, heimtückische Stimme sagte: »Narren.«

Ich spürte, dass ich zitterte. Ich wusste, dass es idiotisch war, derart zu zittern. Aber es war der Türklopfer, der bronzene Türklopfer, der sprach. Aus seinen wilden Augen loderte ein brutales Licht, und möglicherweise überschlug sich ja nur meine Fantasie, aber ich wusste, dass er dieses Mal mit Haaren bedeckt war und seine Zähne so erbarmungslos und scharf waren wie die eines richtigen Wolfes oder Hundes.

George Thousand Names stand kerzengerade da. Es war offensichtlich, dass er eine enorme geistige Anstrengung aufbrachte, um die Situation unter Kontrolle zu halten. Er kreuzte die Arme vor seinem Gesicht, dann vollführte er mit beiden Händen eine vertreibende, entlassende Bewegung.

»Coyote ist ein Hund, der durch die Nacht rennt.« Seine Stimme zitterte vor Gefasstheit und Ernst. »Coyote ist ein Schleicher, ein Lügner. Die Götter hören zu, die Götter wissen das. Sie lehnen dich ab, sie lehnen dich ab, sie lehnen dich ab.«

Der Türklopfer stieß ein eisiges Lachen aus.

»Still!«, schrie George Thousand Names. »Ich befehle dir, still zu sein!«

Wieder hörte man dieses Zischen und ein weiteres grässliches Gelächter.

»Du hast keine Gewalt über mich, du seniler Narr«, flüsterte der Türklopfer. »Mein Meister eilt her und dann wirst du es sehen!« Wieder lachte er.

Die Tür des Hauses öffnete sich von selbst und knallte wieder ins Schloss.

Doch George Thousand Names hatte nicht aufgegeben. Er hob erneut die Arme. »Der Frost des Nordens wird dich einhüllen, der Frost des Nordens wird dich brechen. Coyote aus der Wüste wird deine Furcht spüren und er wird zurückkriechen wie der Hund, der er ist.«

Ich konnte es immer noch nicht glauben, was ich nun sah, aber ich hatte in dieser Nacht schon so viel gesehen, dass mich ein weiterer Irrsinn auch nicht mehr erschütterte. George Thousand Names wies mit einem steifen Zeigefinger direkt auf den Türklopfer und aus seinem Finger strömte eine sichtbare, glitzernde Wolke aus Eis. Das Eis legte sich auf den Türklopfer, umhüllte ihn mit weißen Kristallen und sein Zischen erstarb fast sofort.

Er hielt seinen Finger weiterhin auf den Türklopfer gerichtet und das Eis wurde immer dicker und dicker. Von dort, wo ich stand, zwei oder drei Schritte entfernt, konnte ich die Kälte spüren. Dann zersprang der Bronzekopf plötzlich und Stücke gefrorenen Metalls regneten hinab auf die Türschwelle.

George Thousand Names ließ seinen Arm fallen. Er schwitzte und rang schwer nach Luft. Aber es war ihm noch genügend Energie geblieben, um gegen die Stücke des Türklopfers zu treten und zu sagen: »Ein seniler Narr, was? Du Klumpen Altmetall.«

Jim pfiff laut aus. »Das war erstaunlich. So etwas habe ich noch nie gesehen. Mr. Thousand Names, Sie sollten sich einen Job in der Branche für tiefgekühlte Lebensmittel suchen.«

Ich nahm einen Arm von George Thousand Names. »Sie haben eine Schlacht gewonnen. Sie haben sich mit Coyote angelegt und gewonnen.«

Er schüttelte den Kopf. »Wir sind noch längst nicht fertig und meine Kräfte sind nicht groß. Dr. Jarvis, Sie haben in Ihrem Wagen doch noch Platz für die Bilder vom Mount Taylor und Cabezon Peak?«

»Wie? Klar. Aber ich dachte, Sie wollen das Haus mit einigen Bannsprüchen versiegeln.«

George Thousand Names wischte sich die Stirn mit seinem Taschentuch trocken. »Ich wünschte, ich könnte es, Dr. Jarvis. Aber der Kampf mit dem Abbild Coyotes hat mir gezeigt, dass ich die Kraft dazu nicht habe. Ich bin zu alt, zu schwach. Wir müssen es irgendwie anders versuchen.«

Ich drückte die schwere Vordertür auf und wir traten vorsichtig ins Innere. Die Bilder hingen noch da. Ich sagte: »Gut. Lasst uns so viele wie möglich mitnehmen und sie in den Kofferraum legen. Dann verschwinden wir.«

Schnell und nahezu lautlos nahmen wir die Bilder und Zeichnungen von den Wänden und brachten sie hinaus zum Kofferraum von Jims Auto. Es waren etwa 50 oder 60 Bilder und als wir endlich fertig waren, wurde der hintere Teil des Wagens vom Gewicht der schweren Bilderrahmen heruntergedrückt.

Jane, die noch immer auf dem Rücksitz saß, schaute auf. »Ist alles in Ordnung? Ich fühle mich so seltsam.«

»Keine Angst«, sagte Jim. »Wir nehmen Sie mit zum Krankenhaus und werden Sie untersuchen.«

»Oh, nein, nein«, antwortete sie. »Es geht mir gut, ehrlich. Ich schätze, ich leide nur unter einem Schock.«

»Wie auch immer, eine gründliche Untersuchung kann doch nicht schaden.«

Jim stieg in den Wagen und startete den Motor. George Thousand Names sagte: »Wir müssen einen sicheren Platz für die Bilder finden. Einen kleinen Ort, den ich mit einem magischen Bann leicht schützen kann.«

»Wie wäre es mit meiner Wohnung?«, schlug ich vor. »Ich habe ein wirklich kleines Apartment – wenn man sich mit einem Baseballschläger hinter die Eingangstür stellt, dann kann man Horden von Barbaren eine Woche lang auf Distanz halten.«

»Das klingt gut. Können Sie uns den Weg weisen?«

Wir fuhren zu meinem Apartmenthaus. Sam, der Portier, sah uns mit unverhohlenem Misstrauen zu, als wir die ganzen Bilder in den Aufzug stopften und mit rauf nahmen. Ich schloss die Tür meines Apartments auf und wir stapelten all die Bilder in meiner kleinen Diele unter dem Poster von Dolly Parton.

Ich trat zurück und rieb mir den Staub von den Händen. »Okay. Was ist jetzt mit dem magischen Schutz?«

George Thousand Names sagte: »Ich würde gern zuerst etwas trinken.«

Wir gingen in mein winziges Wohnzimmer. Dort öffnete ich meinen schwarzen Cocktail-Schrank mit den goldenen Verzierungen und goss uns vier Hiram Walkers ein. Eigentlich mag ich diesen Whisky kanadischen Typs gar nicht so gerne, hatte aber gerade nichts anderes anzubieten. Wir vier standen müde und erregt da und tranken ihn wie Medizin.

»Ich werde das hier an Ihre Tür hängen«, sagte George Thousand Names zu mir. Er holte ein kleines Halsband aus Knochen aus der Tasche seiner Windjacke und hielt es hoch. Es sah nach nichts Besonderem aus. Die Knochen waren alt und trocken und farblos. Offensichtlich waren sie einmal rot und grün bemalt gewesen, doch davon war das meiste verschwunden.

»Dies ist das Halsband, das unser alter Held Broken Shield getragen hat, als er den Leech Lake Mountain hinaufstieg und den Donnergott herausforderte. Historisch ist es unbezahlbar. Es wird um die 3.000 Jahre alt sein. Aber es wurde gemacht, um benutzt zu werden. Deshalb möchte ich, dass Sie es heute Nacht behalten, denn Coyote von Big Monsters Skalp fernzuhalten ist weit wichtiger als irgendeine Reliquie, egal, wie wertvoll sie für uns ist. Coyote wird es nicht wagen, sie anzufassen. Falls er es tut, wird er den Zorn von Gitche Manitou heraufbeschwören, dem Großen Geist persönlich.«

»Ich dachte, Coyote sei ein Dämon, der vor nichts und niemandem Angst hat und sich mit allen anlegt«, sagte Dr. Jarvis.

»Das ist richtig«, bestätigte George Thousand Names. »Aber wie alle überheblichen und bequemen Dämonen bevorzugt er ein ruhiges Dasein – der Zorn von Gitche Manitou würde ihm seine Freuden für die nächsten 5.000 Jahre sicherlich verdrießen.«

»Freuden?« Jim schüttelte ungläubig den Kopf.

»Dr. Jarvis«, erwiderte George Thousand Names. »Bitte denken Sie daran, dass für einige der wilden Dämonen das Verschlingen eines Menschen nicht weniger vergnüglich ist wie für uns das Essen eines Tütchens mit gerösteten Erdnüssen.«

George Thousand Names hängte das Halsband um den Griff meiner Wohnungstür und murmelte einige Beschwörungsworte darüber. Dann sagte er: »Ich nehme an, dass wir alle müde sind, aber für morgen müssen wir alle ausgeruht sein. Ich schlage vor, dass wir uns etwas Schlaf gönnen. Ich habe mir von meiner Bekannten ein Zimmer im Mark Hopkins reservieren lassen. Könnten Sie mich bitte dorthin fahren, Doktor?«

»Aber sicher«, entgegnete Jim. »Wie ist das mit dir, Jane? Kann ich dich irgendwo absetzen?«

Jane hatte die ganze Zeit in sich gekehrt auf meinem Lieblingssessel gehockt. Sie sagte mit flacher Stimme: »Nein, schon gut. Falls John nichts dagegen hat, dann möchte ich hierbleiben.«

»Etwas dagegen haben? Du willst mich wohl auf den Arm nehmen.«

George Thousand Names trat auf mich zu und schüttelte mir die Hand. Leise sagte er: »Ich möchte Ihnen danken, dass Sie genug Vorstellungsvermögen hatten, zu sehen, was hier wirklich vor sich ging. Dadurch haben wir zumindest eine kleine Chance.«

Sie wollten gerade gehen, als mein Telefon läutete. Ich winkte sie wieder ins Zimmer und nahm den Hörer ab.

»John Hyatt.«

Es war Lieutenant Stroud. »Sie sind also wieder zu Hause, hmm? Ich habe Sie gesucht. Ist dieser Indianer bei Ihnen?«

»George Thousand Names? Ja.«

Der Polizist hüstelte: »Wir hatten eine kleine Schwierigkeit auf dem Bayshore Freeway, kurz hinter Millbrae. Der Krankenwagen mit Dr. Crane und dem Körper von Seymour Wallis wurde gewissermaßen überfallen.«

»Überfallen? Sie meinen von Coyote?«

Der Lieutenant stieß laut den Atem aus. »Gut, wenn Sie es so nennen wollen. Der Fahrer des Krankenwagens berichtete, dass er ganz normal über den Freeway fuhr, als sich plötzlich ein gewaltiger Koloss auf der Fahrbahn vor ihm aufrichtete. Er konnte als Einziger lebend entkommen. Dr. Crane, es tut mir leid, dass ich das sagen muss, ist tot. Verbrannt, ebenso meine beiden Mitarbeiter.«

Ich legte meine Hand über die Sprechmuschel und sagte zu Dr. Jarvis: »Jim. Dr. Crane ist tot. Es tut mir leid. Coyote hat den Krankenwagen kurz hinter dem Flughafen überfallen.«

George Thousand Names sah todernst aus. »Das Blut«, wollte er wissen. »Hat er das Blut bekommen?«

»Mr. Thousand Names möchte wissen, ob Coyote das Blut bekommen hat«, gab ich Lieutenant Stroud durch.

Er räusperte sich: »Sagen Sie ihm, dass man Seymour Wallis eine halbe Stunde später in der Bucht gefunden hat. Er war so ausgesaugt, dass der Mann, der ihn entdeckt hat, zuerst dachte, er hätte einen toten Haifisch gefunden.«

Ich vermochte nur noch zu sagen: »Das war’s dann also. Was können wir noch tun? Haben Sie irgendeine Ahnung, wo Coyote jetzt steckt?«

»Die APB und die SWAT-Mannschaft sind draußen und überprüfen jedes mögliche Versteck. Aber wenn Sie mich fragen, ich schätze, es ist hoffnungslos.«

»Danke, Lieutenant«, sagte ich und legte den Hörer auf.

In dem ersten Morgenschimmer, der in mein Zimmer drang, sah George Thousand Names müde und erschöpft aus. Er strich sich mit den knorrigen Fingern durch sein weißes Haar. »Hoffen wir nur, dass wir diesen Kampf nicht verlieren, Freunde. Falls Coyote seine gesamten Kräfte erlangen wird, dann kann ich euch nicht beschreiben, welch ein Gemetzel er veranstalten wird.«

Jane schaute plötzlich auf und lächelte. Ich erinnere mich, dass mir dieses Lächeln äußerst seltsam vorkam. Verdammt, was gab es denn jetzt, worüber man lächeln konnte?

Ich richtete Jane ein provisorisches Bett auf dem Sofa her. Ich war zu erschöpft und erschüttert, um daran zu denken, sie zu verführen – außerdem benahm sich Jane so geistesabwesend und zurückhaltend, dass sie, hätte ich laut gerufen: »Komm, lass uns Liebe machen!«, höchstens »Wie bitte?« gefragt hätte.

Sie wickelte sich in eine Decke und schlief sofort ein. Ich ging durch die Wohnung, schaltete die Lampen aus und zog die Vorhänge vor, aber irgendwie war mir gar nicht danach, mich hinzulegen und die Augen zu schließen. Ich ging in die Diele und sah mir einige der Zeichnungen des Mount Taylor an. Das Glas in den Rahmen war ziemlich staubig und fleckig und die meisten der Bilder wiesen Stockflecken auf, aber wenn man sie näher betrachtete, erkannte man, dass jemand unter jedes Bild etwas mit Bleistift geschrieben hatte: Mount Taylor von Lookout Mountain aus gesehen, oder Mount Taylor von San Mateo aus gesehen. Ähnliche Anmerkungen standen unter den Bildern vom Cabezon Peak, etwa Cabezon Peak von San Luis aus gesehen.

Auf Zehenspitzen ging ich durch das Wohnzimmer und holte eine Straßenkarte aus einer Schublade. Dann schlich ich zurück in die Küche, schloss die Tür und faltete sie auf dem Tisch auseinander. Rundherum legte ich so viele Bilder vom Mount Taylor und Cabezon Peak, wie noch Platz blieb. Ich legte ein Blatt Wachspapier über die Karte, nahm einen Stift und markierte darauf die Stellen, von denen jede der Ansichten auf die Berge gezeichnet worden war.

Um mich wach zu halten, rauchte ich dabei eine halbe Packung Zigaretten und braute mir eine große Kanne schwarzen Kaffee, während das Sonnenlicht das Küchenfenster heraufwanderte und im Wohnzimmer die Wanduhr zu jeder vollen Stunde leise schlug.

Gegen neun Uhr hatte ich fast jeden Blickwinkel markiert. Ich hielt das Wachspapier hoch und bewunderte das entstandene Muster aus sauberen X-en, das ich darauf gezeichnet hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sie alle bedeuteten. Zum Teufel noch mal – sie schienen keinerlei Muster zu bilden, doch ich hatte die Hoffnung, dass George Thousand Names mich möglicherweise erleuchten könnte.

Ich steckte das Blatt in meine Hosentasche, ging durch die Küche, setzte Wasser für eine weitere Kanne Kaffee auf und stellte den kleinen tragbaren Fernseher an, den mir meine Mutter letztes Weihnachten geschenkt hatte. Nach einigen Reklamesendungen für Zucker-Frosties und einer blöden Plastikschleuder, mit der sich Action-Man über die Hecke des Nachbarn schießen ließ, erwischte ich die Nachrichten über den Krankenwagen, aus dem Seymour Wallis’ Leiche entführt worden war.

Der Ansager berichtete: »Die SWAT-Einheit von San Francisco jagt noch immer einen unheimlichen Entführer, der einen Krankenwagen auf dem Weg vom Elmwood Foundation Hospital zur Redwood City Clinic überfiel und die Leiche von Seymour Wallis stahl, der in unserer Stadt wohnte. Der Entführer wird von den Beamten als ›bewaffnet und sehr gefährlich‹ beschrieben. Er verletzte den begleitenden Arzt Dr. Kenneth Crane sehr schwer, ebenso Miguel Corralitos, einen 27-jährigen Krankenpfleger. Der Körper von Mr. Wallis wurde später von einem Fischer in der Bucht hinter Millbrae gefunden. Bis jetzt hat die Polizei keinen Hinweis auf die Gründe für diese Tat, aber sie versprach, schnellstmöglich neue Informationen bekannt zu geben.«

Danach folgte ein Bericht über Orangen-Mehltau auf einer Fruchtfarm vor der Stadt. Ich schaltete den Fernseher aus.

Also war Coyote noch frei, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, welche Form er jetzt angenommen haben könnte oder wo er sich aufhielt. Was tut ein widerlicher Dämon während des Tages? Er kann unmöglich durch die Straßen von San Francisco streifen, besonders nicht mit Lieutenant Stroud und der SWAT-Mannschaft auf seiner Fährte. Falls er überhaupt eine Spur hinterließ.

Mein Kaffeewasser begann zu gurgeln und zu sprudeln. Ich schreckte richtig zusammen. Während ich hinaus auf die Hinterhöfe der umliegenden Apartmenthäuser schaute, zündete ich mir noch eine Zigarette an. Es war Sonntag. Auf der Feuerleiter saß ein schwangeres Mädchen im Kittel und bürstete ihr Haar in der Morgensonne trocken. Ich hustete und wünschte, ich könnte mit dem Rauchen aufhören. Im Augenblick zumindest schien es wenig Sinn zu ergeben. Wenn der Krebs mich nicht holte, dann würde es wahrscheinlich Coyote tun.

Das Telefon läutete. Ich nahm den Hörer ab. »John Hyatt.«

Es war George Thousand Names, der vom Mark Hopkins aus anrief. »Haben Sie gut geschlafen?«, fragte er.

»Gar nicht«, sagte ich. »Ich habe den Rest der Nacht damit verbracht, die verschiedenen Blickwinkel auf Mount Taylor und Cabezon Peak aufzuzeichnen.«

»Sieht es nach etwas Interessantem aus?«

»Tja, könnte sein. Aber ich glaube, jemand müsste es richtig deuten. Ich war nie besonders gut in Trigonometrie.«

»Möchten Sie rüber zu mir kommen? Solange das Halsband an der Tür hängt, wird Ihre Wohnung geschützt sein.«

»Da sind Sie sich sicher?«

»Sicher bin ich sicher. Auf jeden Fall wird Coyote jetzt sowieso ausruhen, um das Blut in seinem Körper zu absorbieren.«

»Ich frage mich, was Dämonen so am Tag treiben.«

»Dämonen sind Wesen der Dunkelheit«, sagte George Thousand Names. »Bei Sonnenlicht ist ihre Kraft geschwächt. Sie können also darauf wetten, dass Coyote sich in irgendein verlassenes Haus verzogen hat oder in einen Abwasserkanal. Vielleicht hat er sich sogar nach 1551 zurückgezogen.«

»Wäre es nicht gut, wenn wir versuchen würden, ihn jetzt bei Tageslicht aufzustöbern?«

»John … wenn ich sage, dass seine Kräfte geschwächt sind, dann meine ich damit nicht, dass er überhaupt keine Kräfte hat. Wenn wir uns dieser Kreatur nähern, sind wir totes Fleisch. Ich meine das ernst.«

»Danke für die erfreuliche Nachricht. Ich werde etwa in einer Stunde bei Ihnen sein. Ich möchte erst einmal duschen, denn ich stinke wie ein Schwein.«

»Okay«, sagte er. »Vergessen Sie nicht, Ihre Karte mitzubringen.«

Ich wollte gerade antworten: »absolut nicht«, als mir die Worte auf den Lippen erstarben. Die Küchentür hatte sich einen Spalt geöffnet und draußen stand etwas und beobachtete mich.

Ich sah das Glitzern dunkler Augen und einen düsteren Umriss. Mich überkam das Gefühl, als verschwinde die Welt unter mir, und jeder Nerv meines Körpers kribbelte und zitterte vor Angst.

»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«, fragte die leise, weit entfernte Stimme von George Thousand Names.

»Warten Sie. Da steht etwas vor meiner Tür. Ich weiß nicht, was es ist. Warten Sie.«

»Welche Tür?«, fragte er.

»Die Küchentür. Die Küchentür, es ist …«

Die Tür wurde so hart aufgestoßen, dass Holzsplitter und herausgerissene Türangeln durch den Raum flogen. Ich schrie laut auf, warf mich von meinem Stuhl und krabbelte über den Boden zum Spülbecken. Dort bewahrte ich in einer Schublade meine Messer auf – ich brauchte jetzt eine Waffe.

Das Biest kam wie eine Flutwelle aus schwarzem Pelz durch die Tür. Es war ein Bär, ein massiver, voll ausgewachsener Grizzly, fast 150 Kilo Haare, Muskeln und bösartig gekrümmte Krallen. Er stieß heftig gegen die Küchenmöbel. Der Fernseher, die Kaffeemaschine und das Gewürzregal krachten herab und zersplitterten auf dem Boden.

Als der Bär sich umdrehte, schnaubte er böse. Ich zog die Küchenschublade zu schnell und zu kräftig auf und ein Regen aus Messern, Gabeln, Apfelentkernern und anderen Geräten ergoss sich um mich herum.

Ich duckte mich, ergriff mein größtes Küchenmesser und rollte mich, so schnell ich konnte, in Richtung der zerbrochenen Tür. Der Bär blieb stehen und schnaubte heftig. Erst jetzt sah ich ihn richtig an.

Es war nicht nur ein riesiges Biest mit zotteligem Fell und strengem animalischem Geruch. Es hatte ein bleiches weißes Gesicht – bleich wie das einer Frau, jedoch mit gelblichen Zähnen, die bei jedem Schnauben und Brummen zum Vorschein kamen. Ich starrte es an, versuchte zu verstehen, was es war, was es sein könnte. Ich war so geschockt und entsetzt, dass ich es erst einmal nicht fassen konnte, und ich vermochte meinen Verstand nicht darauf zu konzentrieren, dass dieses schreckliche Biest tatsächlich existierte.

Es war Jane. So brutal und wild sie auch waren, diese Augen waren ihre Augen. Dieses Gesicht war ihr Gesicht. Die seltsame Statue auf dem Treppengeländer in Seymour Wallis’ Haus war zum Leben erwacht. Und sie stand hier.

Ich flüsterte: »Jane.«

Sie antwortete nicht, schnaubte nur und kam unbeirrbar auf mich zu, ihre scharfen Pranken kratzten auf dem Küchenboden. Speichel tropfte von ihren Zähnen herab und in ihrem Gesichtsausdruck stand alleine blinder, animalischer Hass.

»Jane, hör doch.« Meine Stimme war nur ein Krächzen. Die ganze Zeit versuchte ich rückwärts zur Tür zu kommen. Ich sah, wie sich die Muskeln unter dem rauen, glänzenden Fell anspannten, und wusste, dass sie mich gleich anspringen würde. Dieses Mal verfehlte sie ihr Ziel wohl kaum.

Auf dem Boden wiederholte der Telefonhörer immer wieder: »John? John? Was ist los, was ist passiert?«

Man hörte ein kurzes Trommeln der scharfen Krallen, dann sprang die Bärenfrau mit der Gewalt eines riesigen schwarzen Autos auf mich zu. Ich weiß, dass ich schrie, aber es geschah dieses Mal mit aggressiver Verzweiflung, diese Art Banzai-Schrei, der einem in der Armee beigebracht wird, um das Adrenalin hochzupumpen.

Als der gewaltige Bär auf mich zusprang, riss ich meinen Arm zurück und schlug ihm mit dem Fleischmesser mitten ins Gesicht. Das half wenig. Die Kraft des Sprunges warf mich gegen die Wand. Wir fielen auf den Boden in einer scheußlichen Umarmung von Blut, Fell und Klauen. Ich glaube, ich war für einen Moment bewusstlos, aber dann gelang es mir, etwas von dem Gewicht auf meinen Beinen und Hüften zur Seite zu schieben und sie herumzurollen.

Zuerst dachte ich, die Bärenfrau wäre tot. Das Messer hatte sie auf der linken Hälfte des Gesichtes getroffen und dort ein tiefes, blutiges V in ihre Stirn geschnitten und zudem ihr linkes Auge verletzt. Die Schnelligkeit ihres eigenen Sprungs hatte den meisten Schaden angerichtet, denn ich hätte niemals auf jemanden so heftig eingestochen. Ich kniete neben ihr, zitternd und vom Schrecken ergriffen. Fast wären mir meine letzten Tassen Kaffee hochgekommen.

Sie öffnete ihr rechtes Auge und sah mich an. Ich zuckte nervös zusammen und stand auf, um außer Reichweite dieser Klauen und Zähne zu kommen. Sie lächelte. Eine Art bitteres und selbstzufriedenes Grinsen.

»Mein Herr wird dich jetzt haben wollen«, flüsterte sie. »Er hat so lange auf seine wunderschöne Bärenjungfrau gewartet, und schau, was du getan hast. Mein Herr wird dich hetzen und dafür sorgen, dass du den schlimmsten Tod stirbst, den man sich nur vorstellen kann.«

Ich fragte schwerfällig: »Jane?«

Obwohl das Gesicht so aussah wie das von Jane, so gab es jedoch nichts im Verstand dieser Kreatur, das an Jane erinnerte oder dass sie mich überhaupt kannte. Sie lag da, keuchte und blutete. Ich hatte sie nicht getötet und es würde nicht lange dauern, bis sie mich wieder angriff.

Aus dem Telefonhörer drang: »Hallo? Hallo? John!«

Ich nahm es vom Boden auf. »Ich bin hier, George. Im Augenblick geht es mir gut. Die Bärenfrau ist hier. Es ist Jane. Die Bärenfrau ist Jane.«

»Hauen Sie dort ab, schnell, solange Sie noch die Chance dazu haben.«

»Sie ist verletzt. Ich habe sie mit einem Fleischermesser getroffen.«

»Das wird Coyote nicht gefallen. Hören Sie, nehmen Sie Ihre Karte und ab dafür.«

»Ab dafür? Das habe ich ja ewig nicht gehört, seit meiner Kindheit nicht mehr.«

»John, Sie sind hysterisch. Machen Sie schnell, dass Sie da rauskommen.«

Mit zitternden Knien schnappte ich mir die Straßenkarte und die Brieftasche und sprang über die zuckenden Beine der Bärenfrau zur Tür. Sie rollte ihren Augapfel herum, um mich zu sehen. Sie flüsterte: »Coyote wird dich kriegen. Nur keine Sorge.«

Ich riss die Wohnungstür auf, lief hinaus und bevor ich sie wieder schloss, schaute ich nach, ob das Halsband noch fest um den Türgriff gedreht war. Dann lief ich mit weichen Knien zum Aufzug. Erst als ich auf der Straße ein Taxi angehalten hatte und wir uns bereits mitten im Verkehr befanden, merkte ich, dass mir schlecht wurde.

Ich tippte der Fahrerin auf die Schulter.

»Ja, was is’n?«, fragte sie.

»Entschuldigung, ich glaube, ich muss mich übergeben.«

Sie drehte den Kopf zu mir und starrte mich an. Eine Zigarette hing an ihrer Unterlippe. »Mister«, sagte sie, »das hier ist keine verdammte Airline. Kotztüten gibt’s hier nicht.«

»Was dann? Was soll ich jetzt tun?« Ich schwitzte.

Sie fuhr mit 40 Meilen in der Stunde über eine Kreuzung, die Federung des Taxis wogte wild auf und ab. »Schlucken Sie’s runter.« Und damit war die Diskussion beendet.

Es mag sein, dass Indianer selbstbeherrscht und asketisch sind, aber an diesem Morgen war George Thousand Names nicht so selbstbeherrscht, dass er nicht meine Hand in seine beiden nahm, als ich durch die Tür seines Zimmers im Mark Hopkins trat, und er war auch nicht so asketisch, dass er uns nicht beiden einen großen Jack Daniels einschenkte.

»Es ist ein Albtraum. Die ganze verfluchte Sache ist ein Albtraum«, sagte ich.

Er trug einen roten Satin-Morgenmantel und Slipper, die komplett mit Perlen bestickt waren. Er wirkte wie ein Star in einem Cowboy-Film, produziert von Liberace. »Das ist der schlimmste Fehler, den Sie machen können, zu denken, dass es ein Albtraum ist. Wenn Sie das glauben, werden sie die Augen vor allem schließen, was passiert, und ständig hoffen, aufzuwachen. Aber Sie sind wach, John, und das alles passiert wirklich.«

»Aber wie zur Hölle kann eine Frau, die ich kenne, eine Frau, in die ich verliebt war, verdammt, die ich immer noch liebe, sich in eine solche Kreatur verwandeln?«

Der alte Indianer setzte sein Glas auf dem Fernseher ab. Auf dem Bildschirm verkündete irgendein Golfpromi die Vorteile einer Zahnpolitur.

»Sie war ein Bär, George. Sie hatte überall Haare, nur ihr Gesicht war frei. Und sie erkannte mich nicht einmal. Ich konnte nichts sagen. Sie kam quer durch die Küche auf mich zu wie eine Lokomotive, und sie hätte mich getötet, wenn ich ihr die Chance dazu gegeben hätte.«

George Thousand Names setzte sich auf die Bettkante. Es sah nicht benutzt aus. Ich hatte mal gehört, dass gut trainierte Indianer im Stehen schlafen können. Vielleicht war das ja nur ’ne blöde Legende, aber irgendwie konnte ich mir gut vorstellen, wie George Thousand Names in einer Ecke stand, die Arme ineinander verschränkt, und friedlich durch die Nacht schnarchte.

»Irgendwann in der Zwischenzeit, in der Sie Jane fortgeschickt haben, um den Türklopfer zu holen, und bis wir sie in der 17th Street fanden, muss Coyote sie angefallen haben.«

Ich nahm einen großen Schluck Whisky. »Angefallen? Ich verstehe nicht!«

George Thousand Names sah zu mir herüber mit ehrlicher Besorgnis. In diesem Moment spürte ich für diesen Mann zum ersten Mal echte Gefühle, wie ein Sohn sie für seinen Vater empfinden sollte. Er sorgte sich um mich und verstand mich, aber er war auch zynisch und weise, und man wusste, dass alles, was er sagte, Gottes ehrliche Wahrheit war. Oder die ehrliche Wahrheit des Manitou.

»Coyote ist der lüsternste aller Dämonen. Er hat sie wahrscheinlich vergewaltigt. Es gibt ein altes Navaho-Lied über das Zusammentreffen von Coyote und einer Jungfrau auf einem Bergpfad. Eines Tages traf Coyote auf dem Bergpfad eine junge Frau. Was hast du in dem Paket, fragte sie. Fischeier, antwortete Coyote. Kann ich welche davon haben?, fragte die Jungfrau. Nur, wenn du die Augen schließt und dein Kleid hochhebst. Sie tat, was ihr gesagt wurde. Höher, sagte Coyote und trat an die Frau heran. Ich kann nicht, sagte sie, irgendetwas krabbelt zwischen meinen Beinen herum. Keine Sorge, sagte Coyote, es ist ein Skorpion, ich fang ihn. Dann ließ die Frau ihr Kleid fallen. Du warst nicht schnell genug, er hat mich gestochen.«

Er hatte den Text des Liedes mit flacher, monotoner Stimme aufgesagt. Als er geendet hatte, schaute er mich an. »Verstehen Sie? Er ist ebenso listig wie brutal. Wenn ich sage, angefallen, dann meine ich verführt.«

Ich konnte es nicht glauben. »Das Ding, das Ding, das wir vergangene Nacht gesehen haben, das hatte Sex mit Jane?«

George Thousand Names nickte. »Höchstwahrscheinlich. Der Legende nach wuchsen der Bärenjungfrau das Fell und die Krallen erst, nachdem Coyote ihren Verstand mit den übelsten Gedanken verdorben hatte. Tut mir leid, John, aber wenn wir dieses Wesen schlagen wollen, müssen wir den Tatsachen in die Augen sehen.«

»Oh, sicher.« Bitterkeit stieg in mir hoch. Von all den Menschen, warum Jane? Wäre ich nicht so dumm gewesen und hätte sie losgeschickt, dann wäre sie vielleicht verschont geblieben.

George Thousand Names ging zum Fenster und spähte durch die Gardinen des Hotels hindurch auf die Innenstadt von San Francisco. »John«, sagte er, »ich weiß, dass Sie das ziemlich trifft, aber begreifen Sie bitte, dass wir hier einer Situation ausgesetzt sind, in der wir um Leben und Tod kämpfen.«

Ich versuchte zu lächeln. »Es hängt davon ab, wessen Leben, oder?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht wessen Leben, sondern wie viele Leben. Da draußen leben Leute, John, Tausende, und falls Coyote durchdreht, wird er diese Straßen schnell in ein bluttriefendes Schlachthaus verwandeln. Coyote ist ein tobsüchtiger Killer, John. Wahnsinniger als alle Wahnsinnigen. Der einzige Weg, ihn zu zerstören, ist, ihn zu überlisten und dafür zu sorgen, dass er Big Monsters abgeschnittenes Haar nicht findet.«

»Aber alle Bilder sind in meiner Wohnung.«

»Haben Sie die Tür mit dem Halsband versiegelt?«

»Natürlich.«

»Dann kann die Bärenfrau nicht heraus und Coyote nicht hinein. Das hoffe ich zumindest.«

Ich nahm eine Zigarette und zündete sie an. Sie schmeckte erbärmlich, aber ich brauchte etwas, um meine Nerven zu beruhigen. »Was tun wir jetzt?«

Er rieb sich das Kinn. »Ich schätze, wir sollten versuchen herauszufinden, wo das Haar von Big Monster sein kann«, schlug er vor. »Danach sollten wir versuchen, mit der Bärenfrau fertigzuwerden. Sie ist zwar sehr wild, aber ich glaube, ich habe Bannsprüche, die sie zähmen können. Wenn wir das getan haben, suchen wir nach dem größeren Übel: Coyote selbst.«

»Na, ich hoffe nur, dass wir das Ende dieses Tages noch erleben.«

George Thousand Names lächelte: »Die Costanoan-Indianer, die hier in San Francisco schon lebten, bevor die Spanier ankamen, hatten ein Gebet, das folgendermaßen lautet: ›Wenn der Abend kommt, gib mir die kleine Dunkelheit und nicht die große.‹«

Ich breitete meine Straßenkarte auf dem Tisch aus und nahm das zerknitterte Wachspapierblatt aus der Tasche, das ich am Morgen mit den Markierungen übersät hatte. Wir legten es auf die Landkarte und George Thousand Names betrachtete es gewissenhaft wie ein skeptischer Kunstexperte. Er rümpfte mehrmals die Nase und seine Lippen bewegten sich in einem lautlosen Flüstern, als er die Namen einiger Orte und Berge ausmachte. Nach einer Weile setzte er sich auf die Lehne der Couch und krauste konzentriert die Stirn.

»Also?«, fragte ich. »Was bedeutet das?«

Er sah mich an. »Ich bin nicht sicher. Es ist eine sehr ungewöhnliche Auswahl von Blickwinkeln, sehr unähnlich den Bilddiagrammen, die Indianer normalerweise zeichnen, um Wasserstellen zu bestimmen. Schauen Sie sich das hier an – Sie werden feststellen, dass es sich um mehrere gleichförmige Kurven handelt. Das haben Navahos nie in ihre Karten von den Wüstenbereichen eingezeichnet. Die Zeit war zu kostbar und das Land zu unwirtlich. Man malte die Bilder, wo es gerade möglich war, und um Symmetrie kümmerte sich niemand.«

»Was beweist es dann? Dass es nicht echt ist?«

George Thousand Names schüttelte den Kopf. »Nein. Wir sind mit Sicherheit auf der richtigen Spur. Schon die Tatsache, dass hier ein Muster vorliegt, ist bedeutungsvoll. Wir müssen nur herausfinden, was das Muster bedeutet.«

»Und wie stellen wir das an?«

Er hielt das Wachspapier gegen das Fenster. »Tja, ich habe das Gefühl, dass es sich nicht um eine gewöhnliche Karte handelt. Diese Bilder vom Mount Taylor und Cabezon Peak haben eine magische Bedeutung, denn sie waren die Heimat von Big Monster. Aber ich frage mich langsam, ob Big Monsters Haar tatsächlich dort in dem Gebiet versteckt liegt oder ganz woanders.«

Er ging durch das Zimmer und öffnete seine braune, schweinslederne Aktentasche. Dann kam er mit einer kleinen Glasampulle zum Tisch zurück, in die offenbar ein schwarzes Pulver gefüllt worden war.

»Ich hoffe, das Übernatürliche wird Ihnen nichts ausmachen«, sagte er.

»Warum sollte es?«

»Nun … Sie sind ein Weißer. Und es ist lange her, dass die Weißen das Übernatürliche so verstanden haben, wie es wirklich ist.«

Nach alledem, was ich bisher durchgemacht hatte, und in Anbetracht des Umstandes, dass ich diesen Mann nach San Francisco geholt hatte, verdross mich die Unterstellung, dass ich auch nur ein weißer Blindgänger sein sollte. Aber ich erwiderte nur: »Eines Tages werden die Indianer erkennen, dass nicht alle Bleichgesichter gedankenlose Barbaren sind.«

George Thousand Names schob eine Augenbraue in die Höhe. »Die Indianer, die noch übrig sind.«

Wir beendeten dieses Gespräch mit dieser Entgegnung. Da Coyote sich befreit hatte, war jetzt sicher nicht der Augenblick, alte Bitterkeiten hervorzukramen. Aber ich wusste, dass ich mit George Thousand Names irgendwann zusammensitzen und eine ernsthafte Unterhaltung führen würde, falls wir lebendig aus dieser ganzen Sache herauskamen. Durch Coyotes Reinkarnation wurde mir zum ersten Mal in meinem Leben bewusst, dass Amerika nicht unser Land war, es nicht weißes Land war. Die Spanier waren erst 1775 in San Francisco gelandet und all die Jahrhunderte zuvor hatten die Legenden und die magischen Vorstellungen der Indianer dieses Land geprägt. In den verlassenen Bergen hier wohnten Dämonen und Geister, aber die waren nicht weiß – und die schwächliche Magie des Weißen Mannes kümmerte sie einen Dreck.

Während ich ihn beobachtete, öffnete George Thousand Names die Ampulle und streute bläulich-grauen Staub auf mein Wachspapier. Er blies vorsichtig darüber und flüsterte einige Worte. Direkt vor meinen Augen huschte der Staub über das Papier und formte sich wie Eisenspäne, von einem Magneten angezogen, zu einem Muster. Nach ein paar Sekunden hatte sich ein Kurvenmuster gebildet, das die von mir mit dem Stift eingezeichneten Punkte miteinander verband.

Er betrachtete das Bild und lächelte dann: »Nun, Wunder wird es immer geben.«

»Was bedeutet das?«

Er deutete auf das Muster: »Das ist ein sehr altes Symbol. Mit sehr alt meine ich, dass es mit der heutigen Indianersprache so viel zu tun hat wie Mittelenglisch mit der modernen amerikanischen Sprache. Man kann es nur schwer präzise ausdrücken, aber es bedeutet ungefähr: ›Diesen Ort wirst du eines Tages von der nördlichen Zeltstange im Tipi der Bestie sehen.‹«

Ich blinzelte. »Ich schätze, ich bin immer noch nicht klüger.«

George Thousand Names sah mich behutsam an. »Es ist doch ziemlich klar. Das Tipi der Bestie ist Haus Nummer 1551 in der Pilarcitos Street. Sie erinnern sich doch, wie das dreimal 6 ergab. Die nördliche Zeltstange bedeutet der Blick von der höchsten Stelle des Hauses in Richtung Norden. Was immer man von dort aus sieht, ist die Stelle, wo Big Monsters Haar versteckt wurde.«

»Dann … um Himmels willen. Worauf warten wir denn noch? Fahren wir dorthin!«

»Geben Sie mir drei Minuten, damit ich mich baden und anziehen kann. Inzwischen können Sie doch Dr. Jarvis anrufen und ihm sagen, wohin wir fahren. Falls er die Zeit hat, möchte er vielleicht mit uns kommen.«

Der alte Indianer ging ins Badezimmer und ließ Wasser in die Wanne laufen, ich setzte mich auf das Bett und nahm das Telefon. Ich wählte die Nummer des Elmwood Foundation Hospitals und bat, mich mit Dr. Jarvis zu verbinden.

»Es tut mir leid, Sir«, sagte die Telefonistin. »Dr. Jarvis ist im Augenblick nicht im Haus.«

»Kann ich ihn denn irgendwo erreichen?«

»Ich glaube nicht. Er hat das Hospital vor 20 Minuten in Begleitung einer jungen Frau verlassen.«

Ich seufzte. »Okay. Können Sie ihm eine Nachricht hinterlassen? Sagen Sie ihm, John Hyatt hat angerufen.«

»Ach, Sie sind’s, Mr. Hyatt. In diesem Fall wissen Sie vielleicht, wohin er gegangen ist. Er verließ das Haus zusammen mit einer Freundin von Ihnen.«

»Was sagen Sie?«

»Ein hübsches Mädchen mit langem Haar. Miss Torresino.«

Einen Augenblick lang wusste ich nicht, was ich sagen oder tun sollte. Mein Mund war sehr trocken, als hätte ich zu viele Cracker gegessen. Ich legte meine Hand über den Hörer und schrie: »George!«

Der Medizinmann erschien in ein langes Handtuch gewickelt im Türrahmen. »Ich habe gerade das Krankenhaus angerufen. Sie haben mir gesagt, dass Jim vor etwa 20 Minuten mit Jane fortgegangen ist.«

»Bitte?«

»Das haben die mir gesagt.«

Er begann sich hastig abzutrocknen. »Das heißt, dass wir uns jetzt wirklich beeilen müssen. Wenn Jane aus Ihrem Apartment herausgelangen konnte, dann wird Coyote wissen, wo er Big Monsters Haar zu suchen hat. Die ganzen Bilder waren ja dort, nicht?«

Ich sagte in den Hörer noch ein »Tausend Dank«, legte auf und fragte: »Was ist passiert? Ich dachte, das Halsband würde sie daran hindern, aus der Wohnung zu kommen.«

Während er in eine weite, geblümte Boxer-Shorts schlüpfte, sich aufs Bett setzte, um eine etwas zerknitterte Stoffhose anzuziehen, erklärte George Thousand Names: »Das Halsband war keine Garantie. Sie kann es irgendwie heruntergeschüttelt haben oder vielleicht hat es eine Putzfrau abgenommen. Vielleicht ist sogar Coyote gekommen und hat jemanden dazu gebracht, es fortzunehmen.«

»Aber trotzdem, George, sie ist ein Bär. Wie zur Hölle kann sie als Bär durch die Straßen laufen?«

Er band sich die Schuhe zu und griff nach einer lässigen, blauen Jacke. »Sie ist ein Bär und sie ist doch keiner. Das Haar und die Zähne, und ebenso die Krallen, das sind die physischen Manifestationen des Bösen, das ihr Coyote in den Verstand eingegeben hat. Aber das bedeutet nicht, dass sie ständig sichtbar sind. Das Bärenmädchen ist so etwas wie eine Jekyll-und-Hyde-Kreatur. Sie verändert sich nach Bedarf.«

»Sie meinen, dass sie jetzt wahrscheinlich ganz normal aussieht, aber sich jederzeit wieder in einen Bären verwandeln kann?«

Er nickte.

Ich seufzte tief und frustriert, legte meine Hand auf die Schulter von George Thousand Names und sagte ruhig: »Warum überlegen wir nicht, George, wohin sie wohl gegangen ist? Vielleicht weiß Lieutenant Stroud etwas?«

»Sie haben doch die Nachrichten gehört. Die Polizei sucht ein medizinisches Monstrum, keinen indianischen Dämon. Jetzt hat sich Coyote bestimmt irgendwo verkrochen, wartet auf den Einbruch der Nacht und lacht uns alle aus. Besonders Lieutenant Stroud.«

»Meinen Sie, dass Coyote in Nummer 1551 ist?«

»Möglich. Wenn es ihm wirklich gelungen ist, herauszufinden, wo Big Monsters Haar versteckt ist, dann schätze ich, dass das sogar so gut wie sicher ist.«

Einen Augenblick saßen wir da und blickten uns an. Beide fühlten wir mit Schrecken die enorme Last, die wir uns auferlegt hatten. Wir mussten uns ja nicht einmischen. Wir konnten alles Lieutenant Stroud und der SWAT-Mannschaft überlassen und das nächste Flugzeug nach Honolulu nehmen. Aber irgendwie fühlten wir beide, dass Coyote seine Boshaftigkeit in unser Leben gebracht hatte und dass es deshalb nur einen Ausweg gab. Der führte allerdings nicht nach Hawaii.

»George«, sagte ich ruhig. »Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, Coyote auszutricksen? Hat er denn irgendwo eine schwache Stelle, wo wir angreifen können?«

George Thousand Names starrte auf den Teppich. »Ich dachte, das Halsband würde wirken, doch offensichtlich war das nicht der Fall. Vielleicht hat Coyote während seines langen Schlafes neue Kräfte hinzuerlangt. Sein einziger schwacher Punkt, so heißt es in der Legende, war das Bärenmädchen … Doch das ist keine echte Schwäche, denn die Bärenfrau war ihm immer treu ergeben.«

»Was ist mit Big Monsters Haar?«

»Das ist die größte Bedrohung überhaupt. Sobald er es findet, besitzt er die Stärke, die er braucht, und außerdem Unsterblichkeit. Wenn das passiert, dann können wir nur noch davonlaufen.«

»Angenommen, wir finden es vorher?«

Der Indianer zuckte die Achseln. »Selbst wenn uns das gelingen würde, könnten wir doch nicht viel damit anfangen.«

»Könnten wir es nicht selbst tragen? Würde es uns Kraft geben?«

George Thousand Names sah mich an, als sei ich völlig irregeworden. »Wenn ein Sterblicher versucht, den Skalp eines Riesen oder Dämonen zu tragen, dann wird er von dem zerstört werden, was er sieht. Mit anderen Worten: Solange er es überlebt, und das wäre nicht lange, würde er selbst zu einem Dämon werden. Das könnte sein Verstand aber nicht ertragen. So sagten es die Hualapai-Indianer.«

Ich griff nach einer weiteren Zigarette. »Okay. Wir machen uns wohl am besten auf den Weg nach Pilarcitos. Etwas zu tun, ist besser, als gar nichts zu tun.«

6

Wolken waren vom Ozean her aufgezogen und als wir die Mission Street erreichten, war der Tag, der so herrlich begonnen hatte, feucht und trüb geworden. Das Taxi setzte uns vor 1551 ab und mit einem Gefühl der Furcht standen wir auf dem abschüssigen Bürgersteig und blickten wieder auf das tote, marode Haus, das uns einfach nicht loslassen wollte.

George Thousand Names sagte: »Was gleich auch passieren wird, ich möchte, dass Sie meinem Wissen und meiner Erfahrung einfach vertrauen und tun, was ich Ihnen sage. Es könnte den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen.«

Ich lachte nervös. »Sie haben ja eine Art, die Dinge auszusprechen, dass selbst die ängstlichen Herzen ermuntert werden.«

Er sah mich prüfend an: »Sie tun einfach, was ich sage, ja?«

»Sie sind der Boss!«

Wir öffneten das quietschende Tor und gingen die Stufen zur Eingangstür hoch. Die Bruchstücke des Türklopfers waren verschwunden, obwohl man auf der alten grauen Lackierung noch erkennen konnte, wo er befestigt gewesen war, bis George Thousand Names ihn zerstört hatte. Irgendwie spürte man ihn noch. Das Wort »Rückkehr« war verschwunden.

Ich drückte gegen die Tür, aber sie schien verschlossen zu sein.

»Vielleicht hat die Polizei abgeschlossen«, sagte ich. »Die SWAT-Leute könnten irgendwann hier gewesen sein.«

Ich trat einen Schritt zurück und starrte nach oben. Das Haus wirkte grimmig und unter den dichten Wolken wie eine starre Fotografie. Es lag ein Gefühl in der Luft, dass etwas Dunkles und Unangenehmes passieren würde, und ohne es verhindern zu können, erschauerte ich.

Eine Sekunde lang schien in einem der oberen Fenster etwas zu flackern. Es war bleich und zeigte sich nur einen kurzen Moment. Aber ich krallte mich in George Thousand Names’ Schulter: »Ich habe etwas gesehen. Sie sind da drin. Ich schwöre es.«

Der alte Indianer schaute hoch in den Himmel und man hörte das Dröhnen eines Flugzeuges aus der Richtung des SF-International-Flughafens. »Es war nur eine Spiegelung von dem Flugzeug. Sie müssen sich nicht selbst verrückt machen.«

»George, da ist etwas im Haus.«

Er starrte mich an. Uns trennten 40 Jahre und zwei unterschiedliche Kulturen, und ich vermutete, dass diese Lücke sich niemals wirklich überbrücken lässt. Aber irgendetwas arbeitete zwischen uns, eine Art Vertrauen, und dafür war ich dankbar.

Wir näherten uns wieder der Tür. George Thousand Names streckte die Hand nach dem Griff aus. Er murmelte schnell einige Worte beim Ausatmen und vollführte mit der linken Hand drei Bewegungen; die Tür klickte und sprang auf. Drinnen herrschte die bekannte staubige, abstoßende Dunkelheit und ich roch wieder diesen faden Geruch, der mich bis zu dem Moment meines Todes an 1551 Pilarcitos Street erinnern wird. Der Indianer sagte: »Los«, und wir traten ein.

Zuerst überprüften wir die unteren Räume. Seymour Wallis’ Büro, das Esszimmer, die verlassene Küche. Im Wohnzimmer, durch die vorgezogenen Vorhänge in Düsternis getaucht, sahen wir die gespenstisch wirkenden Tücher, die zum Staubfangen über die Möbel geworfen worden waren, eine kupferfarbene Uhr still unter ihrer Glasglocke und einige Ölgemälde mit seltsamen Hetzjagden durch albtraumartige Landschaften, die jedoch so dunkel waren, dass es nahezu unmöglich war, Einzelheiten zu erkennen. Das Haus um uns herum war dermaßen still, dass wir den Atem anhielten und uns so leise wie möglich bewegten.

Wieder zurück in der Diele, blieb George Thousand Names stehen und lauschte angestrengt. Er runzelte die Stirn: »Hören Sie was? Irgendetwas?«

Ich stand still und horchte angespannt. »Nein, ich glaube nicht.«

»Ich spüre, dass wir beobachtet werden«, sagte er. »Wer immer es ist, was immer es ist, es weiß, dass wir hier sind.«

Wir blieben noch einige Augenblicke still stehen, schauten auf die alte Tapete mit all den hellen Flecken, wo die Bilder vom Mount Taylor und Cabezon Peak bis vor Kurzem noch gehangen hatten, aber das Haus blieb so still, dass ich zu glauben begann, wir hätten uns geirrt. Vielleicht war es leer und was ich am Fenster gesehen hatte, war wirklich nur die Reflexion eines Flugzeuges gewesen. Ich musste ein paarmal wegen des Staubes niesen und putzte mir schließlich die Nase.

Als ich mein Taschentuch in die Hose stecken wollte, schaute ich die Treppenstufen hinauf und erstarrte förmlich. Ein schmales Gesicht beobachtete mich von der obersten Stufe aus. Ein böses, haariges Gesicht mit rot leuchtenden Augen und einem Grinsen, so wölfisch und unheilvoll, dass ich mich nicht bewegen, nicht sprechen, nicht nach Georges Arm greifen konnte, um ihn zu warnen.

Es war der Türklopfer. Der lebendige Türklopfer. Er bestand wieder aus einem Stück und er war noch widerlicher und schrecklicher als zuvor.

George Thousand Names bemerkte plötzlich, dass ich die Treppe hochstarrte, und er schaute auch hin. Bevor er irgendetwas tun konnte, knallte es laut und der Türklopfer zersprang in matte Bronzestücke, die die Stufen herunterrollten, hopsten und klapperten.

Die Teile blieben auf dem Boden der Diele liegen. Der Medizinmann schaute sie mit nüchternem Gesichtsausdruck an. »Das ist Coyotes Art, eine Warnung zu erteilen. Er zeigt mir, dass er alles, was ich tue, einfach wieder rückgängig machen kann.«

»Wir werden doch nach dieser Show nicht nach oben gehen?« Meine Kehle war völlig ausgetrocknet.

»Ich weiß nicht, was wir sonst tun könnten.« Er schnüffelte. »Riechen Sie etwas?«

Ich roch nichts Besonderes, aber ich sagte: »Hunde?«

»Kommt mir auch so vor. Es ist noch schwach, aber es scheint von dort oben zu kommen.«

Der Indianer setzte einen Fuß auf die erste Stufe, aber ich hielt seinen Arm fest und sah ihm direkt ins Gesicht. »George, ich muss es Ihnen sagen: Ich habe eine Scheißangst.«

Einen Moment schwieg er, dann nickte er und gestand: »So geht’s mir auch.«

Langsam, ruhig, stiegen wir die Stufen hinauf, bis zur ersten Etage. Vor uns lag das Zimmer, in dem Bryan Corder das Fleisch vom Kopf gerissen worden war. Am Ende des Ganges lag ein Fenster, aber es war so verdreckt und fleckig und draußen der Himmel so bewölkt, dass nur ganz schwach etwas Licht hereindrang. Nun, Coyote liebte einfach die Finsternis.

Wir sahen uns an. »Sollen wir die Räume überprüfen?«, fragte ich.

»Es wäre besser.«

Wir gingen zum ersten Schlafzimmer, zögerten und stießen dann die Tür auf. Es war ein stilles, trübes Zimmer mit einem baufälligen Messingbett und einem dieser schweren Walnussschränke, die immer wirken, als seien sie mit seltsamen Tiergesichtern bedeckt. Ich sah mich selbst im Spiegel der Frisierkommode und stellte plötzlich fest, wie kaputt und blass ich aussah. Zwei Tage voller Schrecken und Anspannung sind fürs gute Aussehen nicht gerade förderlich.

»Hier ist nichts«, flüsterte George. »Es sei denn, jemand versteckt sich unter dem Bett.«

»Werden Sie nachsehen?«

Er brachte ein spitzbübisches Grinsen zustande. »Sie denn?«

»Vergessen Sie das. Wir werden beide nachsehen.«

Wir knieten uns hin, hoben die Bettdecke hoch und spähten in die schattige Finsternis unter dem Bett. Außer Staub war da nichts.

»Okay«, sagte er. »Versuchen wir es in den übrigen Zimmern.«

Eine nach der anderen stießen wir die Türen auf und schauten nervös hinein. In allen Schlafzimmern war es still, kalt, alles unberührt, doch wir spürten die Bedrückung und sahen die Schmuddeligkeit. Hier konnten niemals glückliche Leute gewohnt haben – nicht mit der bösen Präsenz von Coyote in den Wänden und Zimmerdecken und Kaminen; nicht mit dem gespenstischen Atem des Dämons, der in den Nächten unter jeder Tür hindurchhechelte … Das Unglück dieser Menschen zeigte sich in der spartanischen Möblierung und den unpassenden, farbenfrohen Bildern. An einer Wand hing die Fotografie einer Mimose. An einer anderen ein Gemälde, auf dem Kinder um einen Maibaum tanzten. Irgendwie unterstrichen alle diese Bilder nur die eisige Atmosphäre der Angst, die aus jeder Wand zu tropfen schien, die dunkle Bedrohung, die jede Nacht unter diesem Dach zu einem Karneval der Albträume gemacht haben muss.

»Wir gehen besser weiter nach oben«, sagte der Indianer. »Es gibt noch ein Stockwerk und dann den Dachboden.«

Ich atmete tief durch. »Okay, wenn Sie darauf bestehen. Aber wenn wir zum Dachboden kommen, dann werfen wir eine Münze, wer von uns zuerst reingehen darf.«

Wir gingen den Gang wieder zurück und wollten gerade in den dritten Stock hochgehen, als wir plötzlich Stimmen hörten. Sie kamen von unten aus dem Eingangsbereich. Eine Frau und ein Mann. Einen Augenblick erstarrte ich, lehnte mich dann aber über das Treppengeländer und sah Jim und Jane in der Diele stehen.

Jim sagte gerade: »Sie müssen schon hier gewesen sein. Die Tür steht weit offen.«

»Vielleicht waren sie es«, sagte Jane. »Aber das macht nichts. Viel wichtiger ist, dass du hier bist.«

Ich drehte mich zu George Thousand Names um. »Sie ist es«, zischte ich. »Sie hat Dr. Jarvis mitgebracht.«

Er drückte mich vorsichtig in eines der Schlafzimmer zurück. Er schloss die Tür und sah mich lange und nachdenklich an. »Das bedeutet, Coyote muss hier sein, in diesem Haus. Sie hat Jim wahrscheinlich als Opfer mitgebracht. Ein kleines Hochzeitsgeschenk von der Bärenfrau für Coyote. Ein ziemlich üppiges Mal für einen Dämon, der Hunderte von Jahren tot war.«

Ich presste mein Ohr gegen die Tür. Ich konnte hören, wie Jane und Jim die Treppe hochkamen. Sie sprachen mit gedämpften Stimmen. »Was können wir tun?«, flüsterte ich.

George Thousand Names legte den Finger an seine Lippen und sagte: »Warten Sie.«

Jane und Jim erreichten die erste Etage und gingen die nächsten Stufen hinauf. Jim fragte: »Bist du sicher, dass John gesagt hat, er will uns hier oben treffen? Das ist doch irgendwie seltsam.«

»Aber ja«, erklärte Jane. »Ist die ganze Geschichte denn nicht seltsam?«

Als sie an unserer Tür vorbeigingen, öffnete George Thousand Names die Tür und trat auf den Gang. Ich folgte ihm, mein Herz pochte und meine Kehle war vor Angst zugeschnürt.

»John! Du bist hier?«, sagte Jane lächelnd. »Was geht hier vor? Versteckenspielen?«

George Thousand Names grollte: »Nicht bewegen!«

»Was?«

»Nicht bewegen, Jim. Bleiben Sie stehen, wo Sie sind! Die Frau ist gefährlich!«

Jane sah mich und dann George Thousand Names an, als begreife sie wirklich nicht, was wir meinten.

Ich sagte: »Jane?« Ihr Gesicht schimmerte ungewöhnlich bleich und ihre Augen waren so blank wie zwei Hälften einer Venusmuschel. Es war kein Kratzer von dem Schnitt zu sehen, den ich ihr auf der Stirn zugefügt hatte – aber nach allem, was ich in den letzten beiden Tagen erlebt hatte, hielt ich Coyote für fähig, alles zu heilen und zusammenzuflicken, was er nur wollte.

»John …«, sagte Jane mit schleppender Stimme. »Wie schön, dich zu sehen …«

George Thousand Names fiel ihr ins Wort: »Antworten Sie nicht. Jim, sagen Sie nichts. Sie ist jetzt nicht menschlich, und alles, was Sie sagen, kann ihr helfen, Sie zu töten.«

Jim krauste die Stirn. »Nicht menschlich? Was zum Teufel wollt ihr …?«

»Den Mund halten!«, schrie der Medizinmann. Dann ruhiger: »Bitte seid still, ich muss nachdenken.«

Jane blieb in der Düsternis des Flurs stehen, aufrecht und sehr angespannt. Als ich sie ansah, schien sich ihr Gesicht langsam zu wandeln und zu verflüssigen wie ein weißes Gesicht unter fließendem Wasser. Ich wusste, dass sie nicht Jane war – nicht die Jane, die ich kannte. Aber sie war ihr so ähnlich, dass ich nichts anderes als Zuneigung für sie empfinden konnte. Fast ungewollt machte ich einen Schritt vorwärts, aber George Thousand Names war schnell und hielt mich am Ärmel fest.

»Ich weiß, was Sie empfinden«, sagte er sanft. »Aber Sie müssen Geduld haben.«

Plötzlich lachte und schnaubte Jane zur selben Zeit. Es war ein so erschreckender Klang, dass Jim trotz der Ermahnung von George Thousand Names zur Seite sprang. Vor unseren Augen zerschmolz und veränderte sich Jane wie eine Fotografie, auf die man eine andere legt, eine nach der anderen, bis ich sehen konnte, dass schwarze Haare ihre Hände bedeckten und ihre Nägel zu Krallen wurden.

Jim sagte: »Oh mein Gott …«

Aber George Thousand Names hatte diesen schwächeren Dämon unter Kontrolle. Er hob eines seiner Amulette und die Bärenfrau wurde gegen die Wand des Ganges geworfen. Sie schnaubte und brummte, ihre Augen schimmerten auf und waren rot.

»Ich befehle dir, mir zu gehorchen«, sagte George Thousand Names. »Bärenjungfrau aus dem Südwesten, Schwester derer, die dich liebten, ehrenwert, bis Coyote dich verführt hat. Ich befehle dir, mir zu gehorchen.«

Die Bärenfrau stand auf ihren zottigen Hinterpfoten und brüllte, ihre Augen funkelten teuflisch. Zur vollen Größe aufgerichtet, berührte sie fast die Decke, und ich war mir nicht mehr so sicher, ob George Thousand Names sie unter Kontrolle zu halten vermochte.

Der Medizinmann hob beide Hände und brüllte: »Dein Geist und dein Wille sind mein. Ich befehle dir, mir zu gehorchen!«

Jim schüttelte vor lauter Angst den Kopf. »Ich kann es nicht glauben«, flüsterte er. »Diese Frau war in meiner Wohnung. Ich habe diese Frau geküsst. Wir haben zusammen Drinks gehabt.«

Einen Augenblick lang schwankte George Thousand Names. Ich spürte seine schwindende Kontrolle. Ich vermute, unsere gemeinsame Nervosität und unsere nachlassende Hoffnung waren keine große Hilfe für ihn; und die Anstrengung, ein Monstrum wie die Bärenfrau zu bändigen, musste riesenhaft sein.

»Sagt nichts«, zischte er. »Sagt nichts, sagt nichts.«

»Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte Jim mit hohler, ängstlicher Stimme.

Die Kontrolle zerriss. Ich spürte es förmlich. Wie ein Damm aufbricht, wie eine Flut heranrollt. Mit einem schauderhaften Knurren sprang die Bärenfrau vorwärts, ihr massiger Körper traf Jim. Ihre Kiefer gruben sich mit einem Geräusch, das mich immer noch eiskalt durchfährt, in seinen Nacken. Jim kreischte in Todesangst auf; sie riss ihm mit einer einzigen Bewegung ihres massigen Kopfes die blutige Haut von Nacken und Brust. Jim fiel auf den Boden, zuckte, während sie sich mit funkelnden Augen George und mir zuwandte.

»Stopp!«, rief George Thousand Names und hob wieder seine Arme. »Bei den Mächten des Großen Geistes, bei den Mächten der Wiesen und Wälder, stopp!«

Die Bärenfrau schnaubte und stieß mit dem Kopf hin und her. Dann brummte sie wieder, aber etwas sanfter, drehte sich um und ließ sich auf alle viere nieder. Der Medizinmann ging auf sie zu und hielt dabei sein Amulett vor sich.

»Ich befehle dir, mir für eine Nacht und einen Tag durch den unzerbrechlichen Bann des Größten all derer, die in Sa-nos-tee gelebt haben, zu gehorchen. Ich befehle dir, mir zu gehorchen. Bis die Sonne zum zweiten Mal sinkt, wirst du mich nicht angreifen. Dies befehle ich dir im Namen der Navahos der alten und der Hualapai der uralten Zeiten. Jetzt sei ruhig und schlafe.«

Die Bärenfrau schnaubte noch einmal, sank dann aber auf ihren Hintern. Kurz darauf schlossen sich die roten Augen. Sie schlief ein.

Ich sah George Thousand Names an, beeindruckt, aber ich sah auch, welchen Tribut diese Magie von ihm gefordert hatte. Sein Gesicht war in Schweiß gebadet und er zitterte.

Ich kniete mich neben Jim nieder. Seine Augen waren noch geöffnet, doch sein Körper war völlig versteift in Schockstarre. Aber er lebte noch.

»Jim«, sagte ich sanft. »Wie geht es dir?«

Er flüsterte: »Ich glaube, mein Nacken ist gebrochen. Bring mich nur nach Elmwood … Ich glaube, da kriegen wir es wieder hin.«

Der Indianer sagte: »Im Schlafzimmer steht ein Telefon. Machen Sie schnell, John, Coyote ist da oben, und er wird all das beobachten.«

Während George Thousand Names ungeduldig und ängstlich auf dem Treppenabsatz wartete, wählte ich die Nummer vom Elmwood und ließ mich mit Dr. Weston verbinden. Ich erzählte ihr, dass Jim Jarvis einen schweren Unfall hatte und bat sie, sofort einen Krankenwagen herzuschicken.

»Das hat doch nicht irgendetwas mit dem zu tun, was vergangene Nacht hier im Elmwood passiert ist, oder?«, fragte sie.

Ich sah, dass der Medizinmann abwinkte. »Ich werde das später alles erklären. Ich hab jetzt keine Zeit. Aber, bitte, schicken Sie den Krankenwagen schnell her.«

»Machen Sie schon!«, drängte George Thousand Names. »Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

»Ich muss auflegen. Hier geht es drunter und drüber.« Dann legte ich den Hörer auf die Gabel und folgte George Thousand Names auf den Gang. »Was soll ich tun?«

»Halten Sie sich dicht bei mir. Und was immer Sie tun, geraten Sie nicht in Panik. Wenn Coyote noch da oben ist, dann werden Sie gleich glauben, Ihr Hirn wird Ihnen aus dem Kopf gerissen. Aber halten Sie durch. Wenn Sie sich zusammenreißen, dann werden Sie das überleben.«

Ich schaute ein letztes Mal voller Sorge nach Jim, der blutüberströmt auf dem Fußboden lag, und auf die dunkle, pelzige Masse der schlafenden Bärenfrau – dann folgte ich dem Indianer die Treppe hinauf in die zweite Etage. Dort oben war es noch dunkler als in der ersten und von irgendwo drang Zugluft herab, eine Luft, die ich sogar riechen konnte. Eine Zugluft, die nach Hund stank.

George Thousand Names ging langsam vor mir her. Ab und zu blieb er stehen, um zu lauschen. Es wurde so düster, dass wir kaum sehen konnten, wohin wir eigentlich gingen. Alles, was mir als Wegweiser diente, war das alte Treppengeländer auf der einen und die feuchte Tapete auf der anderen Seite. Der Hundegestank wurde stärker, je höher wir kamen, und auf dem zweiten Treppenabsatz war er fast unerträglich.

»Ja, Coyote ist ganz sicher hier«, flüsterte George. »Er muss sich auf dem Dachboden versteckt haben, um den Einbruch der Nacht abzuwarten. Aber er ist hier.«

Wir betraten den letzten Treppenabsatz und starrten nach oben, um die Dachluke zu finden. George Thousand Names sagte leise: »Er weiß, dass wir hier sind. Hören Sie, wie ruhig es ist? Er wartet darauf, was wir als Nächstes tun.«

Ich fühlte mich elend und voller Angst. »Wenn es nach mir ginge, sollten wir fortlaufen.«

»Ssschht! Horchen Sie!«

Ich erstarrte und lauschte. Erst konnte ich nichts hören, aber dann drang ein kratzendes Geräusch an meine Ohren. Es schien von überall zu kommen, aber George Thousand Names hob einen Finger und deutete hoch zur Decke.

»Und was tun wir jetzt?« Meine Stimme klang heiser.

George Thousand Names winkte, dass ich ihm folgen sollte. Wir gingen noch einige Schritte den Treppenabsatz entlang, bis wir unter der Falltür des Dachbodens standen. Eine ausgefranste Schnur hing an der Wand herunter. Ich vermutete, dass man damit eine von diesen zusammenschiebbaren Leitern herabziehen konnte.

»So«, sagte der alte Indianer ruhig, »jetzt haben wir den Dämon in seiner Höhle.«

Ich hustete und schaute angespannt auf die Falltür. Das Kratzen ging weiter, leise und beständig und gruselig, wie der Fingernagel von jemandem, der lebendig begraben ist und hoffnungslos am Deckel seines Sarges kratzt. »George, ich glaube wirklich nicht, dass ich da rauf möchte.«

Er schaute mich missbilligend an. »Wir müssen. Verstehen Sie nicht, wer das ist? Das ist Coyote! Dieser Dämon ist der Moby Dick eines jeden Medizinmannes! Ich könnte seinen Skalp an das Geländer meiner Veranda hängen, zusammen mit den Fellen und den Schneeschuhen! Den Skalp von Coyote, dem Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte.«

»George«, sagte ich ängstlich, »ich bin hier nicht auf der Jagd nach einem Skalp. Ich mache hier mit, weil unschuldige Menschen sterben müssen, falls wir nicht etwas unternehmen!«

»Sie sind kein Heiliger, und es ist nicht gut, so zu tun als wäre man einer«, erwiderte er, und in seiner Stimme lag mehr als nur eine Prise Schärfe.

»Das bin ich sicher nicht … Aber ich bin auch kein Kopfjäger.«

»Wir wussten, dass sich dies ereignen würde. Beim letzten Großen Rat der Medizinmänner in Towaoc im Reservat der Ute Mountains haben viele der weisen Männer gesagt, dass sie Warnungen und Vorzeichen gesehen hätten. Die grauen Vögel sind gesichtet worden, und die alten Stimmen wurden auf dem Superstition Mountain gehört, was seit der Bestattung von Red Cloud nicht mehr vorgekommen war. Außerdem waren die Kojoten und die Hunde so ruhelos, als ob sich ein Sturm zusammenbrauen würde.«

»Sie wussten, dass Coyote kommen würde? Warum haben Sie das denn nicht früher gesagt?«

»Wir wussten es nicht. Wir haben es vermutet. Aber für mich wird es eine große Ehre sein, Coyote zu besiegen. Ich werde als einer der größten Magier aller Zeitalter gelten, der vergangenen und der gegenwärtigen. Und dann werde ich etwas tun, was ich mir schon seit Jahren inständig wünsche. Ich werde die Medizinmänner in einem starken und mächtigen Rat wieder vereinigen und der indianischen Magie wieder den Ruhm zukommen lassen, den sie einst besaß, in den lang vergangenen Tagen, als das Gras frei wuchs und die Stämme noch Würde und Stärke besaßen. Die Zeichen sagten, dass Coyote in dem Monat kommen wird, in dem die Gänse ihre Federn abwerfen, und er kam.«

Ich starrte in dem trüben Licht des Treppenabsatzes in George Thousand Names’ Gesicht und ich begriff jetzt, was er meinte. In der heutigen Zeit gab es keine Möglichkeit für einen Medizinmann, seine Macht zu beweisen, keine Prüfung, die seiner Magie würdig gewesen wäre. Was nützte die alte Kunst, Büffel zu hypnotisieren, wenn Büffel nur noch im Zoo existierten? Was nützte die Macht, einen Speer ungewöhnlich gerade fliegen zu lassen in einer Welt voller Gewehre und Tränengas? Deshalb genoss George Thousand Names seinen Kampf mit Coyote so sehr. Es spielte keine Rolle, wie gemein und grausam Coyote war, er war die Herausforderung für Georges eingeschnürte Talente.

»In Ordnung«, sagte ich. »Wir bringen es besser hinter uns.«

Er griff mit seiner alten, dürren Hand nach meiner Schulter. »Falls es der Große Geist für angebracht hält, uns zu sich zu nehmen, mein Freund, dann lassen Sie uns an die guten und nicht an die bösen Worte zurückdenken.«

»Okay, es ist Ihr Auftritt.«

Ich zog an der Schnur, die von der Falltür herabhing. Sie schien zu klemmen, aber als ich fester zog, kam die Tür mit einem rostigen Knarren herab und die unteren Stufen sanken uns automatisch entgegen. Aus der dunklen Leere über uns strömte ein heißer, stinkender Lufthauch, und wir hörten deutlich das ruhelose Kratzen und Scharren, als ob etwas oder jemand ungeduldig auf uns wartete.

»Lassen Sie mich zuerst gehen«, sagte George Thousand Names. »Ich habe die Macht, das Schlimmste von uns abzuhalten.«

»Glauben Sie bloß nicht, dass ich mich vordrängeln wollte.«

Der Medizinmann griff nach der Leiter, die wackelte und knarrte, bis sie schließlich auf dem Boden des Treppenabsatzes zur Ruhe kam. Dann, Stufe für Stufe, stieg er langsam hinauf, doch ab und zu blieb er stehen, lauschte und spähte. Sein Kopf und seine Schultern verschwanden im Dunkeln.

»Himmel, kommen Sie nicht so zurück wie Bryan Corder.«

»Er ist hier. Er ist auf dem Dachboden. Gibt es da unten einen Lichtschalter? Ich spüre ihn. Ich kann ihn riechen. Machen Sie Licht!«

Ich sah mich um; an der entgegengesetzten Wand gab es einen alten Bakelitschalter. Ich drückte ihn herunter und eine schwache, staubige Glühbirne flammte oben im Dachboden auf.

George Thousand Names schrie. Er fiel von der Leiter. Sein alter Körper schlug schwerfällig auf den Boden.

Für einen Augenblick dachte ich, er sei tot, aber dann brüllte er: »Schließ die Tür! Schließ die Tür! Schließen Sie die Tür, bevor es zu spät ist.«

Ich packte das untere Ende der Leiter und schob sie nach oben, aber an einer Seite blieb sie an der Deckenöffnung stecken. Ich kletterte schnell vier oder fünf Stufen rauf und zerrte, so kräftig ich konnte, um sie freizubekommen.

In dem Augenblick sah ich Coyote. Ich sah nicht viel. Er befand sich am äußersten Ende des Speichers, wo das Licht kaum hindrang, aber der gesamte Boden wimmelte von Tausenden und Tausenden kränklicher grauer Vögel, die herumhüpften und flatterten und mit ihren Krallen über den Boden kratzten. Es war fast unmöglich, irgendeinen Umriss, irgendeine Form zu erkennen, aber durch die flatternden Vogelmassen der Grauen Traurigkeit konnte ich etwas Schwarzes und Enormes ausmachen. Dämonische Augen glühten in einem borstigen Gesicht und eine schreckliche, bestienähnliche Präsenz kam mir entgegen, die böser und hässlicher war als alles, was ich mir überhaupt jemals hätte vorstellen können.

Auf dem Boden des Speichers, nicht weit von mir entfernt, stand die Statue der Bärenfrau, aber jetzt war es keine Statue mehr, sondern eine winzige lebende Nachbildung der riesigen Bärenfrau, die hier unten im Haus schlief. Die Figur drehte sich um und grinste mich mit blanken Zähnen an, dann eilte sie wie eine Ratte in den schattigen Schutz ihres Meisters zurück, zu dem Dämon Coyote.

Ich erkannte, warum George Thousand Names geschrien hatte. Coyote, dessen schräge Augen vor Hass glimmten, war dabei, dort in der düsteren Ecke des Dachbodens seinen Körper zu öffnen, und in der halben Sekunde, die ich in der Falltür stand, sah ich, dass sich etwas aus seiner Seite entrollte, fettig und blass und zappelnd wie Millionen von Maden.

Ich kam 50-mal schneller die Leiter herunter, als ich sie hochgestiegen war. Mein Kreislauf war so mit Adrenalin vollgepumpt, dass ich die unterste Sprosse packte und die Falltür mit einem heftigen Knall nach oben schwang. Dann hob ich George Thousand Names vom Boden auf und zog ihn auf dem Treppenabsatz rückwärts fort.

Als wir an die Treppenstufen gelangten, keuchte der Medizinmann: »Warte, warten Sie, er wird uns jetzt noch nicht folgen.«

»Warten? Ich werde so schnell ich kann aus diesem verfluchten Haus verschwinden. Haben Sie das Vieh gesehen? Haben Sie’s gesehen?«

George Thousand Names widersetzte sich meinem Ziehen. »John«, sagte er, »John, Sie dürfen das Haar nicht vergessen. Sie dürfen Big Monsters Haar nicht vergessen.«

»Weshalb denn?«

»John, es ist die einzige Möglichkeit, ihn zu bekämpfen. Wenn wir das Haar zuerst finden, dann haben wir zumindest noch eine Chance.«

Ich ließ ihn los und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand. Oben auf dem Dachboden konnte ich durch die dünne Decke Geräusche hören, von denen ich mir nicht vorzustellen wagte, was sie verursachte. Schleimige, leise, kratzende, behäbige Geräusche.

»George, ich bitte Sie. Lassen Sie uns jetzt verschwinden. Ich kann ja Bärenmenschen ertragen, aber das Vieh da oben nicht.«

»Warten Sie. Denken Sie daran, was das Symbol sagte. Schau nordwärts von der Zeltstange aus. Dort ist Big Monsters Haar versteckt.«

Ich hob meine Hände in Ergebenheit. »Okay. Und wo ist jetzt Norden?«

Er fummelte in seiner Tasche herum und holte eine kleine, runde Dose heraus.

»Was ist das? Noch ein Zaubertrick?«

Er öffnete ein Auge. »So was in der Art. Es ist ein Kompass.«

Es kostete uns einige Momente, um zu lokalisieren, wo Norden lag, denn sobald sich Coyote oben auf dem Dachboden bewegte, zitterte und schwankte die Kompassnadel. Aber wir schafften es.

George Thousand Names wies auf eines der schmutzigen Fenster am anderen Ende. »Da ist es. Das ist das Nordfenster.«

Wir liefen zum anderen Ende des Treppenabsatzes und schauten hinaus. Zunächst war da der graue Ausblick auf die Hinterhöfe der Häuser in der Mission Street, aber hinter ihnen ragte ein Wahrzeichen hervor. Es stand hoch und fest da, eingehüllt in niedrigem Nebel. Seine Pfeiler und Drahtseile glänzten in dem grauen Licht des Morgens. Die Golden Gate Bridge.

George Thousand Names atmete tief aus: »Das ist es. Dort ist das Haar versteckt.«

»Die Brücke? Wie kann man denn Haare auf einer Brücke verstecken?«

Er lächelte mich triumphierend an. »In den Legenden heißt es, dass Big Monsters Haar so grau wie Eisen ist und so stark wie eine Peitsche.«

Ich lauschte beunruhigt den Geräuschen Coyotes, der sich über uns auf dem Dachboden bewegte. »Was beweist das denn? Das bedeutet für mich überhaupt nichts.«

George Thousand Names packte meinen Arm fest, um meine Aufmerksamkeit zu wecken. Er sagte eindringlich: »Wo würden Sie etwas verstecken, das so grau wie Eisen und so stark wie eine Peitsche ist?«

»Hören Sie, George. Ich weiß es wirklich nicht. Ich meine, wir sollten besser …«

»John, denken Sie nach!«

Ich befreite meinen Arm. »Verdammt, ich kann nicht mehr denken! Ich will nur noch raus aus diesem Haus, bevor die Falltür runterkommt und dieser Dämon runterspringt, um das zu tun, was Dämonen gewöhnlich so tun. Ich habe kein Interesse an Skalps, George. Das war’s. Ich will hier raus!«

In diesem Augenblick schwebte eine Wolke Mörtelstaub von der Decke herab. Ich hörte, wie die Balken unter dem Gewicht von etwas Unaussprechlichem krachten. Die Luft wurde erfüllt von dem trockenen Klang schlagender Flügel, als die Graue Traurigkeit um ihren abscheulichen Herrn herumschwirrte.

»Denken Sie nach!«, fuhr er mich an. »Denken Sie nach!«

»Treiben Sie keine Spielchen mit mir!«, schrie ich ihn an. »Sagen Sie es doch!«

George Thousand Names deutete auf die Golden Gate Bridge. Seine Augen waren kalt und fiebrig. »Draht!«, sagte er. »Das Haar von Big Monster muss wie Draht aussehen!«

»Draht? Aber der einzige Draht an der Brücke sind die Drahtseile. Glauben Sie, dass es in die Aufhängungen eingeflochten ist? In die Golden Gate Bridge? George, Sie müssen verrückt sein!«

Er schüttelte heftig den Kopf. »Das ist die Art von Scherz, den die Alten so liebten. Vielleicht taten sie es, um Coyote zu erniedrigen. Oder, damit er nicht entdeckt, wohin das Haar verschwunden ist. Sie konnten Scherze in der Zukunft wie auch in der Vergangenheit machen. Ich vermute, dass sie beim Bau der Brücke das Haar von Big Monster mit eingeflochten haben. Vielleicht hat ein Indianer in der Drahtseilfabrik gearbeitet. Möglicherweise hatte er diesen Auftrag, der von Generation zu Generation überliefert wurde und den er dann ausführte. Vielleicht ist es auch durch einen mächtigen Zauber geschehen. Ich weiß es nicht. Aber ich weiß genug über die alten Götter und was sie zu tun pflegten, John. Und glauben Sie mir, dort ist Big Monsters Haar versteckt.«

»Ach, hören Sie auf damit, George«, erwiderte ich nervös. »Sie vermuten es ja nur.«

»Nein, keine Vermutungen. Schauen Sie!«

Was ich bisher nicht gesehen hatte, war ein winziges Symbol, das in das Fensterglas eingraviert war. Es war dasselbe Symbol, das ich gezeichnet hatte, als ich die Blickwinkel vom Mount Taylor und Cabezon Peak zusammenstellte.

George sagte: »Schauen Sie durch dieses Zeichen, und sagen Sie mir, was Sie sehen.«

Man hörte ein Poltern auf dem Dachboden und ein großes Stück Gips fiel von der Decke herunter. Es landete mit einem lauten Knall auf dem Holzboden, Staub wölkte auf.

Ich schaute George Thousand Names besorgt an, aber er sagte: »Los, schauen Sie doch!«

Ich lugte durch die Markierung. Er hatte recht. Sie verband sich direkt mit einem der Aufhängeseile auf der dem Meer zugewandten Seite der Golden Gate Bridge. Vielleicht lag es an seiner indianischen Intuition oder an seinen magischen Kräften – aber ich war jetzt überzeugt, dass er recht hatte. Das Haar war genau dort, eingeflochten und verwoben mit den Aufhängeseilen des berühmtesten Wahrzeichens der Westküste. Dem zufolge, was George Thousand Names und Jane von Big Monster erzählt hatten, war er einer der bösesten Dämonen des gesamten Südwestens Amerikas. Und dann wunderten sich die Behörden der Stadt noch, warum so viele Leute ausgerechnet diese Brücke wählten, um in den Tod zu springen?

»Ich weiß, woran Sie denken«, sagte George Thousand Names. »Und wahrscheinlich stimmt es sogar.«

»George, Sie sind ein viel besserer Psychologe, als man meinen sollte.«

Aber die Zeit drängte. Der gesamte Dachboden krachte und wankte bereits. Kaskaden trockenen Mörtels fielen schon überall nieder. Ich schaute hoch und sah, dass sich mit beklemmender Geschwindigkeit lange Risse bildeten. Die Stromkabel sprangen aus den Wänden wie Nerven aus Fleisch.

Dann, mit einem donnernden Knall, begann das gesamte Haus um uns herum zusammenzufallen und wir wurden unter einer Lawine von Staub, Mörtel, Holzsplittern und zerbrochenen Leisten nahezu begraben. Um uns herum flatterten die aufgeregten grauen Vögel. Für einen Atemzug sah ich durch das Gerippe der Deckenbalken die glühenden, triumphierenden Dämonenaugen und diesen Körper, der sich drehte und wand wie die Fäulnis selbst.

»Raus hier!«, schrie ich George Thousand Names zu.

Wir stolperten gemeinsam über Dreck und Schutt auf die Treppe zu. Der Treppenabsatz war fast völlig von heruntergefallenen Balken blockiert, aber wir wuchteten zwei, drei zur Seite und krochen durch einen kleinen, dreieckigen Zwischenraum, der sich nun auftat. George zuerst, ich folgte ihm. Die grauen Vögel schlugen mit ihren Schwingen schon auf mich ein und der heiße, trockene Atem des Dämons Coyote versengte mir den Rücken.

Es folgte eine starke Explosion, ähnlich, wie wir sie mit Dan Machin erlebt hatten, doch diese war fünfmal stärker. George Thousand Names und ich wurden die letzten Stufen hinabgeschleudert – meine Schulter schlug schmerzhaft gegen den Geländerpfosten. Wir rappelten uns auf und sahen beide wie verschmutzte Geister aus, weiß vor Angst und Mörtelstaub.

»Beim nächsten Mal, wenn Sie mich Bleichgesicht nennen, dann denken Sie daran, wie Sie jetzt aussehen«, sagte ich zu dem alten Indianer, während ich mir Schmutz und Staub mit dem Handrücken vom Mund wischte.

George Thousand Names hustete und lachte fast.

Über uns begann die Decke wieder zu wanken, denn Coyote riss Stockwerk für Stockwerk des Hauses auseinander, um zu uns zu gelangen. Wir liefen zum letzten Treppenabsatz; die Bärenfrau lag dort noch auf dem Boden, tief in einen tranceähnlichen Schlaf versunken, und Jim neben ihr, die Augen in Schock und Grauen nach oben gerichtet.

»Wir müssen sie hier hinausbringen!«, schrie der Medizinmann.

»Um Gottes willen! Jim können wir raustragen, aber was ist mit dem Bären?«

»Coyote will sie haben. Er braucht sie. Sie ist seine Liebe und seine Leidenschaft seit ewigen Zeiten. Sie ist auch sein Bote, sein engster Gefährte. Wir müssen sie fortschaffen. Ohne sie ist er viel schwächer.«

Die Wände begannen zu knirschen und zu erzittern. Eine der Schlafzimmertüren wurde aus den Angeln gehoben und krachte mit einem Getöse auf den Boden, das mich vor Angst in die Luft springen ließ.

»Los«, drängte er. »Wir bringen den Arzt zuerst hinaus.«

Gebückt, um uns vor den herunterstürzenden Deckenteilen zu schützen, hoben wir Jim hoch und trugen ihn die Treppe hinab. George Thousand Names keuchte jetzt und seine Augen in dem staubigen weißen Gesicht waren rot unterlaufen. Ich wusste nicht, wie alt er war, aber er musste schon weit über die 60 sein, und vor zerstörerischen Dämonen davonzulaufen war nicht gerade gut fürs Herz. Während das Haus krachte und bebte, stolperten wir die letzten Stufen hinunter, durch die Diele, aus der Haustür hinaus.

Auf der Straße fuhr gerade der Krankenwagen vor, die Sirene heulte und die roten Lichter blinkten. Ich sah Polizeiwagen herankommen und auf dem Bürgersteig stand auch schon eine neugierige Menschenmenge.

Zwei Ärzte liefen auf uns zu und nahmen uns Jim ab. Zwei weitere brachten eine fahrbare Liege und hoben ihn vorsichtig darauf.

»Was ist hier los?«, fragte einer der Ärzte, ein kleiner Italiener mit dicken Brillengläsern. »Reißt ihr zwei das Haus hier ab?«

»Der Mann ist gebissen worden«, bemerkte ein anderer Arzt. Er klang verwirrt. »Etwas hat ihn in den Nacken gebissen.«

Hinter uns krachte es jetzt sehr laut. Wir schauten uns um und sahen ein Teil des Daches in sich zusammenfallen. Der gemauerte Schornstein polterte langsam hinterher, Glas zerplatzte, Holz krachte. Durch die verdreckten Fenster des zweiten Stockwerkes konnten wir das dunkle, böse Glimmen des Dämons sehen, das brandigen Hass verströmte.

George Thousand Names griff meinen Arm. »Wir müssen zurück, John, die Bärenfrau.«

»Die was?«, fragte der italienische Arzt. »Die Bärenfrau?«

Wir wollten gerade wieder durch die Haustür laufen, als wir eine harte, bekannte Stimme hörten. »Bleiben Sie stehen! Mr. Hyatt, Mr. Thousand Names! Bleiben Sie doch stehen!«

Durch die gaffende Menge kam Lieutenant Stroud auf uns zu, zwei Polizisten folgten ihm. Sein Gesicht war so ernst wie das eines Leichenbestatters. »Was ist hier los? Ich habe den Notruf mitbekommen.«

George Thousand Names bürstete sich etwas Staub vom Ärmel seiner Jacke. »Wir haben den Dämon für Sie aufgespürt, Lieutenant. Er ist da oben und er wütet wie irre, und je eher wir hineinkommen und die Bärenfrau retten, desto besser. Es ist fast schon zu spät.«

»Bärenfrau? Wovon zum Teufel reden Sie? Ihr beiden bleibt hier. Das SWAT-Team ist unterwegs.«

»Lieutenant«, sagte ich, »wir müssen da hinein. Die Bärenfrau ist Coyotes Helferin. Sie ist gemein und grausam und am Tage ist sie Auge und Ohr für Coyote. Die meiste Zeit über ist sie eine Frau, aber sie kann sich in eine Art Werwolf verwandeln, wann immer sie es will.«

Lieutenant Stroud starrte mich an, als ob er den Mund voller Zitrone und Salz hätte, ihm aber der Tequila dazu fehlen würde.

»Ein Werwolf?«, fragte er nahezu tonlos.

Eine weitere Sirene heulte auf. Es war der graue Lkw der SWAT, der die Straße runter auf uns zugesaust kam. Drei Mann in Kampfuniform kletterten aus dem Wagen und kamen in athletischem Laufschritt die Stufen hoch.

Der Anführer, ein kleiner, erfahrener Mann mit kurzem silbernem Haar und braunen Haselnussaugen, grüßte militärisch und fragte: »Sie haben den Flüchtenden gestellt, Lieutenant? Was treibt er da oben?«

Lieutenant Stroud starrte mich immer noch an, sagte aber aus dem Mundwinkel heraus: »Er scheint das Haus in Stücke zu reißen. Diese Herren sagen, dass er eine Komplizin hat.«

George Thousand Names sagte mit zaghafter Stimme: »Werden Sie uns hineingehen lassen oder nicht? Ich warne Sie, Lieutenant, ich bin der Einzige, der die Bärenfrau bändigen kann.«

»Die was-Frau?«, fragte der SWAT-Mann.

Hinter uns erklang ein scheußliches Gebrüll, als Coyote die Decke des zweiten Stockwerkes herunterriss. Fenster zerbrachen und Staub drang in dicken Wolken aus der Diele zum Ausgang heraus. Das gesamte Haus schien zu pulsieren und zu pochen, als wäre es ein gefoltertes Tier, und durch die Dunkelheit und die Zerstörung sahen wir das bösartige Leuchten der Augen des Dämons. Sogar der Himmel über dem Haus schien sich zu verdichten und finsterer zu werden; die grauen Vögel flatterten und kreisten über allem, ruhig und drohend wie zuvor.

Der Leiter der SWAT-Mannschaft wartete nicht ab, um zu erfahren, um was für eine Frau es sich handelte. Er drehte sich zu seinem Team, das gerade mehrere Tränengaswerfer fertig machte, und brüllte: »Drei und fünf zur Rückfront, los! Jackson, Sie kommen mit mir!«

George Thousand Names sagte: »Lieutenant, bitte, lassen Sie sie nicht da hinein! Ich muss allein reingehen. Es ist unsere einzige Chance.«

Der Teamleiter zog seine Automatik. »Bitte treten Sie zur Seite, Sir! Wir müssen dort hinein und kurzen Prozess mit diesem Verrückten machen.«

George Thousand Names hob die Arme und blockierte die Eingangstür. »Sie begreifen nicht, Sie werden sterben! Bitte, lassen Sie mich hinein! Ich bitte Sie!«

»Treten Sie zur Seite!«, befahl der Beamte.

Aber als er einen Schritt nach vorne trat, um George Thousand Names aus dem Weg zu stoßen, holte der alte Indianer sein goldenes Amulett aus dem offenen Hemd. Ich sah es einen Moment aufblitzen, und dann schien ich nichts mehr zu sehen. Als Nächstes wusste ich wieder, dass wir noch alle auf unserem Platz standen, George Thousand Names aber verschwunden war.

Der SWAT-Officer drehte sich zu Lieutenant Stroud um und blinzelte, dann wandten sich beide mir zu und schauten mich an.

»Wo ist er hin? Er ist einfach weg!«

Vom Bürgersteig rief einer vom SWAT-Team: »Er ist gerade hineingegangen, Sir. Sie haben ihn durchgelassen.«

»Ich habe ihn durchgelassen?«

»Ja, Sir. Sie haben Ihre Pistole gesenkt und ihn gehen lassen.«

Der Anführer der SWAT sah Lieutenant Stroud argwöhnisch an, aber da hörte man ein weiteres Bersten aus dem Haus und plötzlich wehte ein heißer Windstoß aus der Eingangstür heraus, heulend und kreischend, voller Staub und Dreck. Wir wichen alle zurück, bis auf den SWAT-Officer, der niederkniete, um Schutz hinter einer der Treppenstufen zu finden.

»Jetzt!«, schrie er. »Wir gehen rein!«

Es gab noch eine Explosion, noch ein ohrenbetäubendes Krachen. Ich war sicher, dass George Thousand Names verletzt worden war. Aber ich konnte nichts weiter tun, als zusammengeduckt am Eingang zu warten und zu beten.

Jane war da drin, und ob nun Bärenfrau oder nicht, sie war die Frau, die ich geliebt hatte. Ich schaute am Haus hoch; die grauen Vögel flogen aufgeregt hin und her, als ob sie ein Fest des Todes erwarteten.

Das SWAT-Team stolperte durch den stöhnenden Wind in die Diele. Sie hielten ihre Waffen hoch auf die Treppe gerichtet. Noch mehr Glassplitter flogen auf sie zu und einer der Männer schrie auf, als ihm die Hand aufgeschnitten wurde.

Der führende Officer hob den Arm, um den Sturm auf die Treppe freizugeben, aber in diesem Augenblick erschien George Thousand Names – inmitten der herumfliegenden Trümmerteile trug er etwas auf dem Rücken.

»Nicht schießen!«, schrie der SWAT-Officer, obwohl keiner seiner Leute danach aussah, als ob er überhaupt schießen wollte.

Vom Gartentor aus konnte ich nicht genau erkennen, was eigentlich passierte: Vielleicht sahen die SWAT-Leute es besser, obwohl sie es nie zugegeben haben. Aber ich bin sicher, dass George Thousand Names die Treppen nicht herunterlief. Um ihn herum flimmerte ein eigenartiges Strahlen. Er schwebte. Er trug Jane, aber nicht als Bär, sondern als Frau hing sie nackt und bleich über seiner Schulter.

»Ahh, die Bärenfrau …«, murmelte der kleine italienische Arzt mit den dicken Brillengläsern.

George kam durch die Diele, und ich schwöre, dass ich etwas Tageslicht unter seinen Füßen schimmern sah. Sein Kopf war ernst und stolz erhoben, der Kopf eines Indianers, der Zeiten erlebt hatte, in denen das Gras noch sprach und alle Stämme noch eng mit dem Großen Geist in Verbindung standen. Er war weit über die 60 und er hätte Jane auf keinen Fall so tragen können, auf gar keinen Fall. Doch er trug sie die Treppe hinunter und quer durch die Diele, mit geradem Rücken und ruhigem Gesicht. In diesem Augenblick war er das heilige Vehikel von Gitche Manitou, der sich um seine Diener kümmert, sogar um die, die das Flüstern der Präriewinde nicht zu hören vermögen.

Als George Thousand Names aus der Haustür schwebte, brach die Hölle hinter ihm los. Das Haus schien vor Wut zu brüllen. Ich sah, wie Fußbodenplanken durch die Luft flogen und die Mauern mit großem Getöse ineinanderfielen. Die SWAT-Leute standen mittendrin und einer von ihnen wurde wirklich durch eine solide Eichentür geschleudert. Die Menschen auf der Straße schrien und rannten vor Angst davon.

George Thousand Names kniete neben mir und ließ Jane seinen Rücken hinabgleiten. Sie war stark mitgenommen. Ein roter Striemen verlief quer über ihren Magen, aber sie befand sich immer noch in der tiefen Trance und schien unverletzt zu sein.

Es war George, um den ich mir im Augenblick Sorgen machte. Ich sah ihn an: Er zitterte und schwitzte und sein Gesicht war blau angelaufen.

»George, ich hole sofort einen Arzt.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie können jetzt nichts mehr tun. Für solche Tricks bin ich zu alt … zu sehr aus der Übung. Man braucht Kraft, wissen Sie, geistige Kraft, und ich habe jetzt gemerkt, wie wenig ich davon hatte. Wir sind weich geworden, John, verstehen Sie. Sogar die Besten von uns. Es gab Zeiten, da konnten Männer wie Adler fliegen. Aber jetzt nicht mehr. Ich bin am Ende, John. Ehrlich, ich bin am Ende.«

»George, hören Sie, Sie werden wieder in Ordnung kommen. Sie ruhen sich jetzt nur etwas aus und sagen mir, was ich tun soll.«

Er atmete hastig und schmerzvoll. »Nehmen Sie die Bärenfrau mit. Bis ich sterbe, wird sie in Trance bleiben. Bringen Sie sie zur Golden Gate. Versuchen Sie zu … Versuchen Sie, ob mit Coyote zu verhandeln ist – aber lassen Sie ihn nicht an das Haar kommen … Lassen Sie das nicht zu …«

Er brach zusammen und fiel in schwerem Koma seitwärts auf die Stufen. Ein Ärzteteam lief schon auf uns zu und ich rief: »Schnell, bitte, er hatte einen Herzanfall.«

Ich zog eine der Decken von der Liege und wickelte Janes nackten Körper unbeholfen darin ein. Dann trug ich sie durch das Gartentor, vorbei an den Polizisten, SWAT-Männern und Zuschauern, zum gelben Pinto, der auf der anderen Straßenseite parkte. Die Schlüssel steckten noch im Zündschloss. Ich legte Jane auf den Rücksitz, stieg ein und startete den Wagen.

Ich warf einen letzten Blick auf das Haus 1551. Es schien jetzt ruhig zu sein, eine zusammengefallene Ruine. Aber die grauen Vögel kreisten immer noch darüber und als ich langsam anfuhr, sah ich ein schwaches rötliches Licht durch die dunklen Staubwolken dringen, die noch immer aus dem zusammengesackten Dach aufstiegen.

Dann, inmitten der finsteren Luft, monströs und erschreckend, sah ich den wölfischen Umriss von Coyote. Sein Gesicht war zu einem erbarmungslosen Grinsen verzogen – es war dasselbe Gesicht, das ich auf dem Türklopfer gesehen hatte, nur jetzt vielfach zu einem Albtraum vergrößert. Der Dämon war eingehüllt in einen Wirbel aus Vögeln und Dunkelheit und der Boden erzitterte und krachte unter seiner bösartigen Macht.

Die Straße hallte plötzlich wider vom Klang rennender Füße. Die Menschen liefen in Richtung Mission Street, fort von der düsteren Erscheinung, die über dem Haus in Pilarcitos zu erkennen war. Sie kreischten und schrien und zogen ihre Kinder mit sich. Sogar die Polizisten und SWAT-Leute rannten davon.

Ich gab Gas und fuhr los, so schnell es ging.

Ich fuhr über die Mission Street in nördlicher Richtung, zur Van Ness und in Richtung Brücke. Ich hatte keine Idee, was ich überhaupt tun konnte, um Coyote davon abzuhalten, Big Monsters Haar an sich zu nehmen, oder wie ich mit ihm verhandeln könnte, aber George Thousand Names hatte gesagt, dass ich das tun sollte, also musste ich es zumindest versuchen. Mein Herz raste und ich atmete heftig wie ein Olympialäufer, und die ganze Zeit zwang ich mich, bloß nicht zurückzuschauen.

Mission Street erschien an diesem Tag völlig normal, sodass ich kaum glauben konnte, dass ein Wesen, schlimmer als der Teufel selbst, hinter mir her war. Leute kauften ein, gingen spazieren, aßen, lachten, und ich fuhr verzweifelt nordwärts zur Golden Gate – ich wusste nicht einmal, ob ich die nächsten Minuten überleben würde.

Die Golden Gate war jetzt noch dichter von Nebel umhüllt. Ihre hohen Umrisse wirkten wie spinnennetzähnliche Schatten. Die Autos, die sie überquerten, hatten die Scheinwerfer eingeschaltet. Als ich näher kam, kurbelte ich die Seitenscheibe etwas herab und roch den leicht pfeffrigen, schweren Nebel. Einige Schiffe, die langsam durch die Bay hinaus aufs Meer fuhren, ließen ihre Hörner warnend aufstöhnen. Dicht vor der Brücke, in der Lombard Street, wurde der Nebel noch dichter, und obwohl ich in Panik war, musste ich abbremsen und hinter einer Autoschlange herkriechen.

Ich schaute Jane kurz an. Sie lag noch immer bewegungslos auf dem Rücksitz. Ich sprach ein weiteres Gebet für George Thousand Names – er durfte nicht sterben; außerdem würde dann die Bärenfrau wieder erwachen. Ich hatte absolut keine Lust, mit einem übernatürlichen Grizzly im Innenraum eines Ford Pinto zu kämpfen.

Plötzlich stoppte der Wagen vor mir. Ich hupte mehrmals, aber er blieb stehen. Ich öffnete die Tür und stieg alarmiert aus und sah, was los war. Zwei Polizisten hatten den Verkehr angehalten. Sie standen auf der Straße und deuteten nach oben. Ich rannte zu ihnen, ließ Jane alleine im Auto zurück.

»Was ist das Problem?«, frage ich. Ich versuchte ganz normal zu klingen, doch ich vermute, dass meine Stimme ziemlich schrill war.

»Da oben gibt es eine Störung. Irgendeine Beschädigung der Konstruktion. Sehen Sie das?«

Ich spähte hinauf in den Nebel. Die Polizisten hatten recht. Die Aufhängeseile der Brücke schwangen alarmierend von einer Seite zur anderen. Und irgendwie schienen sie mit etwas verkrustet zu sein. Als ich genauer hinsah, erkannte ich, was es war. Die Vögel. Die Graue Traurigkeit. Coyote war vor mir hier gewesen und zog jetzt Big Monsters Haar aus den Drahtseilen.

»Das ist wirklich eigenartig«, sagte einer der Cops. »Sehen Sie das? Da oben? Sieht das nicht aus wie etwas Finsteres, oder etwa nicht?«

Er merkte mehr, als ihm klar war. Die Finsternis, die um die Pfeiler der Brücke wallte wie ein Stück Nacht, war die Substanz Coyotes. Er hatte seine schattige, amorphe Form angenommen, die Form, mit der er inmitten von Sandstürmen die Wüste durchquerte und mit den heißen Winden des Südens reiste. Jetzt holte er sich da oben den Gewinn, den er vor vielen Jahrhunderten erzielt hatte, als Mount Taylor noch die Heimat eines Giganten war und Cabezon Peak noch gar nicht existierte. Der dämonische Skalp von Big Monster, die Trophäe, die ihm Unverwundbarkeit und Unsterblichkeit garantierte.

Ein Drahtseil sackte durch und schwang dann nach unten, ausgefranst und zerrissen. Es musste Tonnen wiegen, fiel jetzt seitlich an der Brücke hinab und schwang langsam hin und her.

In diesem Augenblick kümmerte ich mich um keinen Polizisten oder sonst jemanden mehr. Ich wusste, dass Coyote das Haar hatte, konnte es aber niemandem erklären. Ich legte die Hände muschelförmig um meinen Mund und schrie: »Coyote! Coyote! Coyote!«

Die Polizisten glotzten mich an.

»Coyote!«, brüllte ich. »Komm her und stell dich zum Kampf, Coyote!«

Einer der Polizisten schnappte sich meinen Arm. »Hey, Mister, bitte nicht so laut, ja?«

»Coyote!«, kreischte ich. »Ich fordere dich heraus! Du Feigling! Du Bestie! Heimtückischer Mörder!«

Der Polizist sagte: »Was zum Teufel …?«

Aber der Himmel verfinsterte sich jetzt noch mehr und die Brücke erzitterte unter lautem Gedröhne. Und nun, als die Polizisten nach oben schauten, sahen sie, zu wem ich sprach. Man hörte einen allgemeinen Seufzer der Überraschung und Angst aus den Kehlen der Leute, die aus ihren Wagen gestiegen waren.

Ganz oben auf den Pfeilern der Brücke hockte Coyote in seiner hässlichsten und wildesten Form. Er waberte und veränderte sich mit jedem Windstoß, aber die hinterhältigen Augen brannten bewegungslos auf uns herunter und seine dämonischen Fangzähne schimmerten durch den Nebel.

Autofahrer und Polizisten liefen davon. Einer der Cops versuchte, mich mit sich fortzuziehen, aber ich schüttelte ihn ab. Hinter mir hörte ich Menschen, die über die Straße liefen, und das Geräusch von Autotüren, die geöffnet wurden, weil auch die Letzten ihre Frauen und Kinder von hier wegbrachten.

»Coyote!«, schrie ich. Ich war in Schweiß gebadet und zitterte am ganzen Körper. »Ich habe deine Bärenjungfrau, Coyote!«

Der grausige Körper des Dämons zog sich zusammen und verkrümmte sich, doch er war jetzt klarer durch den Nebel zu erkennen. Ich konnte sehen, dass er das eisengraue Haar Big Monsters zwischen die Hörner auf seinem Kopf gewunden hatte, eine scheußliche Girlande primitiver Magie. Die Brücke vibrierte unter mir und ein dunkles Krachen ertönte, das klang wie Donnern fern im Gebirge.

»Coyote! Gib mir das Haar und du bekommst deine Bärenjungfrau zurück! Hörst du mich, Coyote? Hörst du mich?«

Die Brücke erbebte heftig. Stahl und Betonteile stürzten von oben auf die Straße und schlugen auf die verlassenen Autos.

Ich drehte mich um und rannte zum Pinto zurück, schaute dabei mehrmals über meine Schulter auf den lauernden Dämon zurück. Ich stellte mir vor, wie sich seine teuflischen Krallen in meinen Rücken gruben oder seine Zähne mir das Fleisch vom Körper rissen. Meine Nerven kochten regelrecht, ich musste mir mit dem Hemdsärmel den Schweiß vom Gesicht wischen.

Ich erreichte den Wagen. Der Atem der Bestie traf mich, ein sengender Hurrikan, der mir heiß in die Ohren blies. Mein Gesicht fühlte sich an wie rohes Fleisch. Ich riss die Wagentür auf und versuchte, Jane von ihrem Sitz auf die Straße zu heben. Ich schwitzte und fluchte, und die ganze Zeit erbebte die Brücke unter mir, sodass ich kaum stehen bleiben konnte.

In diesem Augenblick liefen mir drei uniformierte SWAT-Leute mit ihren Gewehren nach. Einer von ihnen schlug mir auf die Schulter und schrie: »Okay, mein Freund, jetzt hau hier ab, so schnell du kannst!«

»Das kann ich nicht! Ich muss es vernichten!«, schrie ich zurück, aber der Mann verstand nicht und rannte weiter auf die grausige, dunkle Masse von Coyote zu.

Ich schätze, erst jetzt, als die drei Männer in Coyote hineinrannten, begriff ich wirklich, gegen was ich angetreten war. Die Männer liefen mit erhobenen Gewehren auf ihn zu, doch im nächsten Augenblick sprang der wölfische Dämon einfach auf sie drauf. Die Luft knisterte voller elektrischer Entladungen und ein Donnerschlag ließ die gesamte Golden Gate Bridge erzittern.

Der Anführer wurde zur Seite geschleudert. Ich sah, dass er vorne komplett aufgerissen war, wie Gehacktes im Kühlregal. Dann wurden sie alle drei vor meinen Augen von einer unsichtbaren, furchtbaren Kraft in Stücke gerissen – ihre Hände und Köpfe und Beine und Arme verstreuten sich in alle Richtungen. Ich glaube, ich schrie wie irre.

Jetzt kroch der Dämon auf mich zu. Er war nur noch einige Meter von mir entfernt, und die gesamte Kraft seines Hasses und seiner Bösartigkeit konzentrierte sich auf mich.

Verzweifelt trug ich Jane zum Geländer der Brücke, dann drehte ich mich um, um Coyote so herausfordernd wie möglich anzuschauen, und brüllte: »Bleib weg … Bleib weg oder ich werde sie runterwerfen!«

Der Dämon kam trotzdem näher und jetzt schlug mir der schrecklich heiße Atem ins Gesicht und trocknete meine Augenhöhlen aus, sodass ich nicht einmal mehr zu blinzeln vermochte. Alles um mich herum war Dunkelheit und Angst, und diese brandigen roten Augen starrten mich mit grausamer Intensität an.

Ich hob Jane auf das Geländer. Unter uns im Nebel schlugen und schäumten die grauen Wasser der Bucht.

»Ich tue es, verdammt! Ich tue es!«, schrie ich. Und in diesem Augenblick totaler Panik war es mein völliger Ernst – ich würde Jane hinabwerfen. Ich zwang mich, es wirklich zu wollen. Wenn Coyote jetzt nur noch ein Stück näher kam, dann würde seine geliebte Bärenjungfrau, seine leidenschaftliche Werwölfin, über das Geländer fallen und sterben.

Ich bemerkte ein körperloses Schnauben in der aufgeregten Finsternis vor mir, das Blecken schrecklicher Phantomzähne. Ich sah aber auch Coyotes Kopf mit der Krone aus dem magischen Haar. Und jetzt verharrte er für einen Atemzug. In diesem Augenblick setzte ich alles auf eine Karte und ließ Jane auf den Bürgersteig fallen.

Es passierte in bizarr verlangsamter Bewegung, wie in einem Albtraum, in dem man fortrennt, aber nicht entkommen kann. Während Jane auf den Boden rutschte, wich ich seitwärts aus und rannte auf Coyote zu. Mit einer Hand griff ich nach Big Monsters Haar, legte dabei meine ganze Kraft und Energie in meinen Körper. Trotzdem schien es eine Ewigkeit zu dauern, und ich sah, dass sich Coyote mir langsam zuwandte. Er fletschte seine Zähne mit animalischem Hass.

Es war, als ob man sich selbst in kochendes Wasser wirft. Die Hitze und die Gegenwart Coyotes waren unerträglich. Ich griff zu, griff vorbei und griff noch mal zu …

Plötzlich stolperte und taumelte ich über den Asphalt mit einer Handvoll langer grauer Haare, die knisterten und sich krümmten wie Elektrokabel. Ich knallte gegen das Rad eines verlassenen Plymouth und schürfte mir das Gesicht und einen Arm auf. Aber ich wusste, dass ich es geschafft hatte. Ich hatte Coyote tatsächlich Big Monsters Skalp gestohlen.

Nun ertönte ein nervenzerrüttendes Gebrüll übernatürlicher Wut. Ich dachte, die Brücke würde zusammenkrachen, so laut war es.

Ich zwängte mich zwischen zwei Autos hindurch, aber dann musste ich noch weiter zurückspringen, denn diese Wagen wurden hochgehoben und in einem ohrenbetäubenden Krachen gegeneinandergeschmettert. Ich zog das Haar um einen Cadillac herum hinter mir her und hob es über meinen Kopf.

In diesem Moment erinnerte ich mich daran, was George Thousand Names mir gesagt hatte. Wenn ein Sterblicher versucht, den Skalp eines Riesen oder Dämonen zu tragen, dann wird er von dem zerstört werden, was er sieht. Mit anderen Worten: Solange er es überlebt, und das wäre nicht lange, würde er selbst zu einem Dämon werden. Das könnte sein Verstand aber nicht ertragen.

Ich sagte nur eines. Es war ein Flüstern gegen den glühenden Wind, aber an etwas anderes konnte ich nicht denken. »George, hilf mir! Wo immer du bist, hilf mir!«

Dann schloss ich die Augen in furchtbarer Erwartung und drehte mir das ölige Haar Big Monsters um meinen Kopf.

Zuerst dachte ich, dass nichts passieren würde. Ich hob entsetzt und enttäuscht den Kopf. Aber dann spürte ich, dass mein gesamter Körper plötzlich von einer so großen physischen und geistigen Kraft durchdrungen wurde, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Es war eine erschreckende, bösartige Stärke. Es war die 100-fache Kraft meiner hitzigsten und fleischlichsten Wünsche. Sie versetzte mir einen solchen Stoß, dass ich laut aufkreischte, nicht aus Angst, sondern aus reiner fröhlicher Bösartigkeit. Ich fühlte Lust und Hass und es überkam mich der Drang, alles und jeden um mich herum zu vergewaltigen, zu vernichten und zu zerstören. Ich erhob mich hinter dem Wagen und schien zu erstaunlicher Höhe zu wachsen, größer und stärker, als es einem menschlichen Wesen jemals möglich sein könnte.

Jetzt sah ich Coyote klar. Kein undeutlicher Schatten oder das Durcheinanderwirbeln einer Wolke, sondern das dämonische Biest selbst. Es kroch mit seinem Kleid aus Gewürm und Coyotes Haut auf dem Rücken über Janes Körper.

Ich wusste jetzt auch, was er vorhatte. Ein grauer Vogel hockte auf seinen behaarten Schultern und in den Händen hielt er Eingeweide und Blut von den toten SWAT-Männern. Er wollte Jane für ihr Versagen mit seiner ekelhaftesten Spezialität bestrafen: Er wollte einen Vogel in Janes Magen einnähen und sie selbst dann in die toten Därme der SWAT-Männer einschnüren. Die Pein der Drei.

Ich fühlte eine solch unvorstellbare Wut, dass man sie mit menschlicher Wut gar nicht vergleichen konnte. Ich brüllte laut auf. Ich sah Coyote als das, was er war, und ich sah auch, dass die Luft mit anderen Dämonen und Geistern erfüllt war: die Geister des Windes und des Nebels, die Manitus der Erde und des Feuers.

»Coyote!«, schrie ich. »Coyote!«

Der Dämon drehte sich um. Von seinen Zähnen tropfte Blut. Ich wälzte mich auf ihn zu und spürte die ganze Zeit mit schwarzem Entzücken, dass ich keinerlei Furcht hatte, dass ich keine Angst mehr vor ihm hatte.

Ich packte ihn. Ich spürte die harten, widerspenstigen Borsten seines Körpers, die madenhafte Weichheit seines Innern. Coyote fiel und schrie, aber Big Monsters Haar gab mir Kraft – eine Kraft, mit der sich Coyote nicht messen konnte.

Ich riss ihn auf wie einen Sack. Aus seinem Innern hervor krabbelten und wanden sich lebende Kreaturen, verklebt mit blutigen Fliegen. Ich ergriff seinen Kiefer und zog ihn so weit auseinander, dass er zersplitterte, dann riss ich ihm die blitzenden Augen heraus. Es floss kein Blut. Aber ein Gestank des Bösen verbreitete sich, der jahrhundertealt war, der saure und kranke Geruch der Hundebestie Coyote, dem Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte.

Ich stand neben seinem zerfetzten Körper und sein Atem verging mit dem Wind. Sein Herzschlag dröhnte noch einige Momente weiter, setzte dann aus. Seine Augen zerbröckelten. Die Brise aus der Bucht von San Francisco wehte die Borsten, die Knochenteile und die lederne Haut davon. Bald lag nichts Weiteres mehr da als ein Stück von einem haarigen Skalp und auf dem Bürgersteig zeichnete sich ein Brandfleck ab. Ein Brandfleck, den man noch heute sehen kann, wenn man über die Golden Gate Bridge geht.

In dem Augenblick, als Coyote starb, spürte ich etwas Schwarzes und Großes wie eine Lokomotive in mein Gehirn rasen. Ich wusste, dass ich diese Minuten in meiner dämonischen Form nicht überleben würde, aber das kümmerte mich nicht. Ich war zu erregt, als durchdringe mich der ultimative Kick.

Doch in meinem Hinterkopf hörte ich wieder die Stimme von George Thousand Names. Vielleicht wusste er um meine Notlage und machte eine letzte psychische Anstrengung. Vielleicht war es auch meine eigene Kraft. Aber ich hörte ihn sagen: Wenn ein Sterblicher versucht, den Skalp eines Riesen oder Dämonen zu tragen, dann wird er von dem zerstört werden, was er sieht. Solange er es überlebt, und das wäre nicht lange, würde er selbst zu einem Dämon werden. Das könnte sein Verstand aber nicht ertragen.

Mit einem qualvollen Schrei riss ich Big Monsters Haar von meinem Kopf und warf es in weitem Bogen in die trüben Wasser der Bucht von San Francisco. Es drehte und entwirrte sich im Wind und flog davon. Ich spürte in mir das Gefühl eines großen Verlustes und die völlige Erschöpfung und sank in die Knie.

Jetzt, ganz verschwommen, sah ich Jane. Sie lag auf dem Bürgersteig, und einen kurzen Moment sah ich Krallen und Zähne und schwarzes Fell auf ihrem Rücken. Aber als der letzte Staub Coyotes fortgeweht war, öffnete sie die Augen und war wieder Jane Torresino, meine ehemalige und vielleicht sogar meine zukünftige Liebe.

Sie streckte eine Hand nach mir aus und sagte leise: »John … Oh John. Ich brauche dich …«

Dann hörten wir in der Ferne Sirenen heulen und das willkommene Geräusch herannahender Schritte.

Es wurde September, bevor ich wieder in das Round-Valley-Reservat fahren konnte. Ich lieh mir einen alten Pacer und Jane und ich verreisten über das Wochenende. Wir verbrachten die Nacht in Willits, im County Mendocino. Es war schon Nachmittag, als wir George Thousand Names’ Haus hoch oben über dem Tal erreichten. Wir parkten den Wagen und stiegen die Stufen zur Terrasse hinauf. Ein ernster, ruhiger Indianer mittleren Alters erwartete uns dort, Walter Running Cow. Er schüttelte uns zur Begrüßung würdevoll die Hand.

Wir tranken Tee und erzählten Walter Running Cow ganz ruhig alles, was wir in Pilarcitos Street erlebt hatten, das Erscheinen von Coyote und wie George Thousand Names uns bei dessen Vernichtung geholfen hatte. Wir berichteten auch, dass George im Moment von Coyotes Tod an einem schweren Herzinfarkt gestorben war.

Walter Running Cow hörte still zu, nickte ab und zu, während das Sonnenlicht das Zimmer durchwanderte und aus den Wäldern der fröhliche Gesang der Vögel drang.

Schließlich sagte der Indianer: »Es war ein tapferer Tod für George Thousand Names. Nach den modernen Vorstellungen war er einer unserer größten Medizinmänner. Vielleicht hätte er niemals wie ein Adler fliegen können, wie es die Wunderwirker in längst vergangenen Tagen vermochten, aber er nutzte seine Kräfte bis zum Äußersten. Ich glaube, wir können ihm alle dafür dankbar sein.«

»Ich musste es jemandem erzählen, der es mir glaubt«, sagte ich leise. »In San Francisco wurde es als einfacher Selbstmord hingestellt. Die offizielle Erklärung lautet, dass dies alles das Werk eines Geisteskranken war, der schließlich von der Brücke sprang.«

»Tja«, sagte Walter Running Cow, »ich nehme an, dass alle Kulturen ihren Rationalismus brauchen. Sogar die indianische Magie hat ihre wunden Punkte.«

»Wird Coyote jemals wiederkommen?«

Er sah mich an, sein Gesicht wirkte sehr ernst. »In unserem Leben wahrscheinlich nicht. Aber irgendwann. Ich will Ihre Tat nicht abwerten, aber jemand wie Sie kann einen Dämon wie Coyote nicht für immer verbannen. Und Big Monsters Haar schwimmt noch auf den Fluten des Ozeans.«

»Da wir gerade von Haaren sprechen … Ich möchte eines tun.«

Ich öffnete die Einkaufstüte, die ich mitgebracht hatte, und nahm den getrockneten, borstigen Skalp von Coyote heraus.

Walter Running Cow sah ihn lange Zeit mit einer Mischung aus Ergriffenheit und Respekt an, dann meinte er: »Es ist gut, dass Sie ihn hergebracht haben. George Thousand Names wird Ihnen dafür im Himmel danken.«

Wir drei traten im schwindenden Tageslicht auf die Terrasse. Dort band ich Coyotes Skalp an das Geländer, neben die Felle und die Schneeschuhe. Dann standen wir in der Weite des indianischen Abends da, während die Brise durch die langen Gräser wehte und die Trophäe herumwirbelte, die George Thousand Names gehörte. Man spürte, dass die Wärme des Jahres bereits nachließ, im Mond des dürren Grases, dem Monat nach dem Mond des Dämons.

Graham Masterton

www.grahammasterton.co.uk

GRAHAM MASTERTON ist einer der erfolgreichsten Autoren moderner Spannungsromane. Er schreibt Thriller, Horrorromane und erotische Ratgeber. 1975 erschien mit Der Manitou sein erster unheimlicher Roman, der sofort zum Bestseller wurde und mit Tony Curtis und Susan Strasberg in den Hauptrollen verfilmt wurde. Inzwischen sind etwa 60 Romane erschienen, deren verkaufte Auflage bei über 20 Millionen liegt.

»Leute zu erschrecken, hat mir schon als kleiner Junge Spaß gemacht«, erklärt er vergnügt. »Als ich elf war, schrieb ich eine Story über einen Mann ohne Kopf, der aber immer noch singen konnte und der ständig Tiptoe through the tulips (Auf Zehenspitzen durch die Tulpen) trällerte. Vor Kurzem traf ich einen Schulkameraden, der sich immer noch sehr gut an diese Geschichte erinnert. Er gestand mir, dass ihm heute noch, sobald er einen Topf mit Tulpen sieht, ein Schauder über den Rücken läuft.«

Graham Masterton bei FESTA: Die Opferung – Der Ausgestoßene – Bluterbe – Das Atmen der Bestie – Irre Seelen