Peter Tremayne ist das Pseudonym eines anerkannten Historikers, der sich auf die versunkene Kultur der Kelten spezialisiert hat.

In seinen im 7. Jahrhundert spielenden historischen Romanen löst Schwester Fidelma, eine irische Nonne von königlichem Geblüt und gleichzeitig Anwältin bei Gericht, auf kluge und selbstbewußte Art die schwierigsten Fälle.

Als Schwester Fidelma sich aufs Schiff begibt, um eine Pilgerreise nach Iberia zum Schrein des heiligen Jakobus vom Sternenfeld anzutreten, ahnt sie nicht, in welch zweifelhafte Gesellschaft sie gerät. Die Pilgergruppe, die mit ihr reist, ist alles andere als einträchtig und harmonisch. Neid, Mißgunst, Eifersucht, Verachtung und Haß herrschen unter den Nonnen und Mönchen, unter denen zu allem Unglück auch Fidel-mas Jugendliebe Cian ist. Bald gerät das Schiff in einen gefährlichen Sturm, und am Morgen danach fehlt eine der Nonnen. Ist sie von den Wellen über Bord gespült worden in jener schrecklichen Nacht, oder hat jemand nachgeholfen?

Aus dem Englischen von Friedrich Baddke

Die Originalausgabe unter dem Titel erschien 1999 bei Headline Book Publishing, London.

Für Christos Pittas, dessen Musik immer begeistert, der aber auch als Skipper der »»Alcyone« Fidelmas Kurs nach La Coruna bestimmt hat; ebenso für Dorothy, die mich auf der Reise nach Santiago de Compostela begleitete, und für Moira zum Dank für ihre Anregungen und für David zum Dank für sein Mitgefühl.

Ich freue mich und bin fröhlich über deine Güte, daß du mein Elend ansiehst und erkennst meine Seele in der Not.

Psalm 31,8

Historische Anmerkung

Die Kriminalromane um Schwester Fidelma spielen in der Mitte des siebenten Jahrhunderts n. Chr.

Schwester Fidelma ist nicht nur eine Nonne, die früher der Gemeinschaft der heiligen Brigitta von Kildare angehörte. Sie ist auch eine anerkannte dalaigh, eine Anwältin an den Gerichten des alten Irland. Da dieser Hintergrund nicht allen Lesern vertraut sein mag, soll dieses Vorwort einige wesentliche Punkte erläutern und damit zu einem besseren Verständnis der Geschichten beitragen.

Im siebenten Jahrhundert bestand Irland aus fünf Hauptprovinzen, in denen Könige herrschten. Selbst das heutige irische Wort für Provinz lautet cuige, wörtlich: ein Fünftel. Vier dieser Provinzkönige - von Ulaidh (Ulster), von Connacht, von Muman (Munster) und von Laigin (Leinster) - erkannten mit Einschränkungen die Oberhoheit des Ard Ri oder Großkönigs an, der in Tara residierte, in der »königlichen« fünften Provinz von Midhe (Meath), deren Name »mittlere Provinz« bedeutet. Innerhalb dieser Provinzkönigreiche gab es eine Aufteilung der Macht unter Kleinkönigreichen und Stammesgebieten.

Die Primogenitur, das Erbrecht des ältesten Sohnes oder der ältesten Tochter, war in Irland unbekannt. Das Königtum vom geringsten Stammesfürsten bis zum Großkönig war nur zum Teil erblich und überwiegend ein Wahlamt. Jeder Herrscher mußte sich seiner Stellung würdig erweisen und wurde von den derbfhine seiner Sippe gewählt, von der mindestens drei Generationen versammelt sein mußten. Wenn ein Herrscher nicht dem Wohl seines Volkes diente, wurde er angeklagt und abgesetzt. Deshalb ähnelte das monarchische System des alten Irlands mehr einer heutigen Republik als den feudalen Monarchien, die sich im Mittelalter in Europa entwickelt hatten.

Im Irland des siebenten Jahrhunderts gab es ein wohldurchdachtes Rechtssystem, das das Gesetz der Fenechus, der Landbebauer, genannt wurde, doch besser bekannt ist als das Gesetz der Brehons, abgeleitet von dem Wort breitheamh für Richter. Nach der Überlieferung wurden diese Gesetze zuerst im Jahre 714 v. Chr. auf Befehl des Großkönigs Ollamh Fodhla zusammengefaßt. Im Jahre 438 n. Chr. berief der Großkönig Laoghaire eine Kommission von neun Gelehrten, die die Gesetze prüfen, überarbeiten und in die neue lateinische Schrift übertragen sollte. Dieser Kommission gehörte auch Patrick an, der später zum Schutzheiligen Irlands wurde. Nach drei Jahren legte die Kommission den geschriebenen Gesetzestext vor, die erste bekannte Kodifizierung.

Die ältesten vollständig erhaltenen Texte der alten Gesetze Irlands finden sich in einem Manuskript aus dem elften Jahrhundert. Erst im siebzehnten Jahrhundert gelang es der englischen Kolonialverwaltung in Irland schließlich, die Anwendung der Gesetze der Brehons zu unterdrücken. Selbst der Besitz eines Gesetzbuchs wurde bestraft, oft mit dem Tode oder der Verbannung.

Das Rechtssystem war nicht statisch. Alle drei Jahre kamen die Rechts gelehrten und Richter beim Feis Teamhrach (Fest von Tara) zusammen und prüften und verbesserten die Gesetze entsprechend der sich verändernden Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse.

Diese Gesetze wiesen der Frau eine einzigartige Stellung zu. Die irischen Gesetze gaben den Frauen mehr Rechte und größeren Schutz als irgendein anderes westliches Gesetzeswerk jener Zeit oder seitdem. Frauen konnten sich gleichberechtigt mit den Männern um jedes Amt bewerben und jeden Beruf ergreifen, und sie taten es auch. Sie konnten politische Führer werden, Krieger in Schlachten befehligen, Ärzte, Friedensrichter, Dichter, Handwerker, Anwälte und Richter werden. Wir kennen die Namen vieler Richterinnen aus Fidelmas Zeit: Brig Briugaid, Äine Ingine Iugaire, Dari und viele andere. Dari zum Beispiel war nicht nur Richterin, sondern verfaßte auch einen berühmten Gesetzestext, der im sechsten Jahrhundert aufgezeichnet wurde. Die Gesetze schützten die Frauen vor sexueller Belästigung, vor Diskriminierung und vor Vergewaltigung. Sie konnten sich auf gleichem Rechtsfuß gesetzlich von ihren Ehemännern scheiden lassen und dabei einen Teil des Vermögens des Mannes als Abfindung verlangen. Sie konnten persönliches Eigentum erben und hatten Anspruch auf Krankengeld, wenn sie zu Hause lagen oder im Krankenhaus. Im alten Irland gab es die ersten Krankenhäuser, die in Europa bekannt sind. Aus heutiger Sicht beschrieben die Gesetze der Brehons ein beinahe feministisches Paradies.

Diesen Hintergrund und seinen starken Gegensatz zu den Nachbarländern Irlands sollte man sich vor Augen halten, um Fidelmas Rolle in diesen Geschichten zu verstehen.

Fidelma wurde im Jahre 636 in Cashel geboren, der Hauptstadt des Königreichs Muman (Munster) im Südwesten Irlands. Sie war die jüngste Tochter des Königs Failbe Fland, der ein Jahr nach ihrer Geburt starb. Sie wuchs unter der Aufsicht eines entfernten Vetters auf, des Abts Laisran von Durrow. Als sie mit vierzehn Jahren das »Alter der Wahl« erreichte, ging sie wie viele irische Mädchen zum Studium an die weltliche Hochschule des Brehon Morann von Tara. Nach acht Jahren Studium erlangte Fidelma den Grad eines anruth, den zweithöchsten, den die weltlichen oder kirchlichen Hochschulen des alten Irlands zu vergeben hatten. Der höchste Grad hieß ollamh, und das ist noch heute das irische Wort für Professor. Fidelma hatte die Rechte studiert, sowohl das Strafrecht Senchus Mor als auch das Zivilrecht Leabhar Acaill. Deshalb wurde sie dalaigh, Anwältin bei Gericht.

In jener Zeit gehörten die meisten Vertreter der geistigen Berufe den neuen christlichen Klöstern an, so wie in den Jahrhunderten davor alle Vertreter der geistigen Berufe Druiden waren. Fidelma trat in die geistliche Gemeinschaft in Kildare ein, die im späten fünften Jahrhundert von der heiligen Brigitta gegründet worden war.

Während das siebente Jahrhundert in Europa zum »finsteren Mittelalter« gezählt wird, gilt es in Irland als ein Zeitalter der »goldenen Aufklärung«. Aus allen Ländern Europas strömten Studierende an die irischen Hochschulen, um sich dort ausbilden zu lassen, unter ihnen auch die Söhne der angelsächsischen Könige. An der großen kirchlichen Hochschule in Durrow sind zu dieser Zeit Studenten aus nicht weniger als achtzehn Nationen verzeichnet. Zur selben Zeit brachen männliche und weibliche Missionare aus Irland auf, um das heidnische Europa zum Christentum zu bekehren. Sie gründeten Kirchen, Klöster und Zentren der Gelehrsamkeit bis nach Kiew in der Ukraine im Osten, den Färöer-Inseln im Norden und Tarent in Süditalien im Süden. Irland war der Inbegriff von Bildung und Wissenschaft.

Die keltische Kirche Irlands lag jedoch in einem ständigen Streit über Fragen der Liturgie und der Riten mit der Kirche in Rom. Die römische Kirche hatte sich im vierten Jahrhundert reformiert, die Festlegung des Osterfests und Teile ihrer Liturgie geändert. Die keltische Kirche und die Orthodoxe Kirche des Ostens weigerten sich, Rom hierin zu folgen. Die keltische Kirche wurde schließlich zwischen dem neunten und dem elften Jahrhundert von der römischen Kirche aufgesogen, während die orthodoxen Ostkirchen bis heute von Rom unabhängig geblieben sind. Zu Fidelmas Zeit wurde die keltische Kirche Irlands von dieser Auseinandersetzung stark beansprucht.

Ein Kennzeichen sowohl der keltischen wie der römischen Kirche im siebenten Jahrhundert war die Tatsache, daß das Zölibat nicht allgemein üblich war. Es gab zwar in den Kirchen immer Asketen, die die körperliche Liebe zur Verehrung der Gottheit vergeistigten, doch erst auf dem Konzil von Nicäa im Jahre 325 wurden Heiraten von Geistlichen verurteilt, aber nicht verboten. Das Zölibat in der römischen Kirche leitete sich von den Bräuchen der heidnischen Prieste-rinnen der Vesta und der Priester der Diana her. Im fünften Jahrhundert hatte Rom den Geistlichen im Range eines Abts oder Bischofs untersagt, mit ihren Ehefrauen zu schlafen, und bald danach die Heirat gänzlich verboten. Den niederen Geistlichen riet Rom von der Heirat ab, verbot sie ihnen aber nicht. Erst der Reformpapst Leo IX. (1049-1054) unternahm ernsthaft den Versuch, den Klerikern der westlichen Länder das allgemeine Zölibat aufzuzwingen. In der östlichen Orthodoxen Kirche haben die Priester unterhalb des Ranges von Abt und Bischof bis heute das Recht zur Heirat.

Das Wissen um die freie Einstellung der keltischen Kirche zu geschlechtlichen Beziehungen ist wesentlich für das Verständnis des Hintergrunds dieses Romans.

Die Verurteilung der »Sünde des Fleisches« blieb der keltischen Kirche noch lange fremd, nachdem sie in der römischen bereits zum Dogma geworden war. Zu Fidelmas Zeit lebten beide Geschlechter in Abteien und Klöstern zusammen, die als conhospitae oder Doppelhäuser bekannt waren, und erzogen ihre Kinder im Dienste Christi.

Fidelmas eigenes Kloster der heiligen Brigitta in Kildare war solch eine Gemeinschaft beider Geschlechter. Als Brigitta sie in Kildare (Cill-Dara = die Kirche der Eichen) gründete, lud sie einen Bischof namens Conlaed ein, sich mit ihr zusammenzutun. Ihre erste Biographie wurde 650, fünfzig Jahre nach ihrem Tode, von einem Mönch in Kildare mit Namen Cogitosus geschrieben, der keinen Zweifel daran läßt, daß es auch weiterhin eine gemischte Gemeinschaft war.

Zum Beweis für die gleichberechtigte Stellung der Frauen wäre noch darauf hinzuweisen, daß in der keltischen Kirche jener Zeit Frauen auch Priester werden konnten. Brigitta selbst wurde von Patricks Neffen Mel zur Bischöfin geweiht, und sie war nicht die einzige. Rom protestierte im sechsten Jahrhundert schriftlich gegen die keltische Praxis, Frauen die heilige Messe zelebrieren zu lassen.

Damit sich der Leser in Fidelmas Irland des siebenten Jahrhunderts, dessen geopolitische Einteilung ihm kaum vertraut sein wird, besser zurechtfindet, habe ich eine Kartenskizze beigefügt und dazu eine Liste der Hauptpersonen.

Im allgemeinen habe ich es aus naheliegenden Gründen abgelehnt, anachronistische Ortsnamen zu verwenden, habe jedoch einige wenige moderne Bezeichnungen übernommen wie Tara statt Teamhair, Cashel an Stelle von Caiseal Muman und Armagh für Ard Macha. Hingegen bin ich bei dem Namen Mu-man geblieben und habe nicht die Form »Munster« vorweggenommen, bei der im neunten Jahrhundert das nordische »stadr« (Ort) an den irischen Namen Muman angehängt und die dann anglisiert wurde. Ähnlich habe ich das ursprüngliche Laigin beibehalten statt der anglisierten Form Laiginstadr, aus der Leinster wurde, und Ulaidh statt Ulaidhstadr (Ulster). Entschieden habe ich mich für die anglisierten Formen von Ardmore (Aird Mhor - der hohe Ort), Mo-ville (Magh Bile - die Ebene von Bile, einer alten Gottheit) und Bangor (Beannchar - ein spitzer Berg).

In der folgenden Geschichte, die im Jahre 666 spielt, bricht Fidelma zu einer Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela auf, zum Schrein des heiligen Jakobus. Manche Leser könnten darauf hinweisen, daß erst im Jahre 800 ein Mönch aus Galicien namens Pelayo, geleitet vom Licht der Sterne (campus stella = Sternen-feld), den Ort entdeckt haben soll, den man Arcis Marmoricis nannte und wo das Marmorgrab des Heiligen gefunden wurde.

Jakobus, der Sohn des Zebedäus und der Maria Salome und Bruder des Johannes, wurde in Palestina im Jahre 42 getötet. Er war der erste Apostel, der als Märtyrer des neuen Glaubens starb. Der frühen christlichen Überlieferung zufolge hatte er bereits eine Missionsreise zur Iberischen Halbinsel unternommen, deshalb legten seine Anhänger seinen Leichnam in einen Marmorsarg, brachten ihn auf ein Schiff und fuhren nach Galicien. Das Schiff landete in Padron. Als der Autor und seine Frau diese hübsche kleine Stadt besuchten, zeigte ihnen ein alter Mann, der die Kirche reinigte, eine Vertiefung unter dem Hochaltar. Darin stand ein alter Marmorsarg mit einer lateinischen Inschrift, und das soll der ursprüngliche Sarg sein, in dem der Leichnam des heiligen Jakobus überführt wurde.

Der Leichnam wurde an den Ort gebracht, der heute Santiago de Compostela (Der heilige Jakobus vom Sternenfeld) heißt. Im Laufe der Jahrhunderte und mit den Schismen in der christlichen Bewegung wurde das Wissen um die Ruhestätte des Apostels immer unsicherer. Anscheinend betrachteten die Kirchen, die man heute unter dem Sammelbegriff der irischen Kirche zusammenfaßt und die noch lange nach der römischen Reform der Theologie und der Bräuche an der Liturgie und den Riten der ursprünglichen christlichen Bewegung festhielten, auch weiterhin Santiago de Compostela als die letzte Ruhestätte des Jakobus.

Eine Pilgerfahrt Fidelmas nach Santiago ist durchaus nicht anachronistisch. Wir lesen in einem frühen christlichen Text, daß im fünften Jahrhundert zehntausend Iren mit dem Segen Patricks eine peregrinatio pro Christo nach Santiago unternahmen. Das Liber Sancti Jacobi (Buch vom heiligen Jakobus) aus dem zwölften Jahrhundert spricht von einer langen Tradition solcher Pilgerfahrten und nennt die Muschelschale als das Symbol des Jakobus, eines Fischers aus Galiläa. Archäologen haben an vielen Orten in Irland Muschelschalen gefunden, meist in kirchlichen Begräbnisstätten aus dem Mittelalter. Das Liber Sancti Jacobi berichtet, daß an Ständen in Santiago Muschelschalen an die Pilger verkauft wurden. Noch heute werden in Santiago Andenken in Form von Muschelschalen angeboten.

Der Autor erhält vielfach Briefe von Lesern, die ihn fragen, ob er den gesellschaftlichen Hintergrund und die Technik in der Welt Fidelmas einfach erfindet, und kürzlich meinte ein Rezensent anscheinend, er schreibe den Iren eine Technik zu, die ihre tatsächlichen Möglichkeiten übersteige. Es mag die Leser interessieren, daß der Autor sich für diese Geschichte auf die folgenden Quellen gestützt hat:

In der Frage solcher Pilgerfahrten ist der Autor dankbar für »The Irish Medieval Pilgrimage to Santiago de Compostela« von Dagmar O Riain-Raedal in History Ireland, Herbst 1998.

Der Autor ist ferner dankbar für das folgende Quellenmaterial: »Irish Pioneers in Ocean Navigation of the Middle Ages« von G.J. Marcus in Irish Ecclesiastical Record, November 1951 und Dezember 1951; »Further Light on Early Irish Navigation« von G.J. Marcus in Irish Ecclesiastical Record, 1954, S. 93-100; »St. Brandan (sic) The Navigator« von Commander Anthony MacDermott RN, KM, in Mariner’s Mirror, 1944, S. 73-80; »The Ships of the Veneti« von Craig Weatherhill in Cornish Archaeology, Nr. 24, 1985; »Irish Travellers in the Norse World« von Rosemary Power in Aspects of Irish Studies, Hrsg. Hill und Barber, 1990; und »Archaic Navigational Instruments« von John Moorwood in Atlantic Visions, 1989.

Hauptpersonen

Schwester Fidelma von Cashel, eine dalaigh oder Anwältin an den Gerichten im Irland des siebenten Jahrhunderts

In Ardmore (Aird Mhor)

Colla, Gastwirt und Händler Menma, sein junger Gehilfe

Die Pilger

Schwester Canair aus Moville (Magh Bile), Führerin der Pilger

Bruder Cian, früher Mitglied der Leibwache des Großkönigs, jetzt von der Abtei Bangor (Beannchar)

Schwester Muirgel aus der Abtei Moville

Schwester Crella aus Moville

Schwester Ainder aus Moville

Schwester Gorman aus Moville

Bruder Guss aus Moville

Bruder Bairne aus Moville

Bruder Dathal aus Bangor

Bruder Adamrae aus Bangor

Bruder Tola aus Bangor

Die Besatzung der »Ringelgans«

Murchad, der Kapitän

Gurvan, der Steuermann

Wenbrit, Kajütenjunge

Drogan, Matrose

Hoel, Matrose

Andere

Toca Nia, Überlebender eines Schiffbruchs

Pater Pol in Ushant

Brehon Morann, Fidelmas Lehrer

Grian, Fidelmas Freundin in Tara

Kapitel 1

Ardmore Bay an der irischen Südostküste, Mitte Oktober 666.

Der Gastwirt Colla zog an den Lederzügeln, um die beiden stämmigen Esel anzuhalten, die seinen überladenen Karren geduldig auf dem Weg über das steile Vorgebirge dahinschleppten. Es war ein milder Herbstmorgen, die Sonne stieg am Osthimmel empor. Das blaue Gewölbe mit nur wenigen weißen Wölkchen darin spiegelte sich in der ruhigen See. Eine schwache Brise kam aus Nordwest und verstärkte die morgendliche Flut. Von seinem hohen Blickpunkt aus erschien Colla die weite, verschwimmende Fläche des Meeres glatt und still. Er hatte aber lange genug an der Küste gelebt, um zu wissen, daß dies nur eine Illusion war. Aus dieser Entfernung konnte das menschliche Auge die Dünung und die Strömungen der unheimlichen, tückischen Gewässer nicht erkennen. Über ihm kreisten See- und Ufervögel und ließen ihr mißtönendes Morgenkonzert erklingen. Lummen sammelten sich an der Küste zum Abflug für die harten Wintermonate. Hier und da sah man noch ein paar Tordalke, aber sie hatten ihre Nester auf den Klippen bereits verlassen und würden in den nächsten Wochen verschwinden. Die Nachzügler der robusteren Sommervögel, wie die Kormorane, brachen jetzt auf. Nun beherrschten die Möwen das Bild. Besonders zahlreich waren die Sturmmöwen, kleiner und weniger aggressiv als die großen Eismöwen mit dem schwarzen Rücken.

Colla war lange vor Sonnenaufgang aufgestanden und mit seinem Karren zur Abtei des heiligen Declan gefahren, die oben auf dem steilen Vorgebirge von Ardmore stand und auf die kleine Siedlung am Hafen hinunterschaute. Colla betrieb dort nicht nur ein Gasthaus, sondern handelte auch mit den Kaufleuten, deren Schiffe den geschützten Hafen anliefen und von Irlands Küsten aus bis nach Britannien, Gallien und in noch fernere Länder segelten.

An diesem Vormittag hatte er vier große Fässer Wein und Olivenöl geliefert, die am Abend zuvor mit einem Schiff aus Gallien eingetroffen waren. Als Gegenleistung hatten die fleißigen Brüder der Abtei Lederwaren zu bieten, Schuhe, Geldtaschen und Beutel, wie auch Erzeugnisse aus den Fellen von Otter, Eichhörnchen und Hase. Jetzt fuhr Colla zum Hafen zurück, aus dem der Kaufmann aus Gallien am Abend auslaufen wollte. Der Abt war mit dem Handel sehr zufrieden, und Colla war es auch, denn seine Provision war so hoch, daß sie ein Lächeln der Befriedigung auf sein zerfurchtes Gesicht zauberte, als er das Vorgebirge überquerte.

Einen Moment ließ er jedoch seine Esel halten, um die Aussicht von oben zu genießen. Der Blick gab ihm ein Gefühl des Besitzes und sogar der Macht. Er sah auf den winzigen Hafen in der Bucht hinunter und auf die Schiffe, die dort vor Anker lagen. Colla fühlte sich dabei wie ein König, der sein Reich überschaut.

Ein Erschauern riß ihn aus seinen Gedanken, als ein frischer Wind von Nordwesten heranfuhr. Er spürte die Veränderung der Morgenbrise, sie war stärker und kälter geworden. Die Sonne stand nun seit einer Stunde am Himmel, und die Gezeiten waren am Wechseln. Gleich würde die Bucht in Bewegung geraten. Colla ruckte mit den Zügeln und steuerte den Karren mit seiner Last vorsichtig den steilen Pfad hinunter zu der kleinen sandigen Bucht vor ihm.

Unter den Schiffen dort unten erkannte er die Umrisse zweier großer seegehender Fahrzeuge, die im Schutz der Bucht ankerten. Von hier oben sahen sie klein und zerbrechlich aus, aber er wußte, daß sie in Wirklichkeit groß und fest gebaut waren, fünfundzwanzig Meter lang und in der Lage, sich auf die hohe See hinauszuwagen.

Er fuhr zusammen, als er einen scharfen Knall hörte, der das Geschrei der Vögel und das ferne Rauschen des Meeres übertönte. Dem folgte ein wütendes Kreischen der auffliegenden Seevögel, das ihm nicht unerwartet kam. Sein scharfer Blick hatte bemerkt, daß eins der Seeschiffe sich langsam von seinem Ankerplatz entfernte. Der Knall war durch das Schlagen des großen ledernen Segels hervorgerufen worden, als es angeholt wurde und noch nicht fest war. Colla lächelte wissend. Der Kapitän hatte es sichtlich eilig, den morgendlichen Nordwestwind und den Gezeitenwechsel zu nutzen. Wie nannten es die Seeleute? Eine Ebbe in Windrichtung. Richtig gesegelt wäre das Schiff bald aus der Bucht heraus und um das Vorgebirge von Ardmore herum auf offener See.

Colla strengte seine Augen an, um zu erkennen, welches Schiff das war, aber nur ein Schiff wollte mit der frühen Ebbe auslaufen. Es war Murchads Ge Ghüi-rainn, die »Ringelgans«. Murchad hatte ihm erklärt, daß er eine Ladung Pilger zu einem heiligen Schrein jenseits des Meeres bringen sollte. Als Colla zur Abtei hinauffuhr, war ihm ein Trupp von Mönchen und Nonnen begegnet, die zum Hafen hinunter wanderten und das Schiff besteigen wollten. Das war nichts Ungewöhnliches. Die Abtei des heiligen Declan wurde häufig von solchen Pilgerscharen aus allen fünf Königreichen von Eireann aufgesucht. Dort übernachteten sie meist, bevor sie sich an Bord der Schiffe begaben, die sie zu ihren verschiedenen Bestimmungshäfen bringen sollten. Manche Pilger zogen es auch vor, entsprechend ihrem Wesen lieber in Collas Gasthaus einzukehren. Ein paar davon hatten die letzte Nacht dort verbracht und mußten jetzt bereits an Bord der »Ringelgans« sein. Eine junge Nonne war erst spät angekommen und wollte schon beim Morgengrauen aufs Schiff. Collas Neffe Menma, der ihm im Gasthaus half, hatte ihm berichtet, daß zuvor noch ein Mann und eine Frau eingetroffen waren, die auch mit dem Pilgerschiff fahren wollten.

Die »Ringelgans« machte offensichtlich gute Fahrt bei dem günstigen Wind und der Ebbe. Einerseits beneidete Colla Murchad und sein schönes Schiff, die Abenteuern und unbekannten Ländern entgegensteuerten. Andererseits wußte der Gastwirt, daß solch ein Leben nichts für ihn war. Er war kein Seemann, und es war ihm lieber, wenn seine Tage in voraussehbaren Bahnen verliefen. Dennoch hätte er den ganzen Tag auf dem Vorgebirge bleiben und dem Meer und den Schiffen zuschauen können, aber schließlich hatte er seine Arbeit zu tun und das Gasthaus zu führen. Also schnippte er mit den Zügeln und schnalzte mit der Zunge, um die Esel wieder in Gang zu bringen. Sie spitzten die Ohren und legten sich gehorsam ins Geschirr.

Er mußte sich voll auf den Weg konzentrieren, denn es war immer schwieriger, einen Karren den steilen Berg hinunter zu kutschieren als hinauf. In seinem Hof hielt er an. Als er früh, noch in der Dunkelheit, aufgebrochen war, hatte sich niemand geregt. Jetzt war das ganze Dorf auf den Beinen: Fischer gingen zu ihren Booten, Matrosen erholten sich vom Besäufnis der Nacht und machten sich auf zu ihren Schiffen, und Landarbeiter strebten hinaus auf die Felder.

Collas Gehilfe Menma, ein junger Mann mit mürrischem Gesicht, fegte gerade den Hauptraum des Gasthauses aus, als der stämmige Wirt eintrat. Colla blickte sich anerkennend um, als er sah, daß Menma bereits die Tische abgeräumt hatte, an denen die Gäste vor ihrem Aufbruch gefrühstückt hatten.

»Hast du schon die Gästezimmer saubergemacht?« fragte Colla, ging hinüber und schenkte sich einen Krug süßen Met ein, um sich nach der Fahrt zu erfrischen.

Der Gehilfe schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Ich habe gerade erst die Frühstückstische abgeräumt. Ach, und der Kaufmann aus Gallien hat nach dir gefragt. Er hat gesagt, er kommt bald mit ein paar Männern wieder und will mittags sein Schiff beladen.«

Colla nickte zerstreut und schlürfte seinen Met. Dann setzte er den Krug ab und seufzte resigniert.

»Dann fange ich lieber gleich mit den Zimmern an, sonst kriegen wir neue Gäste, bevor wir sie fertig haben. Sind die Pilger alle gut weggekommen?«

Menma überlegte, bevor er antwortete.

»Die Pilger? Ich glaube schon.«

»Du glaubst es nur?« neckte ihn Colla. »Du bist mir ein schöner Wirt, wenn du nicht aufpaßt, daß deine Gäste auch abreisen.«

Der junge Mann ging auf den Spott seines Herrn nicht ein.

»Na, da waren noch ein Dutzend andere Gäste, die ihr Frühstück verlangten, und ich mußte sie alle allein bedienen«, entgegnete er knurrend. Er dachte wieder nach. »Der Mönch und die Nonne, die gestern nach dem Essen ankamen - die waren schon vor Sonnenaufgang weg. Da war ich noch gar nicht auf. Sie hatten Geld hier auf dem Tisch gelassen. Du warst doch schon früh im Gange. Hast du sie fortgehen sehen?«

Colla schüttelte den Kopf.

»Mir ist nur eine Gruppe von Mönchen und Nonnen auf der Straße begegnet, und die kamen aus der Abtei und wollten zum Hafen. Ach, und kurz danach kam noch eine Nonne hinterher. Vielleicht wollten sie früh am Kai sein?« Er zuckte gleichgültig die Schultern. »Na, Hauptsache, sie bezahlen, was sie schuldig sind. Von den anderen Gästen, die wir hatten, wollte außer den beiden nur noch die junge Nonne, die so spät ankam, heute morgen zur >Ringelgans<. Du weißt doch sicher, ob sie rechtzeitig auf war und das Schiff erreicht hat?«

Menma wies das von sich.

»An die kann ich mich nicht erinnern. Aber da sie nicht hier ist, nehme ich an, daß sie entweder mitgefahren oder woanders hingegangen ist.« Er zuckte die Achseln. »Ich hab schließlich auch bloß zwei Augen und zwei Hände.«

Colla preßte verärgert die Lippen zusammen. Wäre Menma nicht der Sohn seiner Schwester, dann kriegte er jetzt tüchtig eins hinter die Ohren. Er stellte sich immer mehr als ein fauler Bursche heraus, der sich dauernd beklagte. Colla hatte den Eindruck, als hielte Menma die Arbeit im Gasthaus für unter seiner Würde.

»Na schön«, antwortete Colla und unterdrückte seinen Zorn. »Ich mache die Gästezimmer sauber. Du sagst mir Bescheid, wenn der Kaufmann aus Gallien wiederkommt.«

Er stieg die Holztreppe zu den Gästezimmern empor. Diese Räume waren gut eingerichtet, ein langer Raum, in den sich ein Dutzend Leute zu ermäßigten Preisen hineinquetschen ließen, und ein halbes Dutzend Zimmer für die, die sich einen höheren Preis leisten konnten. Der Gemeinschaftsraum war diese Nacht voll belegt gewesen, meist mit gallischen Matrosen, die zuviel gegessen und getrunken hatten und nicht mehr zu ihrem Schiff zurückrudern konnten. Von den übrigen Zimmern waren fünf vermietet, drei davon an reisende Kaufleute und eins an die Nonne, die aus irgendeinem Grunde auf die Gastfreundschaft der Abtei verzichtet hatte. Das war nicht ungewöhnlich.

Den jungen Mönch und die junge Nonne hatte Colla nicht gesehen, nur von Menma gehört, daß sie nach dem Abendessen ohne Gepäck angekommen waren. Sie hatten kein Essen mehr verlangt und eins der Einzelzimmer genommen. An den dritten Spätankömmling konnte er sich aber erinnern, die junge Nonne, die so nervös und unsicher wirkte. Sie hatte eine Weile vor dem Gasthaus herumgestanden, als warte sie noch auf jemanden, und Colla schließlich gefragt, ob sich jemand nach ihr erkundigt hätte. Den Namen, den sie ihm genannt hatte, hatte er aber vergessen. Er hatte gemeint, sie sei wohl in der Abtei besser aufgehoben, aber sie hatte darauf bestanden, ein Zimmer zu nehmen, und ihm erklärt, es sei schon zu dunkel für den steilen Weg hinauf zur Abtei und sie müsse früh auf sein und mit anderen Nonnen ein Pilgerschiff besteigen. Da nur Murchads »Ringelgans« mit der Ebbe am Morgen auslaufen wollte, hatte er angenommen, dieses Schiff sei gemeint. Er hätte Menma anweisen sollen, dafür zu sorgen, daß das Mädchen rechtzeitig geweckt würde. Der Gastwirt nahm die Sorge um das Wohl seiner Gäste sehr ernst.

Oben an der Treppe blieb Colla einen Moment stehen, als müsse er für diese Aufgabe erst Mut fassen. Er haßte das Saubermachen. Es war die schlimmste Art von Arbeit in einem Gasthaus. Colla hatte gehofft, sein Schwestersohn würde ihm einen Teil davon abnehmen, denn er selbst hatte nie geheiratet, aber der Bursche war eher eine Belastung.

Er ergriff den Besen, stieß die Tür zum Gemeinschaftsraum auf und verzog sofort das Gesicht bei dem Gestank aus schalen Weinresten, altem Schweiß und anderen Gerüchen, der sich aus dem Gewirr und Chaos der verlassenen Matratzen erhob. Er beschloß, mit der leichteren Arbeit anzufangen, und wandte sich den Einzelzimmern zu. Die machten weniger Mühe, den wüsten Gemeinschaftsraum würde er sich danach vornehmen.

Die Türen der Zimmer standen alle offen, mit Ausnahme des letzten. In diesem Zimmer hatte er die spät angekommene junge Frau untergebracht. Colla traute sich eine gute Menschenkenntnis zu. Er vermutete, die junge Frau sei sehr eigen und habe ihr Zimmer aufgeräumt und die Tür geschlossen, bevor sie wegging. Er lächelte zufrieden über seinen Scharfblick und versprach sich im stillen einen Schluck Met, wenn er recht behielte. Dieses Spiel trieb er oft mit sich, als ob er eine Entschuldigung dafür brauchte, daß er sich einen Be-cher aus seinen eigenen Vorräten genehmigte. Nun fand er aber keinen weiteren Grund, sich abzulenken, und zwang sich dazu, mit dem Putzen anzufangen.

Er war selbst überrascht, mit welcher Schnelligkeit er jedes Zimmer säuberte, dabei aber doch so gründlich, wie man es bei dem Tempo nicht erwartet hätte. Er war mit seiner Leistung zufrieden, als er bei dem fünften Zimmer anlangte, das die beiden jungen Leute, der Mönch und die Nonne, genommen hatten. Er trat ein. Es wirkte beinahe unbenutzt, das Bett war gemacht. Wenn nur alle seine Gäste so sauber und ordentlich wären! Er freute sich schon, daß er hier nicht viel zu tun hätte, als ihm etwas auf dem Fußboden auffiel. Es war ein dunkler Fleck. Er sah aus, als wäre jemand in etwas hineingetreten, aber es roch nicht nach Exkrementen. Vorsichtig beugte sich Colla nieder und berührte den Fleck mit dem Finger. Er war noch feucht, doch blieb nichts an seiner Hand haften.

Er sah sich noch einmal im Zimmer um. Sein erster Eindruck bestätigte sich: Es war sehr ordentlich. Verwundert starrte er wieder auf den Fleck.

Später wußte er nicht mehr, warum er das Zimmer verließ, ohne dort sauberzumachen. Draußen im Flur vor der Tür zum sechsten Zimmer fand er einen weiteren Fleck. Er zögerte einen Augenblick, dann klopfte er an die Tür, hob den Riegel und öffnete sie.

Das Zimmer lag im Dunkeln, denn der Vorhang vor dem Fenster war nicht aufgezogen worden. Das Licht genügte gerade, damit man die Gestalt auf dem Bett erkennen konnte.

Colla räusperte sich. »Schwester, du hast verschlafen«, rief er beunruhigt. »Dein Schiff ist fort - ausgelaufen. Schwester, du mußt jetzt aufwachen!«

Die Gestalt unter der Decke regte sich nicht.

Colla ging vorsichtig weiter. Er fürchtete sich vor dem, was er finden würde, er wußte instinktiv, daß etwas sehr Schlimmes passiert war. Er zog den Vorhang vor dem Fenster weg, so daß Licht ins Zimmer strömte. Sogleich bemerkte er, daß die Decke auch den Kopf der Gestalt bedeckte, die auf dem Bett ruhte. Auf dem Boden lag ein Schlächtermesser. Er sah, daß es aus seiner eigenen Küche stammte.

»Schwester?« In seiner Stimme schwang jetzt Verzweiflung mit. Er wollte nicht glauben, was er bereits ahnte.

Mit zitternder Hand erfaßte er einen Zipfel der Decke. Sie fühlte sich naß an. Ohne hinzusehen wußte er, daß es kein Wasser war. Sanft zog er die Decke vom Gesicht weg.

Die junge Frau lag da, die Augen weit offen und starr, der Mund vom Schmerz verzogen. Ihre Haut war wachsbleich. Sie mußte schon einige Zeit tot sein. Zutiefst erschrocken zwang sich Colla dazu, den Blick von ihrem blassen, erstarrten Gesicht auf ihren Körper zu wenden. Ihr Hemd aus weißem Leinen war zerrissen und zerfetzt und mit Blut durchtränkt. Solche wütenden Messerstiche hatte er noch nie gesehen. Der Körper war zerstochen und zerhackt, als habe ein Fleischer den weichen Leib der jungen Frau für ein Schlachtlamm gehalten.

Mit einem Stöhnen ließ Colla die blutgetränkte Decke wieder über die Gestalt sinken. Er wandte sich rasch ab und erbrach sich.

Kapitel 2

Fidelma von Cashel lehnte sich gegen die Heckreling des Schiffes und sah zu, wie die auf und ab wippende Küstenlinie mit überraschender Schnelligkeit hinter ihr verschwand. Sie war an diesem Morgen als letzte an Bord gekommen, und im nächsten Moment hatte der Kapitän schon den Befehl gegeben, das mächtige viereckige Segel an seiner Rahe am Großmast hochzuziehen. Gleichzeitig holten andere Matrosen den schweren Anker ein. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, unter Deck zu gehen und ihre Kajüte zu besichtigen, bevor das Schiff in Fahrt kam. Sein Segel aus dünnem Leder knallte und bauschte sich im Wind wie eine Lunge, die sich mit Luft füllt. »Steuersegel setzen!« schrie der Kapitän mit Stentorstimme. Die Mannschaft rannte zu einem Mast, der schräg nach vorn wies. Ein kleines Segel wurde an einer Rahe gesetzt. Auf dem erhöhten Achterdeck standen neben dem Kapitän zwei kräftige, untersetzte Männer. Hier war an der Backbordseite des Schiffes das lange Steuerruder angebracht. Es war so groß, daß nur beide Matrosen gemeinsam es handhaben konnten. Der Kapitän rief einen Befehl, und die Matrosen drehten das Ruder. Das Schiff wurde von der Ebbe erfaßt und glitt durch die Wogen wie eine Sense durchs Korn.

So schnell lief die »Ringelgans« aus der Bucht von Ardmore aus, daß Fidelma beschloß, zunächst nicht unter Deck zu gehen, sondern oben zu bleiben und sich das Manöver anzusehen. Von ihren Mitreisenden war niemand zu erblicken außer zwei jungen Mönchen, die Arm in Arm mittschiffs an der Backbordreling standen, ins Gespräch vertieft. Fidelma nahm an, alle anderen Pilger hielten sich unter Deck auf. Ein halbes Dutzend Matrosen, die das Schiff über das stürmische Meer nach Iberia zu segeln hatten, gingen unter den wachsamen Augen des Kapitäns ihren verschiedenen Tätigkeiten nach. Fidelma fragte sich, warum wohl die anderen Passagiere einen der aufregendsten Augenblicke zu Beginn einer Seereise versäumten, das Auslaufen aus dem Hafen. Sie selbst hatte schon mehrere Reisen zu Schiff unternommen, aber was man beim Inseegehen sah und hörte, fesselte sie jedesmal, von dem ersten Wellenschlag gegen den Rumpf bis zum Auf und Ab der zurückweichenden Küstenlinie. Sie konnte stundenlang beobachten, wie das Land allmählich am Horizont verschwand.

Fidelma war eine geborene Seefahrerin. Oft war sie mit einem kleinen Boot an der wilden, sturmumtosten Westküste zu abgelegenen Inseln unterwegs gewesen und hatte nie Furcht empfunden. Vor einigen Jahren hatte sie Iona besucht, die Insel der Heiligen vor der Küste des gebirgigen Alba, auf ihrem Weg zur Synode von Whitby in Northumbria, und von dort war sie den ganzen Weg über Gallien bis nach Rom und zurück gereist, und selbst bei den heftigsten Schiffsbewegungen war sie niemals seekrank geworden.

Bewegung. An dem Begriff blieben ihre Gedanken hängen. War das vielleicht die Lösung? Von Kind auf war sie geritten. Sie hatte sich wohl an die Bewegungen der Pferde gewöhnt und reagierte deshalb auf die Bewegungen eines Schiffes nicht so wie jemand, der stets auf festem Boden gestanden hatte. Sie nahm sich vor, auf dieser Reise etwas über Seefahrt, Navigation und Entfernungen über See dazuzulernen. Was nutzte es, wenn man eine Seereise genoß, aber ihre praktische Seite nicht verstand?

Sie lächelte über das ziellose Wandern ihrer Gedanken und richtete sich an der hölzernen Reling auf, um noch einmal nach der verschwindenden Anhöhe von Ardmore mit den großen grauen Steingebäuden der Abtei zu spähen. Dort hatte sie als Gast des Abts die vorige Nacht verbracht.

Als sie an die Abtei des heiligen Declan dachte, fühlte sie sich plötzlich einsam.

Eadulf! Die Ursache war ihr sofort klar.

Bruder Eadulf, der angelsächsische Mönch, war als Abgesandter des Erzbischofs Theodor von Canterbury an den Hof ihres Bruders, des Königs Colgü von Muman, nach Cashel gekommen. Bis vor ungefähr einer Woche war Eadulf fast ein Jahr lang ihr ständiger Begleiter gewesen, ihr hilfreicher Gefährte in vielen gefährlichen Situationen, während sie ihr Geschick als dalaigh, als Anwältin bei den Gerichten der fünf Königreiche von Eireann, zu beweisen hatte. Warum überkam sie plötzlich diese Erinnerung?

Es war schließlich ihre eigene Entscheidung gewesen. Vor ein paar Wochen hatte Fidelma beschlossen, sich von Eadulf zu trennen und diese Pilgerfahrt anzutreten. Sie hatte gemeint, sie brauche einen Ortswechsel und Zeit zum Nachdenken, denn sie war mit ihrem Leben unzufrieden. Fidelma fürchtete sich davor, sich an bestimmte Gefühle zu gewöhnen, und sie fand, daß sie das gerade tat; sie traute ihren eigenen Vorstellungen von ihrem Lebensziel nicht mehr.

Doch Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham war der einzige Mann ihres Alters, in dessen Gesellschaft sie sich wirklich ungezwungen bewegen und sich frei ausdrücken konnte. Eadulf hatte lange gebraucht, bis er ihren Entschluß, Cashel zu verlassen und auf diese Pilgerfahrt zu gehen, akzeptiert hatte. Eine Zeitlang hatte er versucht, sie davon abzubringen. Schließlich hatte er sich entschieden, nach Canterbury zu Erzbischof Theodor zurückzukehren, dem neuernannten griechischen Bischof, den er von Rom hierher begleitet hatte und dem er als Sondergesandter diente. Fidelma ärgerte sich darüber, daß sie Eadulf schon vermißte, während die Küste noch in Sicht war. Die kommenden Monate drohten einsam zu werden. Die Gespräche mit Eadulf würden ihr fehlen, ihre gegenseitigen Neckereien über ihre unterschiedlichen Meinungen und Lebensauffassungen und seine Art, immer gutmütig darauf einzugehen. Sie stritten sich oft heftig, aber niemals entstand Feindschaft zwischen ihnen. Sie lernten voneinander, indem sie ihre Sichtweisen prüften und ihre Vorstellungen besprachen.

Eadulf war wie ein Bruder für sie gewesen. Vielleicht war das das Problem. Er hatte sich ihr gegenüber immer untadelig verhalten. Sie fragte sich nicht zum erstenmal, ob es ihr anders lieber gewesen wäre. Mönche und Nonnen lebten schließlich zusammen, heirateten, und die meisten wohnten in conhospitae oder gemischten Häusern und erzogen ihre Kinder in christlichem Sinne. Wünschte sie sich das auch? Sie war eine junge Frau mit den Sehnsüchten einer jungen Frau. Eadulf hatte nie zu erkennen gegeben, daß er sich so zu ihr hingezogen fühlte, wie es einen Mann zu einer Frau hinzog. Einmal auf einer Reise hatten sie eine kalte Nacht auf einem Berg verbracht, und sie hatte Eadulf gefragt, ob er das alte Sprichwort kenne, eine Decke sei wärmer, wenn man sie doppelt benutze. Das hatte er nicht verstanden. Näher waren sie diesem Thema nie gekommen.

Auch darin, überlegte sie, war Eadulf ein getreuer Anhänger der römischen Kirche, die zwar den Klerikern noch gestattete, zu heiraten und mit einer Frau zusammenzuleben, aber schon deutlich auf das Zölibat zusteuerte. Fidelma wiederum gehörte der irischen Kirche an, die in vielen Gebräuchen und Riten von der römischen abwich, selbst in der Datierung des Osterfests. Sie war ohne jede Einschränkung ihrer natürlichen Gefühle aufgewachsen. Die Unterschiede zwischen ihrer Kultur und der jetzt von Rom propa-gierten waren der Hauptgrund für die Debatten zwischen ihr und Eadulf. Bei diesem Gedanken fiel ihr sofort der Prophet Arnos ein: »Mögen auch zwei miteinander wandeln, sie seien denn eins untereinander.« Vielleicht stimmte diese Weisheit, und sie sollte das Thema Eadulf ganz vergessen.

Sie wünschte, ihr alter Lehrer, der Brehon Morann, wäre hier und könnte ihr raten. Oder auch ihr Vetter, der pausbäckige, unbekümmerte Abt Laisran von Durrow, der sie als junges Mädchen erst dazu überredet hatte, Nonne zu werden. Was hatte sie hier überhaupt zu suchen? Lief sie davon, weil sie keine Lösung für ihre Probleme finden konnte? Falls es so war, würde sie diese Probleme in jeden Winkel der Erde mitnehmen. Am Ziel ihrer Reise würde keine Lösung auf sie warten.

Sie hatte sich diese Pilgerfahrt eingeredet zu dem Zweck, ihr Leben neu zu ordnen, ohne von Eadulf, von ihrem Bruder Colgü oder ihren Freunden in seiner Hauptstadt Cashel beeinflußt zu werden. Sie suchte einen Ort, der in keinerlei Beziehung zu ihrem bisherigen Leben stand, an dem sie nachdenken und sich über vieles klarwerden konnte. Doch sie befand sich an einem Scheideweg. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie weiter eine Nonne bleiben wollte! Sie erschrak darüber, daß sie so etwas auch nur dachte, und begriff, daß sie damit die Frage gestellt hatte, die sie seit mindestens einem Jahr verdrängte.

Sie hatte sich zum Leben in einer religiösen Gemeinschaft entschlossen, weil die meisten aus der gei-stigen Führungsschicht ihres Volkes das taten, alle, die einen geistigen Beruf ergreifen wollten, so wie ihre Vorfahren alle Druiden gewesen waren. Ihr Interesse und ihre Leidenschaft hatten der Rechtskunde gegolten, nicht der Religion in dem Sinne, daß sie sich einem Leben der Hingabe an Gott in einer Abtei geweiht hätte, abgesondert vom Rest ihrer Zeitgenossen. Sie erinnerte sich jetzt daran, daß die Oberin ihrer Abtei sie gescholten hatte, weil sie zuviel Zeit auf ihre Gesetzesbücher verwandte und nicht genug auf die religiöse Andacht. Möglicherweise sagte ihr das religiöse Leben nun nicht mehr zu.

Vielleicht war das der wirkliche Grund für ihre Pilgerfahrt - sie wollte sich über ihr Verhältnis zu Gott klarwerden und nicht über ihre Beziehung zu Bruder Eadulf nachdenken? Fidelma wurde plötzlich wütend auf sich selbst und wandte sich abrupt von der Reling fort.

Das große lederne Segel ragte hoch über ihr in den blauen Himmel. Die Mannschaft war weiterhin mit ihren verschiedenen Verrichtungen beschäftigt, doch arbeitete sie nicht mehr so hektisch wie unmittelbar beim Verlassen der geschützten Bucht. Von den anderen Pilgern war immer noch nichts zu sehen. Die beiden jungen Mönche unterhielten sich weiter angeregt. Sie fragte sich, wer sie wohl waren und weshalb sie diese Reise unternahmen. Plagte sie ein ähnlicher Konflikt? Sie lächelte trübselig.

»Ein schöner Tag, Schwester«, rief ihr der Kapitän des Schiffes zu. Er verließ seinen Platz neben den Steuerleuten und kam auf sie zu, um sie zu begrüßen. Als sie an Bord ging, hatte er sie kaum beachtet und sich voll darauf konzentriert, das Schiff in Fahrt zu bringen.

Sie lehnte sich wieder an die Reling und nickte freundlich.

»Wirklich ein schöner Tag.«

»Ich heiße Murchad, Schwester«, stellte er sich vor. »Es tut mir leid, daß ich dich nicht richtig begrüßen konnte, als du an Bord kamst.«

Dem Kapitän der »Ringelgans« sah man an, daß er nichts anderes als ein Seemann sein konnte. Murchad war stämmig und untersetzt, hatte ergrauendes Haar und ein wettergegerbtes Gesicht. Fidelma schätzte ihn auf Ende Vierzig. Seine vorspringende Nase hob den engen Stand seiner meergrauen Augen noch hervor. Sein Mund bildete eine feste Linie. Er hatte den wiegenden Gang aller Seeleute.

»Sind dir schon Seebeine gewachsen?« fragte er mit seiner trockenen, rauhen Stimme, die mehr für Kommandorufe als für höfliche Konversation geeignet war.

Fidelma lächelte.

»Ich glaube, du wirst feststellen, daß ich ganz gut zurechtkomme, Kapitän.«

Murchad lachte skeptisch.

»Ich sag dir meine Meinung, wenn wir das Land außer Sicht haben und auf dem offenen Meer sind«, antwortete er.

»Das ist nicht meine erste Schiffsreise«, versicherte ihm Fidelma.

»Tatsächlich?« Er klang belustigt.

»Ja«, entgegnete sie ernst. »Ich bin nach Alba hinübergefahren und von der Küste Northumbrias nach Gallien.«

»Pah!« Murchad verzog verächtlich das Gesicht, doch in seinen Augen blitzte der Schalk. »Das ist nichts weiter als über einen Teich paddeln. Wir gehen jetzt auf eine richtige Seefahrt.«

»Ist sie länger als die von Northumbria nach Gallien?« Fidelma wußte viel, aber die Entfernungen über See kannte sie noch nicht.

»Wenn wir Glück haben ... wenn«, betonte Murchad, »dann sind wir in einer Woche am Ziel. Das hängt vom Wetter und den Gezeiten ab.«

Fidelma war überrascht.

»Ist das nicht eine lange Zeit ohne Sicht auf Land?« fragte sie vorsichtig.

Murchad schüttelte lächelnd den Kopf.

»Um Himmels willen, nein. Ein paarmal werden wir unterwegs Land sichten. Wir halten uns dicht an der Küste, damit wir uns orientieren können. Zum erstenmal sollten wir morgen früh wieder Land sichten, allerdings nur, wenn wir auf dem ganzen Weg nach Südosten günstigen Wind finden.«

»Und wo wäre das dann? Im Reich der Briten in Cornwall?«

Murchad sah sie anerkennend an.

»In der Geographie weißt du Bescheid, Schwester. Wir berühren aber die Küste von Cornwall nicht. Wir segeln westlich an einer Gruppe von Inseln vorbei, die mehrere Meilen vor der Küste liegen - sie heißen Syli-nancim. Wir legen dort nicht an, sondern segeln weiter, wie ich hoffe, mit günstigem Wind und ruhiger See. Dann wäre das nächste Land, das wir sichten, eine andere Insel namens Ushant, die vor der Küste Galliens liegt. Die sollten wir am nächsten Morgen oder bald danach erreichen. Damit sehen wir zum letztenmal Land für mehrere Tage. Wir nehmen anschließend Kurs genau nach Süden, und so Gott will, erreichen wir die Küste von Iberia, noch bevor die Woche um ist.«

»Nach Iberia innerhalb einer Woche?«

Murchad bestätigte das mit einem Nicken.

»So Gott will«, wiederholte er. »Und wir haben ein gutes Schiff, das uns fährt.« Dabei schlug er mit der Hand auf das Holz der Reling.

Fidelma schaute sich um. Sie hatte sich das Schiff mit besonderem Interesse angesehen, als sie an Bord kam.

»Es ist ein gallisches Schiff, nicht wahr?«

Murchad war etwas überrascht von ihrer Kenntnis.

»Du hast einen scharfen Blick, Schwester.«

»Ich habe ein solches Schiff schon früher einmal gesehen. Ich weiß, daß die starken Planken und die Art der Takelung typisch sind für die Werften von Mor-bihan.«

Murchad sah noch überraschter aus.

»Dann erklärst du mir wohl gleich noch, wer das Schiff gebaut hat«, meinte er trocken.

»Nein, das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Aber wie gesagt, gesehen habe ich solche Schiffe schon.«

»Nun, du hast recht«, gestand Murchad. »Ich habe es vor zwei Jahren in Kerhostin gekauft. Mein Steuermann .« Er wies auf einen der beiden Männer am Steuerruder, den mit dem finsteren Gesicht: »Das ist Gurvan, mein Steuermann und Stellvertreter hier an Bord. Er ist Bretone und hat die >Ringelgans< mitgebaut. Wir haben auch Leute aus Cornwall und Galicia in der Mannschaft. Die kennen die ganze See von hier bis Iberia.«

»Es ist gut, daß du eine so kundige Mannschaft dabei hast«, bemerkte Fidelma mit trockenem Humor.

»Nun, wie gesagt, wenn wir günstigen Wind haben und den Segen unseres Schutzpatrons, des heiligen Brendan des Seefahrers, dann kann es eine schöne Reise werden.«

Bei der Erwähnung des heiligen Brendan erinnerte sich Fidelma an die anderen Pilger.

»Ich wundere mich, weshalb die meisten anderen Passagiere den besten Teil der Reise versäumen«, meinte sie. »Ich finde, das Auslaufen aus dem Hafen auf die offene See ist immer das Spannendste daran.«

»Vom Standpunkt des Reisenden, hätte ich gedacht, wäre es aufregender, in einen fremden Hafen einzulaufen, als einen bekannten zu verlassen«, erwiderte Murchad. Dann zuckte er die Achseln. »Vielleicht haben deine Mitreisenden nicht so gute Seebeine wie du und die beiden jungen Brüder da drüben.« Er nickte hinüber zu den beiden Mönchen, die immer noch in ihr Gespräch vertieft waren. »Mir scheint allerdings, die beiden jungen Männer merken kaum, daß sie auf einem Schiff sind - anders als manche ihrer Mitbrüder.«

Es dauerte einen Moment, bis Fidelma begriff, worauf er anspielte.

»Sind einige bereits seekrank?«

»Mein Kajütenjunge meint, mindestens zwei. Ich habe schon Pilger gehabt, die selbst bei ruhiger See darum beteten, daß der Tod sie erlösen möge, weil sie so seekrank waren, daß sie es nicht mehr aushalten konnten.« Er grinste bei der Erinnerung. »Ich kannte einen Pilger, der wurde seekrank, sobald er einen Fuß auf das Schiff setzte, und blieb es, auch wenn wir im geschützten Hafen vor Anker lagen. Manchen Menschen gefällt es auf See, und andere sollten lieber an Land bleiben.«

»Was habe ich denn für Mitreisende?« fragte Fidelma.

Murchad sah sie einigermaßen erstaunt an.

»Du kennst sie nicht?«

»Nein. Ich gehöre nicht zu ihrer Gruppe. Ich reise allein.«

»Ich dachte, du kämst aus der Abtei.« Murchad wies mit der Hand auf die weit entfernte Küste hinter ihnen.

»Ich komme aus Cashel - ich bin Fidelma von Cashel. Ich bin gestern am späten Abend in der Abtei angekommen.«

»Na.« Murchad erwog ihre Frage einen Augenblick. »Deine Mitreisenden lassen sich wahrscheinlich als die übliche Schar von Mönchen und Nonnen beschreiben.

Tut mir leid, Schwester, aber durch die Kutte kann man den einzelnen Menschen schlecht erkennen.«

Diesen Standpunkt konnte Fidelma durchaus teilen.

»Sind sie eine gemischte Gruppe, Mönche und Nonnen?«

»Also das kann ich dir genau sagen. Außer dir sind es vier Nonnen und sechs Mönche.«

»Zehn im ganzen?« fragte Fidelma erstaunt. »Das ist eine merkwürdige Zahl. Gewöhnlich reisen doch Pilger in Trupps von zwölf oder dreizehn?«

»So kenne ich das auch. Auf dieser Reise sollten es wohl sechs Nonnen und sechs Mönche sein. Doch man hat mir gesagt, eine Nonne hätte die Reise nach Ardmore nicht geschafft und eine andere sei heute morgen einfach nicht am Kai erschienen. Wir warteten bis zum letzten Moment, aber ein Schiff kann dem Wind und den Gezeiten keine Vorschriften machen. Wir mußten absegeln. Vielleicht hatte die fehlende Nonne es sich anders überlegt. Es ist allerdings merkwürdig, wenn eine Frau diese Pilgerfahrt allein unternimmt«, setzte er forschend hinzu.

Fidelma zuckte fast unmerklich die Schultern.

»Ich kam erst gestern abend in der Abtei des heiligen Declan an und erkundigte mich nach einem Schiff nach Iberia. Der Abt erklärte mir, dein Schiff wolle heute morgen auslaufen, und er glaube, du hättest noch Platz für einen Passagier. Er nahm mich auf und schickte einen Boten aus, der die Überfahrt für mich bestellte. Meine Mitreisenden sind mir in der Abtei nicht begegnet, und ich kenne keinen von ihnen.«

Murchad schaute sie nachdenklich an und rieb sich seine große Nase.

»Es stimmt, daß der Bote des Abts mich gestern abend in Collas Gasthaus aufsuchte und die Überfahrt für dich bestellte.« Er runzelte die Stirn. »Mir fällt auf, daß du eine seltsame Nonne bist, Schwester. Der Abt beherbergt dich und schickt einen Boten für dich aus? Aber wie eine Oberin eures Ordens siehst du auch nicht aus.«

In dieser Feststellung lag zugleich eine Frage.

»Die bin ich auch nicht«, antwortete sie und wünschte, das Thema wäre nicht aufgekommen.

Er betrachtete sie forschend.

»So einen Vorzug zu genießen ist ungewöhnlich.« Er hielt inne, und dann blitzte in seinen scharfen, hellen Augen die Erkenntnis auf. »Fidelma von Cashel? Natürlich!«

Fidelma seufzte resigniert, als sie merkte, daß er von ihr gehört hatte. Doch in der Enge seines Schiffes wäre wohl früher oder später ohnehin bekannt geworden, wer sie war.

»Ich verlasse mich darauf, Murchad, daß du geheimhältst, wer ich bin«, verlangte sie. »Das geht schließlich meine Mitreisenden nichts an.«

Murchad atmete tief durch.

»Daß die Schwester des Königs von Cashel auf meinem Schiff reist? Das ist eine Ehre, Lady, und meine Neugier ist befriedigt.«

Fidelma schüttelte tadelnd den Kopf.

»Schwester«, verbesserte sie ihn scharf. »Ich bin nichts weiter als eine gewöhnliche Nonne auf einer Pilgerfahrt.«

»Nun gut, ich werde dein Geheimnis bewahren. Aber eine Prinzessin und zugleich eine Anwältin in Gestalt einer Nonne, diese Zusammenstellung trifft man selten an. Ich habe die Geschichte gehört, wie du das Königreich gerettet hast ...«

Fidelma hob das Kinn leicht an. Ihre Augen funkelten bedrohlich, als sie erwiderte: »War nicht Brendan auch ein Prinz, und stammte nicht Colmcille aus dem Königshaus der Ui Neill? So ungewöhnlich ist es doch wohl nicht, daß Personen von königlichem Rang dem Glauben dienen? Jedenfalls bleibt dieses Thema unter uns und wird nicht vor den anderen Pilgern besprochen.«

»Ich muß es aber dem Jungen sagen, der dich während der Reise bedient.«

»Es wäre mir lieber, wenn du das nicht tust. Und nun, Kapitän, wolltest du mir etwas über meine Mitreisenden erzählen«, lenkte sie von dem Thema ab, das ihr peinlich war.

»Viel weiß ich nicht über sie«, gestand Murchad. »Sie übernachteten zwar gestern in der Abtei, aber ich glaube nicht, daß sie zu ihr gehören. Ihrem Dialekt nach zu urteilen, kommen die meisten von ihnen - jedenfalls die, die ich gehört habe - aus dem Norden, aus dem Königreich Ulaidh.«

Fidelma wunderte sich.

»Das ist doch ein langer Weg für Pilger aus Ulaidh, wenn sie bis Ardmore wandern und dann erst aufs

Schiff gehen, statt direkt von einem Hafen im Norden abzufahren?«

»Vielleicht.« Murchad schien das nicht zu interessieren. »Als Schiffseigner bin ich froh, wenn ich Passagiere bekomme, ganz gleich aus welchen Gründen. Du hast noch Zeit genug, Lady, sie kennenzulernen und ihre Motive für die Reise zu erfahren.«

Plötzlich blickte er zu den Wimpeln auf, die am Großmast wehten, und beschattete seine Augen.

»Entschuldige, Lady. Ich muß halsen - ich meine, den Kurs des Schiffes ändern -, denn der Wind dreht.« Sie wollte ihn schon rügen, weil er sie mit »Lady« statt mit »Schwester« angeredet hatte, als er fortfuhr: »Wenn du an Deck bleiben willst, geh lieber hinüber zur Leeseite, aus dem Wind raus.« Er bemerkte ihre Ratlosigkeit und zeigte auf die Seite, die dem Wind gegenüberlag, wenn er den Kurs geändert hatte. Der Wind hatte sich überraschend gedreht, seit sie an dem Vorgebirge vorbei auf die offene See herausgekommen waren.

»Wenn es dir recht ist, Kapitän, gehe ich jetzt nach unten und suche meine Kajüte«, antwortete sie.

Er wandte sich um und brüllte so unerwartet los, daß sie zusammenfuhr.

»Wenbrit! Durchsagen, Wenbrit zum Kapitän!« Er schaute sie wieder an. »Ich muß dich für den Augenblick verlassen. Der Junge bringt deine Plünnen nach unten und zeigt dir deine Kajüte, Lady .«

Er drehte sich um, ehe sie ihn fragen konnte, was »Plünnen« bedeutete, und eilte zu den Männern am Steuerruder. Dann brüllte er: »Leinen klar zum Halsen.«

Das Schiff stampfte und rollte so heftig, daß Fidelma ständig ihre Haltung ändern mußte, um senkrecht zu bleiben.

»Bißchen rauh für dich, was, Schwester?«

Sie schaute in das Koboldsgesicht eines dreizehnoder vierzehnjährigen Jungen, der breitbeinig, die Hände in den Hüften, vor ihr stand und sich mühelos im Gleichgewicht hielt, während das Schiff schlingerte und rollte, als die Mannschaft es auf den neuen Kurs manövrierte. Er hatte kupferrotes Haar, eine Menge Sommersprossen auf seiner hellen Haut und meergrüne Schalksaugen. Sein breites Grinsen verriet selbstbewußten Stolz. Er sprach zwar mühelos irisch, doch mit einem Akzent, der seine Herkunft verriet: Er war Brite.

»So rauh nun auch nicht«, versicherte sie ihm, obgleich sie sich an der Reling abstützen mußte.

Bei ihrer Antwort verzog er ungläubig das Gesicht.

»Na«, meinte er, »wenigstens hältst du dich besser als ein paar von deinen Freunden unter Deck. Die kotzen wie die Reiher.« Angeekelt rümpfte er die Nase. »Und wer hat das alles sauberzumachen?«

»Ich nehme an, du bist Wenbrit?« fragte Fidelma lächelnd. Trotz des Schlingerns des Schiffes spürte sie keine Übelkeit. Es kam nur darauf an, das Gleichgewicht zu halten.

»Ja«, antwortete der Junge. »Du willst jetzt wohl nach unten gehen?«

»Ja, ich möchte mir meine Kajüte ansehen.«

»Dann folge mir, Schwester, und halte dich gut fest«, sagte er und nahm ihre Tasche. »Bei kräftigem Seegang ist es unter Deck manchmal gefährlicher als auf Deck. Wenn ich Kapitän wäre, würde ich meine Passagiere erst nach unten lassen, wenn sie wüßten, wie das ist. Wenn sie erst Seebeine gekriegt haben, dann können sie sich auch in der Dunkelheit unter Deck verkriechen.«

Mit diesen spöttischen Reden ging er ihr stolz und sicher voran, die hölzernen Stufen vom Achterdeck hinunter auf das Hauptdeck. Als er sich umwandte, bemerkte Fidelma einen weißen Streifen an seinem Hals, die Narbe einer Abschürfung. Das reizte ihre Neugier, doch es war nicht der Ort und nicht die Zeit, danach zu fragen. Am Fuß der Treppe beobachtete er kritisch, wie sie herabstieg. Rasch war sie unten, und er nickte in widerwilliger Anerkennung.

»Einer deiner Freunde fiel die Treppe runter, als wir noch vor Anker lagen«, erklärte er fröhlich. »Landratten!«

»Hat er oder sie sich verletzt?« fragte Fidelma, von der Gefühllosigkeit des Jungen entsetzt.

»Nur in ihrer Würde, wenn du verstehst, was ich meine«, erwiderte er lässig. »Hier lang, Schwester.«

Er ging durch eine Tür - die korrekte seemännische Bezeichnung dafür hatte Fidelma nicht behalten - und eine enge schmutzige Treppe hinunter in den Kajütenraum unter Deck. Später lernte sie, daß das Niedergang hieß. Eine einzige Sturmlaterne schwang an einer Kette in dem Korridor und verbreitete ein nur schwaches Licht.

»Du hast eine Kajüte mit einer anderen Schwester zusammen dort am hinteren Ende.« Der Junge wies mit der Hand dorthin. »Die anderen Reisenden haben die Kajüten hier entlang. Wenn ich nicht an Deck bin, schlafe ich in der großen Kajüte hier drüben.« Er zeigte nach vorn. »Dort bereiten wir die Mahlzeiten zu und essen. Es heißt das Messedeck. Ich bin immer zu erreichen, wenn was gebraucht wird.« Stolz wölbte er die Brust. »Der Kapitän - also der möchte, daß sich die Passagiere erst an mich wenden, und wenn es was Wichtiges ist, dann gebe ich es an ihn weiter. Er möchte nicht soviel mit den Reisenden auf seinem Schiff zu tun haben.« Er hielt inne, als erwarte er eine Reaktion.

»Sehr wohl, Wenbrit«, bestätigte Fidelma feierlich, »wenn es Probleme gibt, frage ich zuerst dich.«

»Es gibt eine Mahlzeit am Mittag, und an der wird der Kapitän teilnehmen und euch allen erklären, wie man sich an Bord zu verhalten hat. Aber im allgemeinen speist er nicht mit den Passagieren. Am ersten Tag macht er eine Ausnahme, um sicherzugehen, daß alle Bescheid wissen. Mit warmen Mahlzeiten dürft ihr natürlich nicht rechnen. Dabei fällt mir ein, wenn ihr unter Deck Kerzen brennt, laßt sie niemals ohne Aufsicht. Ich hab schon von Schiffen gehört, die Feuer gefangen haben wie eine Zunderbüchse.«

Fidelma verbarg nach Kräften ihre Belustigung über die bemüht selbstsichere Art des Jungen, der wie ein erfahrener Seemann redete.

»Am Mittag gibt es eine Mahlzeit, sagtest du?«

»Ich läute eine Glocke, die die Passagiere zum Essen ruft.«

»Sehr gut.« Fidelma wandte sich der Tür der Kajüte zu, auf die der Junge gezeigt hatte.

»Ach, noch eins .«

Sie drehte sich fragend um.

»Ich soll dir noch sagen, daß diese Kajüten im hinteren Teil des Schiffes liegen. Das ist das Heck. Auf dem Deck darüber sind die Kajüte des Kapitäns und andere Unterkünfte. Vorn ist in dieser Richtung. Das heißt auch der Bug. Im Heck gibt es einen Abort, hinter der Tür da. Vorn am Bug ist noch einer. Den kann dir jeder zeigen, wenn nötig. Wenn es Probleme gibt und wir das Schiff verlassen müssen, dann sind dafür zwei kleine Boote mittschiffs quer festgezurrt. Da müßt ihr hin, wenn wir in Not geraten. Macht euch keine Sorgen, einer von der Mannschaft sagt euch dann, was ihr zu tun habt.«

Der Junge drehte sich rasch um und eilte an Deck.

Fidelma blieb stehen, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Offensichtlich hatte Wenbrit keine hohe Meinung von »Landratten«, wie er die Passagiere nannte. Sie wandte sich wieder der Kajütentür zu, die er ihr gezeigt hatte. In dem Moment ging hinter ihr auf der anderen Seite des Korridors eine Tür auf. Sie vernahm ein überraschtes Atemholen, und dann sagte eine sanfte männliche Stimme: »Fidelma! Was um Himmels willen machst du denn hier?«

Sie fuhr herum und versuchte die Stimme zu erkennen, die aus einer lange zurückliegenden Erinnerung kam, einer Erinnerung, die auszumerzen ihr schon beinahe gelungen war.

Ein hochgewachsener Mann stand da im unsicheren Licht der pendelnden Laterne.

Unwillkürlich trat Fidelma einen Schritt zurück und langte wie Halt suchend nach der hölzernen Wand. Zum erstenmal, seit sie an Bord der »Ringelgans« gekommen war, wurde ihr schwindlig, und es kam nicht von dem Wogen des Meeres, sondern vom Aufwallen ihrer eigenen Gefühle.

Kapitel 3

»Cian!«

Wie ein Gespenst aus einer geisterhaften Vergangenheit stand vor ihr der Mann, der ihre erste Liebe gewesen war, der in ihr, als sie noch ein junges Mädchen war, die Sinnlichkeit geweckt und sie dann wegen einer anderen fallengelassen hatte.

In einem atemlosen Augenblick durchfluteten sie diese Erinnerungen. Fidelma hatte ihre erste Begegnung noch so lebhaft im Gedächtnis, als sei es erst gestern gewesen. Doch seitdem waren zehn Jahre vergangen, zehn lange Jahre ...

Der alte Brehon Morann hatte seinen Schülerinnen frei gegeben, damit sie das alle drei Jahre stattfindende große Fest in Tara besuchen konnten, das Feis Teamh-rach. Hätte er ihnen nicht frei gegeben, wären sie wahrscheinlich trotzdem hingegangen, denn das große Fest war der Höhepunkt des Jahres. Es war vom Großkönig Ollamh Fodhla vor ungefähr vierzehn Jahrhunderten begründet worden. Sein offizieller Zweck bestand darin, die Gesetze der fünf Königreiche zu überprüfen. Der Großkönig und die Provinzkönige kamen zusammen, ebenso wie die hervorragendsten Vertreter aller gelehrten Berufe aus den fünf Königreichen.

Zwar hatten die Großkönige schon vor hundert Jahren Tara als Hauptresidenz aufgegeben wegen eines Fluchs, den der heilige Ruadan von Lorrha in Muman gegen den Ort ausgesprochen hatte, doch an dem großen Fest hatte das nichts geändert, es wurde weiterhin in jedem dritten Jahr abgehalten. An den sieben Tagen des Fests stand niemandem der Sinn nach Lernen. Es begann drei Tage vor dem Feiertag des Samhain und endete am dritten Tag danach.

Während Gelehrte und Rechtskundige und die Könige und ihre Ratgeber die Angelegenheiten des Staates und die Anwendung der Gesetze besprachen und erwogen, ob neue Gesetze vonnöten seien, und wenn ja, welche, gab es Spiele, Wettbewerbe und Festlichkeiten für die Allgemeinheit und für die Reichen, die kamen, um zu sehen und gesehen zu werden. Kaufleute reisten nicht nur aus den fünf Königreichen an, sondern von allen Enden der Welt, und ebenso strömten Gaukler, Sänger, Jongleure, Narren und Akrobaten zusammen. Es war eine Zeit, sich zu erholen und fröhlich zu sein, denn die alten Gesetze schrieben für die Dauer des Fests einen heiligen Waffenstillstand vor, der jeden vor Festnahme oder Verfolgung schützte, es sei denn, er bräche selbst den Frieden des Fests durch Rüpelei, Gewalttätigkeit oder Diebstahl.

Fidelma war knapp achtzehn Jahre alt und noch nie zu einem großen Fest wie dem von Tara gewesen. Sie und ihre Gefährtinnen aus Moranns Rechtsschule schoben sich durch die sich drängende Menge, betrachteten die Stände, an denen Essen und Trinken aller Art verkauft wurde und auch Waren aus fernen Ländern. Ab und zu bestaunten sie die Künste der Clowns und Jongleure, während Musiker und Sänger ein nicht unangenehmes Durcheinander von Tönen hervorbrachten.

Fidelma und ihre Freundinnen blieben vor einem der Jongleure stehen, der neun scharfe kurze Schwerter in den Händen hielt, die er eins nach dem anderen in die Luft warf, wobei er keines auf den Boden fallen ließ, sondern alle auffing und immer wieder emporschleuderte, ohne sich zu verletzen. Das schwirrende Geräusch, das die Schwerter in der Luft erzeugten, erinnerte an das Summen von Bienen.

Brausender Beifall lockte Fidelma und ihre Gefährtinnen an den Rand einer Menge, die einen Rasenplatz umstand, auf dem ein immän-Spiel im Gange war. Jeder Spieler war mit einem hölzernen camän bewaffnet, einem über einen Meter langen Stock aus Eschenholz, der sorgfältig bearbeitet und geglättet war, das untere Ende flach und gebogen. Damit versuchte er einen mit Wolle gefüllten Lederball zu schlagen. Der Name des Spiels bedeutete »Treiben«, während der Stock seinen Namen von dem Wort cam herleitete, das seinen gebogenen Teil beschrieb.

Eine der beiden Mannschaften hatte gerade ein Tor erzielt, und als die jungen Studentinnen sich durch die Menge drängten, begann das Spiel von neuem damit, daß der Ball in der Mitte des Feldes in die Luft geworfen wurde. Die beiden Mannschaften standen an gegenüberliegenden Seiten des ebenen, grasbewachsenen Rechtecks, liefen nun los und bemühten sich, den Ball durch ihre Gegner hindurch in das von zwei Pfosten gebildete schmale Tor zu treiben.

Fidelmas Gruppe wartete, bis noch ein weiteres Tor gefallen war, und setzte dann in bester Stimmung ihren Weg fort. Es war ein glücklicher, sorgloser Tag, obgleich Fidelma im stillen wußte, daß ihr Lehrer, Brehon Morann, hoffte, seine Schülerinnen würden sich nicht nur auf dem Fest vergnügen, sondern auch den großen Debatten über die Gesetze lauschen und so ihr Wissen darüber erweitern. Daran wollte Fidelma gerade ihre Gefährtinnen erinnern, als sie sich in einer Menge wiederfanden, die den Beginn eines Pferderennens erwartete.

Cian war ihr sofort aufgefallen.

Er war nur ein oder zwei Jahre älter als sie und eine glänzende Erscheinung, groß, mit kastanienbraunem bis fast rötlichem Haar. Er hatte ein angenehmes Gesicht, war muskulös, und seine Kleidung verriet einen gewissen Rang. Für das Rennen hatte er sich leicht gekleidet in Hose und Hemd aus Leinen in verschiedenen Farben und einen kurzen Mantel aus gewebter Wolle mit Biberpelzbesatz. Er saß auf einem prächtigen, großartig gebauten Hengst, der wie sein Reiter kastanienbraun war, aber mit einem weißen Fleck auf der Stirn.

Die anderen Reiter, die sich neben Cian aufstellten, nahm Fidelma überhaupt nicht wahr. Sie schaute starr zu ihm auf, seltsam angezogen von seiner Jugend und Vitalität. Als er ihren Blick bemerkte, sah er ihr in die Augen und lächelte. Es war ein warmes, offenes Lächeln.

Dann ertönte der Ruf des Rennleiters, eine Flagge wurde gehoben, flatterte einen Moment über ihren Köpfen und senkte sich plötzlich. Unter den Anfeuerungsrufen der Menge stürmten die Pferde davon.

»Was für ein prächtiger Kerl!« flüsterte Fidelmas Gefährtin Grian. Grian war etwas älter als Fidelma und ihre beste Freundin in der Rechtsschule des Bre-hon Morann. Sie war eine gute Studentin, hatte aber einen frivolen Zug und schätzte den Genuß höher als ernsthaftes Studium, wenn sie zwischen beiden zu wählen hatte.

Gegen ihren Willen wurde Fidelma rot.

»Wen meinst du?« fragte sie möglichst harmlos.

»Den jungen Mann, mit dem du eben ein Lächeln getauscht hast«, neckte sie Grian.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, antwortete Fidelma und lief noch röter an.

Grian wandte sich an einen kleinen älteren Mann, der einen bestimmten Reiter angefeuert hatte.

»Weißt du, wer die Reiter sind?« fragte sie ihn.

Der Mann hörte mit seinem Rufen auf und sah sie erstaunt an.

»Würde ich denn auf das Ergebnis des Rennens wetten, wenn ich das nicht wüßte?« erwiderte er.

»Namen der Reiter, die Pferde und ihre Form, das ist das erste, wonach ich mich erkundige, bevor ich überhaupt herkomme.«

Grian lächelte einnehmend. »Dann kannst du uns vielleicht sagen, wie der Braune mit der weißen Blesse auf der Stirn heißt und wer ihn reitet?«

»Der junge Mann in dem roten Mantel?«

»Ja, genau der.«

»Ganz einfach. Der Braune heißt Diss .«

Hier mischte sich Fidelma ein. »Diss? Aber das bedeutet doch >schwach< oder >gebrechlich<?«

Der Mann tippte sich an die Nase und lächelte schlau: »Weil das Pferd eben alles andere als schwach oder gebrechlich ist.«

Diese Logik verwirrte Fidelma.

Grian ließ sich nicht ablenken und drängte: »Wie heißt also der Reiter?«

»Dem Reiter gehört auch das Pferd«, erwiderte der Mann. »Er heißt Cian.«

»Ein Häuptlingssohn, dem Aussehen nach«, bemerkte Grian verschmitzt.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nicht daß ich wüßte. Er ist aber ein Krieger, er dient in der Leibgarde des Großkönigs.«

Grian warf Fidelma einen triumphierenden Blick zu.

Die Anfeuerungsrufe wurden immer lauter, und das Donnern der Hufe kam wieder näher. Die Reiter hatten die Rundstrecke beinahe zurückgelegt und näherten sich dem Zielpfosten.

Fidelma beugte sich vor, um das Feld zu sehen.

Der große Braune lag dicht hinter der führenden weißen Stute, und sein Reiter beugte sich tief über den Pferdehals. Beifall brandete auf, als Cian und sein Pferd Diss weiter aufholten, aber sie wurden von der weißen Stute und ihrem Reiter ganz knapp geschlagen.

Fidelma fühlte sich vorwärtsgeschoben, als die Menge an den Sieger herandrängte. Grian hing an ihrem Arm, und sie merkte, daß ihre Gefährtin sie ebenso nach vorne schob wie der Druck der Menge. Grian steuerte sie aber nicht auf den Sieger zu, sondern dort hin, wo Cian von seinem Hengst stieg.

»Was machst du denn?« protestierte Fidelma.

»Du willst ihn doch kennenlernen, nicht wahr?« erwiderte ihre Freundin selbstsicher.

»Nein, ich ...« Aber ehe sie weitere Einwände erheben konnte, befand sie sich schon in einer kleinen Gruppe, die den hübschen jungen Reiter bedauerte, weil er so knapp geschlagen worden war.

Cian lächelte freundlich und nahm ihre Komplimente entgegen. Als er Fidelma und ihre Gefährtin erblickte, wandte er sich ihnen mit einem breiten Lächeln zu. Mit hochroten Wangen senkte Fidelma den Blick und war wütend, weil sie in solch eine peinliche Situation geraten war.

Cian nahm die Zügel über den Arm und kam auf sie zu.

»Hat den Damen das Rennen gefallen?« erkundigte er sich. Fidelma fiel sofort auf, daß er eine angenehme, klangvolle Tenorstimme besaß.

»Ein großartiges Rennen!« antwortete Grian für sie beide. »Aber meine Freundin wunderte sich, daß dein Pferd Diss heißt. Deswegen wollte sie dich unbedingt treffen«, fügte sie mit mutwilligem Humor hinzu.

Der Reiter lachte vergnügt. »Es wird schwach genannt, ist aber stark und keineswegs winzig. Das ist eine lange Geschichte - vielleicht nehmen wir zusammen eine Erfrischung zu uns, wenn ich meinen Hengst versorgt und mich gewaschen habe?«

»Tut mir leid, aber .« wollte Fidelma ablehnen, als ihre Freundin sie heftig am Arm zog.

»Aber sehr gern«, antwortete Grian rasch und mit einem Lächeln, das Fidelma in Verlegenheit brachte.

»Ausgezeichnet«, erwiderte Cian. »Dann treffen wir uns in fünfzehn Minuten dort drüben an dem Zelt mit dem gelbseidenen Banner darauf.«

Er wandte sich ab und führte sein Pferd fort. Im Vorübergehen klopften ihm manche Leute auf die Schulter. Er schien sehr beliebt zu sein.

Zornig fuhr Fidelma ihre Freundin an.

»Wie konntest du das tun!« zischte sie gereizt.

Grian blieb unbeeindruckt.

»Weil ich dich kenne. Natürlich wolltest du ihn kennenlernen! Leugne das doch nicht. Statt mich anzufauchen, solltest du froh sein, daß du eine Freundin wie mich hast.«

Im tiefsten Innern wußte Fidelma, daß Grian recht hatte. Sie hatte wirklich den hübschen Krieger kennenlernen wollen.

Die Erinnerung an diese Begegnung kam und ging im selben Augenblick, aber sie stand ihr kristallklar vor Augen.

Jetzt, in der Dunkelheit des unteren Längsgangs der »Ringelgans«, starrte Fidelma den hochgewachsenen Mann an, den die schaukelnde Laterne beleuchtete, und wurde von dem Konflikt ihrer Gefühle fast überwältigt. Sie nahm kaum wahr, daß er eine Mönchskutte trug. Er stand in der Tür seiner Kajüte, hielt sich mit einer Hand am Türrahmen fest, und sein hübsches Gesicht zeichnete sich gegen die sich jagenden Schatten ab.

Sie erkannte, daß er älter aussah, auch reifer, und doch hatten sich seine Züge kaum verändert. Die Jahre hatten sein angenehmes Äußeres stärker ausgeprägt und - sie gab es ungern zu - ihn noch attraktiver gemacht.

»Fidelma!« Seine Stimme klang lebhaft. »Du hier? Ich kann es kaum glauben!«

Es wäre so einfach, auf dieses strahlende Lächeln einzugehen. Sie kämpfte einen Moment mit der Versuchung, und es gelang ihr, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen. Erleichtert stellte sie fest, daß sie ihre Gefühle unter Kontrolle hatte.

»Es ist eine Überraschung, dich hier zu sehen, Ci-an«, antwortete sie in gemessenem Ton. Dann setzte sie hinzu: »Was machst du denn auf einem Pilgerschiff?«

In dem Moment, als sie die Frage stellte, bemerkte sie plötzlich, daß er in braunen Wollstoff gekleidet war und ein bronzenes Kruzifix an einer Lederschnur um den Hals trug.

Cian stutzte bei ihrem kühlen, sachlichen Ton und setzte ein schiefes Lächeln auf. Ein bitterer Ausdruck überflog sein hübsches Gesicht.

»Ich bin auf einem Pilgerschiff aus dem einfachen Grunde, weil ich ein Pilger bin.«

Fidelma schaute ihn spöttisch an. »Ein Krieger der Leibgarde des Großkönigs, ein Krieger der Fianna, geht auf Pilgerfahrt? Das ist kaum zu glauben.«

Lag es an dem unsicheren Licht, oder sah er seltsam aus?

»Das liegt daran, daß ich kein Krieger mehr bin.«

Trotz ihrer abweisenden Reaktion auf dieses Wiedersehen wollte Fidelma mehr erfahren.

»Willst du damit sagen, du hättest die Truppe des Großkönigs verlassen, um in einen Mönchsorden einzutreten? Das glaube ich dir nicht. Religion bedeutete dir nie etwas.«

»Kannst du mein ganzes Leben voraussagen? Darf ich meine Meinung nicht ändern?« Sein Ton wurde plötzlich feindselig. Fidelma beeindruckte das nicht. Sie hatte seine Ausbrüche in ihrer Jugend oft genug erlebt.

»Ich kenne dich sehr gut, Cian. Ich habe diese Kenntnis teuer genug erworben - oder erinnerst du dich nicht mehr daran? Ich jedenfalls weiß das noch. Ich konnte es wohl kaum vergessen.«

Sie wandte sich der Kajüte zu, die Wenbrit ihr gezeigt hatte, als Cian die Hand vom Türrahmen nahm, mit der er sich abgestützt hatte, und nach ihr langte. Durch die Bewegung des Schiffes kam er ins Straucheln. Wieder mußte er sich abstützen.

»Wir müssen miteinander reden, Fidelma«, sagte er eindringlich. »Zwischen uns sollte es keine Feindschaft geben.«

Ein seltsam verzweifelter Ton in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. Sie zögerte, aber nur einen Moment lang.

»Wir haben später noch reichlich Zeit dazu, Cian. Es wird eine lange Fahrt . Vielleicht sogar eine zu lange«, fügte sie bissig hinzu.

Sie trat in die Kajüte und schloß die Tür hinter sich, bevor er antworten konnte. Einen Augenblick blieb sie schwer atmend, mit dem Rücken an die Tür gelehnt, stehen und wunderte sich, daß ihr kalter Schweiß ausbrach. Sie hätte nicht gedacht, daß ein Wiedersehen mit Cian nach all den Jahren solche Emotionen in ihr wiedererwecken würde. Nachdem er sie damals verlassen hatte, hatte sie viele Monate gebraucht, um sie zu unterdrücken.

Sie konnte nicht leugnen, daß sie sich bei dieser ersten Begegnung mit Cian auf dem Fest von Tara in ihn vernarrt hatte. Nein, wenn sie ehrlich sein wollte, mußte sie zugeben, daß sie sich in ihn verliebt hatte. Trotz seiner Arroganz, seiner Eitelkeit und seines Stolzes auf seine Tüchtigkeit als Krieger hatte sie sich zum erstenmal in ihrem Leben verliebt. Er hatte alles an sich, was Fidelma verabscheute, aber das half nichts gegen die unwillkürliche Verbindung zwischen ihnen. Ihre Charaktere waren völlig entgegengesetzt, und unweigerlich zogen sie einander an wie Magnete. Das war ein sicheres Rezept für eine Katastrophe.

Cian war ein junger Mann, der auf Eroberungen aus war, und Fidelma war eine junge Frau, die eine romantische Vorstellung von der Liebe hatte. In wenigen Wochen hatte er sie in einen Strudel widerstreitender Gefühle gestürzt. Selbst Grian begriff, daß Cians Werben um Fidelma ganz oberflächlich war. Ihre Freundin war jung, attraktiv und vor allem intelligent - und Ci-an wollte sich dieser Eroberung rühmen. Hatte er Erfolg, würde sie ihm gleichgültig werden. Und Fidelma, ob sie nun intelligent war oder nicht, weigerte sich zu glauben, ihr Liebhaber hätte so niedrige Motive. Daraus ergaben sich viele Streitereien mit Grian.

Plötzlich erklang in dem Dunkel der Kajüte ein so herzzerreißendes Stöhnen, daß Fidelma erstarrte und abrupt in die Gegenwart zurückgerufen wurde. Ihre wirren, bedrückenden Erinnerungen waren vergessen. Einen Moment mußte sie überlegen, wo sie sich befand. Sie hatte die Kajüte betreten, die Wenbrit ihr gezeigt hatte und die sie mit jemand teilen sollte. Nun stand sie hier in der Dunkelheit.

Das Stöhnen hörte sich an, als leide jemand starke Schmerzen.

»Was ist?« flüsterte Fidelma und versuchte die Richtung zu ergründen, aus der der Ton kam.

Erst trat Stille ein, dann rief eine Stimme kläglich: »Ich sterbe!«

Fidelma sah sich rasch um. Es war stockdunkel in der Kajüte.

»Gibt es hier kein Licht?«

»Wer braucht denn Licht zum Sterben?« kam die Erwiderung. »Wer bist du überhaupt? Das hier ist meine Kajüte.«

Fidelma machte die Tür wieder auf, damit ein wenig Licht vom Durchgang hereinfiel. An der Tür fand sie einen Kerzenstumpf, den sie an der Laterne entzündete. Zum Glück war Cian verschwunden.

Als sie nach wenigen Augenblicken zurückkam, sah sie eine Frau in der unteren der beiden Kojen der winzigen Kajüte liegen. Ihre Kutte schien in Unordnung, ihr Gesicht war totenblaß, aber immer noch recht hübsch. Sie war jung, vielleicht Anfang zwanzig. Neben der Koje stand ein Eimer.

»Bist du seekrank?« Sie sagte es mitfühlend und wußte, daß die Frage überflüssig war.

»Ich sterbe«, beharrte die Frau. »Ich möchte allein sterben. Ich wußte nicht, daß es so schlimm ist.«

Fidelma schaute sich rasch um. Sie sah, daß ihr Gepäck auf der anderen Koje lag.

»Das kann ich nicht zulassen, Schwester. Ich teile für diese Fahrt die Kajüte mit dir. Ich heiße Fidelma von Cashel«, fügte sie fröhlich hinzu.

»Du irrst dich. Du gehörst nicht zu meiner Gruppe. Ich habe allen Kajüten zugeteilt und ...«

»Der Kapitän hat mich hier eingewiesen«, erklärte Fidelma rasch, »und nun will ich dir helfen.«

Erst trat Schweigen ein. Dann stöhnte die junge blasse Schwester laut auf.

»Mach das Licht aus. Ich kann kein flackerndes Licht ertragen. Und geh weg und sag dem Kapitän, ich will allein gelassen werden, damit ich im Dunkeln sterben kann. Ich verlange, daß du weggehst!«

Fidelma holte tief Luft. Das hatte ihr gerade noch gefehlt, mit einer jammernden eingebildeten Kranken zusammengesperrt zu sein.

»Es würde dir sicher besser gehen, wenn du oben auf Deck wärst statt in dieser Enge hier«, erwiderte sie. »Wie heißt du übrigens?«

»Muirgel.« Die Stimme war kaum mehr als ein Ächzen. »Schwester Muirgel aus Moville.«

Fidelma hatte schon von der Abtei gehört, die der heilige Finnian vor hundert Jahren am Ufer des Loch Cüan in Ulaidh gegründet hatte.

»Nun, Schwester Muirgel, wir wollen sehen, was wir für dich tun können«, sagte Fidelma entschlossen.

»Laß mich in Frieden sterben, Schwester«, jammerte die Kranke. »Kannst du dir nicht eine andere Kajüte für deine Fröhlichkeit suchen?«

»Du brauchst Luft, frische Seeluft«, ermahnte sie Fidelma. »Die Dunkelheit und die stickige Luft in dieser Kajüte machen deine Krankheit nur noch schlimmer.«

Die Gestalt in der Koje würgte jämmerlich und gab keine Antwort.

»Ich habe gehört, wenn man den Blick fest auf den Horizont richtet, hört die Seekrankheit allmählich auf«, riet ihr Fidelma.

Schwester Muirgel versuchte den Kopf zu heben.

»Bitte laß mich einfach in Frieden«, stöhnte sie und fügte bockig hinzu: »Geh weg und ärgere jemand anders.«

Kapitel 4

Fidelma mußte es aufgeben. Es hatte keinen Zweck, mit einer jungen Frau in diesem Zustand ein vernünftiges Gespräch führen zu wollen. Sie fragte sich, ob es noch eine andere Kajüte für sie gäbe. Jede andere wäre besser als eine, in der sie mit jemand eingesperrt wäre, der von weitgehend eingebildeten Ängsten geplagt wurde. Fidelma hatte Mitleid mit jedem, der krank war, aber nicht mit jemand, der sich helfen konnte und es nicht wollte. Sie beschloß, den Kajütenjungen Wenbrit zu suchen und ihm das Problem vorzutragen.

Als sie aus der Kajüte trat, kam Wenbrit gerade die Treppe herunter. Er grüßte sie mit einem Lächeln, und sie bemerkte, daß sich sein Verhalten ihr gegenüber leicht gewandelt hatte. Es war weniger vertraulich und weniger frech als zuvor.

»Verzeihung, Lady.« Fidelma erriet sofort den Grund für sein verändertes Benehmen und unterdrückte ihren Ärger darüber, daß Murchad verraten hatte, wer sie war. »Ich habe einen Fehler gemacht«, sagte er höflich. »Da du nicht zu den Pilgern aus Ulaidh gehörst, sollst du eine andere Kajüte bekommen.«

Fidelma erkannte das sofort als eine Lüge. Murchad hatte das erst beschlossen, als er wußte, wer sie war. Sie wollte keine besonderen Vorrechte. Doch die Unpäßlichkeit von Schwester Muirgel und die stickige Luft ließen die Vorstellung von einer eigenen Kajüte sehr verlockend erscheinen. Es war ein Zufall, daß ihr gerade das angeboten wurde, was sie suchte.

»Die Schwester, mit der ich die Kajüte teilen sollte, ist ziemlich krank«, gestand Fidelma. »Es wäre sicher schön, wenn ich eine Kajüte für mich allein hätte.«

Wenbrit grinste.

»Seekrankheit, was? Na, der fallen auch die Besten zum Opfer. Sie sah noch ganz gesund aus, als sie an Bord kam. Ich hätte nicht gedacht, daß sie krank würde.«

»Ich hab versucht, ihr zu klarzumachen, daß ihr davon nicht besser wird, wenn sie in einem engen Raum ohne Licht und Luft liegt«, erklärte Fidelma, »aber sie wollte nicht auf mich hören.«

»Auf mich auch nicht, Lady. Aber die Seekrankheit erwischt die Leute auf verschiedene Art.« Wenbrit verkündete seine Philosophie so ernst, als spräche er aus jahrelanger Erfahrung. Dann grinste er. »Warte hier, ich hole deine Plünnen.«

»Meine was?« Dieses unbekannte Wort hörte sie nun schon zum zweitenmal.

Wenbrit setzte eine Miene auf, als belehre er eine ziemlich begriffsstutzige Person.

»Dein Gepäck, Lady. Hier an Bord mußt du dich nun an den Matrosenjargon gewöhnen.«

»Aha. Plünnen. Also gut.«

Wenbrit klopfte an die Tür der Kajüte, die Fidelma gerade verlassen hatte, verschwand darin und kam nach wenigen Augenblicken mit ihrer Tasche zurück.

»Komm mit, Lady. Ich zeig dir deine Kajüte.«

Er stieg die Treppe zum Hauptdeck hoch.

»Befindet sich denn die Kajüte nicht auf diesem Deck«, fragte Fidelma, während sie ihm folgte.

»Es ist eine Kajüte im Vorderdeck frei. Die hat sogar Tageslicht. Murchad meinte, die wäre besser geeignet für .« Der Junge unterbrach sich.

»Und was hat Murchad gesagt?« fragte sie und kannte die Antwort schon.

Der Junge sah verlegen drein.

»Das soll ich dir nicht verraten.«

»Murchad hat einen großen Mund.«

»Der Kapitän möchte es dir nur recht bequem machen, Lady«, erwiderte Wenbrit leicht gekränkt.

Fidelma legte ihm die Hand auf den Arm. Sie sprach mit Entschiedenheit.

»Ich habe deinem Kapitän gesagt, daß ich keine besonderen Vorrechte möchte. Auf dieser Fahrt bin ich weiter nichts als eine Nonne. Ich möchte nicht, daß die anderen ungerecht behandelt werden. Als erstes hör auf, mich Lady zu nennen. Ich bin Schwester Fidelma.«

Der Junge sagte nichts und blinzelte nur leicht bei ihrem Tadel. Da tat Fidelma ihre kühle Haltung leid.

»Es ist nicht dein Fehler, Wenbrit. Ich habe Murchad gebeten, niemandem etwas zu sagen. Da du es nun weißt, wirst du mein Geheimnis bewahren?«

Der Junge nickte.

»Murchad wollte nur, daß du es bequem hast auf seinem Schiff«, wiederholte er und fügte entschuldigend hinzu: »Es ist auch nicht sein Fehler.«

»Du magst deinen Kapitän, nicht wahr?« Fidelma lächelte bei dem fürsorglichen Ton des Jungen.

»Er ist ein guter Kapitän«, erwiderte Wenbrit kurz. »Hier lang, Lady ... Schwester.«

Er führte sie über das Hauptdeck und an dem hohen Eichenmast vorbei, an dem das große Ledersegel noch im Winde schlug. Sie blickte empor und sah, daß auf die Vorderseite des Segels ein großes rotes Kreuz gemalt war, dessen Mitte von einem Kreis umschlossen wurde.

Der Junge bemerkte ihren Blick.

»Der Kapitän hat das aufmalen lassen«, erklärte er stolz. »In letzter Zeit fahren wir so viele Pilger, daß er meinte, das sei angebracht.«

Er ging weiter, und Fidelma folgte ihm zum hohen Bug des Schiffes, über den der schrägstehende Mast zum Himmel ragte, der an einer Querrahe das Steuersegel trug. Es war kleiner als das Großsegel und half den Kurs des Schiffes halten. Der Bug des Schiffes war ebenso wie das Heck erhöht und schuf damit Raum für Kajüten auf der Höhe des Hauptdecks. Wie am Heck führten einige Stufen zu dem Deck über ihnen. Zu beiden Seiten des Eingangs zu diesen Kajüten gab es viereckige vergitterte Öffnungen zum Hauptdeck.

Wenbrit öffnete diese Eingangstür und ging hinein. Fidelma folgte ihm und befand sich in einem kleinen Korridor mit drei Türen, eine rechts, eine links und eine geradezu. Der Junge öffnete die Tür zur Rechten, an Steuerbord - diesen Ausdruck hatte sich Fidelma gemerkt.

»Da sind wir, Lady«, verkündete er fröhlich und ließ sie eintreten.

Im Vergleich zur Helligkeit an Deck war auch diese Kajüte noch düster, aber nicht so sehr wie die erstik-kenden Kajüten unter Deck. Das vergitterte Fenster besaß einen Leinenvorhang, der Abgeschiedenheit gewährte, aber zurückgezogen werden konnte, um mehr Licht hereinzulassen. Die Ausstattung bestand aus einer einzelnen Koje, einem Tisch und einem Stuhl. Das war spärlich, aber hinreichend, und wenigstens hatte sie frische Luft. Fidelma sah sich anerkennend um. Das war mehr, als sie erwartet hatte.

»Wer schläft hier sonst?« fragte sie.

Der Junge setzte ihre Tasche auf der Koje ab und zuckte die Achseln.

»Manchmal haben wir besondere Passagiere«, wehrte er ab.

»Wer schläft in der Kajüte auf der anderen Seite?«

»An Backbord? Das ist Gurvans Kajüte«, antwortete der Junge. »Er ist der Steuermann, ein Bretone.« Er wies zum Bug, wo sie die dritte Tür gesehen hatte. »Der Abort ist da vorn, dort ist ein Eimer drin.«

»Benutzt den jeder?« fragte Fidelma und rümpfte leicht die Nase bei dem Gedanken, wie viele Menschen auf dem Schiff waren.

Wenbrit grinste, als er merkte, warum sie fragte.

»Hier ist die Benutzung begrenzt. Ich sagte schon, daß es noch einen Abort im Heck gibt, also solltest du nicht zu oft gestört werden.«

»Wie sieht es mit Waschen aus?«

»Waschen?« Der Junge runzelte die Stirn, als habe er daran noch nie gedacht.

»Wäscht man sich denn nicht an Bord dieses Schiffes?« hakte sie nach. Wie die meisten Leute ihres Standes war Fidelma gewohnt, abends ein Vollbad zu nehmen und sich morgens kurz zu waschen.

Der Junge grinste verschmitzt.

»Ich kann dir jeden Morgen einen Eimer Seewasser zum Waschen bringen. Aber wenn du baden meinst . Also wenn wir im Hafen liegen oder die See ruhig ist, kannst du außenbords ein Stück schwimmen. Bäder haben wir nicht auf der >Ringelgans<, Lady.«

Fidelma nahm das resigniert hin. Von ihren früheren Seereisen her hatte sie vermutet, daß Waschen an Bord keinen hohen Stellenwert besaß.

»Darf ich dem Kapitän sagen, daß du mit der Kajüte zufrieden bist, Lady?«

Fidelma verstand, daß der Junge besorgt war. Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.

»Ich sehe den Kapitän beim Mittagessen.«

»Aber die Kajüte?« fragte der Junge nach.

»Sie ist sehr zufriedenstellend, Wenbrit. Aber bemüh dich bitte, mich vor den anderen mit Schwester anzureden.«

Wenbrit legte die Hand zum Gruß mit den Knöcheln an die Stirn und grinste. Dann sauste er davon zu seinen anderen Pflichten.

Fidelma schloß die Kajütentür und schaute sich um. Das sollte also ihr Zuhause für die nächste Woche sein, vorausgesetzt, sie bekämen günstigen Wind. Es war gut zwei Meter lang und anderthalb Meter breit. Der Tisch, erkannte sie nun bei näherem Hinsehen, war eine klappbare Holzplatte an der Wand. In einer Ecke stand ein dreibeiniger Schemel, in einer anderen ein Eimer voll Wasser. Das war wohl zum Trinken oder Waschen gedacht. Sie probierte es mit dem Finger - es war Süßwasser, nicht Seewasser, also zum Trinken. Das Fenster in Brusthöhe ging auf das Hauptdeck hinaus. Es war etwa fünfzig Zentimeter breit und dreißig hoch und besaß zwei Stäbe. Eine Laterne hing an einem Metallhaken in einer Ecke, Zunderbüchse und Kerzenstummel lagen auf einem schmalen Wandbrett darunter.

Die Kajüte war gut eingerichtet.

Einen Moment fühlte sie sich schuldig, als sie an die Mönche und Nonnen dachte, die in stickige, lichtlose Kajüten unter Deck gepfercht waren. Doch das ging vorüber, und sie war dankbar, daß sie auf der Fahrt wenigstens frische Luft genießen konnte und ihr Quartier nicht mit jemandem teilen mußte.

Sie holte ihre Kleidung zum Wechseln aus der Tasche und hängte sie an den Haken an der Wand auf. Im Gegensatz zu manchen Frauen führte Fidelma keine Mittel zur Hautpflege mit sich - zum Beispiel roten Beerensaft zum Färben der Lippen -, wohl aber einen ciorbholg, eine Tasche für Kämme und Spiegel. Fidelma hatte gewöhnlich zwei verzierte Knochenkämme bei sich, nicht aus persönlicher Eitelkeit, sondern weil es bei ihrem Volke Brauch war, das Haar gut zu pflegen und nicht verfilzen zu lassen. Schönes Haar wurde sehr bewundert.

Wie die meisten Frauen ihres Standes schnitt und rundete Fidelma ihre Fingernägel sorgfältig, denn es galt als unanständig, eingerissene Nägel zu haben, doch ging sie nicht so weit wie manche, die sie rot färbten. Ebensowenig benutzte sie den Saft schwarzer oder blauer Beeren, um ihre Augenbrauen oder Lider dunkel zu färben. Sie rötete auch nicht ihre Wangen durch den Saft der Zweige oder Beeren des Holunders. Sie nahm ihre Körperpflege ernst, aber sie veränderte ihr natürliches Aussehen nicht.

Nun packte sie ihre ciorbholg aus und stellte sie auf den Tisch. Der sperrigste Teil ihres Gepäcks waren zwei taigh liubhair, kleine Bücher in Taschen. Als die irischen Mönche und Nonnen in den früheren Jahrhunderten begonnen hatten, auf die peregrinatio pro Christo zu gehen, hatten die gelehrten Schreiber in Irland erkannt, daß diese Missionare und Pilger liturgische Werke und religiöse Schriften brauchten, mit denen sie das Wort vom neuen Glauben unter den Heiden verbreiten konnten, und daß solche Bücher so klein sein mußten, daß sie sie bei sich tragen konnten. Fidelma hatte ein Meßbuch mitgebracht, das vierzehn mal elf Zentimeter groß war. Ihr Bruder, König Colgu, hatte ihr ein zweites Buch gleicher Größe als Lektüre während der langen Reise geschenkt. Es war ein »Leben des heiligen Ailbe«, des ersten christlichen Bischofs von Cashel und Schutzheiligen von Muman. Sorgfältig hängte sie die beiden Buchtaschen mit ihren Kleidern an die Haken.

Dann trat sie zurück, überschaute ihr Werk und lächelte. Vor dem Mittagessen hatte sie nun nichts mehr zu tun. Sie konnte sich in die Koje legen, den Kopf auf die gefalteten Hände, und zum erstenmal, seit sie die Tür von Schwester Muirgels Kajüte vor Cians bittendem Gesicht geschlossen hatte, einen Moment über den außerordentlichen Zufall des Wiedersehens mit ihm nachdenken.

Doch als sie sich dankbar ausstreckte, gab es ein hohes Quieken, und etwas Schweres, Warmes landete auf Fidelmas Bauch. Sie kreischte auf, und ein schwarzes Fellknäuel sprang mit einem weiteren seltsamen Schrei von ihrem Bauch herunter auf den Boden.

Zitternd richtete sich Fidelma auf. Eine schmale schwarze Katze saß da und betrachtete sie mit ihren hellgrünen Augen, und ihr glattes Fell leuchtete in den Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen. Sie gab ein leises »Miau« von sich, sah sie prüfend an und leckte dann ruhig eine Tatze, mit der sie sich danach rhythmisch über Ohr und Auge fuhr.

Es wurde außen an der Tür gekratzt, und dann ging sie auf und Wenbrit stand atemlos und besorgt da.

»Ich hörte dich schreien, Lady«, keuchte er. »Was ist?«

Fidelma schämte sich; sie wies auf die Ursache ihres Erschreckens.

»Das Tier hat mich überrumpelt. Ich wußte nicht, daß ihr eine Katze an Bord habt.«

Wenbrit entspannte sich und lächelte breit.

»Das ist die Schiffskatze, Lady. Auf einem solchen Schiff braucht man eine Katze, um die Ratten und Mäuse in Schach zu halten.«

Fidelma erschauerte leicht bei der Vorstellung von Ratten.

Wenbrit beruhigte sie. »Mach dir nichts draus. Sie kommen den Menschen nicht zu nahe, sondern bleiben unten im Kielraum und gehen höchstens an die Vorräte. Mäuseherr hat sie unter Kontrolle.«

Die Katze war inzwischen wieder auf Fidelmas Koje gesprungen, hatte sich fest zusammengerollt und schien zu schlafen.

»Sie fühlt sich hier anscheinend zu Hause«, bemerkte Fidelma.

Der Junge nickte.

»Es ist ein Kater, Lady«, verbesserte er sie. »Ja, Mäuseherr schläft gern in dieser Kajüte. Ich hätte dir das sagen müssen. Mach dir keine Sorgen, ich schaff ihn raus.«

Er trat vor, doch Fidelma hielt ihn zurück.

»Laß ihn in Ruhe, Wenbrit. Er kann die Kajüte mitbewohnen. Ich hab nichts gegen Katzen. Ich hab mich nur erschreckt, als sie ... als er auf mich sprang.«

Der Junge zuckte die Achseln.

»Du brauchst es mir nur zu sagen, wenn er dir lästig wird.«

»Wie nennst du ihn?«

»Luchtighern - Mäuseherr.«

Fidelma sah ihren neuen Reisegefährten lächelnd an.

»Das war der Name des Katers, der in der Höhle von Dunmore wohnte und alle Krieger des Königs von Laigin besiegte, die gegen ihn ausgesandt wurden. Erst als eine Kriegerin gegen ihn antrat, unterlag er.«

Der Junge sah sie verwundert an.

»Von so einem Kater habe ich noch nie gehört.«

»Es ist eine alte Sage. Wer hat ihm den Namen Luchtighern gegeben?«

»Der Kapitän. Er kennt alle die Geschichten, aber ich kann mich nicht erinnern, daß er mir diese erzählt hat.«

»Eine Katze hätte er vermutlich Baircne genannt, Schiffsheldin, nach der ersten Katze, die mit der Bark von Bresal Bec in Eireann landete.«

»Es ist aber ein Kater«, wandte der Junge ein.

»Ich weiß«, versicherte sie ihm. »Na, dann wollen wir den Mäuseherrn nicht länger stören,«

Als Wenbrit gegangen war, legte sich Fidelma vorsichtig wieder auf die Koje. Der Kater hatte sich behaglich zu ihren Füßen zusammengerollt, und seine warme, schnurrende Anwesenheit war seltsam tröstend. Fidelma schloß einen Moment die Augen und versuchte ihre wirren Gedanken zu ordnen. Woran hatte sie gedacht, bevor der Kater kam? Ach ja - an Cian. Ihr Mund wurde schmal. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Nur ihre Jugend und ihre Unerfahrenheit entschuldigten sie.

Sie hatte geglaubt, Cian sei für immer aus ihrem Leben verschwunden, als sie achtzehn Jahre alt war, und habe nur schmerzliche Erinnerungen hinterlassen.

Jetzt war er wieder da, und sie mußte ihn in dem engen Raum des Schiffes mindestens eine Woche lang ertragen. Ihre Emotionen machten ihr Sorge. Warum hatte sie so heftig reagiert, wenn sie die Erfahrungen ihrer Jugend überwunden hatte - wenn sie sie nicht seit den Tagen von Tara verfolgt hatten? Vielleicht lag es daran, daß sie sich nie richtig mit diesen Erfahrungen auseinandergesetzt hatte, wenn sie nun solchen Zorn empfand, als sie ihn wiedersah.

Cian! Wie hatte sie nur so naiv sein können! Wie konnte sie es zulassen, daß er sie so täuschte und ihre Seele zerriß?

Sie hatte ihm sein Verhalten mehrmals verziehen, selbst gegen den Rat ihrer besten Freundin Grian, die ihr empfahl, sie solle Cian wegschicken und ihn vergessen. Doch sie hatte ihn nicht weggeschickt, und sooft er sie betrog, schnitt es ihr ins Herz. Darunter litten ihre Leistungen im Studium, bis sie schließlich vor den alten Brehon Morann zitiert wurde.

An diese Szene erinnerte sie sich noch lebhaft und an das, was sie damals empfunden hatte.

Brehon Morann sah Fidelma streng, aber mitfühlend an.

»Du hast dir heute keine Ehre gemacht, Fidelma«, hatte er begonnen. »Anscheinend hast du die Fähigkeit verloren, dich auf den einfachsten Stoff zu konzentrieren.«

Trotzig blickte Fidelma zu ihm auf.

»Warte!« Brehon Morann hob die schmale Hand, als kenne er schon die Entschuldigungen, die ihr auf der Zunge lagen. »Sagt man nicht, daß der, der nicht tanzen kann, sich über die Unebenheit des Fußbodens beschwert?«

Fidelma lief rot an.

»Ich weiß, aus welchem Grunde du dich nicht auf deine Arbeit konzentriert hast«, fuhr der Alte in festem, ruhigem Ton fort. »Es geht mir nicht darum, dich zu verurteilen. Aber ich will dir die Wahrheit sagen.«

»Und was ist die Wahrheit?« fragte sie immer noch verärgert, obwohl ihr klar war, daß sie sich am meisten über sich selbst ärgerte.

Brehon Morann sah sie mit seinen furchtlosen grauen Augen an.

»Die Wahrheit ist, daß du herausfinden mußt, was die Wahrheit ist, und zwar bald. Sonst wirst du in deinem Studium keinen Erfolg haben.«

Fidelma preßte die Lippen zusammen.

»Heißt das, daß du mich durchfallen läßt?« fragte sie. »Daß du meine Arbeit verwirfst?«

»Nein. Du wirst dich selbst durchfallen lassen.«

Fidelma atmete tief aus. Einen Moment starrte sie Brehon Morann zornig an, dann wandte sie sich zum Gehen.

»Warte!«

Unwillig drehte sie sich wieder um. Brehon Morann hatte sich nicht gerührt.

»Eins will ich dir sagen, Fidelma von Cashel. Ab und zu geschieht es, daß ein alter Lehrer wie ich einen Schüler findet, dessen Fähigkeiten, dessen geistige Beweglichkeit so hervorragend sind, daß sein Beruf als Lehrer plötzlich gerechtfertigt erscheint. Die mühsame tägliche Arbeit, tausend widerstrebenden Köpfen Wissen einzuhämmern, findet eine mehr als ausreichende Belohnung darin, daß er einen Kopf entdeckt, der begierig und in der Lage ist, Wissen aufzunehmen und zu verarbeiten und dieses Wissen zur Besserung der Menschheit anzuwenden. Alle Jahre vergeblicher Mühen bekommen auf einmal ihren Sinn. Ich sage es nicht leichtfertig, wenn ich gestehe, daß ich glaubte, mein Entschluß, Lehrer zu werden, habe seine Rechtfertigung in dir gefunden.«

Fidelma starrte den alten Mann verblüfft an. So hatte er noch nie zu ihr gesprochen. Einen Augenblick ging sie wieder in Abwehrstellung: Ihr schneller Verstand sagte ihr, der Alte werde für dieses Kompliment eine Gegenleistung verlangen.

»Hast du nicht einmal gesagt, wer seinen Ehrgeiz durch Ausnutzung anderer befriedigt, der enthüllt damit die Schwäche seines eigenen Charakters und seiner eigenen Fähigkeiten?« gab sie verletzt zurück.

Brehon Morann verzog keine Miene, seine Lider senkten sich nur leicht.

»Fidelma von Cashel«, mahnte er leise, »du hast hervorragende Aussichten und Fähigkeiten. Verbaue dir deinen Weg nicht selbst. Erkenne dein Talent und verschwende es nicht.«

Fidelma wußte nicht, wie sie auf diese Worte reagieren sollte, denn sie paßten überhaupt nicht zu ihm.

Niemals hatte er ihres Wissens eine Schülerin um etwas gebeten, und nun empfand sie seinen Ton als bittend, als eine Bitte an sie.

»Ich muß mein eigenes Leben führen«, erwiderte sie trotzig.

Die Miene des Alten wurde hart, und er entließ sie mit einer abrupten Handbewegung.

»Dann geh fort und führe es. Komm erst wieder in meinen Unterricht, wenn du wirklich etwas lernen willst. Wenn du nicht Frieden mit dir selbst findest, hat es keinen Zweck, daß du zurückkehrst.«

Fidelma stürmte aus dem Zimmer.

Drei Monate vergingen, bis sie wieder vor Brehon Morann erschien, drei lange bittere Monate voller Herzeleid und Einsamkeit.

Kapitel 5

Fidelma erwachte plötzlich und fragte sich, was sie gestört hatte. Es war das helle, klagende Läuten einer Glocke. Einen Moment überlegte sie, wo sie sich befand. Bei der Bewegung des Schiffes unter ihr fiel es ihr ein. Sie war eingeschlafen, während sie über Cian nachdachte. Kein Wunder, daß sie meinte, einen abscheulichen Alptraum zu haben! Ihre Gedanken waren zu den unglücklichen Erlebnissen in ihrer Beziehung zu ihm zurückgekehrt. Diese Erlebnisse hatten sich in ihr Gedächtnis eingegraben, auch wenn sie schon zehn Jahre zurücklagen.

Die Glocke fuhr beharrlich zu läuten fort, es mußte wohl Wenbrits Ruf zum Mittagessen sein. Eilig erhob sich Fidelma von ihrem Lager. Der Kater war verschwunden. Hastig fuhr sie sich mit dem Kamm durchs Haar und zog ihre Kleidung zurecht.

Sie verließ die Kajüte und ging über das Hauptdeck. Die Bewegung des Schiffes war nicht unangenehm, die See schien ziemlich ruhig. Sie blickte nach oben. Die Sonne stand im Zenit und warf nur kurze Schatten. Der Wind hatte sich anscheinend gelegt. Das Segel hing schlaff und füllte sich nur ab und zu, wenn eine schwache Brise es erfaßte. Trotzdem machte das Schiff noch Fahrt, wenn auch langsam. Ein paar Matrosen saßen mit gekreuzten Beinen auf dem Deck und nickten Fidelma freundlich zu, als sie vorbeiging, und einer begrüßte sie in ihrer eigenen Sprache.

Sie kletterte den Niedergang am Heck des Schiffes hinunter und erinnerte sich an Wenbrits Beschreibung des Messedecks, wie er es nannte. Sie ging auf das trübe Licht und den Geruch des engen Raumes zu.

Ein halbes Dutzend Leute saßen an einem langen Tisch in der breiten Kajüte, die sich von einer Seite des Schiffes zur anderen erstreckte. Der Tisch befand sich hinter dem Großmast, den sie wie einen Baum durch die Decks aufragen sah. Murchad stand breitbeinig am Kopfende. Hinter ihm beugte sich Wenbrit über einen Nebentisch und schnitt Brot.

Murchad lächelte, als sie eintrat, und winkte sie zu einem Platz an seiner Rechten. Zwei lange Bänke auf beiden Seiten des Kiefernholztisches dienten als Sitzgelegenheit. Die Anwesenden sahen der Hinzukommenden neugierig entgegen.

Fidelma ging zu ihrem Platz und bemerkte, daß sie Cian gegenübersaß. Hastig erwiderte sie die forschenden Blicke ihrer Reisegefährten mit einem Lächeln zur Begrüßung. Cian erhob sich, um sie vorzustellen, wobei er sie besitzergreifend anschaute.

»Da du niemanden hier kennst, Fidelma«, setzte er an, doch damit verstieß er gegen das Protokoll, denn die Vorstellung war Murchads Sache.

»Also bitte, Bruder Cian«, unterbrach ihn der Kapitän ärgerlich. »Schwester Fidelma von Cashel, erlaube mir, dir deine Mitreisenden vorzustellen. Dies sind die Schwestern Ainder, Crella und Gorman.« Er wies rasch nacheinander auf drei Nonnen, die ihr gegenüber neben Cian saßen. »Dies ist Bruder Cian, und neben dir sitzen die Brüder Adamrae, Dathal und Tola.«

Fidelma verneigte sich und begrüßte alle mit dieser Geste. Ihre Namen und Gesichter würden ihr erst nach und nach etwas bedeuten. Im Augenblick war die Vorstellung nur eine Formsache. Cian hatte sich mit verärgerter Miene wieder gesetzt.

Die Nonne direkt neben Cian, die außerordentlich jung aussah für solch eine Pilgerreise, lächelte sie honigsüß an.

»Wie es scheint, kennst du Bruder Cian bereits?«

Es war Cian, der ihr eilig Antwort gab.

»Ich habe Fidelma vor vielen Jahren in Tara kennengelernt.«

Fidelma spürte die neugierigen Blicke, die sich auf sie richteten, und wandte sich an Murchad, um ihre Verlegenheit zu verbergen.

»Wie ich sehe, zählt die Pilgergruppe nur acht Personen. Ich dachte, es wären mehr?« Dann fiel ihr ein: »Ach ja, da ist ja noch Schwester Muirgel, nicht wahr? Kann sie ihre Kajüte noch nicht verlassen?«

Murchad lächelte nur grimmig, doch eine ältliche Nonne mit scharfen Zügen am Ende des Tisches antwortete auf ihre Frage.

»Ich fürchte, Schwester Muirgel wie auch die Brüder Guss und Bairne sind noch angegriffen von den Strapazen der Reise und können im Moment nicht hier erscheinen. Kennst du auch Schwester Muirgel?«

Fidelma schüttelte den Kopf. »Ich bin ihr begegnet, als ich an Bord kam, aber unter unglücklichen Umständen. Ich merkte, daß es ihr nicht gut ging«, fügte sie zur Erklärung hinzu.

Ein blasser älterer Mönch mit schmutzigem grauem Haar schnaubte hörbar mißbilligend.

»Sag schon, daß sie seekrank sind, und damit gut, Schwester Ainder. Leute sollten nicht auf Seereisen gehen, wenn sie es nicht vertragen.«

Die dritte Nonne, deren Namen Fidelma sich als Schwester Crella gemerkt hatte, eine kleine junge Frau mit einem breiten Gesicht, das ihre sonst hübsche Erscheinung beeinträchtigte, nahm das übel. Sie schien nervös veranlagt, denn sie schaute sich beständig um, als erwarte sie jemanden. Sie schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge und schüttelte den Kopf.

»Ein wenig Nachsicht, bitte, Bruder Tola. Es ist etwas Schreckliches, diese Krankheit auf See.«

»Die Seeleute kennen ein Mittel dagegen«, warf Murchad mit grimmigem Humor ein, »aber ich würde es nicht jedem empfehlen. Am besten vermeidet man die Seekrankheit, wenn man sich an Deck aufhält und den Blick fest auf den Horizont richtet. Dabei muß man viel frische Seeluft einatmen. Das Schlimmste, was man tun kann, ist, daß man unter Deck in der engen Kajüte bleibt. Sagt das nur euren Mitreisenden weiter.«

Fidelma stellte befriedigt fest, daß ihr Rezept richtig war.

»Kapitän!« Das war wieder Schwester Ainder mit dem scharf geschnittenen Gesicht. »Müssen wir über die Kranken und Toten reden, wenn wir essen wollen? Vielleicht spricht Bruder Cian das Tischgebet, und dann können wir mit dem Mahl beginnen.«

Erwartungsvoll hob Fidelma den Blick. Daß Cian als Mönch das Tischgebet sprach, war für sie bisher unvorstellbar gewesen.

Der frühere Krieger spürte anscheinend ihren forschenden Blick, er errötete und wandte sich an den strengen älteren Bruder.

»Möge doch Bruder Tola das Gratias sprechen«, murmelte er verlegen und sah Fidelma in die Augen. »Ich habe nicht für vieles zu danken«, flüsterte er, nur für sie bestimmt. Sie gab keine Antwort. Murchad hörte die Bemerkung, zog die buschigen Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.

Bruder Tola faltete die Hände vor sich und hob mit lauter Baritonstimme an: »Benedictus sit Deus in donis Suis.«

Sie antworteten automatisch: »»Et sanctus in omnis operibus Suis.«

Während des Essens erklärte Murchad ihnen, wie zuvor für Schwester Fidelma, wie lange die Fahrt seiner Schätzung nach dauern würde.

»Wir wollen hoffen, daß wir mit schönem Wetter gesegnet sind bis zu dem Hafen, in dem ihr an Land geht. Der Hafen ist nicht weit von dem heiligen Schrein entfernt, der euer Ziel ist. Ihr habt dann nur noch wenige Meilen über Land.«

Das rief ein aufgeregtes Gemurmel unter den Pilgern hervor. Einer der beiden jungen Brüder, die Fidelma zuvor auf dem Hauptdeck gesehen hatte und dessen Name Bruder Dathal war, wie sie inzwischen gehört hatte, beugte sich so eifrig vor, wie er sich auf Deck mit seinem Gefährten unterhalten hatte.

»Befindet sich der Schrein nahe dem Ort, an dem Bregon seinen großen Turm erbaute?«

Bruder Dathal befaßte sich offensichtlich mit den alten gälischen Legenden, denn den alten Barden zufolge hatten die Vorfahren des Volkes von Eireann einst in Iberia gelebt und vor vielen Jahrhunderten dieses Land von einem hohen Turm aus erspäht, den ihr Anführer Bregon erbaut hatte. Es war Bregons Neffe Golamh, auch als Mike Easpain bekannt, der sein Volk bei der großen Eroberung des Landes der fünf Königreiche angeführt hatte.

Murchad lächelte breit. Diese Frage war ihm schon oft von anderen Pilgern gestellt worden.

»So sagt es die Legende«, erwiderte er gutmütig. »Ich muß euch aber warnen, daß ihr keine Reste eines so gewaltigen Baus finden werdet, abgesehen von einem römischen Leuchtturm, doch der heißt der Turm des Herkules, nicht des Bregon. Bregons Turm muß wirklich sehr, sehr hoch gewesen sein, wenn ein Mensch die Küste Eireanns von Iberia aus gesehen haben soll.« Er hielt inne, doch sein Humor schien bei den anderen nicht anzukommen. Er wurde wieder ernst. »Da wir hier noch einen Moment zusammensitzen, will ich euch allen ein paar Dinge sagen, die ihr auch an eure Gefährten weitergeben müßt, die nicht an unserer ersten Mahlzeit teilnehmen konnten. Es sind Regeln, die jeder hier an Bord zu befolgen hat.«

Er zögerte und fuhr dann fort.

»Ich sagte euch, daß unsere Fahrt etwa eine Woche in Anspruch nehmen wird. In der Zeit könnt ihr das Hauptdeck so viel benutzen wie ihr wollt. Bemüht euch, meiner Besatzung nicht im Wege zu sein, wenn sie ihren Pflichten nachkommt, denn euer Leben hängt davon ab, daß dies Schiff gut gefahren wird, und das ist in diesen Gewässern nicht einfach.«

»Ich habe Geschichten von großen Seeungeheuern gehört.«

Das war die junge Schwester Gorman. Fidelma musterte sie heimlich, denn sie meinte, es sei gut, wenn sie mit ihren Mitreisenden bekannt würde, sie müßten ja mehrere Tage zusammen auf dem Schiff verbringen. Gorman war noch sehr jung, gerade mal achtzehn. Sie sprach aufgeregt und atemlos und machte den Eindruck eines naiven Kindes. Fidelma stellte sie sich wie einen eifrigen kleinen Welpen vor, der seinem Herrn gefallen möchte. Seltsam an ihr war, daß ihre Augen nie still standen, sondern flackerten wie in ständiger Angst. Fidelma fragte sich, ob sie selbst je so jung gewesen war. Achtzehn. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie achtzehn gewesen war, als sie Cian begegnete. Sie schob den Gedanken sofort beiseite.

»Werden wir Seeungeheuer sehen?« fragte das Mädchen. »Kommen wir in Gefahr?«

Murchad lachte, aber nicht unfreundlich.

»Wo wir fahren, droht keine Gefahr von Seeungeheuern«, versicherte er ihr. »Ihr werdet vielleicht Geschöpfe in der See erblicken, die ihr noch nie gesehen habt, aber sie stellen keine Gefahr dar. Unsere größte Gefahr liegt in rauhem Wetter. Wenn wir Sturm bekommen, ist es am besten, falls ich euch nicht etwas anderes befehle, daß ihr unter Deck bleibt und darauf achtet, daß alle Lampen und Kerzen gelöscht sind.«

»Aber wie können wir in der Dunkelheit da unten etwas sehen ohne Lampen?« jammerte Schwester Crella.

»Alle Lampen und Kerzen müssen gelöscht werden«, wiederholte Murchad in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Wir möchten an Bord nicht noch mit einem Feuer zu kämpfen haben außer mit einem Sturm. Die Lampen müssen gelöscht sein und alles verschalkt.«

»Das verstehe ich nicht.« Den asketischen Bruder Tola hatte dieses Wort offensichtlich verwirrt.

»Alles Lose, was bei den Bewegungen des Schiffes Schaden anrichten könnte, muß sicher vertäut oder befestigt werden«, erklärte der Kapitän geduldig. »In solchen Fällen geht euch Wenbrit zur Hand und sorgt dafür, daß ihr alles habt, was ihr braucht.«

»Wie wahrscheinlich ist es, daß wir einen Sturm bekommen?« fragte die hochgewachsene ältliche Nonne, Schwester Ainder.

»Etwa fünfzig-fünfzig«, gestand Murchad. »Aber macht euch keine Sorgen. Ich habe noch kein Pilgerschiff im Sturm verloren, und auch nicht einen einzigen Pilger.«

Die am Tisch Versammelten reagierten darauf mit einem höflichen, aber gezwungenen Lächeln. Murchad war offensichtlich ein guter Menschenkenner, denn Fidelma merkte, daß einige Passagiere weitere Ermutigung brauchten, und Murchad fiel das ebenfalls auf.

»Ich will offen mit euch reden«, erklärte er. »Dieser Monat bringt häufig Stürme und Regenfälle, die viele Wochen andauern können. Aber warum habe ich beschlossen, an diesem bestimmten Tag auszulaufen? War es ein Zufall, daß ich darauf bestand, die Ebbe heute morgen zu nutzen? Kennt jemand den Grund?«

Alle blickten einander an, und einige schüttelten den Kopf.

»Als geistliche Leute solltet ihr wissen, was heute für ein Tag ist«, schalt sie der Kapitän gutmütig. Er wartete die Antwort ab. Sie schauten ratlos drein. Fidelma meinte, sie müsse die Antwort übernehmen.

»Meinst du den Feiertag des heiligen Lukas, des geliebten Arztes?«

Murchad warf ihr einen anerkennenden Blick zu.

»Genau den meine ich. Den Feiertag des heiligen Lukas. Hat keiner von euch schon mal was vom >klei-nen Sommer des heiligen Lukas< gehört?«

Ratloses Kopfschütteln war die Antwort.

»Wir Seeleute haben festgestellt, daß es gewöhnlich eine Schönwetterperiode in der Mitte dieses Monats gibt, die mit dem Feiertag des heiligen Lukas einsetzt - Trockenheit und viel Sonnenschein. Wenn wir also in dem Monat auslaufen müssen, wählen wir gewöhnlich diesen Tag dafür.«

»Kannst du uns dieses schöne Wetter für die Überfahrt garantieren?« fragte Schwester Ainder.

»Ich fürchte, man kann für nichts garantieren, wenn man erst einmal auf See ist, ganz gleich, zu welcher Zeit und an welchem Ort, ob im Hochsommer oder mitten im Winter. Ich will damit nur sagen, daß von den vielen Fahrten, die ich um diese Jahreszeit gemacht habe, alle bis auf eine angenehm und ruhig verliefen.«

Murchad wartete einen Moment, und als keine Bemerkungen kamen, fuhr er fort.

»Es gibt allerdings noch etwas anderes, auf das ich euch aber sicher hingewiesen habe, bevor ihr euch für die Überfahrt auf meinem Schiff entschieden habt. Die Seefahrt ist heutzutage gefährlich, und die Gewässer, die wir zu durchqueren haben, machen dabei keine Ausnahme. Ich meine jetzt nicht mehr die Bedrohung durch die Elemente, durch Gezeiten und Stürme. Ich meine die Bedrohung durch unsere Mitmenschen, durch Piraten und Seeräuber, die Schiffe überfallen und ausrauben, die Menschen an Bord gefangennehmen und in die Sklaverei verkaufen.«

Alle waren verstummt.

Fidelma war einmal nach Rom gereist und kannte einige der Gefahren, von denen Murchad sprach. Sie hatte viele Geschichten von den Seeräubern gehört, die von den Balearen aus gegen die Häfen der italieni-schen Westküste vorgingen, und von der Ausbreitung der Korsaren aus der arabischen Welt im ganzen Mittelmeer, dem großen Binnenmeer der Welt.

»Wenn wir angegriffen werden, wie können wir uns verteidigen?« fragte Cian ruhig.

Murchad lächelte gepreßt. »Wir sind kein Kriegsschiff, Bruder Cian. Zu unserer Verteidigung müssen wir uns auf unsere seemännische Tüchtigkeit verlassen und auf das Glück des Teu ...« Plötzlich fiel ihm ein, daß er mit Mönchen und Nonnen sprach. »Und auf die schützende Hand Gottes.«

»Und wenn nun Glück und seemännische Tüchtigkeit nicht reichen?« erkundigte sich Bruder Tola. »Ist deine Mannschaft bewaffnet und bereit, zu unserer Verteidigung zu kämpfen?«

Cian setzte eine verächtliche Miene auf.

»Was, Bruder Tola? Verlangst du von anderen, daß sie zu deiner Verteidigung sterben sollen, während du ruhig dabeistehst?« Offensichtlich hielt Cian nichts von seinem Mitbruder.

»Erwartest du von mir, daß ich zum Schwert greife statt zum Kreuz?« Bruder Tola beugte sich vor, und sein Hals lief rot an.

»Warum nicht?« antwortete Cian ruhig. Fidelma kannte diesen kühlen, höhnischen Ton von früher und erschauerte leicht. »Petrus tat es auch im Garten Gethsemane.«

»Ich bin Mönch und kein Krieger«, protestierte Bruder Tola.

»Dann solltest du dich auch mit dem Schutz des Kruzifixes begnügen«, spottete Cian, »und nicht verlangen, daß Krieger dich verteidigen.«

Murchad schaute Fidelma an, und sie erspähte ein belustigtes Lächeln auf seinem Gesicht. Dann hob der Kapitän die Hände wie ein Priester zum Segen.

»Meine Freunde«, sagte er besänftigend. »Darüber muß es nicht zu Zwietracht unter euch kommen. Ich möchte euch nicht beunruhigen, aber ich habe die Pflicht, euch auf alle Möglichkeiten aufmerksam zu machen, damit niemand überrascht ist, falls etwas davon eintritt. Sollten wir das Unglück haben, auf Seeräuber zu stoßen, dann werdet ihr vielleicht beten, damit uns eine höhere Macht als das Schwert hilft. Das ist es doch, was ihr lehrt, nicht wahr? Diese Räuber halten sich meist dicht bei den Haupthäfen entlang der Küsten auf. Unser Kurs sollte uns weit von diesen gefährlichen Gebieten fort führen .«

»Außer?« Es war Cian, der es aus Murchad herauslockte.

»Wir laufen eine Insel namens Ushant an, die vor der Westküste des Landes liegt, das früher Armorica hieß und jetzt als >Klein-Britannien< bekannt ist. In diesen Gewässern könnten Seeräuber lauern. Auch im Vorfeld der Küste von Iberia sind sie zu finden. Das sind die Gebiete, in denen wir mit Angriffen zu rechnen haben. Aber ich bezweifle es. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht groß.«

»Bist du schon einmal von Seeräubern angegriffen worden, Murchad?« fragte Fidelma ruhig, denn der Kapitän schien sich sehr sicher zu sein.

Er nickte ernst.

»Zweimal«, bestätigte er. »Zweimal in all den Jahren, in denen ich hier zur See fahre.«

»Du hast es jedenfalls überlebt«, stellte sie es für ihre neuen Gefährten klar.

»Allerdings.« Murchad warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Nur zwei solche Begegnungen auf allen meinen Fahrten, und das waren viele, das beweist euch, daß ein solches Zusammentreffen möglich, aber nicht wahrscheinlich ist. Wir werden viel eher mit Stürmen als mit Piraten zu tun haben. Sollten wir in einen Sturm geraten, ist es meine Pflicht als Kapitän, euch darauf hinzuweisen, daß ihr meinen Leuten nicht im Wege sein dürft und sie ihre Arbeit verrichten lassen müßt, damit wir entkommen können.«

»Vielleicht erzählst du uns, was bei den zwei Gelegenheiten geschah, als du angegriffen wurdest?« Bruder Tola sah Cian finster an, während er diese Frage an den Kapitän richtete. »Es kann doch nicht so schlimm gewesen sein, denn sonst, wie die Schwester«, er verneigte sich vor Fidelma, »schon sagte, wärst du jetzt nicht hier.«

Murchad lachte verständnisvoll.

»Na, bei dem einen Mal bin ich besser gesegelt als der Räuber.«

»Und beim zweiten Mal?« fragte Schwester Crella aufgeregt.

Die Mundwinkel des Kapitäns zogen sich humorvoll herab. »Da hat er mich gefaßt.«

Verwirrtes Schweigen trat ein, bis Murchad merkte, daß sein Humor bei seinen Passagieren nicht angekommen war, und er sich zu einer Erklärung entschloß.

»Er stellte fest, daß mein Schiff leer war, keine Waren und keine Passagiere an Bord hatte, denn ich fuhr von einem Hafen zu einem anderen, um Ladung aufzunehmen, und da entschied sich der Pirat, mich weiterfahren zu lassen. Es lohnte sich nicht für ihn, mein Schiff zu versenken, wenn er mich später mit einer wertvollen Ladung fassen könnte. Er erklärte mir, er wolle mich wiedersehen, wenn ich ihm etwas zu bieten hätte. Bisher habe ich ihn noch nicht wieder getroffen.«

Es trat nachdenkliche Stille in der Kajüte ein.

»Und wenn du nun Pilger an Bord gehabt hättest?« fragte Schwester Gorman angstvoll.

Murchad machte sich nicht die Mühe zu antworten. Schließlich sagte Schwester Ainder: »Gott sei gelobt, daß die Frage sich nicht gestellt hat.«

Ein Ruf vom Deck her ließ alle nervös zusammenfahren.

»Aha.« Murchad stand rasch auf. »Habt keine Angst. Es bedeutet nur, daß der Wind dreht. Ihr entschuldigt mich - ich muß zurück an meine Pflicht. Wenn ihr noch Fragen habt, wie das Schiff gefahren wird und welche Regeln ihr zu beachten habt, dann wendet euch an Wenbrit. Der Junge hat den größten Teil seines Lebens an Bord verbracht und ist meine rechte Hand im Umgang mit Passagieren.«

Er schlug dem Jungen auf die Schulter, und Wenbrit erlaubte sich ein verlegenes Lächeln, als der Kapitän an Deck ging.

Fidelma wollte das unvermeidliche Gespräch mit Cian hinausschieben, bis sie über alles nachgedacht hatte, und wandte sich an den jungen Mönch neben ihr.

»Kommt ihr alle aus derselben Abtei?« eröffnete sie die Unterhaltung.

Der schlanke blonde junge Mann, der ihr als Bruder Dathal vorgestellt worden war, trank seinen Becher Wein aus, bevor er antwortete.

»Bruder Adamrae«, damit wies er auf seinen ebenso jungen Gefährten, »und ich kommen von der Abtei Bangor. Doch die meisten aus unserer Pilgerschar stammen aus der Abtei Moville, die nicht weit von Bangor liegt.«

»Beide gehören zum Königreich Ulaidh, glaube ich«, meinte Fidelma.

»Das stimmt. Zum Kleinkönigreich der Dal Fia-tach«, erwiderte Bruder Adamrae, der rotes Haar und Sommersprossen hatte. Seine kalten blauen Augen funkelten wie Wasser an einem heißen Sommertag. Sein Temperament war so ruhig, wie das seines Gefährten überschäumend war.

»Was zieht euch zum Schrein des heiligen Jakobus?« forschte sie weiter und spürte, daß Cian nur auf eine Gelegenheit wartete, sie in ein Gespräch zu verwickeln.

»Wir sind scriptores«, erklärte Bruder Adamrae in seinem traurigen Tonfall.

Bruder Dathal, der im Gegensatz dazu mit hoher, fast piepsiger Stimme sprach, fügte hinzu: »Wir arbeiten an einer Geschichte unseres Volkes in der alten Zeit. Deshalb fahren wir nach Iberia.«

Fidelma hörte nur halb zu. »Die Verbindung ist mir nicht ganz klar«, bemerkte sie höflich. Eigentlich überlegte sie, wie sie sich Cian gegenüber verhalten sollte.

Bruder Dathal beugte sich zu ihr hinüber und wedelte wie zur Ermahnung mit seinem Messer.

»Aber, Schwester Fidelma, du kennst doch wohl den Ursprung unseres Volkes?«

Überrascht blickte sie ihn an und dachte nach, bis ihr einfiel, was er meinte.

»Ach ja - du sprachst mit dem Kapitän über Bregons Turm. Interessiert ihr euch für die alte Legende von der Herkunft unseres Volkes?«

»Alte Legende?« empörte sich Dathals rotgesichti-ger Gefährte. »Es ist Geschichte!« Er erhob seine traurige Stimme und sang:

»Acht Söhne hatte Golamh, der Rufer im Streit, Er, der auch Mile von Spanien genannt ...«

Fidelma unterbrach ihn, als er noch weitersingen wollte.

»Die Geschichte kenne ich, Bruder Adamrae. Doch verrät sie mir nicht, weshalb ihr zum Schrein des heiligen Jakobus wollt. Das hat doch sicher nichts mit Golamh und der Herkunft der Kinder Gaels zu tun?«

Bruder Dathal war nachsichtig, aber auch begeistert.

»Wir haben uns auf den Weg gemacht, weil wir Wissen suchen. Es kann doch gut sein, daß unsere Vorfahren alte Bücher in diesem Land Iberia hinterlassen haben, in dem die Kinder Bregons, des Sohnes Brathas, lebten und sich vermehrten und beschlossen, ihre Herrschaft über See auszudehnen. Aus diesem Grunde baute Bregon seinen Turm, von dem aus er Irland erspähte, und dann war es Ith, der Sohn Bre-gons, der ein Schiff baute und es mit dreimal fünfzig Kriegern bemannte; und sie stachen in See und segelten nach Norden, bis sie die Küste des Landes erreichten, das heute unser geliebtes Eireann ist.«

»Diese jungen Leute«, unterbrach ihn Bruder Tola mit Mißbilligung in seinem trockenen Ton, »sind nicht am Glauben und am heiligen Schrein interessiert, sie wollen nur etwas über weltliche Geschichte erfahren.«

Die Kritik des älteren Mönchs war nicht zu überhören.

»Hast du etwas gegen die Forschungen deiner jungen Gefährten?« fragte Fidelma.

Bruder Tola stocherte in dem Essen auf seinem Teller herum.

»Ich dachte, das sei klar. Die Brüder Dathal und Adamrae haben kein Recht, so zu tun, als wären sie auf einer religiösen Pilgerfahrt, wenn sie lediglich ihrem Interesse an weltlichen Dingen nachgehen.«

Bruder Dathal wurde blaß, und er hob die Stimme.

»Nichts ist heiliger als die Suche nach Wissen, Bruder Tola.«

»Nichts, außer Gott und seinen Heiligen«, fuhr ihn Bruder Tola an und stand plötzlich auf. »Seit wir Bangor verlassen haben, habt ihr von nichts weiter als von eurer ewigen Suche nach der historischen Wahrheit geredet. Ich habe genug davon. Wir sind hier auf einer Pilgerfahrt zum Schrein eines großen Heiligen, der Christus kannte und ihm nachfolgte. Das ist viel wichtiger als menschliche Eitelkeit.«

»Und was ist mit Ith, dem Sohn Bregons, der in Irland in der Schlacht fiel?« gab der traurige Bruder Adamrae zurück. »Was ist mit Golamh und seinen Söhnen, unseren Vorfahren? Ist das nicht auch wichtig? Ohne sie würdest du nicht einmal existieren und könntest nicht auf deine Pilgerfahrt gehen.«

»Für jemanden, der den Namen des ersten Menschen trägt, den Gott erschuf, scherst du dich ziemlich wenig um Religion«, tadelte ihn Tola.

Bruder Adamrae lehnte sich zurück und fing an zu lachen. Bruder Tola schien schockiert über das, was er für Gotteslästerung hielt. Selbst Fidelma verbarg ein Lächeln hinter vorgehaltener Hand. Bruder Tolas Mangel an Bildung überraschte sie.

Bruder Dathal verhielt sich weniger diplomatisch.

»Deine Unwissenheit beweist, wie nötig das ist, was du unsere menschliche Eitelkeit nennst«, erklärte er Bruder Tola schroff. »Der Name Adamrae hat nichts mit dem biblischen Namen Adam zu tun. Es ist ein alter Name in unserem Volk und bedeutet >wunder-voll<. Siehst du nun, wieviel Wissen dir fehlt, wenn du dich auf einen Gegenstand beschränkst?«

Angewidert wandte sich Bruder Tola ab und verließ die Kajüte.

Schwester Ainder, die Fidelma wegen ihrer strengen Miene wie ein weibliches Gegenstück zu Bruder Tola erschien, schnalzte mißbilligend mit der Zunge.

»Man sollte nicht so respektlos zu Bruder Tola sein. Er ist ein Mann von großer Gelehrsamkeit und Frömmigkeit.«

»Gelehrsamkeit?« höhnte Bruder Dathal.

»Er ist gelehrt in Bibelkunde und Philosophie«, erwiderte Schwester Ainder.

»Auf unserem Gebiet ist er nicht gelehrt, und er hat uns respektlos behandelt«, verteidigte sich Bruder Adamrae. »Wir machen kein Hehl daraus, welches Ziel unsere Reise hat. Unsere Aufgabe ist es, Wissen für unsere Abtei zu sammeln, die schon für ihre Gelehrsamkeit berühmt ist. Bruder Tola hat anscheinend etwas gegen Gelehrsamkeit.«

»Er ist nicht gegen die Gelehrsamkeit, die wir alle fördern sollten - die religiöse Gelehrsamkeit«, antwortete Schwester Ainder.

Bruder Adamrae verachtete nicht nur Bruder Tola, sondern auch Schwester Ainder, die ihn in Schutz nahm.

»Das Bemühen um religiöse Kenntnisse bedeutet doch nicht, daß man alle anderen Künste und Wissenschaften vernachlässigen muß. Seit Beginn unserer Pilgerfahrt hat es nichts als Streit unter uns gegeben.

Wenn er nicht von der Unduldsamkeit Bruder Tolas verursacht wurde, dann von den Gelüsten von ...«

»Genug jetzt!«

Schwester Crellas Stimme fuhr dazwischen wie ein Peitschenhieb. Es trat ein unbehagliches Schweigen ein.

»Genug, Bruder Adamrae.« Ihre Stimme nahm nun einen gemäßigt tadelnden Ton an. »Du möchtest doch wohl nicht, daß unsere Gefährtin aus dem Süden denkt, wir aus dem Norden würden uns ständig zanken, nicht wahr?« Sie wandte sich lächelnd an Fidelma. »Der Kapitän stellte dich als Fidelma von Cashel vor. Kommst du aus der Abtei dort?«

Fidelma wollte sich lieber nicht zu erkennen geben. Sie bejahte die Frage.

»Aber du kanntest Bruder Cian in Tara?« Diese Frage kam von der jungen Gorman.

»Ich war vor vielen Jahren mit ihm bekannt«, erwiderte Fidelma abweisend. Sie spürte die auf sie gerichteten Blicke, beschäftigte sich aber mit ihrem Essen. Sie wollte mit keinem der Pilger in ein engeres Verhältnis kommen und schon gar nicht in die Reibereien zwischen ihnen verwickelt werden. Sie hatte genug Probleme mit Cian.

Bruder Dathal brach das verlegene Schweigen und zitierte einen Dichter:

»Die Führer jener Hochseeschiffe,
in denen die Söhne Miles von Spanien nach Eireann kamen,
werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen,
ihre Namen und ihre einzelnen Schicksale.«

Er unterstrich die Verse mit einem lauten Schnaufen und stand vom Tisch auf. Im nächsten Moment folgte ihm sein finsterer rothaariger Gefährte.

»Ich hoffe, du verzeihst ihnen diese Reizbarkeit heute vormittag, Schwester . Schwester Fidelma, nicht wahr?« Fidelma merkte, daß Schwester Ainder sich ihr mit einem herablassenden Lächeln zugewandt hatte. Es barg weder Wärme noch Gefühl in sich. »Gelehrte sind notorisch streitbar, besonders, wenn sie über ihr eigenes Gebiet reden, was sie oft und laut tun. Wir haben tatsächlich nicht viel Ruhe gehabt, seit wir von Bangor aufgebrochen sind.«

Fidelma neigte zustimmend den Kopf.

»Ich fürchte, es war meine Frage, die den Wortwechsel auslöste.«

Ihr gegenüber verzog die junge Schwester Crella zweifelnd ihr breites Gesicht.

»Wenn es nicht deine Frage gewesen wäre, Schwester Fidelma, dann wären die Meinungen aus irgendeinem anderen Grund aufeinandergeprallt. Es stimmt, daß Bruder Tola von Anfang an an Dathal und Adamrae herumnörgelt.«

Schwester Ainder verteidigte Tola sofort.

»Es gibt keinen Grund, Bruder Tola die Schuld zuzuschieben. Er ist ein religiöser Mensch und legt Wert darauf, daß diese Pilgerfahrt der Suche nach religiöser Wahrheit dient.«

»Bruder Tola hätte nicht mit dieser Gruppe reisen sollen, wenn er auf der Suche nach so einem esoterischen Ideal ist«, erwiderte Crella.

So weit es möglich war, auf dem sanft schaukelnden Deck hinauszustolzieren, brachte Schwester Ainder das fertig. Schwester Gorman, die jüngste der Gruppe, erhob sich ebenfalls, murmelte etwas Unverständliches und verließ die Kajüte.

Wenbrit begann fröhlich lächelnd abzuräumen. Er genoß offensichtlich die Streitereien der erwachsenen Mönche und Nonnen.

Schwester Crella aß schweigend weiter, dann sah sie Fidelma an.

»Ich höre die alte Ainder schon sagen, daß die Jungen heutzutage keinen Respekt mehr haben«, grinste sie.

Fidelma wußte nicht, ob das eine allgemeine Bemerkung oder an sie gerichtet war. Sie sollte wohl besser etwas antworten.

»Mein Mentor, der Brehon Morann, sagte immer, die Jungen hielten die Älteren stets für senil. So ist es jetzt, aber so war es schon zu allen Zeiten.«

»Respekt ist etwas, was man sich verdienen muß, Schwester, man kann ihn nicht verlangen, nur weil man ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hat.«

Wenbrit stand hinter Schwester Crella und blinzelte Fidelma zu, während er das Geschirr abräumte.

Kapitel 6

Fidelma erhob sich ruhig vom Tisch und schritt auf den Niedergang zu.

»Wenn du an Deck gehst, Fidelma, komme ich mit«, rief ihr Cian nach und stand ebenfalls auf.

»Ich will in meine Kajüte«, antwortete Fidelma kurz und gab damit zu verstehen, daß sie nicht mit ihm sprechen wollte. Sie wußte, daß das dumm war, denn früher oder später mußte sie sich der Situation stellen.

»Dann gehe ich mit«, erwiderte Cian, ungerührt von ihrer unmißverständlichen Abweisung.

Fidelma stieg eilig den Niedergang hoch auf das Hauptdeck. Cian holte sie ein und legte ihr die Hand auf den Arm. Sofort zog sie den Arm zurück und blickte sich um, ob sie unbeobachtet seien.

Cian stieß ein leises, spöttischen Lachen aus.

»Du kannst mir nicht immer entkommen, Fidelma«, sagte er in dem zynischen Ton, an den sie sich nur zu gut erinnerte.

Fidelma sah ihm einen Moment in die Augen und senkte dann den Blick. Sie fühlte sich nach wie vor unsicher.

»Entkommen?« entgegnete sie verächtlich. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Vielleicht hegst du noch einen Groll gegen mich wegen der Art, in der unsere Affäre endete?«

Fidelma spürte, wie sich ihre Wangen röteten. Seine Worte hatten sie tief getroffen.

»Daran denke ich schon seit Jahren nicht mehr«, log sie.

Cians spöttisches Grinsen wurde noch breiter.

»Deine Reaktionen verraten, daß das nicht stimmt. Ich lese Haß in deinen Augen. Haß entsteht nicht ohne Liebe. Beides gehört zusammen. Außerdem waren wir damals jung. Wenn man jung ist, macht man viele Fehler.«

Jetzt hob Fidelma den Kopf und begegnete seinem Blick, erstaunt über seine Selbstsicherheit. Zorn stieg in ihr auf.

»Dann führst du dein gefühlloses Benehmen einfach auf deine Jugend zurück?« fragte sie ihn.

Cian antwortete beinahe herablassend. »Komm schon. Ich dachte, du hättest nicht mehr daran gedacht.«

»So war’s auch, aber du willst die Sache anscheinend wieder aufrollen«, erwiderte sie. »Wenn du das willst, dann erwarte nicht von mir, daß ich irgendeine Rechtfertigung für dein Verhalten anerkenne, die du vorbringst. Ich habe es damals nicht akzeptiert und tue es heute ebensowenig.«

Cian hob die Brauen. »Rechtfertigung? Muß ich mich rechtfertigen?«

Fidelma spürte, wie noch mehr Zorn in ihr aufwall-te, und zugleich ein überwältigendes Verlangen, so heftig sie nur konnte in sein lächelndes Gesicht zu schlagen. Sie wehrte sich gegen diese Regung. Das brächte nichts.

»Du meinst also, du brauchtest dich für nichts zu rechtfertigen?«

»Die Torheiten seiner Jugend muß man nicht rechtfertigen.«

»Eine Jugendtorheit?« Fidelmas Augen funkelten gefährlich. »Als das betrachtetest du unsere Beziehung?«

»Nicht unsere Beziehung, nur die Art, wie sie endete. Was sonst? Komm schon, Fidelma, jetzt sind wir erwachsen und klüger. Laß die Vergangenheit ruhen. Wir wollen nicht Feinde sein, das ist nicht nötig. Wir wollen doch keine Feindschaft auf dieser Fahrt.«

»Es gibt keine Feindschaft zwischen uns. Es gibt überhaupt nichts zwischen uns«, erwiderte Fidelma kühl.

»Komm.« Cian bettelte fast. »Wir können wieder Freunde sein wie zu Anfang in Tara.«

»Niemals!« Sie erschauerte »Ich habe keine Lust, mit dir zu reden. Du warst arrogant und unerträglich, als du jung warst, und du hast dich mit den Jahren offensichtlich nicht geändert.«

Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging rasch zu ihrer Kajüte, bevor er etwas antworten konnte.

Arrogant und unerträglich. Diese Worte erschienen ihr noch mild angesichts der Wut, die sie empfunden hatte, der Erniedrigung, der Kränkung, die sie erlitten hatte in jenen einsamen Tagen, in denen sie auf ihn wartete in dem Zimmer, das sie in der kleinen Herberge in der Nähe von Tara gemietet hatte, nachdem sie aus der Hochschule des Brehon Morann verwiesen worden war. Nach dem Gespräch mit Brehon Morann hatte sie das Studentenheim verlassen. Nur Grian kannte die wahre Ursache, denn Fidelma teilte nicht einmal ihrer Familie mit, was geschehen war. Sie wohnte zurückgezogen in dem winzigen Zimmer und brach den Verkehr mit der Familie und den Freunden ab, außer mit Grian. Cian kam und ging, wann er wollte. Manchmal sah sie ihn mehrere Tage nicht, sogar eine Woche und länger. Dann erschien er wieder und blieb ein oder zwei Tage. Als sie eines Nachmittags in ihrem Zimmer beieinanderlagen, hatte Fidelma die Frage der Heirat gestellt. Sie hatte Cian ihr Studium geopfert, und sie wußte, daß die Situation, in die sie sich gebracht hatte, nicht andauern konnte.

Sie hatte Cian gefragt: »Wirst du mich für immer lieben?«

Cian lächelte auf sie herab. Wieder dieses selbe, leicht spöttische Lächeln.

»Für immer ist eine lange Zeit. Machen wir es uns schön, solange es schön ist.«

Aber Fidelma blieb ernst. »Glaubst du wirklich, daß wir nur an die Gegenwart denken sollten? So kann man ein erfülltes und zufriedenes Leben nicht planen.«

»Wir existieren nur in der Gegenwart.«

Zum ersten Mal hörte sie Cian etwas aussprechen, was man eine Lebensphilosophie nennen könnte. Sie war grundsätzlich anderer Meinung.

»Wir mögen in der Gegenwart existieren, aber wir haben eine Verantwortung für die Zukunft. Ich habe drei Jahre studiert und wollte in diesem Jahr den Grad eines Sruth do Aill erlangen, der mich zur Lehre befähigte, vielleicht als Hilfslehrerin an der Hochschule meines Vetters in Durrow. Vielleicht finde ich auch eine andere Hochschule, wo ich diesen Grad erlange. Dann könnten wir heiraten.«

Cian rollte sich von ihr fort auf die Seite und griff nach einem Becher Wein. Er nahm einen langen Zug und seufzte leise.

»Fidelma, du träumst immerfort. Du hast ständig deine Bücher im Kopf. Wozu? Du bist zu intellektuell.« In seinem Mund klang das wie ein Schimpfwort. »Schaff deine Bücher ab. Du brauchst sie nicht.«

»Abschaffen ...?« Sie war so verblüfft, daß ihr die Worte fehlten.

»Bücher sind nichts für Leute wie du und ich. Sie zerstören das Glück, sie zerstören das Leben.«

»Das meinst du doch nicht im Ernst«, protestierte Fidelma.

Cian zuckte die Achseln. »So denke ich. Sie schenken den Menschen falsche Träume, Visionen von einer Zukunft, die es nicht geben kann, oder einer Vergangenheit, wie sie niemals war. Jedenfalls werde ich bald mit meiner Kriegertruppe im Dienst des Großkönigs Cellach nach Tir Eoghain zurückkehren. Dann werde ich keine Zeit haben, an Dinge wie Heirat zu denken, und noch weniger in der Lage sein, mich irgendwo für immer niederzulassen. Ich dachte, das wäre dir von Anfang an klar gewesen. Ich bin nicht jemand, den man besitzen oder festbinden kann.«

Fidelma richtete sich im Bett auf, im Innern erstarrt.

»Ich will dich nicht besitzen, Cian. Ich wollte mir zusammen mit dir eine Zukunft aufbauen. Ich dachte ... Ich dachte, wir besäßen etwas gemeinsam.«

Cian lachte belustigt auf.

»Natürlich besitzen wir etwas gemeinsam. Genießen wir das, was wir wirklich gemeinsam haben. Ansonsten - kennst du nicht den Spruch? Ehestand -Fesselband.«

»Wie kannst du so grausam sein?« Sie war entsetzt.

»Ist man grausam, wenn man Realist ist?« wollte er wissen.

»Also wirklich, Cian, ich weiß nicht, woran ich mit dir bin.«

Er lächelte spöttisch.

»Deutlicher kann man es doch wohl kaum sagen.«

Sie glaubte nicht an seine Grausamkeit. Sie glaubte seinen Worten nicht. Sie wollte es nicht glauben. Es war nur eine Pose, die er einnahm, redete sie sich ein - eine unreife Pose. Er liebte sie wirklich. Sie würden doch zusammenleben. Das wußte sie. In ihrer jugendlichen Eitelkeit wollte sie nicht zugeben, daß sie sich irrte. Also trafen sie sich weiter, wann und sooft es Cian gefiel.

Fidelma lehnte an der Reling auf dem kleinen Vorderdeck und starrte hinaus auf die grenzenlose Weite des Ozeans. Sie wußte nicht, wie sie dorthin gelangt war, so sehr hatte sie sich in ihre Erinnerungen versenkt.

Sie schreckte auf, als sich ihr eine Hand auf die Schulter legte.

»Muirgel?« Es war eine tiefe männliche Stimme.

Sie wandte sich fragend um.

Ein junger Mönch stand da. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig. Der Wind zerzauste sein strähniges braunes Haar. Er hatte ein gerötetes Jungensgesicht mit Sommersprossen und dunkelbraunen Augen. Seine Augen weiteten sich vor Verblüffung.

»Ich dachte, du wärst . Entschuldigung«, murmelte er verdutzt. »Ich suche Schwester Muirgel. Ich sah nur deinen Rücken und dachte - na ja .«

Fidelma wollte dem jungen Mönch aus seiner Verlegenheit helfen.

»Das macht gar nichts, Bruder. Als ich Schwester Muirgel zuletzt sah, war sie unter Deck. Ich glaube, sie ist seekrank und fühlt sich nicht wohl. Ich heiße Fidelma. Dich habe ich noch nicht kennengelernt, nicht wahr?«

Der junge Mann machte eine eckige Verbeugung.

»Ich bin Bruder Bairne aus Moville. Es tut mir leid, daß ich dich in deinen Gedanken gestört habe, Schwester.«

»Vielleicht brauchten sie eine Störung«, murmelte Fidelma.

»Wie?« Bruder Bairne verstand gar nichts mehr.

»Nichts von Bedeutung«, antwortete sie. »Ich habe nur an etwas gedacht. Geht es dir wieder besser?«

Er runzelte die Stirn. »Besser?« wiederholte er.

»Ich hatte gehört, du kämst nicht zum Mittagessen, weil du auch krank wärst.«

»Ach - ach ja. Mir war etwas übel, doch jetzt geht es mir besser, aber noch nicht so gut, daß ich etwas essen könnte.« Er setzte eine klägliche Miene auf.

»Nun, das geht nicht dir allein so.«

»Ist Schwester Muirgel noch in ihrer Kajüte?«

»Das nehme ich an.«

»Danke, Schwester.« Damit trabte Bruder Bairne über das Deck zum Heck hin. Er hatte ihr Gespräch so abrupt beendet, daß es schon an Unhöflichkeit grenzte.

Fidelma schaute ihm nach und zuckte innerlich die Achseln. Sie hatte gehofft, daß sich ihr erster Eindruck von den anderen Pilgern nicht bestätigen würde. Im Augenblick meinte sie, mehr mit Murchad und seiner Besatzung gemeinsam zu haben als mit ihren Mitpilgern. Hätte sie in die Zukunft blicken und ahnen können, daß Cian auch an Bord sein würde, nie hätte sie einen Fuß auf die »Ringelgans« gesetzt.

Fidelma unterdrückte ein Frösteln, der Wind wurde kühler. Er war zu einer kräftigen Brise angewachsen und ließ die Segel knallen wie Peitschenhiebe. Sie mußte sich die flatternden Haarsträhnen aus dem Gesicht streichen.

»Frisch, was?«

Sie wandte sich dem jungen Sprecher zu. Wenbrit eilte mit einem Ledereimer in der Hand vorbei und begrüßte sie mit einem Grinsen.

»Es kommt ein ganz schöner Wind auf«, antwortete sie.

Der Kajütenjunge trat zu ihr.

»Ich glaube, wir kriegen bald einen richtigen Sturm«, verriet er ihr. »Dann merken wir, wer von den Pilgern für die Seefahrt taugt.«

»Woher weißt du, daß uns schlechtes Wetter bevorsteht?« fragte Fidelma.

Wenbrit nickte nur zum Großsegel hin, und Fidelma sah, wie die Kraft des Windes es bauschte und schlug. Dann berührte der Junge leicht ihren Arm und zeigte nach Nordwest. Fidelma wandte sich um und erkannte, was er meinte. Über dem dunkelnden Wasser trieben schwarze Wolkenbänke rasch auf sie zu. Ihrem Blick schien es, als purzelten sie übereinander in dem wilden Rennen, welche als erste das Schiff erreichen würde.

»Ein Sturm? Wird er gefährlich?«

Wenbrit verzog gleichgültig den Mund.

»Alle Stürme sind gefährlich«, meinte er achselzuk-kend, als gehe ihn der düstere Himmel wenig an.

»Was können wir tun?« Fidelma war beeindruckt von dem bedrohlichen Schauspiel, das auf sie zu kam. Der Junge sah sie einen Moment an, dann versuchte er sie zu beruhigen.

»Murchad wird vor dem Wind laufen, zumal das ohnehin die Richtung zu unserem Ziel ist. Aber zu deiner Sicherheit solltest du lieber in deine Kajüte ge-hen, Lady. Ich sag gleich den anderen unten Bescheid, daß sie in ihren Kajüten bleiben sollen. In einer Stunde hat der Wind Sturmstärke erreicht, schätze ich. Sieh zu, daß du alles verstaust, was lose ist und durch die Kajüte fliegen und dich verletzen kann.«

Obwohl sie schon mehrere Seereisen gemacht hatte, spürte Fidelma, als sie in ihre Kajüte ging, wie ihr Herz schneller schlug und sie hastiger atmete.

Es kam fast genau so, wie Wenbrit es vorhergesagt hatte. Der Wind nahm an Stärke zu, und die See bekam Schaumkronen. Das Schiff stampfte und schaukelte, als befände es sich im Maul eines riesigen Hundes, der es schüttelte und zerrte. Wenbrits Rat folgend, hatte Fidelma alles in ihrer Kajüte festgezurrt. Dann saß sie da und wartete auf den Sturm. Trotz Wenbrits Warnung war sie überrascht von der Gewalt, mit der er das Schiff erfaßte. Einmal arbeitete sie sich hinüber zu dem Fenster ihrer Kajüte und schaute unruhig hinaus auf das Hauptdeck. Doch draußen war es fast dunkel, schwarze Regenwolken löschten das Tageslicht aus.

Durch das Heulen des Windes hörte sie ein Klopfen, und ihre Kajütentür ging auf. Sie fuhr herum, noch ans Fensterholz geklammert, und sah Wenbrit in der Tür stehen. Er schaute sich um, stellte fest, daß alles verstaut war, und schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln.

»Ich wollte nur sehen, ob bei dir alles in Ordnung ist, Lady«, erklärte er. Er schien den Aufruhr der Natur sehr gelassen zu nehmen. »Geht es dir gut?«

»So gut, wie unter den Umständen möglich«, erwiderte Fidelma und legte den Weg zu ihrer Koje fast rennend zurück, weil sich das Deck plötzlich geneigt hatte.

»Der Sturm ist da«, verkündete Wenbrit überflüssigerweise. »Er ist stärker, als der Kapitän gedacht hat, und er versucht nun, mit dem Bug gegen den Wind zu kommen, aber es geht eine schwere See. Es wird eine harte Zeit, also bleib bitte hier drin. Es ist gefährlich, sich zu bewegen, wenn man nicht an Stürme auf See gewöhnt ist. Ich bring dir später was zu essen. Ich glaube, keiner wird sich zum Essen an die Tafel setzen.«

»Danke, Wenbrit. Du bist sehr aufmerksam. Ich vermute, wir werden aufs Essen verzichten, solange der Sturm andauert.«

Der Junge zögerte noch in der Tür. »Wenn du etwas brauchst, laß mich einfach holen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Schon gut. Wenn ich was brauche, komme ich und suche dich.«

»Nein.« Die Antwort kam energisch. »Bleib während des Sturms in deiner Kajüte. Sag einem Matrosen Bescheid und wag dich nicht aufs Deck. Bei so einem Sturm müssen selbst wir Seeleute an Deck Rettungsleinen tragen.«

»Ich denke dran«, versicherte sie ihm.

Der Junge legte die Knöchel an die Stirn zu dem eigenartigen Seemannsgruß und verschwand.

Sie merkte, wie kalt und dunkel es wurde, obwohl es noch früh am Abend war. Sie konnte nichts weiter tun als auf der Koje sitzen und sich eine Decke um die Schultern nehmen. Selbst zum Lesen war es zu dunkel. Sie wünschte, sie könnte sich mit jemandem unterhalten. Der Schiffskater lag zusammengerollt auf ihrer Koje, und sein warmes schwarzes Fell war ihr angenehm. Sie streichelte ihm den Kopf. Er blinzelte schläfrig, schaute sie an und schnurrte leise.

»Du bist wohl solches Wetter gewohnt, was, Mäuseherr?«.

Der Kater gähnte ausgiebig und schlief wieder ein.

»Sehr gesprächig bist du auch nicht«, beschwerte sich Fidelma. Dann streckte sie sich neben dem Kater aus und versuchte sich gegen das jammervolle Heulen des Windes in der Takelage und den Segeln und das Wogen der See abzuschotten. Gedankenverloren kraulte sie den Kater hinterm Ohr, und er schnurrte noch stärker. Irgendwoher kam ihr das alte Sprichwort in den Sinn: Katzen wie Menschen sind Schmeichler.

Sie dachte wieder an Cian.

Als Fidelma in ihrer Koje erwachte, jaulte und tobte der Wind immer noch, und das Schiff wurde hin und her geworfen. Der Kater lag warm und tröstlich neben ihr. Wenn sie nur auf ihre Freundin Grian gehört und ihren Warnungen vor Cians oberflächlichem Charakter geglaubt hätte. Jahrelang hatte sie Bitterkeit und Groll empfunden. Dann kam ihr unversehens der Gedanke, daß sich diese Bitterkeit und dieser Groll nicht so sehr gegen Cian gerichtet hätten, wie sie gemeint hatte, sondern vielmehr gegen sie selbst. Fidelma war auf sich selbst zornig gewesen, hatte sich ihre Dummheit und ihre alberne Eitelkeit zum Vorwurf gemacht.

Sie hörte, wie der Wind noch stärker wurde, in der Takelage heulte und sich in die Segel stemmte. Irgendwo schrie eine Stimme etwas. Sie fühlte, wie sich das Schiff mit jeder Welle hob und danach wieder in das kochende Wellental hinunterglitt.

Sie schwang sich aus der Koje, während Mäuseherr zu einem Ball zusammengerollt liegenblieb und unbekümmert fest weiterschlief. Sich überall festhaltend, wo sie nur konnte, arbeitete sich Fidelma zum Fenster hin. Sie zog den nassen Leinenvorhang weg und spähte hinaus. Feiner Gischt schlug ihr ins Gesicht. Mit einer Hand wischte sie sich die Augen und schwankte leicht, als sich das Deck unter ihr bewegte. Draußen war es dunkel. Es war Nacht geworden. Sie blickte nach oben, doch von Mond und Sternen war nichts zu sehen. Sie wurden von niedrigen, regenschweren Wolken verdeckt.

Der Wind jaulte nun in den Wanten, und hinter der hölzernen Reling konnte sie gerade noch die weißen Wogenkämme erkennen, die von den heftigen Windstößen zu weißem Schaum gepeitscht wurden. Sie merkte, daß der Bug, in dem ihre Kajüte lag, hoch in die Wellen stieg und dann Kaskaden von Wasser auf das Deck über ihr stürzten.

Dunkle Schatten hantierten an den Tauen um den Hauptmast herum. Fidelma beobachtete staunend, wie die Männer den unbeherrschbaren Winden, dem Stampfen des Schiffes und den Wassermassen trotzten und das mächtige Großsegel refften. Eine riesige Welle legte das Schiff beinahe auf die Seite. Fidelma wurde gegen die Wand geschleudert, konnte sich aber festhalten und das Fenster wieder erreichen. Erneut strömte das Wasser über die Decks, und einen Moment glaubte Fidelma, die Matrosen seien über Bord gespült worden, doch als der Gischt verflog, sah sie, wie sie, die Taue in den Händen, aus den Fluten auftauchten.

Wieder mußte sie sich am Fensterrahmen festklammern, als das Schiff bockte. Sie fühlte sich vollkommen hilflos. Sie wollte hinaus aufs Deck und den Männern helfen, jedenfalls irgend etwas tun. Sie fand sich Kräften der Natur ausgeliefert, von denen sie nichts verstand. Sie begriff natürlich, daß es nichts für sie zu tun gab. Die Matrosen waren erfahren und kannten die See. Sie hatte keine Ahnung. Sie konnte sich nur wieder in ihre Koje legen und hoffen, das Schiff werde den Sturm abreiten.

Als sie den Leinenvorhang wieder zuzog und sich zu ihrer Koje zurückhangelte, erscholl der laute Ruf: »Alle Mann! Alle Mann!«

Es war ein angsterregender Ruf. Panik ergriff sie, sie stürzte zur Kajütentür und riß sie auf.

Draußen stand ein dunkler Schatten, wohl aus der gegenüberliegenden Kajüte gekommen. Sie erkannte ihn nicht, aber eine Stimme mit fremdem Akzent schrie sie an, um den Sturm zu übertönen.

»Zurück, Lady! Du bist in der Kajüte sicherer.«

Widerwillig schloß sie die Tür und ging zu ihrer Koje zurück, auf der sie sich lieber ausstreckte als zu sitzen. Der Sturm dauerte an. Sie wußte nicht, wie lange sie so dalag. Auf seltsame Weise wirkte der wütende Sturm einschläfernd. Sie hatte nichts zu tun als zu denken. Das ständige Schlingern, der Anprall der Wogen, das Heulen des Windes vereinigten sich nach einer Weile zu einem einzigen Geräusch, und Fidelma wurde allmählich davon hypnotisiert. Ihre trägen Gedanken wanderte wieder zu Cian. Und während sie an Cian dachte, schlich sich der Schlaf heran und überwältigte sie, ehe sie es merkte.

Kapitel 7

Fidelma war aufgestanden, hatte sich gewaschen und angezogen und machte sich gerade das Haar, als an die Kajütentür geklopft wurde.

Es war Gurvan, der bretonische Steuermann.

»Ich bitte um Entschuldigung, Lady.« Mit einem stillen Seufzer registrierte Fidelma die Anrede. Zweifellos hatte es sich auf dem ganzen Schiff herumgesprochen, daß ihr Bruder der König von Muman war. Gurvan fiel ihre ärgerliche Miene nicht auf, und er fuhr fort: »Ich wollte nur sehen, ob du dich von dem Sturm erholt hast oder ob es Probleme gibt.«

»Vielen Dank, mir geht es gut«, erklärte Fidelma. Dann zögerte sie. Sie erinnerte sich dunkel, daß sie beim Abebben des Sturms gegen Morgen kurz gestört worden war. Sie hatte den Eindruck, jemand habe die Tür ihrer Kajüte geöffnet, hereingeschaut und sie wieder geschlossen. Sie war so müde gewesen, daß sie die Augen nicht auf bekam und sofort weiterschlief. »Hast du schon einmal versucht, mich zu wecken?«

»Ich nicht, Lady«, versicherte ihr der Steuermann.

»Die anderen werden bald frühstücken, falls du dich ihnen anschließen willst.« Er wollte schon gehen, wandte sich aber noch einmal um. »Ich hoffe, ich war nicht unhöflich, als ich dich während des Sturms in deine Kajüte zurückschickte.«

Also war es Gurvan gewesen, der vor ihrer Tür stand, als sie in plötzlicher Panik aufs Deck wollte.

»Überhaupt nicht. Ich wäre auch nicht aufs Deck gegangen, aber ich war beunruhigt.«

Gurvan lächelte scheu und grüßte.

»Das Frühstück wird gleich serviert, Lady«, wiederholte er.

Fidelma merkte, daß sie wohl etwas verschlafen hatte.

»Sehr gut. Ich komme gleich.«

Der Steuermann ging in seine Kajüte gegenüber und schloß die Tür hinter sich.

Als sie ihre Kajüte verließ, war sie verblüfft von dem Anblick, der sich ihr bot. Es war, als wären sie in eine Wolke geraten, denn dichter Nebel hüllte die »Ringelgans« ein. Fidelma konnte kaum die Mastspitze erkennen, geschweige denn das Heck des Schiffes. So etwas war ihr schon manchmal hoch in den Bergen begegnet, da bildete sich des öfteren plötzlich ein solcher Nebel. Dann war es besser, stehenzubleiben und zu warten, bis er sich lichtete, wenn man nicht einen sicheren Pfad nach unten kannte.

Es herrschte eine seltsame, widerhallende Stille. Leise klatschten die Wellen an alle Seiten des Schiffes. Der Nebel wirbelte und strudelte wie Rauch, löste sich aber nicht auf, und das fand Fidelma eigenartig. Sie spürte den unwiderstehlichen Drang, den Nebel wegzublasen, denn er bewegte sich leicht, wenn sie mit der Hand wedelte.

Plötzlich trat Gurvan wieder aus seiner Kajüte.

»Das ist Seenebel«, erklärte er unnötigerweise. »Er hat sich im Gefolge des Sturms gebildet. Ich glaube, er hat was mit der Wärme der See und der Kälte des Sturms zu tun. Man braucht sich nicht davor zu fürchten.«

»Ich habe keine Angst«, versicherte ihm Fidelma. »Ich habe solchen Nebel schon erlebt. Er kommt nur unerwartet nach dem Sturm letzte Nacht.«

»Die Sonne vertreibt ihn, sobald sie höher steigt und den Himmel erwärmt.«

Er wandte sich ab und sprach mit einigen Matrosen, die in dem Nebel kaum zu erkennen waren. Sie saßen mit gekreuzten Beinen auf dem Deck und nähten anscheinend an einem Stück Segelleinwand.

Fidelma schritt über das diesige Deck zum Heck des Schiffes. Nach dem Sturm der vorigen Nacht spürte sie überrascht auf ihren Wangen den leisen Luftzug, der das Großsegel leicht klatschen ließ wie Vogelschwingen in der hallenden Stille. Das Schiff lag ruhig, und das bedeutete, daß die See unter dieser Nebeldecke still und glatt war. Sie sah keine Anzeichen von Sturmschäden, alles schien in bester Ordnung.

Da sie kaum einen Schritt weit sehen konnte und zu schnell ging, prallte Fidelma gegen eine Gestalt, die in eine Kutte gehüllt war und die Kapuze über den Kopf gezogen hatte. Die Gestalt knurrte etwas, als Fidelma mit ihr zusammenstieß.

»Tut mir sehr leid, Schwester«, entschuldigte sich Fidelma, die sie für eine der Nonnen hielt. Irgendwie kam sie ihr bekannt vor.

Zu ihrer Überraschung hielt die Gestalt das Gesicht abgewendet, murmelte etwas Unverständliches und verschwand eilig im Nebel. Verblüfft über solche Unhöflichkeit starrte Fidelma ihr nach und fragte sich, wer das wohl sei, der nicht einmal einen freundlichen Gruß beantwortete.

Dann tauchte Kapitän Murchad selbst vor ihr auf. Er kam die Treppe vom Achterdeck zum Hauptdeck herunter. Als er sie erkannte, hob er die Hand zum Gruß.

»Ein merkwürdiger Morgen, Lady«, sagte er und trat zu ihr. Ihm war seine Verärgerung anzumerken. »Hast du so etwas schon mal gesehen?«

»Manchmal oben in den Bergen«, nickte sie.

»Ach so, da«, pflichtete ihr Murchad bei. »Es sollte aber bald aufklaren. Wenn die Sonne steigt, vertreibt sie den Nebel.« Er machte keine Anstalten, unter Deck zu gehen. »Wie ist es dir bei dem Sturm ergangen?« fragte er plötzlich.

»Am Ende bin ich eingeschlafen, einfach aus Erschöpfung.«

Murchad stieß einen langen Seufzer aus.

»Es war ein schlimmer Sturm. Er hat mich mindestens einen halben Tag von meinem Kurs abgetrieben. Wir wurden nach Südost gedrückt, viel weiter nach Osten, als ich wollte.« Er schien in Gedanken und alles andere als glücklich.

»Ist das ein Problem?« erkundigte sich Fidelma. »Wegen einem Tag länger auf See macht sich doch sicher niemand Sorgen.«

»Das ist es nicht ...« Er zögerte.

Fidelma war verwundert über sein Zaudern und seine Unlust, zu den anderen unter Deck zu gehen.

»Was ist denn los, Murchad?« drang sie in ihn.

»Ich fürchte . Wir haben einen Passagier verloren.«

Fidelma starrte ihn verständnislos an. »Einen Passagier verloren? Du meinst einen der Pilger? Wie denn verloren?«

»Über Bord«, antwortete er lakonisch.

Fidelma war entsetzt.

Nach einer Pause fügte Murchad hinzu: »Du hast recht daran getan, während des Sturms in deiner Kajüte zu bleiben, Lady. Passagiere haben kein Recht, an Deck zu kommen, wenn eine solche See geht. Ich muß das zur strengen Regel machen. Ich hab sonst noch nie jemanden über Bord verloren.«

»Wer war es denn?« fragte Fidelma atemlos. »Wie ist es passiert?«

Murchad hob die Schultern und ließ sie mit einer ausdrucksvollen Geste der Ahnungslosigkeit sinken.

»Wie? Das weiß ich nicht. Keiner hat was gesehen.«

»Woher weißt du dann, daß jemand über Bord gegangen ist?«

»Bruder Cian meinte das.«

Fidelma zog die Brauen zusammen.

»Was hat der denn damit zu tun?«

»Er kam kurz nach Tagesanbruch zu mir. Anscheinend ist er der Meinung, er müßte sich um alle Pilger hier an Bord kümmern - für sie alle sprechen.«

Fidelma schnaubte verächtlich.

»Ich kann dir versichern, daß er kein Recht hat, für mich zu sprechen«, sagte sie spitz.

Murchad ging nicht darauf ein. Er fuhr fort: »Nach dem Sturm machte er sich daran, überall nachzusehen, ob alle heil und gesund seien. Er ging auch zu deiner Kajüte.«

»Bei mir hat er nicht nachgeprüft.«

»Entschuldige, Lady«, widersprach Murchad. »Er sagte, er habe in deine Kajüte geschaut und festgestellt, daß du noch schliefst.«

Davon war sie also wach geworden! Das leise Geräusch, als sich die Tür schloß. Ausgerechnet Cian war in ihre Kajüte gekommen und hatte sie angesehen, als sie schlief. Sie fühlte sich verletzt.

»Sprich weiter.« In Zukunft würde sie dafür sorgen, daß Cian nicht so leicht in ihre Kajüte gelangte.

»Nun, er fand heraus, daß jemand aus der Gruppe verschwunden war. Die Kajüte war leer. Als er zu mir kam und mir seine Befürchtung mitteilte, befahl ich Gurvan, das Schiff gründlich zu durchsuchen. Er fand nichts. Jetzt habe ich ihn losgeschickt, damit er noch einmal nachsucht.«

Das erklärte also Gurvans eigenartigen Besuch in ihrer Kajüte vorhin. Als hätten ihn ihre Reden herbeigezaubert, kam er das Deck entlang.

Murchad schaute ihm erwartungsvoll entgegen. Der Erste Steuermann beantwortete die unausgesprochene Frage des Kapitäns mit einem Kopfschütteln.

»Vom Bug bis zum Heck, Skipper. Keine Spur.« Gurvan war kein Freund von überflüssigen Worten.

Mit düsterer Miene wandte sich Murchad wieder an Fidelma.

»Das war unsere letzte Chance. Ich hatte gehofft, sie hätte sich aus lauter Angst vor dem Sturm in irgendeinem Loch verkrochen.«

Das ist kein guter Anfang für die Pilgerfahrt, dachte Fidelma bedrückt. Die erste Nacht seit dem Auslaufen aus Ardmore, und ein Pilger über Bord.

»Wer war es?« fragte sie. »Wer wird vermißt?«

»Es ist Schwester Muirgel. Wir gehen lieber hinunter, denn die anderen sind beim Frühstück. Ich muß ihnen die traurige Nachricht von ihrer Gefährtin überbringen. Ich möchte auf dieser Fahrt nicht noch mehr Passagiere verlieren.«

Er überließ Gurvan die Führung des Schiffes und ging nach unten. Fidelma folgte ihm. Der Schreck saß ihr in den Gliedern.

Gestern konnte Schwester Muirgel kaum den Kopf von der Koje heben, so krank war sie. Die Vorstellung, daß die bleiche junge Frau mitten in diesem schrecklichen Sturm ihre Kajüte verlassen haben, unbemerkt an Deck gelangt und dann über Bord gespült worden sein sollte, war in höchstem Maße beunruhigend.

In der Kajüte auf dem Messedeck servierte Wenbrit den dort versammelten Pilgern eine Mahlzeit aus Brot, kaltem Fleisch und Obst. Fidelma fiel sofort auf, daß Bruder Bairne diesmal dabei war. Die Begrüßung wurde den Umständen entsprechend nur gemurmelt, als Fidelma zu ihrem Platz und Murchad ans Kopfende des Tisches gingen. Offensichtlich hatten alle schon vom Verschwinden Schwester Muirgels gehört. Cian fragte als erster den Kapitän danach. Murchad wandte sich an alle Versammelten.

»Ich fürchte, ich habe eine schlechte Nachricht für euch«, begann er. »Ich muß bestätigen, daß Schwester Muirgel nicht mehr an Bord ist. Das Schiff ist gründlich abgesucht worden. Es gibt keine andere Erklärung, als daß sie in der Nacht während des Sturms über Bord gespült wurde.«

Es trat ein düsteres Schweigen am Tisch ein. Dann kam von einer der Nonnen, wohl von der breitgesich-tigen Schwester Crella, wie Fidelma meinte, so etwas wie ein unterdrücktes Schluchzen.

»Ich habe noch nie zuvor einen Passagier verloren«, fuhr Murchad in ernstem Ton fort, »und ich möchte auch keinen mehr verlieren. Deshalb muß ich euch leider erneut anweisen, in euren Kajüten unter Deck zu bleiben, falls wir noch einmal in schlechtes Wetter geraten. Dann dürft ihr nur auf meinen ausdrücklichen Befehl an Deck. Bei ruhigem Wetter könnt ihr natürlich an Deck, aber nur, wenn einer meiner Leute dabei ist und auf euch aufpaßt.«

Der rothaarige Bruder Adamrae runzelte die Stirn.

»Wir sind erwachsene Menschen, Kapitän, und keine Kinder«, protestierte er. »Wir haben für unsere

Überfahrt bezahlt und haben nicht erwartet, daß wir eingesperrt werden, als wären wir ... Verbrecher.« Er hatte einen Moment nach dem passenden Wort gesucht.

Cian nickte zustimmend.

»Da hat Bruder Adamrae recht, Kapitän.«

»Ihr seid keine erfahrenen Seeleute«, erwiderte Murchad barsch. »Bei schlechtem Wetter kann das Deck eines Schiffes tückisch sein, wenn ihr nicht genau wißt, was ihr tut.«

Cian errötete vor Ärger.

»Nicht alle von uns haben ihr Leben hinter sicheren Klostermauern verbracht. Ich war Krieger und .«

Mit erhobener Stimme schaltete sich der düstere Bruder Tola in die Debatte ein.

»Nur weil eine blöde Frau, die aller Wahrscheinlichkeit nach so krank war, daß sie nicht wußte, was sie tat, zur Unzeit an Deck ging und über Bord fiel, müssen wir doch nicht alle darunter leiden?«

Mit einem zornigen Ausruf sprang Schwester Crella auf und beugte sich über den Tisch vor.

»Entschuldige dich für diese Worte, Bruder Tola! Muirgel war von vornehmer Herkunft, und wenn du nicht die braune wollene Kutte tragen würdest, dann hättest du auf die Knie fallen müssen, wenn sie vorbeiging. Muirgel war meine Kusine und meine Freundin. Wie kannst du es wagen, sie so zu beleidigen?« Ihre Stimme war schrill geworden.

Die hochgewachsene, imponierende Schwester Ainder erhob sich, zog anscheinend mühelos Crella vom Tisch fort und führte sie zu den Kajüten, wobei sie sie tröstete wie eine Mutter ihr Kind.

Bruder Tola saß in offensichtlicher Verlegenheit über die Reaktion da, die er ausgelöst hatte.

»Ich meinte damit nur, daß wir unsere Überfahrt bezahlt haben, wie Bruder Adamrae schon sagte. Was ist, wenn wir nicht gehorchen?«

»Dann hat der Kapitän das Recht, euch gefangenzusetzen.« Fidelma sprach leise, doch ihre Stimme schnitt durch das Gemurmel, das Tolas Worten gefolgt war, so daß Totenstille eintrat und jeder sie ansah.

Bruder Tola runzelte die Stirn in sichtlicher Mißbilligung dessen, was er als ihre Anmaßung betrachtete.

»Ach - und mit welchem Recht?« erkundigte er sich. »Und woher weißt du das?«

Fidelma schaute Murchad an, als habe sie diese Fragen überhört.

»Gehört dir dieses Schiff, Murchad?«

Der Kapitän antwortete mit einem knappen Nikken, obgleich ihn die Frage verblüffte.

»Und welches ist dein Heimathafen?«

»Ardmore.«

»Dann steht also das Schiff in jedem Fall unter den Gesetzen von Eireann.«

»Das nehme ich an«, stimmte Murchad zögernd zu. Er wußte nicht, worauf sie hinauswollte.

»Dann ist das die Antwort auf Bruder Tolas Frage«, erklärte sie, ohne ihn anzusehen.

Bruder Tola war nicht zufriedengestellt.

»Das ist es nicht.«

Erst jetzt schaute Fidelma ihn ohne Freundlichkeit an.

»Das ist es doch. In diesem Fall gelten die Muir-bretha, die Seegesetze.«

Bruder Tola machte ein erstauntes Gesicht, das er dann zu einem herablassenden Lächeln verzog.

»Und wieso verstehst du etwas von solchen Gesetzen?«

Fidelma seufzte und setzte zur Antwort an, doch Cian kam ihr zuvor.

»Weil sie eine dalaigh ist, eine Anwältin bei Gericht. Weil sie den Grad eines anruth besitzt.« Sein Ton war ätzend.

Jeder wußte, daß der Grad eines anruth der zweithöchste war, den die kirchlichen oder weltlichen Hochschulen zu vergeben hatten.

In dem kurzen Schweigen, das auf Cians Erklärung folgte, kehrte Schwester Ainder in die Kajüte zurück.

»Crella ruht sich aus«, verkündete sie, ohne etwas von der neuen Spannung zu ahnen. »Wir müssen bedenken, daß sie Schwester Muirgels enge Freundin und Verwandte war. Ihr Tod hat sie schwer getroffen. Unter diesen Umständen sind taktlose Bemerkungen nicht angebracht, Bruder Tola.«

Bruder Tola machte ein finsteres Gesicht und wandte sich an Cian.

»Was hast du von dieser Frau gesagt?«

»Fidelma von Cashel ist Anwältin bei Gericht und genießt einen Ruf, der bis zum Hof des Großkönigs in Tara gedrungen ist.« »Stimmt das?« fragte Tola ungläubig.

»Das stimmt«, schaltete sich Murchad ein. »Außerdem ist sie die Schwester des Königs von Muman.«

Tolas Wangen färbten sich rot, und er senkte den Kopf, um seine Verlegenheit durch die genaue Betrachtung des Tisches vor ihm zu verbergen.

Fidelma hätte es lieber gesehen, wenn ihr Rang nicht erwähnt worden wäre. Sie blickte unbehaglich in die Runde.

»Ich wollte nur sagen, daß nach den Muirbretha, den Seegesetzen, Murchad als Kapitän des Schiffes die gleiche Stellung einnimmt wie ein König. Er besitzt sogar noch größere Macht, denn er ist nicht nur König, sondern auch Oberrichter. Mit anderen Worten, er hat den Befehl über alle an Bord. Alle. Ich glaube, ich habe die Lage deutlich erläutert. Oder hast du noch eine Frage, Bruder Tola?«

Der hochgewachsene Mönch schaute irritiert auf.

»Keine weitere Frage«, antwortete er frostig.

Fidelma wandte sich an Murchad.

»Du kannst sicher sein, daß deine Anordnungen strikt befolgt werden und jeder weiß, daß Ungehorsam bestraft wird.«

Murchad bedankte sich mit einem unsicheren Lächeln.

»Mir geht es nur um eure Sicherheit. Dieser ... Unfall von Schwester Muirgel hätte nie passieren dürfen.«

Er wollte den Raum verlassen, doch Schwester Gorman hielt ihn zurück.

»Können wir . Dürfen wir wenigstens einen kurzen Bittgottesdienst für den Frieden der Seele Schwester Muirgels abhalten, Kapitän?«

Murchad zögerte verlegen.

»Das ist unsere Christenpflicht«, kam ihr Schwester Ainder zu Hilfe.

»Natürlich«, knurrte Murchad. »Ihr könnt ihn am Mittag abhalten, wenn der Nebel sich hoffentlich gelichtet hat.«

»Vielen Dank, Kapitän.«

Murchad ging, und Wenbrit reichte Met und Wasser herum. Das Mahl wurde schweigend eingenommen, und Fidelma war froh, als sie wieder auf Deck flüchten konnte. Der Nebel wogte immer noch dick herum und hatte sich auch am Mittag nicht gelichtet.

Es war ein schlichter Gottesdienst. Alle versammelten sich auf dem Hauptdeck, ausgenommen Gurvan und ein Matrose, die das Steuerruder bedienten, und eine unsichtbare Wache im nebelverhangenen Mastkorb, die darauf achten sollte, ob der Himmel aufklarte. Schon vor einiger Zeit hatte Murchad die Segel reffen und Treibanker ausbringen lassen, damit das Schiff nicht in Gefahr geriet. Aber Fidelma spürte, daß es trotzdem abtrieb, und Murchads besorgte Blicke wanderten nach allen Seiten, um Schwierigkeiten rechtzeitig zu erkennen.

Es war eine seltsame Gruppe, die dort stand, von strähnigem Nebel umgeben, wie Geister aus der Anderen Welt. Überraschenderweise sprach Bruder Tola das Gebet für den Frieden der Seele Schwester Muir-gels. Seine Stimme hallte, als käme sie aus einem Grabmal. Er schloß sein Gebet und zitierte dann ohne Übergang aus dem Propheten Jeremia. Fidelma kannte die Zeilen, fand aber seine Wahl merkwürdig:

»Wir müssen das Land räumen;
denn sie haben unsere Wohnungen geschleift,
So höret nun, ihr Weiber, des Herrn Wort,
Und nehmet zu Ohren seines Mundes Rede;
Lehret eure Töchter weinen,
Und eine lehre die andere klagen;
Der Tod ist zu unsern Fenstern eingefallen
Und in unsere Paläste gekommen,
Die Kinder zu würgen auf der Gasse .«

Fidelma sah den fürchterlichen Mönch etwas verwirrt an, denn sie hielt diesen harten Text für unpassend bei einem Gottesdienst für den Frieden einer Seele. Sie blickte der Reihe nach die anderen Trauernden an und erkannte selbst durch die Nebelschwaden, daß Schwester Gormans Augen glänzten und sie im Rhythmus des Vortrags nickte. Cian neben ihr wirkte absolut gelangweilt. Die anderen standen regungslos da, wie hypnotisiert von Bruder Tolas biblischer Deklamation.

»Der Menschen Leichname sollen liegen wie der Mist auf dem Felde

Und wie Garben hinter dem Schnitter .«

Plötzlich räusperte sich Bruder Bairne laut. Es war als Unterbrechung gedacht und tat seine Wirkung.

»Ich hätte auch ein Wort aus der Heiligen Schrift für die Seele der dahingegangenen Schwester«, verkündete er, als Bruder Tola verstummte. »Ich glaube, ich kannte sie ebenso gut wie alle anderen hier.« Niemand wollte ihm widersprechen.

Er begann zu rezitieren, und Fidelma merkte, daß er es mit erhobenem Blick und grimmiger Miene tat, als richte er seine Worte an jemanden. Seine Augen glitten über den Kreis der Versammelten. Fidelma konnte bei dem dichten Nebel nicht erkennen, wen er ansah. War es Schwester Crella, die mit niedergeschlagenen Augen dastand, oder war es Cian, der gelangweilt nach oben schaute? Und neben Cian stand die naive junge Schwester Gorman. Es war schwierig, der Blickrichtung zu folgen.

»Und ich will’s auch nicht wehren, wenn eure
Töchter und Bräute geschändet und zu Huren werden,
Weil ihr einen anderen Gottesdienst anrichtet mit den Prostituierten
Und opfert mit den Tempelhuren.
Denn das törichte Volk will geschlagen sein .«

Schwester Crella hob plötzlich den Kopf.

»Was haben diese Worte mit Schwester Muirgel zu tun?« fragte sie drohend. »Du hast sie überhaupt nicht gekannt! Du warst bloß eifersüchtig!« Sie wandte sich an Schwester Ainder, deren Miene Entsetzen über die Unterbrechung verriet. »Mach dieser Farce ein Ende. Sprich einen Segen, und dann Schluß.«

Die Besatzungsmitglieder, die an der Feier teilgenommen hatten, zogen sich schon verlegen zurück. Fidelma fragte sich, welche verborgenen Leidenschaften hier im Spiel waren.

Schwester Ainder errötete, sprach einen kurzen Segen, und damit ging die Gruppe auseinander. Nur Bruder Bairne stand noch mit gesenktem Kopf da wie in schweigendem Gebet.

Als Fidelma sich abwandte, traf sie Murchad. Er sah verwirrt aus.

»Eine seltsame Gruppe von Mönchen und Nonnen, Lady«, murmelte er.

Fidelma war geneigt, ihm zuzustimmen.

»Wie war das da zuletzt mit den Tempelhuren?« fuhr Murchad fort. »Stammt das wirklich aus der Heiligen Schrift?«

»Hosea«, bestätigte Fidelma. Sie machte ein trauriges Gesicht. »Ich glaube, Bruder Bairne zitierte Verse aus dem vierten Kapitel.

>Je mehr Priester es sind, je mehr sündigen sie wider mich;
Darum will ich ihre Ehre zu Schanden machen.
Sie fressen die Sündopfer meines Volks
Und sind begierig nach ihren Sünden.
Darum soll es dem Volk gleich wie dem Priester gehen.<«

Murchad starrte sie bewundernd an.

»Ich hatte öfter das Gefühl, daß ich das von einigen der Mönche und Nonnen sagen möchte, die mir begegnet sind.«

»Es scheint, Gott hat das schon früher gesagt, Kapitän«, erwiderte Fidelma ernst.

»Wie behältst du bloß solche Sachen, Lady?«

»Wie behältst du denn, wie du das Schiff führst, woher weißt du Bescheid mit Winden und Gezeiten und erkennst die Warnzeichen, die die >Ringelgans< vor Gefahren bewahren? Es ist kein Geheimnis dabei, Murchad. Jeder hat ein Gedächtnis und kann sich Dinge einprägen. Wichtiger ist, daß man auch nach dem handelt, was man weiß.«

Sie ging über den Niedergang zum Messedeck, um sich Wasser zu holen. An der Tür traf sie Wenbrit. Er war nicht zum Gottesdienst an Deck gekommen und hatte sich mit seinen Pflichten entschuldigt. Jetzt fiel ihr auf, wie blaß und bedrückt er aussah. Er schien erleichtert, als sie auftauchte.

»Lady, ich muß ...« Er brach ab und blickte auf etwas über und hinter Fidelmas Kopf.

Sie schaute ihn stirnrunzelnd an.

»Was ist, Wenbrit?«

»Ach ...« Er sah einen Moment verwirrt aus. »Ich wollte dich nur daran erinnern, daß gleich das Mittagsmahl serviert wird.«

Er schob sich an ihr vorbei zu den Kajüten hin und flüsterte ihr dabei kaum hörbar zu: »Komm zu mir in die Kajüte der toten Schwester. Sobald du kannst.«

Hinter ihr hüstelte jemand. Sie schaute auf und sah, daß Cian ihr den Niedergang hinunter gefolgt war. Er stand ein paar Stufen über ihr und beugte sich vor.

»Ich muß einmal richtig mit dir sprechen, Fidelma.« Er zeigte immer noch dieses zuversichtliche Lächeln. »Gestern sind wir zu keinem Abschluß gekommen.«

Fidelma wandte sich ab, um ihren Zorn zu verbergen. Offensichtlich hatte Wenbrit dringend mit ihr sprechen wollen, aber nicht in Gegenwart Cians.

»Ich habe zu tun«, erwiderte sie schneidend.

Cian schien nicht beeindruckt von ihrem Ton.

»Du hast doch keine Angst davor, mit mir zu reden?«

Sie starrte ihn mit offener Abneigung an. Sie konnte seiner Gegenwart nicht entfliehen. Es hatte keinen Zweck, weitere Entschuldigungen vorzubringen, früher oder später mußten sie sich aussprechen. Vielleicht lieber früher als später. Die Fahrt würde noch viele Tage dauern. Sie hoffte, Wenbrits Neuigkeit könnte warten. Sie hatte mit ihren Erinnerungen zu tun.

Kapitel 8

Grian hatte ihr die Nachricht bringen müssen. Sie war in die Herberge gekommen, in der Fidelma wohnte, und hatte ihr Zimmer betreten, ohne anzuklopfen. Fidelma lag auf ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie zog ärgerlich die Brauen zusammen, als sie Grian erblickte.

»Ich hoffe, du willst mir nicht wieder was vorpredigen«, sagte sie streitlustig, bevor ihre Freundin zu Wort kam.

Grian setzte sich auf das Bett. »Wir vermissen dich alle, Fidelma. Wir möchten dich nicht in dieser Lage sehen.«

Fidelma verzog das Gesicht, ihr Ärger nahm zu.

»Es liegt nicht an mir, daß ich nicht im Unterricht bin«, entgegnete sie. »Es war Morann, der sich in mein Leben einmischte. Er war es, der mich ausgeschlossen hat.«

»Er tat es zu deinem Besten.«

»Es ging ihn nichts an.«

»Er meint, doch.«

»Ich mische mich auch nicht in sein Privatleben ein. Also sollte er mich ebenfalls damit verschonen.«

Grian war sichtlich unglücklich.

»Fidelma, ich fühle mich für das verantwortlich, was geschehen ist. Es war meine Dummheit .«

»Tu bloß nicht so, als hättest du mir was zu sagen, nur weil du mich mit Cian bekannt gemacht hast«, erwiderte Fidelma scharf.

»Das mache ich auch nicht. Ich habe gesagt, ich fühle mich verantwortlich. Was ich getan habe, hat vielleicht dein Leben zerstört. Das kann ich nicht ertragen.«

»Morann hat mein Studium unterbrochen, nicht du.«

»Aber Cian .«

»Erzähl mir nichts von Cian. Ich weiß, er benimmt sich manchmal unreif, aber seine Absichten sind gut. Er wird sich ändern.«

Grian schwieg einen Moment, dann sagte sie leise: »Du zitierst doch gerne aus Publilius Syrus. Hat er nicht geschrieben, daß ein zorniger Liebhaber sich viele Lügen einredet? Dasselbe gilt wohl auch für Frauen, wenn sie verliebt sind. Liebende wissen, was sie wollen, aber nicht, was sie brauchen. Du brauchst Cian nicht, und er will dich nicht.«

Fidelma wollte zornig aus dem Bett auffahren, doch Grian drückte sie zurück in die Kissen. Fidelma wußte gar nicht, daß ihre Freundin solche Kraft besaß.

»Du hörst mir jetzt zu, auch wenn es das letzte Mal sein sollte, daß wir miteinander reden. Ich tue das zu deinem eigenen Besten, Fidelma. Heute morgen hat Cian Una geheiratet, die Tochter des Verwalters des Großkönigs, und sie werden in Aileach bei den Cenel Eoghain leben.«

Grian sprach so rasch, daß Fidelma keine Gelegenheit hatte, sie zu unterbrechen.

Fidelma sah ihre Freundin mehrere lange Augenblicke verständnislos an. Es war totenstill, während ihr langsam die Bedeutung der Worte Grians aufging. Dann erstarrte ihr Gesicht, als sei es zu Stein geworden.

Grian wartete auf eine Reaktion ihrer Freundin, und als keine kam, setzte sie hinzu: »Ich hab schon vorher versucht, dich zu warnen. Du mußt doch gewußt oder wenigstens geahnt haben ...?«

Fidelma hatte das Gefühl, sie wäre aus der Wirklichkeit herausgeschleudert und in kaltes Wasser geworfen worden. Sie war wie betäubt und vollkommen sprachlos. Grian hatte sie gewarnt, und ehrlich gesagt, sie selbst hatte vermutet - und gefürchtet -, daß sie recht hatte. Sie hatte versucht, sich selbst zu täuschen und es abzuleugnen. Schließlich vermochte sie einen der vielen Gedanken, die ihr im Kopf herumwirbelten, in Worte zu fassen.

»Geh weg und laß mich allein«, rief sie mit vor Erregung brüchiger Stimme.

Grian schaute sie besorgt an. »Fidelma, du mußt verstehen .«

Im nächsten Moment fuhr Fidelma schreiend, schlagend und kratzend auf ihre Freundin los. Wäre Grian nicht erfahren in der Kunst der troid-sciathaigid, der Selbstverteidigung, gewesen, hätte sie ernste Verletzungen erlitten. Aber Grian beherrschte diese Technik, die vor Jahrhunderten entwickelt worden war, als die Gelehrten der fünf Königreiche sich gegen Angriffe von Dieben und Banditen schützen mußten. Da sie es für Unrecht hielten, Waffen zu tragen, mußten sie eine andere Art der Selbstverteidigung erfinden. Jetzt wurden viele Missionare, die in andere Länder gingen, darin ausgebildet.

Grian fiel es nicht schwer, Fidelmas unbeherrschte Wut zu bezwingen, denn ungesteuerte körperliche Kraftanstrengung führt zu nichts. Grian hatte sie schnell mit einem ihrer Griffe wehrlos gemacht und mit dem Gesicht nach unten in die Kissen gedrückt.

In diesem Moment platzte der Herbergswirt herein und wollte wissen, was das für ein Lärm sei, der seine Gäste störte. Seine entsetzten Blicke blieben sofort an den Töpfen und dem Stuhl hängen, die zu Bruch gegangen waren, bevor Fidelma von ihrer Freundin überwältigt worden war.

Grian schrie ihn nur an, er solle verschwinden, der Schaden werde bezahlt.

Eine lange, lange Zeit hielt sie ihre Freundin fest, bis die Wut und die Erregung aus ihrem Körper wichen, die Spannung verebbte und ihre Muskeln sich lockerten.

Schließlich sagte Fidelma in ruhigem und vernünftigem Ton: »Ich bin wieder in Ordnung, Grian. Du kannst mich loslassen.«

Widerstrebend gab Grian nach, und Fidelma richtete sich auf.

»Es wäre mir lieb, wenn du mich eine Weile allein läßt.«

Grian warf ihr einen forschenden Blick zu.

»Du brauchst dich nicht zu sorgen«, sagte Fidelma leise. »Ich mach keinen Unsinn mehr. Du kannst zur Hochschule zurückkehren.«

Grian zögerte noch, sie zu verlassen.

»Geh schon«, beharrte Fidelma, die ihr Schluchzen kaum noch zurückhalten konnte. »Ich hab’s versprochen - reicht dir das nicht?«

Nun glaubte Grian, daß der Anfall von Wahnsinn vorbei war, und erhob sich.

»Denk daran, Fidelma, daß du Freunde in der Nähe hast«, sagte sie.

Es dauerte noch mehr als einen Monat, bis Fidelma in Brehon Moranns Unterricht zurückkehrte. Der Alte bemerkte sofort die feinen Linien um die Winkel ihrer Augen und ihres Mundes. Sie verrieten eine Härte, die vorher nicht dagewesen war.

»Kennst du Aischylos, Fidelma?« fragte der Bre-hon ohne weitere Vorrede, als sie sein Zimmer betrat.

Sie schaute ihn verständnislos an und antwortete nicht.

»>Wer, außer Göttern, bleibt denn sein ganzes Leben lang von Leid verschont?««

Sie schwieg einen Moment. Dann sagte sie, ohne auf seine Worte einzugehen: »Ich möchte mein Studium wieder aufnehmen.«

»Ich für mein Teil würde mich freuen, wenn du das tust.«

»Darf ich mein Studium wieder aufnehmen?« fragte sie ihn ruhig.

»Hindert dich etwas daran, Fidelma?«

Fidelma hob mit ihrer alten trotzigen Geste das Kinn. Nach einigen Sekunden antwortete sie entschieden: »Nichts.«

Der Alte seufzte traurig, kaum vernehmbar.

»Wenn du Bitterkeit in deinem Herzen trägst, ist das Studium kein Zucker, der sie versüßt.«

»Haben die alten Barden nicht gesagt, daß wir durch Leid lernen?« erwiderte sie.

»Das ist richtig, aber nach meiner Erfahrung denkt der Leidende entweder zuviel oder zuwenig über seinen Schmerz nach. Ich fürchte, du denkst zuviel darüber nach, Fidelma. Wenn du zurückkommst, mußt du dich auf das Studium konzentrieren und nicht auf das Unrecht, das du deiner Meinung nach erlitten hast.«

Ihre Mundwinkel verengten sich.

»Mach dir keine Sorgen um mich, Brehon Morann. Ich werde mich jetzt meinem Studium widmen.«

Das tat sie dann auch. Die Jahre vergingen wie im Fluge. Sie erwarb ihren Grad nach acht Studienjahren und wurde die beste Schülerin, die Brehon Morann je hervorgebracht hatte. Das gestand der Alte selbst ein, und er war sparsam mit Lob. Aber das unschuldige junge Mädchen, das in seine Schule gekommen war, gab es nicht mehr. Unschuld und Jugend dauern nicht ewig, doch diese leichte Veränderung ihres Charakters stimmte den alten Morann traurig. Eine Bitterkeit war an die Stelle getreten, an der die Freude wohnen sollte.

Fidelma hatte ihr unbefangenes Wesen niemals wiedererlangt. Die Abweisung durch Cian hatte sie enttäuscht und verletzt, wenn auch mit den Jahren die Wunden vernarbten. Aber sie hatte es niemals vergessen und auch nicht wirklich überwunden. Die Bitterkeit hinterließ tiefes Mißtrauen. Vielleicht hatte sie das zu einer guten dalaigh gemacht, dieses Gespür für Verdächtiges, dieser Zweifel an Motiven. Sie durchschaute Täuschung so gut wie ein Wünschelrutengänger unfehlbar Wasser findet.

Fidelmas Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück.

»Na gut, Cian«, sagte sie knapp. »Wir können reden, wenn du es willst.«

Sie machte keine Bewegung und unternahm nichts, um ihm den Anfang zu erleichtern. Cian versuchte die Lage zu meistern, indem er die Treppe herunterkam, als wolle er sie zum Messedeck hinschieben, damit sie sich setzen könnten, aber sie blieb stehen und gab den Weg nicht frei. Sie standen in dem kleinen Durchgang zwischen den Kajüten, und Fidelma blockierte den Niedergang.

»Es sind viele Jahre vergangen, seit wir uns zuletzt gesehen haben, Fidelma«, begann Cian.

»Zehn Jahre, genau«, unterbrach sie ihn kurz.

»Zehn Jahre? Und jetzt verbindet sich mit deinem Namen ein gewisser Ruf. Ich habe gehört, du hast dann bei Brehon Morann weiterstudiert.«

»Klar. Ich hatte Glück, daß er mich wieder annahm, nachdem ich mir meine Chancen beinahe verdorben hatte.«

»Ich dachte, du wolltest eher ins Lehrfach als ins Rechtswesen.«

»Ich wollte viel, als ich noch jung war. Ich änderte meine Pläne und stellte fest, daß ich ein Talent dafür besaß, die Wahrheit aus Leuten herauszubekommen, die sie verbergen wollten. Es war ein Talent, das ich aus bitterer Erfahrung gewonnen hatte.«

Cian ging nicht auf ihren scharfen Ton ein. Er lächelte einfach wie gedankenverloren und tat so, als habe er ihre Anspielung nicht verstanden.

»Ich freue mich, daß du in deinem Leben Erfolg hast, Fidelma. Das ist mehr, als ich von mir sagen kann.«

Sie wartete einen Moment auf eine nähere Erklärung, dann meinte sie mürrisch: »Es überrascht mich, daß du deinen Beruf aufgegeben hast und Mönch geworden bist. Von allen denkbaren Berufen paßt der des Mönchs doch am wenigsten zu deinem Temperament?«

Cian lachte, doch mit einem unangenehm trüben Unterton.

»Du hast sofort den Nagel auf den Kopf getroffen, Fidelma. Dieser Berufswechsel lag auch nicht in meiner Absicht.«

Sie wartete ruhig auf eine Erklärung.

Da packte Cian seinen rechten Arm mit der linken Hand und hob ihn an, als habe der Arm selbst keine Kraft dazu. Dann ließ er ihn los, und er fiel schlaff herunter. Er lachte wieder.

»Wozu braucht man einen einarmigen Krieger in der Leibgarde des Großkönigs?«

Zum erstenmal, seit sie Cian wiedergesehen hatte, erkannte Fidelma, daß sein rechter Arm immer lose an seiner Seite hing und er alles mit der linken Hand tat. Wie konnte sie nur so blind gewesen sein, daß ihr das nicht aufgefallen war? Sie tat sich so viel auf ihre Beobachtungsgabe zugute, und dabei merkte sie jetzt erst, daß Cian nur einen Arm voll gebrauchen konnte. Eine schöne dalaigh war sie! Ein solcher Haß auf ihn hatte sie erfüllt, daß sie ihn nur so sah, wie er vor zehn Jahren in Tara gewesen war, und nicht so, wie er jetzt war. Ihr fiel ein, daß Cian den rechten Arm immer in der Kleidung zu verbergen schien. In einer Aufwallung instinktiven Mitleids berührte sie leicht seinen Arm.

»Es tut mir ...«

»Leid?« unterbrach er sie fast knurrend. »Ich will von niemandem Mitleid!«

Sie schwieg und hielt den Blick gesenkt. Ihre Haltung schien Cian zu ärgern. »Willst du mir nicht erzählen, daß ein Krieger damit rechnen muß, verwundet zu werden? Daß das sein Berufsrisiko ist?« höhnte er.

Sie war überrascht, daß ein leises Winseln von Selbstmitleid in seiner Stimme mitschwang. Es stieß sie ab, und ihr spontanes Mitgefühl verging so schnell, wie es gekommen war.

»Warum? Ist es das, was du hören willst?« konterte sie.

Ihr Ton machte Cian noch zorniger.

»Ich habe es oft genug von Leuten gehört, die gern ihre schmutzige Arbeit von solchen wie mir machen lassen und sie hinterher nicht mehr kennen.«

»Wurdest du im Kampf verwundet?« Sie ging nicht auf seinen Anwurf ein.

»Ein Pfeil im rechten Oberarm, der die Muskeln zerriß und den Arm unbrauchbar machte.«

»Wann passierte das?«

»Vor ungefähr fünf Jahren. Es war im Grenzkrieg zwischen dem Großkönig und dem König von Laigin. Meine Kameraden brachten mich in das Krankenhaus in Armagh und ließen mich pflegen. Es stellte sich bald heraus, daß ich zum Krieger nicht mehr taugte, und als ich mich erholt hatte, war ich gezwungen, in die Abtei Bangor einzutreten.« Offensichtlich meinte Cian, daß man ihm ein Unrecht angetan hatte.

»Gezwungen?« forschte Fidelma.

»Wo sollte ich sonst hin? Ein Einarmiger - wozu war ich sonst noch nütze?«

»Ist die Verletzung unheilbar? Es gibt sehr gute Ärzte in Tuam Brecain.«

Cian schüttelte mürrisch den Kopf.

»Sie sind nicht gut genug, damals wie jetzt. Ein paar Jahre habe ich in der Abtei einfache Arbeiten verrichtet, wie ich sie eben mit meinem einen Arm tun konnte.«

»Hast du andere Ärzte konsultiert?«

»Das ist der Zweck meiner jetzigen Reise«, gestand er. »Ich habe von einem Arzt in Iberia gehört, der Mormohec heißt und in der Nähe des Schreins des heiligen Jakobus wohnt.«

»Und diesen Mormohec willst du aufsuchen?«

»Es gibt genug Schreine und Grabmale von Heiligen in den fünf Königreichen, so daß ich keine Fahrt über See unternehmen würde, bloß um einen weiteren zu sehen. Ja, ich will zu diesem Mormohec. Es ist meine letzte Chance, wieder zu einem richtigen Leben zu kommen.«

Fidelma zog leicht die Brauen hoch. »Zu einem richtigen Leben? Anscheinend betrachtest du deinen jetzigen geistlichen Beruf nicht als ein richtiges Leben?«

Cian stieß ein kurzes spöttisches Lachen aus.

»Du kennst mich doch, Fidelma. Du kennst mich sehr gut. Kannst du dir vorstellen, daß ich den Rest meines Lebens als fetter Pater hinter den Mauern einer Abtei verbringe und fromme Psalmen singe?«

»Was sagt deine Frau dazu?«

Cian schaute verdutzt drein.

»Meine Frau?«

»Wie ich mich erinnere, hast du die Tochter des Verwalters des Königs in Aileach geheiratet. Sie hieß Una. Hast du mich nicht deswegen in Tara ohne ein Wort verlassen?«

»Una?« Cian zog ein Gesicht, als hätte er etwas Unangenehmes im Mund. »Una ließ sich sofort von mir scheiden, als die Ärzte meine Verwundung für unheilbar befunden und erklärt hatten, ich werde mein Leben lang ein Krüppel bleiben.«

Fidelma bemühte sich, ihre Schadenfreude nicht offen zu zeigen. Im stillen tadelte sie sich für das, was sie empfand, aber sie wurde noch von dem beherrscht, was vor zehn Jahren geschehen war.

»Das muß ein großer Schock für dich gewesen sein - mit deinen eigenen Waffen geschlagen zu werden.« Die Worte fuhren ihr heraus, ehe sie es sich versah.

Cian war in Gedanken und überhörte den zweiten Teil des Satzes, den Fidelma mit solcher Befriedigung ausgesprochen hatte.

»Schock. Ja, das war einer! Dieses selbstsüchtige kleine Luder!«

Fidelma mißbilligte seine heftige Reaktion.

»Wärst du nicht schon geschieden, Cian, hättest du jetzt einen der triftigsten Gründe geliefert, aus denen eine Ehefrau sich nach den Gesetzen des Cdin Ldnam-na scheiden lassen kann«, erklärte sie ihm vorsichtig.

Cian ließ sich nicht beirren.

»Ich könnte noch Schlimmeres von ihr sagen, aber es lohnt sich nicht.«

»Hattet ihr Kinder?«

»Nein!« Das Wort kam wie ein Peitschenschlag. »Sie behauptete, das läge an mir, und führte das als Scheidungsgrund an, statt zuzugeben, daß sie nicht länger mit einem Mann zusammenleben wollte, der ihr keinen Luxus mehr bieten konnte.«

»Sie hat dir Sterilität vorgeworfen?«

Fidelma wußte wohl, daß sexuelles Versagen des Ehemannes als Scheidungsgrund galt. Sterilität des Mannes wurde im Gesetz als einer der Scheidungsgründe genannt. Fidelma konnte kaum glauben, daß Cian, das Urbild eines kräftigen Mannes, der ständig darauf aus war, seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen, in diesen Verdacht geraten konnte. Ihr erschien es wie Ironie, daß ausgerechnet er mit dieser Begründung geschieden worden war.

»Ich war nicht steril. Sie wollte keine Kinder«, protestierte Cian grollend.

»Aber das Gericht hat doch sicher Beweise für ihre Anschuldigung verlangt und geprüft?«

Fidelma wußte, daß das Gesetz sehr streng mit Frauen verfuhr, die ihre Ehemänner ohne triftigen Grund verließen, genau so wie mit Männern, die ihre Ehefrauen ohne rechtlichen Grund verließen. Eine Frau, die keinen triftigen Grund vorweisen konnte, wurde als »flüchtig nach dem Ehegesetz« bezeichnet und verlor ihre Rechte in der Gesellschaft, bis sie sich besserte.

Cian stieß Luft zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er senkte kurz den Blick, und dieser Geste entnahm Fidelma, daß das Gericht sein Urteil nicht ohne Beweise gefällt hatte. Es sah aus, als sei Cian schließlich von der Strafe der Natur ereilt worden. Was hatte doch ihr Lehrer, Brehon Morann, immer gesagt: »Die Schuldigen können Gerechtigkeit schwerer ertragen als Ungerechtigkeit.«

»Jedenfalls«, fuhr Cian fort und schüttelte sich, als wollte er sich von den Geistern der Vergangenheit befreien, »bin ich froh, laß uns das Schicksal wieder zusammengeführt hat, Fidelma.«

Sie verzog spöttisch den Mund.

»Wozu soll das gut sein, Cian? Willst du versuchen, mich für die Qualen zu entschädigen, die du einem naiven jungen Mädchen bereitet hast?«

Er setzte wieder das alte bezaubernde Lächeln auf, das sie so hassen gelernt hatte.

»Qualen? Du weißt, daß ich mich stets zu dir hingezogen gefühlt und dich bewundert habe, Fidelma. Vergessen wir die Vergangenheit. Ich glaubte damals, ich täte, was für dich am besten war. Wir haben eine lange Seefahrt vor uns und ...«

Fidelma überlief ein eisiger Schauer, als sie merkte, daß er sie entwaffnen wollte. Sie trat einen Schritt zurück.

»Wir haben nun genug Worte gewechselt, Cian«, erwiderte sie kalt.

Sie wollte an ihm vorbei, aber er packte ihren Arm mit der linken Hand. Sie war überrascht von der Stärke seines Griffs.

»Komm, Fidelma«, drängte er sie. »Ich weiß, du magst mich noch, sonst würdest du nicht so leidenschaftlich reagieren. Ich lese dein Gefühl in deinen Augen .«

Er versuchte sie mit seinem gesunden Arm an sich zu ziehen. Sie stellte sich auf einen Fuß und trat ihm kräftig vors Schienbein. Er fuhr zurück und ließ sie mit einem Fluch los.

Ihre Miene verriet ihren Abscheu.

»Du bist eine jämmerliche Gestalt, Cian. Ich könnte mich beim Kapitän des Schiffes über dich beschweren, aber ich gebe dir die Chance, mir für den Rest der Zeit, die wir auf diesem Schiff verbringen müssen, aus dem Wege zu gehen. Bleib mir mit deiner elenden kleinen Existenz aus den Augen.«

Ohne abzuwarten, ob er gehorchte, drängte sie sich an ihm vorbei und machte sich auf die Suche nach Wenbrit. In dem kurzen Gang zwischen den Heckkajüten war niemand. Sie blieb vor der stehen, die Schwester Muirgel bewohnt hatte, denn sie bemerkte, daß die Tür einen Spalt offenstand. Drinnen bewegte sich etwas. Sie schob die Tür weiter auf und rief leise in die Dunkelheit.

»Wenbrit? Bist du hier drin?«

Wieder bewegte sich etwas.

»Bist du das?« zischte Fidelma.

Es gab ein kratzendes Geräusch, und ein flackerndes Licht erhellte die Kajüte. Wenbrit hatte den Docht der Laterne höher gedreht. Fidelma seufzte erleichtert, trat in die Kajüte und schloß die Tür hinter sich.

»Was machst du hier im Dunkeln?« fragte sie.

»Ich warte auf dich.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Beim Frühstück hörte ich, wie sie von dir sprachen und sagten, du könntest Geheimnisse ergründen. Bist du wirklich eine dalaigh bei den Gerichten deines Landes?«

»Das stimmt.«

»Dann gibt’s hier ein Geheimnis, das ergründet werden muß, Lady.« In der Stimme des Jungen lag unterdrückte Erregung und noch etwas - eine seltsame Spannung, beinahe wie Furcht.

»Am besten erklärst du mir, um was es geht, Wen-brit.«

»Na, es geht um die Schwester, die die Kajüte hier bewohnte - Schwester Muirgel.«

»Weiter.«

»Sie war krank, wie du weißt.«

Fidelma wartete geduldig.

»Es heißt, sie ging beim Sturm an Deck und fiel über Bord.«

»Das klingt, als glaubst du das nicht, Wenbrit«, meinte Fidelma, die das aus seinem Ton heraushörte.

Wenbrit beugte sich plötzlich vor und holte unter der Koje eine dunkle Kutte hervor.

»Nach dem Frühstück sollte ich die Kajüte aufräumen und ihre Sachen zusammenpacken. Das hier war ihre Kutte.«

Fidelma schaute sie sich an.

»Ich verstehe dich nicht.«

Wenbrit nahm ihre Hand und drückte sie gegen die Kutte. Sie war feucht.

»Sieh dir deine Hand genau an. Es ist Blut dran.«

Fidelma hielt ihre Finger gegen das flackernde Licht. Sie konnte den dunklen Fleck auf ihren Fingerspitzen gerade noch erkennen.

Einen Moment starrte sie Wenbrit an. Dann nahm sie die Kutte und hielt sie hoch. Vorn hatte sie einen gezackten Riß.

»Wo hast du die Kutte gefunden?«

»Hier unter der Koje versteckt.«

»Wenn das Blut ist .« Fidelma hielt nachdenklich inne und sah den Jungen an. Jetzt verstand sie die Mischung von Aufregung und Furcht in seinem Gesicht.

»Ich sagte schon, Schwester Muirgel war krank. Bevor ich mich gestern abend schlafen legte, kam ich zu ihr, um zu sehen, ob sie noch etwas brauchte. Es ging ihr nach wie vor schlecht, und sie sagte, ich sollte sie in Ruhe lassen.«

»Und das tatest du auch?«

»Natürlich. Ich ging in meine Koje. Aber mich beunruhigte was.«

»Nämlich?«

»Ich glaube, Schwester Muirgel hatte Angst.«

»Meinst du vor dem Sturm?«

»Nein, nicht vor dem Sturm. Als ich kam und fragte, ob sie was brauchte, hatte sie ihre Kajütentür zugesperrt. Ich mußte rufen und ihr versichern, daß ich es war, ehe sie aufmachte.«

Fidelma wandte sich nach dem Türriegel um.

»Ich dachte nicht, daß diese Türen sich verschließen lassen«, sagte sie.

Der Junge hob die Laterne, damit sie besser sehen konnte.

»Schau dir die Kratzspuren an. Man braucht nur ein Stück Holz oder ein Ende eines Kruzifixes, wie ihr sie tragt, einzuklemmen, dann läßt sich der Riegel nicht anheben, und die Tür ist von außen nicht zu öffnen.«

Fidelma trat zurück.

»Und so hatte Schwester Muirgel ihre Tür blok-kiert?«

»Ja. Sie war krank, und sie hatte Angst. Es ist un-möglich, daß sie in diesem Zustand bei solch einem fürchterlichen Sturm an Deck herumlief.«

»Hast du sie nachher noch gesehen?«

»Nein. Ich ging in meine Koje und schlief ein. Ich bin erst nach dem Morgengrauen aufgestanden.«

»Während des Sturms warst du nicht an Deck?«

»Nein, das brauche ich nicht, wenn mich der Kapitän nicht ausdrücklich holen läßt.«

»Also hast du nichts mehr von Schwester Muirgel gesehen, nachdem du von ihr weggegangen warst?«

»Nein. Ich wurde davon wach, daß einer der Mönche kurz nach dem Morgengrauen das Schiff absuchte. Ich hörte, wie er mit den anderen sprach und sagte, Schwester Muirgel ist verschwunden. Es war der Mann, mit dem du eben geredet hast. Dann hörte ich, wie Murchad sagte, wenn sie nicht auf dem Schiff ist, dann muß sie während der Nacht über Bord gegangen sein. Der Kapitän meinte, das wäre die einzig mögliche Erklärung.«

»Also, Wenbrit«, überlegte Fidelma, »was hältst du davon? Hast du eine andere Erklärung?«

»Ich sage, daß Schwester Muirgel nicht in der Verfassung war, an Deck zu gehen, nicht bei dem Seegang, den wir in der Nacht hatten.«

»In der Verzweiflung machen die Menschen manchmal ganz verzweifelte Sachen«, bemerkte Fidelma.

»Diese Nonne aber nicht«, widersprach Wenbrit.

»Also was meinst du?«

»Ich sage, sie war zu krank, um sich von selbst zu bewegen. Die Kutte, die sie trug, hat ein gezacktes Loch und ist voller Blut. Wenn sie über Bord ging, dann nicht durch einen Unfall.«

»Also was denkst du, was passiert ist?«

»Ich meine, sie wurde getötet und dann über Bord geworfen!«

Kapitel 9

Ein kurzes Schweigen trat ein, während Fidelma die Bedeutung dieser Entdeckung erwog.

»Hast du dem Kapitän schon davon erzählt?« fragte sie schließlich.

Wenbrit schüttelte den Kopf.

»Nachdem ich gehört hatte, daß du dich im Recht auskennst, dachte ich, ich sollte lieber erst mit dir sprechen. Ich habe noch zu keinem anderen ein Wort davon gesagt.«

»Dann rede ich mit Murchad. Es wird wohl klüger sein, wenn du den anderen nichts sagst. Laß sie alle in dem Glauben, daß Schwester Muirgel über Bord gespült wurde.« Fidelma hob die Kutte auf und untersuchte sie. »Die nehme ich mit«, entschied sie.

Eine Sache gab ihr sofort ein Rätsel auf. Der zerfetzte Zustand der Kutte ließ vermuten, daß Schwester Muirgel mit einem Messer angegriffen und getötet worden war. Doch es klebte verhältnismäßig wenig Blut an der Kutte. Etwas schon, aber nicht die Menge, wie sie aus so schweren Wunden strömte, die man nach den Schnitten im Stoff vermuten mußte. Und wenn der Mörder Schwester Muirgels Leiche über Bord geworfen hatte, warum machte er sich dann die Mühe, ihr vorher die Kutte auszuziehen? Warum schob er sie unter die Koje, wo sie bestimmt entdeckt werden mußte?

Fidelma fand Murchad in seiner eigenen Kajüte. Rasch berichtete sie ihm von Wenbrits Entdeckung.

»Was schlägst du vor, was wir tun sollen, Lady?« Murchad war besorgt. »So etwas ist noch nie zuvor auf meinem Schiff passiert.«

»Wie ich vorhin schon erklärte, bist du der Kapitän und besitzt nach den Muirbretha die Rechte eines Königs und Oberrichters, während sich das Schiff auf See befindet.«

Murchad antwortete mit einem schiefen Grinsen.

»Ich? König und Oberrichter? Wohl kaum. Wenn ich auch dieses Schiff zu führen habe, wüßte ich doch nicht, wie ich es anstellen sollte, den Verantwortlichen für diese Tat zu finden.«

»Du bist aber der Vertreter von Gesetz und Ordnung auf diesem Schiff«, beharrte sie.

Murchad breitete die Arme aus.

»Was kann ich denn tun? Verlangen, daß sich der Schuldige unter den Passagieren meldet?«

»Können wir überhaupt sicher sein, daß sich der Schuldige unter den Passagieren befindet?«

Murchad zog die Brauen hoch.

»Meine Mannschaft«, brummte er empört, »fährt seit Jahren mit mir. Nein, dieses Übel kam mit den Pilgern an Bord, dafür garantiere ich. Du mußt mich beraten, Lady.«

Der Kapitän in seiner Not schien so verwirrt und unentschlossen, daß er Fidelma leid tat.

»Du könntest mich auffordern, eine Untersuchung vorzunehmen; gib mir die Vollmacht dazu.«

»Aber wenn es so ist, wie du sagst, daß jemand diese Frau umbrachte und während des Sturms über Bord warf, dann ist es doch unmöglich, die Wahrheit herauszubekommen.«

»Das wissen wir nicht, bevor wir diese Untersuchung durchführen.«

»Du könntest dein eigenes Leben dabei in Gefahr bringen, Lady. Ein Schiff ist ein enger Raum, in dem man sich schlecht verbergen kann. Und wenn der Mörder erst merkt, daß du ihm auf der Spur bist ...«

»Das kann in beide Richtungen wirken. Für den Mörder ist es auf dem Schiff genau so eng und so schwer, sich zu verstecken.«

»Ich möchte nicht, daß sich die Schwester meines Königs solcher Gefahr aussetzt.«

Fidelma beruhigte ihn.

»Ich bin schon öfter in Gefahr gewesen, Murchad. Gibst du mir also deine Vollmacht?«

Er rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Wenn du sicher bist, daß dies das richtige Vorgehen ist, dann hast du natürlich meine Vollmacht.«

»Ausgezeichnet. Ich beginne mit der Untersuchung, aber den Mordverdacht halten wir vorerst geheim. Wir sagen niemandem etwas von der Entdeckung der Kutte. Verstehst du? Ich werde nur erklären, daß ich in deinem Auftrag Nachforschungen anstelle, weil du nach den Gesetzen der Muirbretha einen Bericht an die Rechtsbehörden darüber erstatten mußt, daß ein Passagier auf See umgekommen ist.«

Der Gedanke war Murchad noch gar nicht gekommen.

»Stimmt das? Muß ich das wirklich tun?«

»Die Familie oder die Verwandten eines auf See umgekommenen Passagiers können dich der Nachlässigkeit beschuldigen und Schadenersatz verlangen, wenn sich nicht nachweisen läßt, daß es ein Unfall war. So ist die Lage nach dem Gesetz«, erläuterte sie.

Murchad war entsetzt.

»Daran hatte ich nicht gedacht.«

»Ehrlich gesagt, das ist noch das geringste deiner Probleme. Viel ernster wird es, wenn die Frau tatsächlich ermordet wurde und der Täter nicht gefunden wird. Dann könnte die Familie den vollen Sühnepreis verlangen. Hat nicht Schwester Crella behauptet, Mu-irgel stamme aus einer vornehmen Familie des Nordens? Ach, ich wünschte, ich hätte meine Gesetzbücher bei mir. Mit den Muirbretha habe ich nie viel zu tun gehabt. Ich erinnere mich an die grundlegenden Gesetze, aber ich wüßte gern genauer Bescheid. Ich werde mein Bestes tun, um auf alle Möglichkeiten vorbereitet zu sein, Murchad.«

Der Kapitän verzagte beinahe angesichts der Größe der Aufgabe.

»Mögen die Heiligen dir bei deinen Nachforschungen Erfolg verleihen«, flehte er inbrünstig.

Fidelma überlegte einen Moment und zog dann eine ironische Grimasse.

»Und welchen Erfolg? Soll ich feststellen, daß Mu-irgel ermordet wurde? Oder daß sie einfach über Bord fiel?«

Murchad schaute so verloren drein, daß Fidelma ihren Zynismus bereute.

»Sagen wir so, Erfolg bedeutet, die Wahrheit herauszubekommen«, sagte sie ernst. »Damit fange ich gleich an.«

Als sie auf das Hauptdeck hinausging, erspähte sie die schattenhafte, aber unverkennbare Gestalt Schwester Ainders, die an der Reling lehnte und in den bedrohlichen Seenebel starrte, der das Schiff immer noch umgab. Sie beschloß, bei der Schwester mit dem scharf geschnittenen Gesicht zu beginnen.

Schwester Ainder richtete sich auf, als Fidelma sie grüßte. Fidelma war keineswegs klein, doch zu der hochgewachsenen Frau mußte sie aufschauen. Schwester Ainder stand in den reiferen Jahren und war noch beeindruckend hübsch, obgleich ein Lächeln nur selten auf ihrem unbewegten, maskenartigen Gesicht erschien. Ihre tiefliegenden dunklen Augen blinzelten kaum und bohrten sich mit einem forschenden Blick in Fidelmas Augen, so daß die Jüngere von dem unbehaglichen Gefühl erfaßt wurde, dieser Blick dringe bis in die Tiefen ihrer Seele vor. Schwester Ainders ruhige, erhabene Haltung schien nicht von dieser Welt. Ihre Stimme war kräftig, wohlklingend und beherrscht.

»Ich muß mich für den peinlichen Abschluß unseres Gottesdienstes entschuldigen, Schwester Fidelma«, intonierte sie eher als sie sprach, wie eine Vorleserin beim Mahl ihrer Glaubensgenossen. Diese eigenartige Sprechweise war Fidelma bis dahin noch nicht aufgefallen. Vielleicht lag es daran, daß sie von den anderen abgelenkt worden war. »Ich verstehe die Leidenschaftlichkeit der Jüngeren nicht.«

»Du meinst die Auseinandersetzung zwischen Schwester Crella und Bruder Bairne? Ich fand Bairnes Wahl der Texte aus der Heiligen Schrift auch etwas sonderbar!«

»Es gibt Dinge, die besser ungesagt bleiben sollten«, bemerkte Schwester Ainder, als stimme sie ihr zu.

Fidelma fragte: »Weißt du, was Bairne Crella vorwirft oder was Crella Bairne vorwirft? Mir schien, da spielte sich etwas zwischen ihnen ab.«

»Was es auch war, uns geht es jedenfalls nichts an.«

»Ich würde gern deine Meinung hören, Schwester, und ich möchte vor allem mehr über Schwester Muirgel erfahren.«

»Sagt nicht ein altes Sprichwort, man solle seinen Nachbarn nicht in den Kochtopf gucken? Ich sehe keinen Anlaß für solche Fragen.« Schwester Ainder strömte Mißfallen aus.

Als ihr Fidelma ihre Absichten ausführlicher erläuterte unter dem Vorwand, den sie mit Murchad abgesprochen hatte, änderte das für Schwester Ainder sehr wenig.

»Die Sache ist völlig klar und schnell zu vergessen.

Schwester Muirgel war so dumm, während des Sturms an Deck zu gehen. Sie bezahlte ihren Fehler mit tragischen Folgen.«

Fidelma gab vor, dem zuzustimmen, und schloß: »Aber es war klug von Murchad, mich um einen offiziellen Bericht zu ersuchen, damit er nicht zur Verantwortung gezogen wird für den Unfall, falls die Familie der Verstorbenen Schadenersatz verlangt.«

Schwester Ainder schob die Erwägung mit einem leichten Schulterzucken beiseite.

»Ich kenne ihre Familie nicht, aber man kann doch dem Kapitän nicht die Schuld geben, wenn einer seiner Passagiere so dumm ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen?«

»Das stimmt«, meinte Fidelma, »doch ich muß sicher sein, daß es sich wirklich so abgespielt hat. Die Aussage von Zeugen ist wesentlich.«

Die Stimme der großen Nonne wurde kühl. »Ich bin bestimmt keine Zeugin.«

»Ich meinte nicht, daß du die Tragödie mitangesehen hättest. Aber du könntest mir Hintergrundinformationen geben. Ich nehme an, du kanntest Schwester Muirgel?«

»Natürlich.«

Fidelma unterdrückte aufsteigenden Ärger. Aus Ainder etwas herauszuholen war wie Zahnziehen.

»Wo hast du sie kennengelernt?«

»In der Abtei Moville.«

»Du kanntest sie also gut?«

»Nein.«

Fidelma beschloß, es anders zu versuchen.

»Wann hast du dich entschieden, auf diese Pilgerfahrt zu gehen?«

»Vor ein paar Wochen.«

»Bist du mit Schwester Muirgel zusammen von Moville nach Ardmore gereist?«

»Ja.«

»Kannst du mir einen Eindruck vermitteln, was für ein Mensch sie war?«

»Das könnte ich wirklich nicht sagen.«

»Aber du mußt doch unterwegs einige Zeit zusammen mit ihr verbracht haben?«

»Nein.«

»Nein?« wiederholte Fidelma gereizt.

»Nein.« Plötzlich gab Schwester Ainder nach. »Wir sind zu zwölft von Moville aufgebrochen. Eine von uns starb schon nach zwanzig Meilen. Sie war eine ältere Schwester, die eine solche Reise gar nicht erst hätte antreten dürfen. Unsere Gesellschaft war so groß, daß ich kein besonderes Interesse an Schwester Muirgel zu nehmen brauchte.«

»Ist das nicht seltsam bei einer Gruppe von Pilgern aus derselben Abtei, die zu einer Fahrt in ein fernes Land aufbricht? Ist es nicht seltsam, daß sie nicht untereinander befreundet sind oder sich wenigstens gut kennen?«

Schwester Ainder schnaufte abweisend.

»Wieso? Eine Pilgerfahrt hat nichts damit zu tun, ob man mit seinen Mitschwestern befreundet ist oder nicht. Auf der Reise zum Hafen haben wir zuweilen nicht einmal in derselben Herberge übernachtet. Außerdem sind die Abteien Moville und Bangor zwar benachbart, aber getrennte Einrichtungen.«

Fidelma wagte noch einen letzten Versuch.

»Dann will ich es anders formulieren. Gab es Feindschaft unter euch?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich verstehe auch nicht, was diese Fragen mit dem Unfall zu tun haben, durch den Schwester Muirgel während des Sturms das Leben verlor.«

»Das ist eben meine Art, an solche Dinge heranzugehen.« Fidelma war selbst überrascht, wie Schwester Ainders hochmütige Haltung sie dazu brachte, sich zu rechtfertigen. Unter anderen Umständen hätte sie die unnachgiebige Nonne scharf zurechtgewiesen.

»Mir erscheint es als eine Zeitverschwendung«, erwiderte Schwester Ainder unbeeindruckt. »Und jetzt gehe ich in meine Kajüte zum Gebet und zur Meditation.« Sie wandte sich ab.

»Einen Moment, Schwester.« Fidelma ließ sich nicht einschüchtern.

»Was denn noch?« Die durchdringenden dunklen Augen schauten auf sie herab.

»Wann hast du Schwester Muirgel zuletzt gesehen?«

Ainder zog die Brauen zusammen. Einen Moment glaubte Fidelma, sie werde die Antwort verweigern.

»Vermutlich beim Anbordgehen. Warum?«

»Vermutlich?« Ihre Frage überging Fidelma.

»Das habe ich gesagt.«

Fidelma bemerkte, wie Zorn in ihren Blick trat, anscheinend überlegte Schwester Ainder, ob sie ihrer Antwort noch etwas hinzufügen sollte.

»Du sahst sie, als ihr an Bord gingt, und danach nicht mehr?«

»Du weißt doch selbst, daß sie dann krank in ihrer Kajüte lag.«

»Du bist nicht zu ihrer Kajüte gegangen, um nach ihr zu sehen?«

»Daran hatte ich kein Interesse.«

»Der Sturm in der Nacht hat dich nicht beunruhigt?«

»Ich denke, daß der Sturm jeden beunruhigt hat.«

»Aber du hast deine Kajüte nicht verlassen?«

»Was bezweckst du mit diesen Fragen?« erwiderte Schwester Ainder bissig.

»Ich möchte lediglich feststellen, ob jemand gesehen hat, wie Schwester Muirgel ihre Kajüte verließ und an Deck ging, wo sie, wie wir annehmen, über Bord gespült wurde.«

Schwester Ainders Gesicht blieb verschlossen.

»Ich habe meine Kajüte nicht verlassen.«

»Wann hast du erfahren, daß Schwester Muirgel vermißt wird?«

»Als Schwester Gorman mich mit der Nachricht weckte, oder genauer gesagt, als mich ihr Gespräch mit Bruder Cian weckte.«

»Schwester Gorman?«

»Wir haben eine Kajüte zusammen. Sie war anscheinend von Bruder Cian geweckt worden, der nach Schwester Muirgel suchte. Im allgemeinen schlafe ich fest. Ihre Stimmen machten mich wach. Ein dummer Lärm um nichts.«

»Ein Lärm um nichts. Doch wie sich herausstellte, war Muirgel wirklich über Bord gefallen. Die Bemerkung ist nicht gerade barmherzig.«

»Ich meinte ihren Streit«, fauchte Schwester Ainder. »Also ...«

»Ihren Streit?«

Aber Schwester Ainder ließ sich nicht weiter darüber aus. Fidelma versuchte es erneut.

»Worum ging denn der Streit?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Wenn du mit Schwester Gorman die Kajüte teilst, dann kennst du sie sicher gut?« Fidelma versuchte das Thema anders anzupacken.

»Kennen? Kaum. Ein albernes junges Mädchen.«

»Rein aus Interesse, wen kennst du überhaupt aus der Gruppe?« fragte Fidelma.

Wieder wurden die Augen eng und dunkel.

»Das hängt davon ab, was du meinst, wenn du >kennen< sagst?«

»Was würdest du denn darunter verstehen?« konterte Fidelma erbittert.

»Ich würde dem Wort verschiedene Bedeutungen beilegen. Und nun meine ich, daß wir genug Zeit mit diesem Thema verschwendet haben.«

Sie drehte sich um und ging. Fidelma erinnerte sich an ein Spiel aus ihrer Kinderzeit. Auf einem Faß voll Wasser schwammen Äpfel. Das Ziel war es, möglichst viele Äpfel herauszufischen, ohne die Hände zu benutzen. An das Spiel mußte sie denken, als sie aus Schwester Ainder etwas herauszubekommen versuchte, das Prinzip war dasselbe.

Fidelma fühlte sich völlig geschlagen. Noch nie hatte sich jemand so ihren Fragen entzogen oder sie so beantwortet, daß sie um keinen Deut klüger war. Sie atmete tief durch und kam sich vor wie eine junge Studentin, die von Brehon Morann in einer Debatte gänzlich an die Wand gespielt worden war. Aber wenn sie etwas von Morann gelernt hatte, dann war es die Regel, nicht gleich beim ersten Mißerfolg aufzugeben.

Sie ging wieder hinunter auf das Messedeck und machte sich auf die Suche nach anderen Pilgern. Erst dachte sie, die große Kajüte sei leer, doch dann sah sie einen gebückten Schatten in einer Ecke. Fidelma räusperte sich geräuschvoll.

Die Gestalt in Kutte und Kapuze sprang auf und fuhr mit katzenartiger Gewandtheit herum. Die Kapuze fiel zurück und gab das Gesicht frei. Es war Schwester Crella. Ihre Augen waren gerötet, als habe sie geweint.

»Es tut mir leid, daß ich dich erschreckt habe, Schwester.« Fidelma lächelte ihr beruhigend zu.

»Ich dachte . Ich hab dich nicht kommen hören.«

»So wie das Schiff quietscht und knarrt, brauchtest du schon scharfe Ohren, um Schritte zu hören«, meinte Fidelma. »Ich hätte mich bemerkbar gemacht, aber ich dachte, die Kajüte sei leer.«

»Ich hatte hier in der Ecke etwas verloren und suchte danach.«

»Kann ich dir helfen?« Fidelma blickte auf die trübe Lampe, die noch auf dem Tisch flackerte.

»Nein«, antwortete Schwester Crella rasch. Sie hatte sich wohl von ihrem Schreck erholt. »Ich dachte, ich hätte es hier verloren, aber ich muß es wohl in meiner Kajüte gelassen haben. Es ist nicht wichtig.«

Fidelma schaute nachdenklich in ihr etwas feindseliges Gesicht.

»Na gut«, sagte sie. »Hast du einen Moment Zeit für ein Gespräch?«

Crellas Augen zogen sich mißtrauisch zusammen.

»Gespräch worüber?«

»Über Schwester Muirgel.«

»Du meinst wohl den Gottesdienst? Ich werde mich nicht entschuldigen. Bruder Bairne benahm sich wie immer eifersüchtig und dumm.«

»Warum zitierte er aus dem Propheten Hosea? Mir kam es merkwürdig vor bei einer solchen Gedenkfeier.«

Crella schnaufte verärgert.

»>... denn der Hurerei-Geist verführt sie, daß sie wider ihren Gott Hurerei treiben<«, zitierte sie. »Ich kenne den Text gut. Bruder Bairne war eifersüchtig, weil die Männer Muirgel und mich anziehend fanden und wir uns auch von manchen Männern angezogen fühlten. Das ist alles. Er war dagegen.«

»Ich nehme an, daß er nicht zu den Männern gehörte, von denen ihr euch angezogen fühltet?«

Crella brachte tatsächlich ein hartes Lachen zustande.

»Ganz bestimmt nicht.«

»War Schwester Muirgel von Bairne ebensowenig angetan?«

»Natürlich. Wir beide hielten Bairne für einen Flegel. Wenn das nun alles ist .«

»Noch nicht ganz. Hauptsächlich wollte ich mit dir über den tragischen Tod von Schwester Muirgel sprechen.«

Crella setzte sich an den Tisch. Fidelma ließ sich auf der Bank gegenüber nieder. Im Licht der Lampe sah man nun deutlich, daß die junge Frau wirklich geweint hatte.

»Ich glaube, beim Frühstück hast du erwähnt, daß Schwester Muirgel deine Kusine war«, begann Fidelma vorsichtig.

»Und außerdem meine vertrauteste Gefährtin«, erklärte das Mädchen so heftig, als habe jemand das bestritten.

Fidelma legte Crella mitfühlend die Hand auf den Arm.

»Der Kapitän hat mich gebeten, Nachforschungen anzustellen. Nach dem Gesetz muß er nämlich den Behörden in seinem Heimathafen einen Bericht über den Tod Schwester Muirgels erstatten, denn sonst kann ihre Familie ihn wegen Fahrlässigkeit belangen.«

Crellas Augen weiteten sich unschuldig.

»Aber ich gehöre doch zu ihrer Familie, und ich weiß, daß Murchad an ihrem Tod keine Schuld trägt.«

»Nun, Murchad muß das nach dem Gesetz beweisen. Sonst könnte ungeachtet deiner guten Absichten einer ihrer nahen Verwandten den Sühnepreis verlangen, ihr Vater beispielsweise oder ihr Bruder. Da ich Anwältin bin, hat er mich ersucht, ein paar Fragen zu stellen und den Bericht für ihn vorzubereiten.«

Crella gab einen Laut von sich, der halb ein Schnaufen und halb ein Seufzer war.

»Ich weiß gar nichts. Ich war die ganze Nacht in meiner Koje und hab mich in meiner Todesangst vor dem Sturm nicht einmal bewegt.«

»Natürlich. Ich wollte dich auch mehr nach dem Hintergrund fragen. Du sagtest, du warst Schwester Muirgels Kusine und vertrauteste Gefährtin? Dann kannst du mir sicher etwas über ihre Familie erzählen.«

Crella schien nicht sehr bereit dazu. Sie schaute Fidelma etwas mißtrauisch an.

»Wir sind aus der Abtei Moville. Sie steht am oberen Ende des Loch Cüan. Sie wurde vor hundert Jahren von dem heiligen Finnian gegründet. Colmcille lehrte dort, und heute ist sie eine der berühmtesten geistlichen Hochschulen des Landes.«

»Das weiß ich«, erklärte Fidelma. »Ihr wart also beide Glieder der Gemeinschaft von Moville.«

»Wir waren Kusinen. Unsere Väter gehörten der fürstlichen Familie Dal Fiatach an.«

Fidelma sah sie scharf an.

»Den Dal Fiatach, zu deren Besitzungen auch Moville zählt?«

»Und die große Abtei Bangor«, fügte Crella stolz hinzu. »Das Gebiet der Dal Fiatach ist eins der größten Kleinkönigreiche von Ulaidh.«

»Ach ja. Also würde Schwester Muirgel ...«

»Einen hohen Sühnepreis kosten.« Schwester Crella hatte die Frage geahnt. »Sieben cumals.«

Fidelma war überrascht vom Wissen des Mädchens.

»Du kennst offensichtlich euren Sühnepreis.« Die Summe entsprach dem Wert von einundzwanzig Milchkühen.

»Muirgels Vater war der Fürst des Gebiets und mein Vater sein Tanist oder erwählter Nachfolger. Wir lernten diese Dinge schon, als wir aufwuchsen«, erläuterte das Mädchen.

»Warum habt ihr euch für das religiöse Leben entschieden?«

Schwester Crella zögerte einen Moment und machte dann eine ausladende Armbewegung.

»Muirgel. Sie war es, die das vorschlug. Wir hatten zu Hause Brüder und Schwestern, und Muirgel meinte, es wäre gut, wenn wir weggingen und studierten.«

»Wie alt war Muirgel?«

»So alt wie ich, zwanzig Jahre.«

»Wann seid ihr in die Abtei Moville eingetreten?«

»Als wir sechzehn waren.«

»Warum seid ihr auf diese Pilgerfahrt gegangen?«

Schwester Crella begann: »Es war ...« Dann hielt sie inne, als sei ihr etwas eingefallen.

Fidelma lächelte ermutigend.

»Es war also Muirgels Idee?« riet sie.

Schwester Crella nickte.

»Hast du dich immer nach Muirgel gerichtet?«

Crella war wieder auf der Hut.

»Wir standen uns sehr nahe. Sie war für mich eher eine Schwester als eine Kusine. Wir waren immer zusammen.«

Fidelma lehnte sich zurück und trommelte unbewußt mit den Fingern auf der Tischplatte.

»Warum hattest du auf dieser Reise nicht eine Kajüte mit Muirgel gemeinsam?«

Crella war verwirrt.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Ich wundere mich nur. Wenn du Muirgel so nahestandest und auf die Pilgerfahrt gingst, weil sie es wollte, hätte ich erwartet, daß ihr euch eine Kajüte teilt, wenn sie zu zweit belegt werden mußten. Als ich an Bord kam, wurde ich zunächst gebeten, mit in ihre Kajüte zu ziehen.«

»Ach so, jetzt verstehe ich. Ich hatte Schwester Canair versprochen, mit ihr zusammenzuziehen, weil sie solche Angst hatte. Sie war noch nie auf See gewesen.«

»Ach ja. Aber Schwester Canair kam nicht an Bord, nicht wahr? Sie verpaßte das Auslaufen.«

Schwester Crella machte eine sorgenvolle Miene.

»Sie war die Leiterin unserer Pilgerschar. Sie kam auch aus Moville und war eine gute Freundin von uns.«

»Hast du eine Ahnung, weshalb sie euch nach Ardmore führte und dann die Abfahrt versäumte?«

»Nein. Ich war überzeugt, sei wäre an Bord, als wir ausliefen, deshalb war ich in der einen Kajüte und Muirgel in einer anderen.«

»Wie viele von euch kommen aus Moville?«

»Dathal, Adamrae, Cian und Tola kommen aus Bangor. Alle anderen sind aus Moville.«

»Ich hörte, eine Schwester sei gleich nach dem Aufbruch gestorben?«

»Die alte Schwester Siban? Sie war schon sehr betagt. Wir waren noch nicht aus dem Gebiet der Dal Fiatach heraus, als sie zusammenbrach und starb. Sie war auch aus Moville.«

»Also habt ihr die Pilgerfahrt zu zwölft angetreten?«

»Und jetzt sind noch neun übrig.«

»Was meinst du, weshalb Schwester Canair nicht mitkam? Wenn sie den ganzen Weg von Moville nach Ardmore zurückliegt hatte, warum blieb sie dann dort?«

Crella zuckte unruhig die Achseln.

»Wer weiß? Vielleicht hatte sie Angst vor dem Meer, oder sie war unserer Gesellschaft überdrüssig?«

Fidelma wußte instinktiv, daß Schwester Crella nicht an die Gründe glaubte, die sie vorbrachte. Sie beschloß, sie nicht weiter zu drängen, sondern auf Muirgels Verschwinden zurückzukommen.

»Wann hast du deine Kusine zuletzt gesehen?«

»Bald nach Ausbruch des Sturms - die Zeit weiß ich nicht genau. Der Himmel war schon ganz dunkel. Ich schaute zu ihr hinein und fragte, ob ich ihr irgend etwas bringen könnte. Oder ob ich zu ihr ziehen sollte, weil wir inzwischen wußten, daß Canair nicht auf dem Schiff war. Sie hatte sich gleich, als wir an Bord waren, in ihre Kajüte zurückgezogen.«

»Und wollte sie?«

»Wollte sie was?« Schwester Crella hatte Fidelma einen Moment nicht zugehört.

»Wollte Muirgel, daß du zu ihr ziehst?«

Nach kurzem Zögern schüttelte das Mädchen den Kopf.

»Nein, das wollte sie nicht. Sie wollte allein gelassen werden.«

»Hat dich das überrascht?« fragte Fidelma schnell.

Schwester Crella errötete und überlegte sich ihre Antwort gut.

»Wir sind junge Frauen. Manchmal ist es . etwas unbequem, ein Zimmer oder eine Kajüte zu teilen.«

Fidelma erwog diese Antwort und beschloß, ihr im Augenblick nicht weiter nachzugehen. Sie würde bald erfahren, ob Crellas offensichtlicher Verdacht berechtigt war oder nicht.

Doch wenn Muirgel während des Sturms männlichen Besuch erwartete, paßte das jedenfalls nicht zu ihrer Krankheit.

»Wie ging es Schwester Muirgel, als du sie sahst?« stellte sie die nächste Frage.

»Sie war noch krank und schwach. Ich hatte noch nie erlebt, daß die Seekrankheit sie so gepackt hatte.«

»Hatte sie vorher schon Seereisen gemacht?«

»Wir sind mehrmals nach Iona gefahren, aber dabei war Muirgel niemals seekrank.«

»Du hattest die Kajüte neben ihr, nicht wahr?« »Ja.«

»Aber du hast nicht nach ihr geschaut, als der Sturm tobte?«

»Ich hatte zuviel Angst.«

»Stell dir vor, wie es ihr ging, krank wie sie war.«

»Ich fühlte mich auch krank«, protestierte Crella. »Meinst du, ich hätte aus meiner Koje aufstehen und versuchen sollen, zu ihrer Kajüte zu gelangen? Daß ich sie hätte daran hindern können, an Deck zu gehen und über Bord zu fallen?« Ihre Stimme schwoll zu einem Jammern an.

»Das wollte ich nicht damit sagen. Ich glaube, du willst mir zu verstehen geben, daß Muirgel nicht so krank war, wie sie vorgab, und jemanden erwartete.«

Crella hob das Kinn wie zum Widerspruch, doch dann senkte sie den Kopf. Sie schwieg.

»Weißt du, wer Muirgels Freunde waren? Bist du sicher, daß es nicht Bruder Bairne war?«

»Bairne?« antwortete Crella mit einem verlegenen Lachen. »Ich sagte dir schon, daß Bairne der letzte war, für den sich Muirgel interessierte. Es gab ...« Sie zögerte.

»Ja?« lockte sie Fidelma.

»Nun, Bruder Cian ist ein Freund von dir .«

Jetzt war die Reihe zu erröten an Fidelma.

»Das ist er nicht! Ich lernte ihn vor zehn Jahren in Tara kennen und habe ihn erst wiedergesehen, als ich auf dieses Schiff kam. Was ist denn mit Cian?«

»Cian genoß in Moville einen gewissen Ruf. Es gab dort kaum eine junge Frau, die er nicht dazu überredete, in sein Bett zu kommen, von albernen jungen Dingern wie Gorman bis zu reiferen Frauen wie meine Kusine. Doch ich hatte den Eindruck, daß Muirgel ihr Verhältnis mit Cian beenden wollte, noch bevor wir die Abtei verließen. Sie schwieg sich über manche Dinge aus, was für sie ungewöhnlich war.«

Diese Enthüllung der Schwächen Cians war für Fidelma keine Überraschung.

»Hatte Muirgel vor jemand Angst?« fragte sie.

Crella schüttelte den Kopf und sah Fidelma neugierig an.

»Was haben solche Fragen mit der Nachforschung danach zu tun, weshalb Muirgel über Bord gespült wurde? Das verstehe ich nicht.«

Fidelma merkte, daß sie zu weit gegangen war und einen Verdacht bei der jungen Frau geweckt hatte. Rasch wechselte sie die Richtung ihrer Fragen.

»Ich wollte nur etwas über Hintergründe erfahren, weiter nichts. Was dich betrifft, so bliebst du in deiner Kajüte bis zum nächsten Morgen.«

»Ich wollte am nächsten Morgen zu ihr, aber kurz nach der Morgendämmerung kam Bruder Cian in unsere Kajüte und sagte, er sehe bei allen nach. Dieser arrogante . « Crella unterbrach sich. »Er betrachtet sich nun als Führer unserer Gruppe und meint, er müsse uns bewachen wie ein Schäferhund seine verirrten Schafe.«

Fidelma beugte sich leicht vor.

»Also Cian kam herein, um nachzusehen, und zwar im Morgengrauen? Was geschah weiter?«

»Er war noch nicht lange fort, da kehrte er zurück und erklärte mir, daß Muirgel nicht in ihrer Kajüte sei und er das dem Kapitän melden wolle.«

»Was hatte Muirgel für einen Charakter?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Ich möchte mir nur eine Vorstellung davon machen, was sie veranlaßt hat, ihre Kajüte zu verlassen, obwohl sie so krank war, und an Deck zu gehen.«

»Panik vermutlich«, erwiderte Crella. »Ich glaubte manchmal ernsthaft, das Schiff ginge unter, so wie es hin und her geworfen wurde. Auf unseren Fahrten nach Iona habe ich nie so eine rauhe See erlebt.«

»Wie oft habt ihr die Überfahrt durch die Meerenge nach Iona gemacht?«

»Muirgel und ich haben mehrmals Botschaften des Abts von Moville nach Iona gebracht.«

»Und dabei war sie nie seekrank? In der Meerenge gibt es doch auch Stürme? Ich habe die Überfahrt nur einmal gemacht, aber ich kann es verstehen, wenn Menschen sich davor fürchten, denn der Seegang kann beängstigend sein.«

»Ich erinnere mich nicht, daß sie je seekrank war.«

»Dennoch glaubst du, daß sie gestern nacht in Panik geriet und mitten im Sturm an Deck lief?«

»Das ist die einzige Erklärung, zu der man kommen kann. Vielleicht brauchte sie einfach frische Luft, denn in der Kajüte war es stickig und stank.«

Fidelma wartete einen Moment und sagte dann leise: »Du hast mir noch nicht verraten, was Muirgel für einen Charakter hatte.«

Crellas Antwort kam sofort und begeistert.

»Sie war entschlossen, schlagfertig, sie wußte, was sie wollte. Vielleicht folgte ich deshalb ihrer Führung. Sie hatte immer die Ideen.«

»Ich verstehe.« Fidelma stand plötzlich auf. »Du hast mir sehr geholfen, Crella. Ach, eins noch - wann hat sich Cian entschieden, sich eurer Pilgerfahrt anzuschließen?«

Crella machte eine ärgerliche Geste. »Der? Ach, der wollte mit, sobald bekannt wurde, daß Schwester Ca-nair die Gruppe zum Schrein des heiligen Jakobus führen wollte.«

»Ach! Dann war es also Canairs Idee, zum Schrein des heiligen Jakobus zu pilgern?«

»Sie sollte uns führen. Cian gehört zum Kloster Bangor, wenn er auch oft nach Moville kam. Wir kannten ihn gut. Er diente dem Abt von Bangor als Bote nach Moville. Als Canair diese Pilgerfahrt ankündigte, schloß er sich gleich unserer Gruppe an.«

Plötzlich ertönten Rufe auf dem Deck über ihnen, und Wenbrit flitzte vorbei.

»Was ist?« rief ihm Fidelma zu.

»Der Nebel lichtet sich«, schrie er, »aber ich glaube, wir kriegen Ärger.«

Kapitel 10

Fidelma traf auf mehrere Mitreisende, die sich auf Deck versammelt hatten, um zu sehen, was es mit der Unruhe auf sich hatte, die die Mannschaft der »Ringelgans« verbreitet hatte. Es war kurz vor Mittag, und die Sonne hatte den Seenebel größtenteils vertrieben.

Als Fidelma auf dem Hauptdeck erschien, kam gerade wieder ein angsterfüllter Ruf vom Mastkorb. Sie wandte sich zum Achterdeck um, wo Murchad neben den Rudergängern stand und nach Backbord schaute. Als sie seinem Blick folgte, sah sie durch letzte Nebelschleier hindurch, wie die Brandung weiß über eine Felsengruppe schäumte, auf der Kormorane wie düstere Wachposten standen. Dann merkte sie, daß das Meer ringsum mit solchen Riffen und winzigen Inseln übersät war.

Gurvan, der Steuermann, eilte an ihr vorbei zu seinem Kapitän.

»Wo sind wir hier?« rief ihm Fidelma zu.

»Sylinancim«, brummte der Bretone. Er sah nicht glücklich aus. »Der Sturm hat uns zu weit nach Südosten verschlagen.«

Also hatte Murchad recht gehabt, dachte sie, als er ihr sagte, der Sturm habe sie östlich von ihrem Kurs abgetrieben.

Weder Gurvan noch Murchad erhoben Einwände, als sie dem Bretonen auf das Achterdeck folgte und sich neben den finster dreinblickenden Kapitän stellte.

»Ich hätte nicht gedacht, daß die Sylinancim-Inseln so öde und schroff sind«, sagte sie und betrachtete etwas furchtsam die gezackten Felsen, die sie umgaben.

»Die Hauptinseln sind bewohnt und haben günstige Landeplätze«, erwiderte Gurvan. »Sonst vermeiden wir dieses Gebiet, indem wir weiter nach Westen ausholen. Ich glaube, wir haben den Broad Sound, eine sichere Durchfahrt, verpaßt, und nun treiben uns Wind und Gezeiten durch Crebawethan Neck.«

Der letzte Satz war an Murchad gerichtet, und der bestätigte mit einem Nicken die Ansicht des Steuermanns. Fidelma kannte diese Stellen nicht. Sie spürte aber die Besorgnis im Ton des normalerweise gelassenen Bretonen.

»Ist das eine schlechte Stelle?« fragte sie.

»Es ist jedenfalls keine gute Stelle«, antwortete Gurvan. »Wenn wir es durch das Neck schaffen, können wir südlich an den Retarrier Ledges vorbeigelangen - wieder anderen Felsen. Kommen wir von denen frei, können wir geraden Kurs auf Ushant nehmen. Wir sind dann einen vollen Tag vom Kurs ab, vorausgesetzt ...« Er merkte plötzlich, daß er mit einem Passagier sprach, und schaute Murchad schuldbewußt an. Der aber war zu beschäftigt, um es zu bemerken.

»Vorausgesetzt, wir schaffen es durch dieses Cre-bawethan Neck?« beendete Fidelma seinen Satz.

»Genau, Lady.«

Der Kapitän hatte das vom Wind geschwellte Segel sorgsam beobachtet und gab jetzt einem der Rudergänger das Zeichen, den Platz mit ihm zu tauschen. Ein paar Matrosen standen am Bug, um zu warnen, falls das Schiff den Felsen zu nahe kam.

»Buline festmachen!« schrie Murchad.

Zwei Matrosen rannten zur Luvseite und packten ein Tau, das zu dem viereckigen Segel lief. Damit zogen sie das Segel mehr nach Steuerbord, so daß der Wind die große Segelfläche voll erfaßte.

Murchad wandte sich an Fidelma.

»Lady, während dieser Durchfahrt hätte ich die Pilger lieber an Deck«, rief er ihr zu. »Würdest du bitte den übrigen sagen, sie sollten raufkommen?« Dann mußte er wieder auf das Ruder achten und überließ Gurvan die Erläuterung.

»Wenn . « Gurvan zögerte und zuckte dann die Achseln. »Wenn wir auf ein Riff auflaufen, dann . dann hätten die Pilger eher eine Chance, wenn sie an Deck sind.«

»Ist es so gefährlich?« fragte sie und las die Bestätigung in seinem Blick. Wortlos eilte sie zum Niedergang, wo Wenbrit stand.

»Der Kapitän will alle an Deck haben«, erklärte sie ihm.

Wenbrit drehte sich um und verschwand. Gleich darauf hörte sie, wie er die Pilger in ihren Kajüten auf-forderte, sich zu ihren Gefährten an Deck zu begeben. Die meisten taten es nur widerwillig. Wenbrit sagte ihnen, wo sie sich hinstellen sollten. Die meisten schienen die Gefahr nicht zu begreifen; auch als Fidelma den Kajütenjungen unterstützte, bewegten sie sich mit aufreizender Langsamkeit und murrten die ganze Zeit. Erst als einige sahen, wie nahe die Felsen und Riffe waren, wurden sie endlich ruhig und sich der Gefahr bewußt.

Die Pilger drängten sich auf dem Hauptdeck zusammen, lehnten sich an die Reling und beobachteten, wie die von gelblichweißer Gischt überschäumten schwarzen Felsen gefährlich dicht am Schiff vorbeiglitten.

Der Wind hatte aufgefrischt, und häßliche weiße kleine Schaumkronen bildeten sich auf der Brandung. Zischendes weißes Wasser umgab sie auf allen Seiten, und Fidelma begriff, daß es eine größere Gefahr für das Schiff darstellte als die hohen schwarzen Granitspitzen. Es ließ auf Felsen unter Wasser schließen, die dem Schiff in Sekundenschnelle den Boden aufreißen konnten.

Fidelma erschauerte. Der Sonnenschein wirkte hart und kalt. Weiße Wolken zogen sich in langen Streifen durch das Blau des Himmels. Ein merkwürdiger Glanz lag über der See und wurde so stark reflektiert, daß Fidelma sich die Augen reiben mußte. Sie wurden von den Salzkörnern der feinen Gischt gereizt. Der Wind ließ nach. Sie sah, wie das Segel erschlaffte und fast leblos hing.

Murchad blickte auf und formte Worte, vielleicht war es ein Fluch. Das konnte sie ihm verzeihen. Dann stürmte Gurvan nach vorn und schrie einen Befehl. Zwei Mann blieben am Bug, die anderen stellten sich mittschiffs auf in Erwartung weiterer Befehle.

Die Felsen glitten immer noch vorbei, denn das Schiff verlor nur langsam an Fahrt und wurde von den Gezeiten geschoben.

Fidelma sah sich um. Hier mitten auf See, vom Branden der Wellen an den Felsen umtost, fühlte sie sich plötzlich schrecklich verletzlich und allein. Sie fröstelte und wurde von düsteren Ahnungen gepackt.

Unwillkürlich murmelte sie etwas vor sich hin.

»Deus misereatur...«

Überrascht stellte sie fest, daß sie einen Psalm sprach.

»Gott sei uns gnädig und segne uns;
Er lasse uns sein Antlitz leuchten,
Daß man auf Erden erkenne seinen Weg,
Unter allen Heiden sein Heil.«

Sie umklammerte die Reling mit weißen Knöcheln, wenn der Bugspriet in die Gischt tauchte und sich wieder daraus erhob wie ein sich aufbäumendes Pferd am Start eines Rennens. Sie hörte ein Knarren, blickte auf und sah mit Entsetzen, daß sich der Großmast an der Spitze bog wie eine Peitsche; die Rahen ächzten, als der Wind die Segel zu zerfetzen drohte. Murchad stand breitbeinig da und hielt das Ruder mit beiden Händen, das Gesicht ausdruckslos vor Konzentration.

Fidelma wußte, wenn jetzt jemand über Bord fiel, hätte er keine fünf Sekunden mehr zu leben. Hoffnung gäbe es nicht. Sie alle mußten sich auf Murchads Seemannskunst verlassen. Fidelma war immer unglücklich, wenn sie nicht einen gewissen Einfluß auf das Geschehen ausüben konnte. Hier konnte sie nichts tun, und das belastete sie.

Murchad stand regungslos da, sein Haar flatterte im Wind, die Augen hatte er zusammengekniffen. Seine einzigen Befehle galten seinem Nebenmann am Ruder.

Sie gerieten nun in eine enge Durchfahrt zwischen einer mächtigen Felseninsel an Steuerbord und zerstreuten, verborgenen Felsen und Riffen an Backbord. Das Wasser umschäumte und umtobte sie, und das Schiff schien unaufhaltsam von der Flut in sein Verderben gerissen zu werden. Fidelma betete, daß Murchad und sein Rudergänger das Ruder in eisernem Griff hielten.

Der Wind pfiff schrill durch die Spieren und das Tauwerk der Takelage, und das Schiff schien völlig außer Kontrolle gefährlich dicht an den gezackten Granitspitzen vorbei zu taumeln und zu bocken, die es ringsum bedrohten. Doch Murchad und sein Rudergänger hielten durch.

Ein Ruf vom Bug her wurde von anderen Matrosen aufgenommen. Fidelma beugte sich über die Reling, um zu sehen, was es gäbe.

Sie schienen geradewegs auf einen mächtigen schwarzen Felsen zuzutreiben, der sich mitten auf ihrem Kurs erhob. Gelblichweißer Schaum strömte an seinen Flanken herab, wenn die Wellen sich an ihm brachen. Große Wogen donnerten über verborgene Riffe hinweg. Es war wie in einem brodelnden Kessel. Einen Moment schloß Fidelma die Augen und glaubte, das Schiff werde von diesem Mahlstrom in Stücke geschlagen. Sie kam fast von den Beinen, als sich das Deck schräg stellte. Sie dachte, sie seien auf die Felsen geraten. Ein Arm legte sich um sie, und Gurvan zischte ihr ins Ohr. »Laß nur nicht die Reling los!«

Als sie die Augen öffnete, sah sie, wie die Felsen im Wellental an der Seite des Schiffes vorbeischossen. Sie hätte sie mit der ausgestreckten Hand berühren können. Auch der hohe schwarze Felsen flog vorbei, und dann befanden sie sich mit erstaunlicher Plötzlichkeit in ruhigem Wasser.

Von den Männern am Bug kam ein Triumphschrei.

Gurvans grimmiges Gesicht verzog sich zu einem schiefen Grinsen der Erleichterung.

»Sind wir durch?« fragte ihn Fidelma.

»Durch das Neck sind wir durch«, erwiderte Gur-van ernst. »In der ruhigen See hier können wir nach Süden abdrehen.«

Er rief Wenbrit zu, die Passagiere dürften wieder unter Deck gehen, wenn sie wollten.

Fidelma stand noch da, hielt die Reling umklammert und starrte auf die vorbeigleitenden schwarzen Wogen, als Cian zu ihr trat.

»Wie lange willst du diese Feindseligkeit noch bei-behalten?« begann er herausfordernd. »Ich versuche doch nur, freundlich zu dir zu sein. Schließlich werden wir noch eine Weile auf dem Schiff zusammen sein.«

Mit einem scharfen Atemzug kam Fidelma in die Gegenwart zurück. Sie setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich aber anders.

»Nach Lage der Dinge, Cian«, sagte sie knapp und wandte sich ihm zu, »habe ich sowieso mit dir zu reden.«

Darauf war Cian offensichtlich nicht vorbereitet. Einen Moment schaute er sie mit blankem Erstaunen an, dann setzte er eine triumphierende Miene auf.

»Na also, ich wußte doch, daß du mal zur Vernunft kommst.«

Fidelma haßte diesen siegessicheren Blick. Die Illusion wollte sie ihm sofort nehmen. Ihr Ton war kalt.

»Murchad hat mich gebeten, eine offizielle Untersuchung des Verschwindens von Schwester Muirgel anzustellen, damit ihn ihre Verwandten nicht wegen Fahrlässigkeit verklagen können. Ich muß dir ein paar Fragen stellen.«

Cians Gesicht zog sich in die Länge. Das war eindeutig nicht die Antwort, die er erwartet hatte.

»Wie ich höre, hast du es übernommen, die Gruppe zu führen.«

Cians Mund wurde hart, und er hob das Kinn.

»Ist jemand anderes besser dafür geeignet?«

»Es steht mir nicht zu, deine Fähigkeiten zu beurteilen, Cian. Ich gehöre deiner Gruppe nicht an. Ich habe das nur gefragt, damit es in meinem Bericht klar wird.«

»Einen Führer muß es geben. Das sage ich schon, seit wir die Abtei verlassen haben.«

»Ich dachte, Schwester Canair war die Leiterin dieser Pilgerfahrt?« fragte sie.

»Canair wurde ...« Er hielt inne und zuckte die Achseln. »Canair ist nicht hier.«

»Warum warst du gestern nacht plötzlich so besorgt um die Sicherheit deiner Gruppe? Was hat dich veranlaßt, beim Morgengrauen nach allen zu sehen? Das war doch wohl nicht deine Aufgabe? Hat dich der Sturm aufgeschreckt?«

»Er hat mich nicht aufgeschreckt.«

Bei dieser glatten Verneinung hob Fidelma leicht die Brauen.

»Ich dachte, die Heftigkeit des Sturms hätte uns alle aufgeschreckt«, meinte sie.

»Du weißt doch, daß ich Krieger bin, oder vielmehr war. Ich bin an Situationen gewöhnt, in denen .«

»Also hast du den Sturm verschlafen?« unterbrach ihn Fidelma.

»Nicht völlig, aber .«

»Also wurdest du doch aufgeschreckt wie wir anderen auch?« Schadenfroh stellte Fidelma das klar. »Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Warum meintest du, du müßtest nach allen Mitgliedern deiner Gruppe sehen?«

»Wie ich schon sagte, irgend jemand mußte die Leitung übernehmen. Schwester Muirgel war dazu sichtlich nicht in der Lage.«

»Also wolltest du nur deinen Anspruch auf die Führung beweisen?«

Cian sah sie finster an.

»Ich wollte einfach sichergehen, daß niemand Probleme hatte.«

»Deswegen hast du dich zum Hüter ernannt und nach allen gesehen?«

»Wie sich herausstellte, war das auch gut so.«

»Es war also jeder sicher in seiner Kajüte, mit Ausnahme von Schwester Muirgel?«

»Da du es so genau nimmst«, höhnte er, »nein, es war nicht jeder in seiner Kajüte.«

»Kannst du das erläutern?«

»Als ich aufwachte, lag Bruder Bairne, mit dem ich eine Kajüte teile, nicht in seiner Koje. Später erfuhr ich, daß er auf dem Abort war.«

»Aha. War sonst noch jemand außer Muirgel nicht in seiner Kajüte?«

»Nein.«

»Wann hast du entdeckt, daß Muirgel fehlte?«

»Beinahe sofort. Wie du weißt, hat sie die Kajüte mir gegenüber. Als ich dort eintrat, war sie nicht da.«

»War ihre Tür verschlossen?«

»Warum sollte sie das sein?« fragte er stirnrunzelnd.

»Unwichtig. Sprich weiter. Was tatest du?«

»Ich verließ die Kajüte und traf im Gang Bruder Bairne, der vom Abort zurückkam. Er ging in unsere Kajüte.«

»Wo gingst du hin?«

»Ich schaute in Schwester Crellas Kajüte. Sie schlief.

Dann schaute ich bei Schwester Ainder und Schwester Gorman nach. Schwester Gorman war schon wach und angekleidet.«

»Hast du dich mit Gorman gestritten?«

Seine Miene wurde verschlossen.

»Weshalb sollte ich mich mit ihr streiten?«

»Schwester Ainder sagt, sie sei davon geweckt worden.«

»Quatsch! Ainder war ärgerlich, weil unsere Stimmen sie im Schlaf gestört hatten. Danach schaute ich in die anderen Kajüten, und jeder war an seinem Platz, mit Ausnahme von Schwester Muirgel.«

»Und dann?«

»Dann sah ich nach, ob bei dir alles in Ordnung war. Du schliefst noch. Da Schwester Muirgel als einzige nicht in ihrer Kajüte war, schaute ich noch auf dem Abort und in der großen Kajüte nach, in der wir essen. Dann traf ich Kapitän Murchad und teilte ihm mit, daß ich Schwester Muirgel nicht finden könne. Er sagte, er werde das Schiff absuchen lassen, und gab dem Bretonen Gurvan den Auftrag dazu. Als bei dieser Suche Muirgel auch nicht an Bord gefunden wurde, schloß Murchad, sie müsse vom Sturm über Bord gerissen worden sein. Er ließ Gurvan noch einmal nachsuchen, und damit bestätigten sich bekanntlich unsere schlimmsten Befürchtungen.«

»Du hast während der Nacht nichts gehört oder gesehen, was dieses Geschehnis erklären könnte?«

»Es ist so, wie ich gesagt habe, Fidelma.«

Sie schwieg nachdenklich.

»Wie gut kanntest du Schwester Muirgel?«

Cian sah sie mißtrauisch an.

»Wenn du etwas über Schwester Muirgel erfahren willst, mußt du Schwester Crella fragen. Sie war ihre beste Freundin und ihre Verwandte.«

»Ich möchte gern feststellen, was du über sie weißt. Du hast mir erzählt, daß du in die Abtei Bangor eingetreten bist. Ich hörte, du seiest häufig in Moville gewesen. Sicher hast du dort Muirgel kennengelernt.«

Cians Mund wurde schmal.

»Ich erledigte Botengänge für den Abt von Bangor und half im Obstgarten.«

»Hast du bei diesen Botengängen Schwester Muirgels Bekanntschaft gemacht?«

»Wie ich mich erinnere, hat Schwester Crella sie mir vorgestellt.«

»Hat sie dich auch mit Schwester Canair bekanntgemacht?«

»Das tat Muirgel. Warum?«

»Ich möchte nur wissen, wie du in diese Pilgergruppe gekommen bist.«

»Das habe ich dir schon gesagt.«

»Dann sag’s mir noch mal.«

»Ich kam dazu, weil ich von Mormohec gehört hatte, dem Heiler am Schrein des heiligen Jakobus.«

»Das hast du erwähnt. Deshalb hast du also Schwester Canair überredet, dich auf die Pilgerfahrt mitzunehmen, die sie organisiert hatte?«

»Von organisiert kann man kaum reden. Dieser Truppe fehlt Disziplin.«

»Es sind Pilger, Cian, keine Soldaten. Eins ist mir ein Rätsel. Wenn Schwester Canair die Organisatorin war, weshalb kam sie nicht an Bord, als das Schiff auslief?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Manche Leute kommen immer zu spät. Gibt es nicht ein altes Sprichwort, daß den Letzten die Hunde beißen? Die Letzte auch. Vielleicht dachte sie, daß die Gezeiten und der Wind auf sie warten.«

»Willst du damit sagen, daß Schwester Canair als unpünktlich bekannt war?«

»Das will ich nicht. Die Bemerkung sollte nur eine mögliche Erklärung für ihr Ausbleiben geben.«

»Trotzdem ist es eigenartig, daß die Leiterin der Gruppe nicht einmal das Schiff erreichte, nachdem sie die Schar den ganzen Weg von Ulaidh nach dem Süden von Muman geführt hatte.«

»Das Leben besteht aus eigenartigen Zufällen.«

»Wie zum Beispiel das vorzeitige Ableben von Schwester Muirgel?« ergänzte Fidelma ruhig.

»Das sehe ich nicht als eigenartig an. Schwester Muirgel war eine sehr starrköpfige Frau. Wenn sie sich zu irgend etwas entschlossen hatte, konnte nichts sie davon abbringen. So war es auch, als sie sich entschied, diese Fahrt mitzumachen.«

»Woher weißt du, daß jemand sie veranlassen wollte, ihre Absicht zu ändern?« Seine Anspielung interessierte Fidelma.

»Nachdem ich ihr davon erzählt und gesagt hatte, daß ich mich Schwester Canairs Gruppe anschließen wollte«, erwiderte Cian unbeeindruckt, »ging Schwester Muirgel sofort zu Schwester Canair und überredete sie, zwei andere Schwestern, die sie schon angenommen hatte, zurückzuweisen, damit Muirgel und Crella ihre Plätze einnehmen konnten. Schwester Mu-irgel besaß großen Einfluß auf andere.«

Fidelma überlegte.

»Du scheinst anzudeuten, daß Schwester Muirgel sich erst dazu entschloß, auf diese Pilgerfahrt zu gehen, als sie wußte, daß du auch daran teilnimmst.«

Cian schüttelte den Kopf.

»Das würde ich nicht sagen.«

»Ich habe jetzt den Eindruck, daß Schwester Muirgel größeren Einfluß auf die Zusammensetzung der Pilgergruppe hatte als Schwester Canair.«

»Die Reise wurde über Wochen vorbereitet. Ich vermute, daß Schwester Muirgel tatsächlich versuchte, Schwester Canair die Leitung abzunehmen. Darin wurde sie von Schwester Crella unterstützt, die ihr in allem folgte. Doch Schwester Canair war auch eine starke Persönlichkeit. Sie war den Befehlen unserer verlorenen Freundin mehr als gewachsen.«

»Du scheinst Schwester Muirgels Schwächen gut zu kennen.«

»Man lernt so manches, wenn ...« Cian suchte nach dem richtigen Ausdruck. »Wenn man mit Leuten reist. Man erkennt ihre Schwächen.«

»Du sagtest, du fändest ihren Tod nicht eigenartig wegen ihrer Starrköpfigkeit?«

»Damit meinte ich, daß sie querköpfig genug war, an Deck zu gehen trotz aller Ratschläge von anderen. Hatte sie sich etwas in den Kopf gesetzt, dann tat sie es auch.«

Fidelma horchte auf.

»Hat ihr jemand geraten, bei dem Sturm nicht an Deck zu gehen?« fragte sie rasch.

Cian schüttelte den Kopf.

»Ich habe das nur als Beispiel erwähnt. So war sie eben. Nun habe ich dir alles gesagt, was ich darüber weiß.«

Cian wandte sich ab, doch Fidelma hielt ihn zurück.

»Noch eins .«

Erwartungsvoll drehte er sich um.

»Ich möchte mehr darüber hören, unter welchen Umständen die Gruppe sich von Schwester Canair trennte. Ich verstehe immer noch nicht, wie sie die Abfahrt verpassen konnte und warum sie nicht mit den anderen an Bord kam.«

Cian sah sie einen Moment unsicher an.

»Warum interessierst du dich so für Schwester Ca-nair, wenn du nachforschst, wie Schwester Muirgel über Bord gehen konnte?« fragte er zurück.

»Schreib es meiner natürlichen Neugierde zu, Cian. Du weißt sicher noch, daß ich in jüngeren Jahren nicht neugierig war, bis mir beigebracht wurde, daß ich mich lieber für die Gründe und Motive des Verhaltens der Menschen interessieren sollte.«

Ein aggressiver Ausdruck trat auf Cians Gesicht, verschwand aber sofort wieder.

»Soweit ich mich erinnere, trennten wir uns von Schwester Canair bereits, bevor wir Ardmore erreicht hatten«, sagte er.

»Und warum?«

»Wir wollten die Nacht in der Abtei des heiligen Declan verbringen, aber Schwester Canair verließ die Gruppe etwa eine Meile vor der Abtei.«

»Weshalb verließ sie euch?«

»Sie erklärte uns, sie wolle sich mit einer Freundin oder Verwandten treffen, die in dieser Gegend wohnte. Sie versprach, in der Abtei wieder zu uns zu stoßen, in der wir übernachteten, doch sie kam nicht, und als sie zur angesetzten Abfahrtszeit des Schiffes auch nicht am Kai erschien, übernahm Schwester Muirgel die Leitung. Damit hatte sie endlich erreicht, was sie wollte - die Führung der Gruppe.«

»Diese Führung hat nicht lange gedauert«, meinte Fidelma trocken. »Zwei eurer Führerinnen haben diese Stellung nicht lange genossen. Bist du sicher, daß du sie immer noch anstrebst?« Ein spöttisches Lächeln umspielte ihren Mund.

Cian Gesicht spannte sich.

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

Fidelmas Lächeln wurde breiter.

»Das war nur eine Randbemerkung. Hab Dank für deine Zeit und deine Antworten.«

Wieder wandte sich Cian ab und zögerte dann. Mit einer seltsam hilflosen Geste hob er den gesunden Arm.

»Fidelma, wir sollten nicht Feinde sein. Diese Bitterkeit .«

Sie schaute ihn verächtlich an.

»Ich habe dir schon einmal gesagt, Cian, daß wir nicht Feinde sind. Feindschaft würde bedeuten, daß es noch Gefühle zwischen uns gäbe. Es gibt nichts mehr zwischen uns. Nicht einmal Bitterkeit.«

Schon als sie es aussprach, wußte Fidelma, daß sie log. Ihre gegenwärtige Verachtung für Cian bedeutete, daß es doch noch ein Gefühl gab - und das gefiel ihr gar nicht. Wenn sie wirklich das Leid, das er ihr zugefügt hatte, überwunden hätte, dann würde sie tatsächlich nichts mehr empfinden. Das beunruhigte sie mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte.

Kapitel 11

Als nächstes, beschloß Fidelma, sollte sie mit dem bre-tonischen Steuermann Gurvan reden, der das Schiff gründlich abgesucht hatte. Sie fragte Murchad, wo er zu finden sei, und der Kapitän antwortete, er sei unten und kalfatere. Sie wußte zwar nicht, was das heißt, doch Murchad winkte Wenbrit heran und befahl ihm, Fidelma zu Gurvans Arbeitsplatz zu führen.

Gurvan befand sich im vorderen Teil des Schiffes, wo offensichtlich Vorräte aufbewahrt wurden. Dieser Teil lag noch weiter vorn als der Raum, in dem die Matrosen der »Ringelgans« ihre Hängematten an den Decksbalken befestigten, so daß sie mit den Bewegungen des Schiffes hin und her schwangen. Einige von ihnen schliefen gerade darin, erschöpft von den Anstrengungen der durchwachten Sturmnacht. Wenbrit schlängelte sich zwischen ihnen hindurch und leuchtete ihr bis zu einer Kajüte, die mit Kisten und Fässern angefüllt war.

Gurvan hatte ein paar Kisten beiseite geschoben, um an die Schiffswand zu kommen. Auf den Kisten stand eine Laterne, und er hatte einen Eimer mit etwas, was wie Schlamm aussah, vor sich und schmierte die Masse zwischen die Planken. Wenbrit verließ sie, nachdem sie ihm versichert hatte, daß sie den Rückweg zum Hauptdeck finden werde.

Gurvan fuhr mit seiner Arbeit fort, und Fidelma hockte sich neben ihn. Sie beobachtete, daß hier und da kleine Rinnsale zwischen den Planken hereinkamen, und es wurde ihr klar, daß auf der anderen Seite dieser Planken das Meer war.

»Ist es gefährlich?« flüsterte sie. »Dringt die See ein?«

Gurvan grinste.

»Du meine Güte, nein, Lady. Sickerstellen treten auch bei den besten Schiffen auf, besonders nach einer so rauhen Fahrt, wie wir sie hatten, erst den Sturm und dann die Durchfahrt durch das Neck. Es ist schon ein Wunder, daß nicht ein paar Planken eingedrückt wurden. Aber das hier ist ein gutes und festes Schiff. Die Planken sind karweelgebaut und halten viel aus.«

»Und was machst du hier?« Sie war noch nicht ganz überzeugt und wollte nicht eingestehen, daß sie keine Ahnung hatte, was »karweelgebaut« bedeutete.

»Das nennt man kalfatern, Lady.« Er wies auf den Eimer. »Das sind Haselnußblätter. Ich drücke sie in die Spalten zwischen den Planken, und das macht sie wasserdicht.«

»Es sieht so ... so dünn aus gegenüber solch tobender See.«

»Es ist eine bewährte und zuverlässige Methode«, versicherte ihr Gurvan. »Die großen Schiffe unserer Vorfahren, der Veneter, gingen mit solcher Kalfaterung in die Schlacht gegen Julius Caesar. Aber du bist nicht hier heruntergekommen, um mich nach dem Kalfatern zu fragen, nicht wahr?«

Zögernd nickte Fidelma.

»Nein. Ich wollte dich fragen, wie du nach Schwester Muirgel gesucht hast.«

»Nach der Nonne, die über Bord ging?« Gurvan hielt inne und schien seine Arbeit zu prüfen. Dann sagte er: »Der Kapitän gab mir den Auftrag, nach ihr zu suchen. Auf einem Schiff von vierundzwanzig Meter Länge gibt es nicht viele Stellen, an denen sich ein Mensch verbergen kann, ob zufällig oder absichtlich. Es war bald klar, daß sich die Frau nicht an Bord befand.«

»Du hast überall gesucht?«

Gurvan lächelte geduldig.

»Überall, wo sich jemand verstecken könnte, wenn er wollte. An einer Stelle allerdings nicht, weil ich annahm, daß eine Frau da nicht reinginge, nämlich in der Bilge, das ist der Kielraum des Schiffes, in dem sich gewöhnlich Ratten, Mäuse und Abfall ansammeln.«

Fidelma erschauerte unwillkürlich. Gurvan lächelte etwas sadistisch bei ihrer Reaktion.

»Nein, Lady, außer in den Kajüten der Passagiere, die ja schon abgesucht waren, habe ich überall nachgeschaut. Es blieb nur die Folgerung, daß die arme Frau über Bord fiel.«

»Vielen Dank, Gurvan.« Fidelma erhob sich und ging durch das Schiff zurück.

Eigentlich hatte sie Schwester Gorman nicht als nächste befragen wollen, doch als sie an ihrer Kajütentür vorbeikam, klopfte sie an und blickte hinein. Schwester Gorman saß auf ihrer Koje und sah blaß und unglücklich aus.

»Störe ich?« fragte Fidelma, als sie auf Gormans Einladung eintrat.

»Schwester Fidelma.« Das junge Mädchen blickte nervös auf. »Ich lasse mich gern stören. Diese Reise verläuft nicht so, wie ich es erwartet hatte.«

»Was hattest du denn erwartet?« fragte Fidelma und setzte sich.

»Ach.« Das Mädchen hielt inne, als müsse es darüber nachdenken. »Ich glaube, alles läuft immer anders, als man denkt, aber eine Pilgerfahrt, eine Reise zu einem Schrein, in dem ein Heiliger liegt, der noch den lebendigen Christus gekannt hat . Sollte das nicht eine ganz bedeutsame, erregende Fahrt sein?«

»Ist diese Fahrt nicht erregend genug? Nach all den Zwischenfällen hätte ich das angenommen.« Fidelma behielt einen leichten Ton bei.

Schwester Gorman kniff die Lippen zusammen. Als sie nicht antwortete, änderte Fidelma ihren Ton und wurde ernst. Sie rückte näher zu dem Mädchen heran.

»Der Verlust von Schwester Muirgel ist sicherlich ein schwerer Schlag für eure Gruppe.«

Das Mädchen rümpfte verächtlich die Nase.

»Ach die!« sagte sie voller Abscheu.

Fidelma griff das sofort auf.

»Mir scheint, du warst keine Freundin von Schwester Muirgel?«

»Es tut mir leid, daß sie tot ist«, erwiderte Schwester Gorman abweisend.

»Aber du mochtest sie nicht?«

»Ich fühle mich nicht schuldig, weil ich sie nicht mochte.«

»Meint jemand, du solltest dich schuldig fühlen?«

»Wenn jemand stirbt, fühlt man sich immer schuldig, falls man böse Gedanken gegen ihn gehegt hat.«

»Und du hast böse Gedanken gehegt?«

»Hat das nicht jeder gemacht?«

»Das weiß ich nicht, weil ich eine Fremde bin. Ich dachte, ihr wärt alle Pilger, die zusammen reisen.«

»Das stimmt. Es bedeutet aber nicht, daß wir uns alle mögen. Ich hab mit keinem in der Gruppe etwas gemein außer . « Sie hielt kurz inne und fuhr rasch fort: »Jedenfalls hat mich Schwester Muirgel schikaniert, und ich - ich habe sie gehaßt!«

Die Worte wurden noch dadurch betont, daß Schwester Gorman sie beinahe hinausspuckte. Fidelma sah sie ernst an.

»Und nun glaubst du, wegen dieses Hasses müßtest du dich schuldig fühlen?«

»Das tue ich aber nicht.«

»Weshalb hast du sie eigentlich gehaßt, Schwester Gorman?«

Das Mädchen saß da und überlegte.

»Sie hackte immer auf mir herum, weil ich jung war und aus einer armen Familie kam. Mein Vater war kein Fürst, sondern Gastwirt. Ich lernte etwas lesen und ging dann in die Abtei Moville, um weiter zu studieren. Muirgel und Crella zwangen mich dazu, ihr Dienstmädchen zu sein.«

»Sie zwangen dich?« Fidelma war nicht so naiv, daß sie nicht wußte, daß man hinter den Mauern von Abteien und Klöstern nicht nur freundlich miteinander umging, so wie in jeder anderen Anstalt. »Beide Schwestern, Muirgel und Crella, schikanierten dich?«

»Schwester Muirgel fing an, und Schwester Crella machte es ihr nach. Muirgel war immer die Anführerin dabei.«

»Demnach empfindest du keine Trauer über ihren Tod?«

»Heißt es nicht im Brief des Apostels Paulus an die Römer: >Segnet, die euch verfolgen; segnet, und fluchet nicht.< Wenn das so ist, dann ist meine Seele verloren. Aber das ist mir gleich.«

Fidelma lächelte dünn.

»Nun, unter diesen Umständen bin ich sicher, daß dir solche Gefühle vergeben werden. Es ist das Schwierigste von allem, seine Feinde zu lieben.«

»Aber ist nicht die Fähigkeit, seinen Feinden zu vergeben, eines der wichtigsten Zeichen der Gnade, die uns als von Gott gesegnet erkennen lassen?« fragte das Mädchen hartnäckig.

»Das Thema der Vergebung steht im Mittelpunkt der Evangelien«, erklärte Fidelma. »Die Evangelien lehren uns, daß Christi Bereitschaft, uns zu vergeben, von unserer Bereitschaft abhängt, unseren Feinden zu vergeben. Der alte Mensch muß neu geboren werden als ein liebender Mensch, wenn er in das ewige Reich Gottes aufgenommen werden soll.«

Schwester Gorman sah schmerzlich berührt aus.

»Dann lastet mein Schicksal schwer auf mir.«

»Doch jetzt, nachdem Muirgel tot ist . « begann Fidelma.

»Ich kann Schwester Muirgel das Leid, das sie mir zugefügt hat, immer noch nicht vergeben.«

Fidelma lehnte sich nachdenklich zurück.

»Wenn du sie gehaßt hast, wie du sagst, warum bist du dann mit auf diese Pilgerfahrt gegangen?«

»Es war ja Schwester Canair, die die Pilgerreise führen sollte. Aber Canair war auch ein schlechter Mensch.«

»In welcher Hinsicht?« Fidelma war überrascht. »Heißt das, daß sie dich ebenfalls schikaniert hat?«

»O nein.« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Schwester Canair hat mich einfach nicht beachtet. Sie nahm mich überhaupt nicht wahr. Wie ich sie alle gehaßt habe! Wie ich gewünscht habe . « Plötzlich erblaßte sie und sah Fidelma angstvoll an. »Ich wollte nicht, daß Schwester Muirgel auf diese Weise sterben sollte. Ich wollte nur, daß sie bestraft würde.«

»Bestraft? Was willst du damit sagen?«

Schwester Gorman blickte ängstlich drein.

»Ich schwöre, so habe ich es nicht gemeint.«

»Was gemeint?« fragte Fidelma. »Was hast du nicht gemeint, Schwester? Willst du damit sagen, daß du etwas mit Muirgels Verschwinden zu tun hast?«

Mit großen Augen starrte das Mädchen Fidelma an, als sei sie entsetzt bei diesem Gedanken.

»Ich habe ihr Böses gewünscht. Ich stand um Mitternacht vor ihrer Kajüte und habe sie verflucht.«

Fidelma wußte nicht, ob sie von dieser dramatischen Offenbarung belustigt oder entsetzt sein sollte.

»Du sagst, du hast um Mitternacht mitten im Sturm vor ihrer Kajüte gestanden und sie verflucht? Meinst du das wirklich?«

Schwester Gorman nickte langsam.

»Ich war dort während des Sturms.«

»Bist du in die Kajüte gegangen?«

»Nein. Ich stand da und fluchte ihr mit den Worten des Psalms.« Sie begann mit klagender Stimme zu rezitieren:

»Ihre Augen müssen finster werden, daß sie nichts sieht,
Und ihre Lenden laß immer wanken.
Gieße deine Ungnade auf sie,
Und dein grimmiger Zorn ergreife sie.
Laß sie in eine Sünde über die andere fallen,
Daß sie nicht komme zu deiner Gerechtigkeit.
Tilge sie aus dem Buch der Lebendigen,
Daß sie mit den Gerechten nicht angeschrieben werde.«

Fidelma staunte über die Heftigkeit in der Stimme des Mädchens und bemühte sich dann, die Sache leicht zu nehmen.

»Das ist aber keine genaue Übersetzung des Psalms neunundsechzig«, meinte sie.

»Aber sie hat gewirkt! Mein Fluch hat gewirkt!« Das Mädchen klang beinahe hysterisch. »Bald darauf muß sie an Deck gegangen und von Gottes rächender Hand über Bord gefegt worden sein.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Fidelma trocken. »Wenn eine Hand im Spiel war, dann war es eine menschliche Hand.«

Schwester Gorman sah sie einen Moment an, und dann schlug ihre Stimmung plötzlich um. Ihr Blick wurde mißtrauisch.

»Was meinst du damit? Ich dachte, alle sagten, sie sei über Bord gespült worden.«

Fidelma merkte, daß sie mehr verraten hatte, als sie wollte.

»Ich meinte nur, daß dein Fluch und deine Anrufung Gottes nicht dafür verantwortlich waren.«

Schwester Gorman bedachte das einen Moment.

»Aber ein Fluch ist eine schreckliche Sache, und ich muß für meine Sünde Buße tun. Doch ich kann das nicht, indem ich Schwester Muirgel vergebe oder mich selbst schuldig fühle.«

»Erklär mir nur eins, Schwester Gorman«, sagte Fidelma, die sich allmählich ärgerte über die ichbezogene Haltung der jungen Nonne und ihr Festhalten an der Überzeugung, sie sei verantwortlich für Schwester Muirgels Tod. »Du hast also deine Kajüte gegen Mitternacht verlassen?«

Das Mädchen nickte.

»Du teilst die Kajüte mit Schwester Ainder, nicht wahr?«

»Ja.«

»Hat sie gesehen, wie du aus der Kajüte gingst?«

»Sie schlief noch tief. Sie hat einen festen Schlaf. Sie hat mich nicht hinausgehen sehen.«

»Der Sturm tobte bereits?«

»Ja.«

»Deine Kajüte liegt an der Treppe oder wie immer das heißt. Du sagst also, du bist den Gang entlang bis zu ihrer Kajüte gegangen und hast niemanden gesehen oder getroffen?«

Schwester Gorman schüttelte den Kopf.

»Um die Zeit war niemand unterwegs«, bestätigte sie. »Der Sturm war sehr schlimm.«

»Und nach deinen Worten hast du vor ihrer Tür gestanden, bist nicht hineingegangen, sondern hast sie verflucht. Hat das niemand gehört?«

»Der Sturm war noch im Anschwellen. Ich glaube, selbst jemand, der neben mir stand, hätte mich nicht gehört.«

Fidelma sah sie an und hatte Mühe, ihr zu glauben. Es schien so absonderlich, aber oft war das Unglaubliche die Wahrheit und das Einleuchtende die Lüge.

»Wie lange hast du an der Kajütentür gestanden bei deinem sogenannten Verfluchen?« wollte sie wissen.

»Ich bin nicht sicher. Nicht lange, vielleicht eine Viertelstunde. Ich weiß es nicht.«

»Was tatest du, als du fertig warst damit?«

»Ich ging in meine Kajüte zurück. Schwester Ain-der schlief noch, und der Sturm tobte. Ich lag auf meiner Koje, schlief aber erst ein, als der Sturm nachließ.«

»Von draußen hörtest du nichts?«

»Ich glaube, ich hörte, wie die Tür der Kajüte gegenüber zugeschlagen wurde. Ich war gerade beim Einschlafen und wurde kurz noch einmal wach.«

»Wie kannst du das beim Tosen des Sturms gehört haben? Du sagtest gerade, niemand hätte dich hören können. Wie konntest du dann das Schließen einer Kajütentür hören?«

Schwester Gorman schob streitlustig das Kinn vor.

»Ich hörte es, weil es nach dem Abflauen des Sturms war.«

»Na gut«, meinte Fidelma. »Ich wollte nur sichergehen, daß ich dich richtig verstanden habe. Und diese Kajütentür, die du zuschlagen hörtest, war die gegenüber?«

»Die der Kajüte von Cian und Bairne.«

»Aha. Dann schliefst du wieder ein und wurdest nicht mehr gestört?«

Schwester Gorman sah beunruhigt aus. »Mein Fluch hat sie getötet, verstehst du? Ich glaube, ich werde dafür bestraft.«

Fidelma stand auf und sah das Mädchen mitleidig an. Schwester Gorman war unverkennbar labil. Sie brauchte dringend Hilfe von ihrer Seelenfreundin, der Gefährtin, die dafür da war, sich ihre Probleme anzuhören und sie mit ihr zu besprechen. Jeder in den Kirchen der fünf Königreiche wählte sich einen anam-chara, einen Seelenfreund.

»Du kennst wohl das alte Sprichwort nicht«, versuchte sie das Mädchen zu beruhigen: »Tausend Flüche zerreißen noch kein Hemd.«

Gorman blickte zu ihr auf.

»Ich habe Schwester Muirgel verflucht und ihr den Tod gebracht. Nun muß ich mich selbst verfluchen.«

Sie wiegte sich vor und zurück, die Arme um den Leib geschlungen, und sang leise vor sich hin:

»Der Tag müsse verloren sein, darin ich geboren bin,
Und die Nacht, welche sprach: Es ist ein Kind empfangen!
Derselbe Tag müsse finster sein, und Gott von oben herab
Müsse nicht nach ihm fragen; Kein Glanz müsse über ihn scheinen!
Finsternis und Dunkel müssen ihn überwältigen,
Und dicke Wolken müssen über ihm bleiben,
Und der Dampf am Tage mache ihn gräßlich!
Die Nacht müsse Dunkel einnehmen;
Sie müsse sich nicht unter den Tagen des Jahres
freuen Noch in die Zahl der Monden kommen!
Siehe die Nacht müsse einsam sein
Und kein Jauchzen darin sein!
Es müssen sie verfluchen ...«

Fidelma verließ das wirre junge Mädchen, das weiter vor sich hin sang, und ging fort mit einem Gefühl leichten Ekels. Welche der anderen merkwürdigen Nonnen sollte sie bitten, sich um Schwester Gorman zu kümmern? Das Mädchen brauchte Hilfe, aber Fidelma konnte diese Verantwortung jetzt nicht übernehmen. Es schien auch niemand sonst dazu geeignet. Schwester Ainder besaß nicht genug Mitgefühl, und Crella war selbst zu jung. Fidelma würde später nach ihr sehen müssen. Erst mußte sie noch Dathal, Adamrae, Bairne und Tola befragen.

Plötzlich fiel Fidelma auf, daß es ein Mitglied der Pilgerschar gab, das sie überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Es war Bruder Guss. Seit er an Bord gekommen war, hatte er seine Kajüte nicht verlassen, nicht einmal, als Murchad bei der gefährlichen Durchfahrt durch die Felsen alle an Deck beordert hatte. Er teilte eine Kajüte mit Bruder Tola. Sie hatte gesehen, daß Bruder Tola am Wasserfaß neben dem Großmast saß und las und hielt es für eine günstige Gelegenheit, sich den ihr bisher unbekannten Mönch vorzunehmen.

Sie klopfte an seine Kajütentür und wartete.

Man hörte, wie sich drinnen jemand bewegte, und dann eine Weile nichts. Sie klopfte erneut. Es kam eine leise Antwort, sie trat ein und blieb stehen, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit in der Kajüte gewöhnt hatten. Die schattenhafte Gestalt eines Mannes saß auf einer Koje.

»Bruder Guss, nehme ich an?«

Sie sah, wie der Mönch das Gesicht in ihre Richtung wandte.

»Ich bin Guss«, erwiderte er mit zitternder Stimme.

»Können wir hier etwas Licht bekommen?« fragte Fidelma und wartete die Antwort nicht ab, sondern nahm eine Laterne vom Gang und stellte sie in die Kajüte.

Beim Licht sah man, daß der Mönch noch jung war. Mehrere Dinge fielen ihr an ihm auf, das zerzauste rötliche Haar, die Sommersprossen auf seiner hellen Haut, seine angstvollen großen blauen Augen und seine hohe, sehnige Gestalt. Als sie ihm in die Augen schaute, senkte er wie ein schuldbewußtes Kind den Blick.

»Wir haben dich weder an Deck noch bei den Mahlzeiten gesehen«, begann sie und setzte sich neben ihm auf die Koje. »Bist du noch seekrank?«

Bruder Guss schaute sie mißtrauisch an. »Ich war krank - seekrank. Wer bist du?«

»Ich heiße Fidelma. Fidelma von Cashel.«

»Bruder Tola hat von dir gesprochen. Ich war krank«, wiederholte er.

»Das habe ich gehört. Aber jetzt geht es dir besser?«

Er antwortete nicht.

»Die See ist jetzt viel ruhiger, und es ist nicht gut, sich so lange in der Kajüte einzuschließen. Du mußt an Deck gehen und frische Luft schöpfen. Ich habe dich nicht einmal an Deck gesehen, als alle nach oben beordert wurden.«

»Ich dachte nicht, daß die Anordnung auch für mich galt.«

»Wußtest du nichts von den Gefahren?«

Der junge Mann antwortete nicht und sah sie weiter argwöhnisch an.

»Guss ist ein ungewöhnlicher Name«, begann Fidelma von neuem. »Es ist ein sehr alter Name, nicht wahr?« Am besten lockte man ihn aus seiner Defensive heraus, indem man ihn zum Reden brachte.

Der junge Mann neigte leicht den Kopf.

»Er bedeutet, wenn ich mich richtig erinnere, Kraft oder Wildheit. Vermutlich nennen dich die Leute Gu-san?« fügte sie hinzu und benutzte die Verkleinerungsform. Die Anspielung auf seine Jugend sollte ihn reizen.

Tatsächlich reagierte er mit einem finsteren Blick.

»Ich heiße Guss«, erwiderte er verärgert.

»Und du kommst aus der Abtei Moville?«

»Ich studiere in der Abtei«, bestätigte er. Er war wohl kaum mehr als zwanzig Jahre alt.

»Was studierst du?«

»Ich studiere die Sternkunde unter dem Ehrwürdigen Cummian und helfe bei der Aufzeichnung der Himmelserscheinungen.« Trotz seiner kläglichen Haltung klang Stolz aus seiner Stimme.

»Cummian? Der lebt also noch?« fragte Fidelma verwundert.

Der junge Mann runzelte die Stirn.

»Kennst du den Ehrwürdigen Cummian?«

»Ich kenne sein hohes Ansehen. Er studierte bei Mo Sinu maccu Min, dem großen Abt von Bangor, und er hat viele Bücher über astronomische Berechnungen geschrieben. Er muß aber schon sehr alt sein. Du bist Student bei ihm?«

»Einer seiner Studenten«, ergänzte Guss stolz.

»Doch ich habe schon den fünften Grad der Weisheit erreicht.«

»Ausgezeichnet. Es ist gut zu wissen, daß wir jemanden an Bord haben, der die Gestirne kennt und uns den Weg zurück über dieses stürmische Meer berechnen kann.«

So ermutigte ihn Fidelma, lockte ihn aus der Reserve und bemühte sich, seine anfangs feindselige Reaktion auf ihr Eindringen abzubauen. Sie bemerkte, daß er immer wieder mit der rechten Hand den linken Arm massierte. Auf dem Ärmel war ein dunkler Fleck.

»Du hast dich anscheinend am Arm verletzt«, meinte sie voller Mitgefühl. »Ist es eine Schnittwunde? Soll ich sie mir mal ansehen?«

Er errötete und machte ein finsteres Gesicht. »Nur ein Kratzer, weiter nichts.« Dann verfiel er in Schweigen.

Fidelma fragte weiter. »Weshalb bist du auf diese Pilgerfahrt gegangen, Bruder Guss?«

»Wegen Cummian.«

»Das verstehe ich nicht. Hat Cummian dir gesagt, du sollst auf diese Fahrt gehen?«

»Cummian hat einmal eine Pilgerfahrt zum Schrein des heiligen Jakobus unternommen und mir geraten, ich sollte für meine Ausbildung diese Fahrt auch machen.«

»Um fremde Länder zu sehen?« vermutete Fidelma.

Der junge Mann schüttelte überlegen den Kopf.

»Nein, um die Sterne zu sehen.«

Fidelma mußte einen Moment nachdenken, ehe sie begriff, was er meinte.

»Zum Schrein des heiligen Jakobus vom Sternen-feld?«

»Cummian sagt, wenn man an dem Schrein steht, kann man in den klaren Nachthimmel hinaufschauen und den Weg der Weißen Kuh erkennen, der sich direkt bis zu den Königreichen von Eireann erstreckt. Man sagt, daß unsere Ahnen vor mehr als tausend Jahren dem Weg der Weißen Kuh folgten und so an die Küsten des Landes gelangten, das sie besiedelten.« Kurz klang Begeisterung in seinen Worten auf.

Fidelma wußte, daß der Weg der Weißen Kuh unter vielen Namen beschrieben wurde. Im Lateinischen hieß er Circulus Lacteus, die Milchstraße.

»Deswegen heißt der Ort ja Sternenfeld, weil die Sterne so klar sichtbar sind«, fügte er hinzu.

»Also schlug Cummian vor, du solltest auf diese Pilgerfahrt gehen?«

»Als Schwester Canair ankündigte, sie wolle die Reise organisieren, sorgte Cummian dafür, daß ich sie begleiten konnte.«

»Du kanntest aber Schwester Canair schon?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, ich lernte sie erst kennen, als Cummian mich ihr vorstellte. Wir Studenten der Sternkunde kommen nicht viel mit den anderen Abteilungen der Gemeinschaft zusammen.«

»Also kanntest du niemanden aus dieser Pilgergruppe?«

Bruder Guss runzelte die Stirn.

»Die Brüder Cian, Dathal, Adamrae und selbst Bruder Tola kannte ich nicht. Sie kommen alle aus Bangor. Einige der anderen kannte ich vom Sehen.«

»Schwester Crella zum Beispiel?«

Ein Ausdruck des Abscheus huschte über sein Gesicht.

»Crella kenne ich.«

Rasch beugte sich Fidelma vor.

»Du magst sie aber nicht?«

Guss wurde merklich vorsichtig.

»Es steht mir nicht zu, jemand zu mögen oder nicht zu mögen.«

»Doch du magst sie nicht«, wiederholte Fidelma. »Gab es dafür einen besonderen Grund?«

Guss zuckte die Achseln, sagte aber nichts.

Fidelma versuchte ihn anders zu nehmen.

»Kanntest du Schwester Muirgel gut?«

Bruder Guss stutzte und verschloß sich wieder.

»Ich habe sie ein paarmal in der Abtei getroffen, bevor die Pilgerfahrt angekündigt wurde.« In seiner Stimme schwang Spannung mit. Fidelma versuchte sie zu deuten.

»Du mochtest Muirgel?«

»Das leugne ich nicht«, erwiderte er.

»Mehr als das?« riet sie.

Mit steinerner Miene blickte er Fidelma in die Augen. Er zögerte mit der Antwort.

»Ich sagte - ich mochte sie!« Das klang wie ein Protest.

Fidelma überlegte einen Moment, was wohl in ihm vorgehen mochte.

»Nun, daran ist nichts verkehrt«, meinte sie. »Was hielt sie von dir?«

»Sie erwiderte meine Gefühle«, sagte er ruhig.

»Es tut mir leid.« Fidelma legte ihm unwillkürlich die Hand auf den Arm. »Ich war zu aufdringlich. Der Kapitän hat mich ersucht, die Umstände ihres Todes zu untersuchen, deshalb muß ich solche Fragen stellen. Das verstehst du doch, nicht wahr?«

»Die Umstände ihres Todes?« Der junge Mann konnte tatsächlich lachen, aber es war ein hartes, mißtönendes Bellen. »Die Umstände ihres Todes kann ich dir erklären. Sie wurde ermordet!«

Fidelma starrte in sein zorniges Gesicht, dann sagte sie ruhig: »Du glaubst also nicht daran, daß sie einfach über Bord gespült wurde? Und was, glaubst du, ist wirklich mit ihr passiert, Bruder Guss?«

»Ich weiß es nicht!« Kam seine Antwort etwas zu rasch?

»Und warum sollte sie möglicherweise jemand ermordet haben?«

»Aus Eifersucht vielleicht.«

»Wer war eifersüchtig? Wer könnte sie ermordet haben?« forschte Fidelma. Plötzlich fiel ihr ein, daß Schwester Crella bei dem Gedenkgottesdienst Bruder Bairne vorgeworfen hatte: »Du warst bloß eifersüchtig.« So hatten ihre Worte gelautet. Fidelma beugte sich vor. »War Bruder Bairne eifersüchtig?«

Bruder Guss war verblüfft.

»Bairne? Ja, der war schon eifersüchtig. Aber getötet hat sie Crella.«

Diese Antwort hatte Fidelma nicht erwartet, und sie verschlug ihr für einen Moment die Sprache.

»Hast du Beweise dafür?« fragte sie leise.

Er zögerte und schüttelte dann den Kopf.

»Ich weiß nur, daß Crella daran schuld ist.«

»Dann erzählst du mir am besten die ganze Geschichte. Wann hast du Schwester Muirgel kennengelernt? Wie war dein Verhältnis zu ihr wirklich?«

»Ich verliebte mich in sie, als sie in die Abtei kam. Erst nahm sie kaum Notiz von mir. Sie zog reifere Männer vor. Männer wie Bruder Cian, weißt du. Er war ein reifer Mann. Er war Krieger gewesen. Ihn mochte sie sehr.«

»Und mochte er sie?«

»Erst war sie viel mit ihm zusammen.«

»Hatten sie ein Verhältnis?«

Bruder Guss errötete, und seine Unterlippe zitterte leicht. Dann nickte er.

»Warum war Crella eifersüchtig?«

»Sie war eifersüchtig auf jeden, der ihr Schwester Muirgel wegnahm. Aber in diesem Fall ...« Er schien zu überlegen.

»In diesem Fall ... was?« hakte Fidelma nach.

»War es Schwester Muirgel, die Cian Crella weggenommen hatte.«

Fidelma hatte Mühe, ihre Miene zu beherrschen. Bruder Guss hatte einige Überraschungen für sie parat.

»Willst du damit sagen, daß Cian ein Verhältnis mit Crella hatte und dann von ihr zu Muirgel überwechselte?«

»Schwester Muirgel gab zu, daß es ein Fehler war. Es dauerte überhaupt nur ein paar Tage.«

»Hattest du ein Verhältnis mit Schwester Muirgel?« Nun wurde Fidelma direkt.

Der junge Mann nickte.

»Wann fing es an?«

»Kurz vor Beginn dieser Pilgerfahrt. Als ich Muirgel erzählte, ich ginge auf Pilgerschaft, weil mein Lehrer es mir geraten hatte, zwang sie Canair, sie auch aufzunehmen. Natürlich mußte Crella ebenfalls mitkommen.«

»Sie muß dich sehr gern gehabt haben, wenn sie deinetwegen die Reise mitmachen wollte.«

»Ehrlich gesagt, ich hätte nie gedacht, daß ich solche Chancen bei ihr hätte, wenn du weißt, was ich meine. Doch sie suchte mich auf und erklärte mir ganz offen, daß sie sich zu mir hingezogen fühlte. Ich hatte bis dahin noch nichts zu ihr gesagt, weil ich dachte, sie würde mich überhaupt nicht anschauen. Als sie mir das gestand . Nun, wir kamen zusammen, und wir liebten uns.«

»Wußte Crella von diesem Verhältnis? Sie glaubt, Muirgel hätte immer noch ein Verhältnis mit Cian gehabt.«

Sein Blick wurde trübe.

»Ich glaube, sie wußte davon. Ich meine, sie wußte es und neidete Muirgel ihr Glück. Muirgel sagte mir, daß sie sich bedroht fühlte.«

»Was - Muirgel hat dir erzählt, daß Crella sie bedrohte? Hast du von einem Streit zwischen ihnen gehört?«

»Ja, sie haben sich gestritten. Ein paar Tage, bevor wir Ardmore erreichten. Wir kehrten in einem Gasthaus zum Essen ein, und Muirgel ging zu einem nahen Bach, um sich zu waschen. Ich hatte Ale geholt und wollte es Muirgel bringen. Als ich dorthin kam, wo sich Muirgel wusch, hörte ich, wie sich Crella mit erhobener Stimme mit ihr stritt.«

»Kannst du dich daran erinnern, um was es ging? An ihre genauen Worte?«

»Ich weiß nicht, ob ich die Worte noch genau im Gedächtnis habe, doch Crella warf Muirgel vor ...« Er zögerte und wurde rot ». mit meinen Gefühlen zu spielen. Das waren ihre Worte. Mit meiner Liebe zu spielen, wie sie mit der Liebe anderer gespielt hatte. Crella glaubte, daß Muirgel immer noch Cian liebte.«

»Mit deinen Gefühlen zu spielen?« wiederholte Fidelma. »Du bist also sicher, daß Muirgel ihr Verhältnis mit Cian beendet hatte? Daß sie dich nicht benutzte, um sich an Cian dafür zu rächen, daß er das Verhältnis beendet hatte?«

Guss wurde zornig.

»Da bin ich mir ganz sicher. Wir zeigten uns unsere Liebe so, wie es alle normalen, gesunden Menschen tun.«

Es war klar, was er damit sagen wollte.

»Ihr fandet Zeit und Gelegenheit dafür auf einer Reise mit anderen Mönchen und Nonnen?« Fidelma bemühte sich, ihre Zweifel nicht anklingen zu lassen.

»Ich lüge nicht«, erwiderte Guss empört.

»Natürlich nicht«, antwortete Fidelma.

»Wirklich nicht!« Ihr Ton schien ihn zu reizen. »Hör nicht darauf, was Crella in ihrer Eifersucht behauptet.«

»Also gut. Kommen wir zu dem Morgen, an dem das Schiff auslief. Bist du mit Muirgel zusammen an Bord gegangen?«

»Wir gingen alle zur selben Zeit an Bord, mit Ausnahme von Schwester Canair.«

»Wie seid ihr alle zusammen an Bord gekommen?«

»Wir verließen die Abtei nach dem Frühstück und gingen hinunter zum Kai. Von Schwester Canair war nichts zu sehen, also übernahm Muirgel die Führung. Murchad erklärte uns, wir müßten an Bord kommen, sonst verpaßten wir die Ebbe, und dann wäre das Geld für die Überfahrt verfallen. Daraufhin gingen wir alle an Bord.«

»Hat jemand Einwände dagegen erhoben, daß ihr ohne Schwester Canair abgefahren seid?«

»Alle waren der Meinung, wenn Schwester Canair wirklich die Absicht gehabt hätte, mit uns zu fahren, dann hätte sie die Verabredung am Kai eingehalten. Crella wies darauf hin, daß sie nicht einmal eine Nachricht geschickt hatte.«

»Warum übernahm Schwester Muirgel die Führung?«

»Sie war die Rangälteste von denen aus der Abtei.«

»Bruder Tola oder Schwester Ainder sind doch sicher älter.«

»Tola kommt aus der Abtei Bangor. Schwester Ain-der war nur nach Jahren älter.«

»Aber jetzt hat anscheinend Bruder Cian die Führung übernommen. Er ist ja auch aus Bangor.«

»Er hat kein Recht dazu. Schwester Muirgel hat es ihm nicht erlaubt. Sie war sich ihres Ranges sehr bewußt. Es hätte schon einer sehr starken Persönlichkeit bedurft, ihr die Führung zu entreißen.«

»Also sie übernahm die Führung der Gruppe, und ihr kamt an Bord. Was geschah weiter?«

»Wir gingen gleich in unsere Kajüten.«

»Wer hat die Unterbringung eingeteilt?«

»Das tat Muirgel.«

»Wann?«

»Sobald wir an Bord waren.«

»Warum zogen Muirgel und Crella nicht zusammen, wenn sie doch so eng befreundet waren?«

»Muirgel wollte das nicht, aus dem Grunde, den ich dir genannt habe. Muirgel und Crella stritten sich meinetwegen.«

»Crella hat mir erklärt, sie hätte versprochen, ihre Kajüte mit Canair zu teilen.«

»Davon höre ich zum erstenmal.« Bruder Guss glaubte das nicht. »Außerdem war Schwester Canair nicht da.«

»Also war Schwester Muirgel nicht sofort so krank, daß sie ihre Pflicht als Führerin der Gruppe nicht erfüllen konnte?«

»Sie war sich ihrer Verantwortung bewußt«, erwiderte Guss. »Aber sie wußte nicht, daß du an Bord kommen würdest. Sie richtete es so ein, daß sie eine Kajüte für sich hatte. Wir wollten später . « Er erschauerte und schlug die Hände vors Gesicht.

»Es muß sie sehr gestört haben, als ich unangemeldet in ihre Kajüte kam«, meinte Fidelma.

»Das hat es«, bestätigte Guss.

»Woher weißt du das?« fragte Fidelma rasch.

Guss blieb gelassen.

»Ich ging zu ihr«, sagte er.

»Aber sie war doch so krank geworden, daß sie mir sagte, sie wolle niemanden sehen.«

»Mich wollte sie sehen.«

»Na gut. Wann hast du sie zuletzt gesehen?«

»Das muß bald nach Mitternacht gewesen sein. Der Sturm tobte mit voller Stärke.«

»Erzähl mir, was geschah.«

»Ich brachte ihr etwas zu essen und zu trinken, und wir redeten ein bißchen. Das war alles. Ach, und einmal hörten wir jemanden draußen vor der Kajüte. Wir hörten die Stimme trotz des schrecklichen Sturms, aber ich glaube nicht, daß sie mit jemandem sprach. Es klang eher so, als rezitiere sie laut etwas gegen den Wind und das Brüllen der See.«

»Wer war das?«

»Das weiß ich nicht. Es war eine Frauenstimme. Wer die Person auch war, sie klopfte nicht an und kam nicht herein, sondern stand nur draußen und redete. Als sie aufhörte, ging ich zur Tür und sah hinaus, aber sie war verschwunden. Ich glaubte noch zu hören, wie sich eine Kajütentür schloß.«

»Was tatest du dann?«

»Muirgel meinte, sie wolle die Nacht über ruhen und ich solle in meine Kajüte zurückkehren, wir würden noch bessere Gelegenheiten finden. Das tat ich auch. Am Morgen kam dann Cian mit der Nachricht, sie sei über Bord gespült worden. Das glaubte ich nicht.«

»War es wegen dieses Schocks, daß du seitdem in deiner Kajüte geblieben bist?«

Bruder Guss zuckte die Achseln.

»Ich konnte den Anblick der anderen nicht ertragen, besonders den Crellas nicht.«

Fidelma stand auf und ging zur Tür.

»Vielen Dank, Bruder Guss. Du hast mir sehr geholfen.«

Der junge Mann blickte zu ihr auf.

»Schwester Muirgel wurde nicht über Bord gespült«, sagte er finster.

Fidelma antwortete nicht. Im stillen gab sie ihm recht. Aber eins beunruhigte sie. Bruder Guss zeigte keineswegs die Anzeichen von Trauer, die man von einem Mann erwartete, der gerade die Frau verloren hatte, die er zu lieben behauptete.

Kapitel 12

Es war am späten Nachmittag. Der Himmel hatte sich aufgehellt, und die Sonne wärmte zwar nicht, überschüttete aber die See mit funkelnden, tanzenden Lichtpunkten. Fidelma stand am Bug, an die Reling gelehnt, und dachte über das nach, was sie bisher über das seltsame Verschwinden Schwester Muirgels gehört hatte. Es ergab ein eigenartiges Bild. Manche der Pilger hatten anscheinend ausgeprägte Meinungen über Schwester Muirgel. Bruder Guss behauptete, er habe sie geliebt, war aber merkwürdigerweise von ihrem Tod nicht sehr erschüttert. Zweifellos sagte Guss nicht die Wahrheit - doch worüber nicht? Über sein Verhältnis zu Muirgel? Oder über etwas anderes?

Ein Ruf aus dem Mastkorb unterbrach ihr Nachsinnen. Am Heck, wo Murchad wie üblich seinen Platz am Steuerruder eingenommen hatte, entstand ungewohnte Unruhe. Fidelma wanderte über das Hauptdeck nach hinten und bemerkte, daß der Kapitän und mehrere seiner Leute nach Nordosten spähten. Sie folgte ihren Blicken, sah aber nichts als glitzernde graue Wogen.

»Was gibt’s?« fragte sie Murchad. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

Der Kapitän schien stark beschäftigt. »Der Ausguck im Mastkorb hat ein Schiff gesichtet«, antwortete er.

»Ich sehe nichts.« Fidelma schaute wieder in die Richtung, in die alle wie gebannt starrten.

»Der Rumpf ist noch unter der Kimm im Nordosten, aber es hat alle Segel gesetzt.«

Fidelma war sich nicht sicher, was diese seemännischen Ausdrücke bedeuteten, und sagte es auch.

»Der Schiffsrumpf wird noch von der See verdeckt«, erläuterte Murchad. »Bei solchem Wetter wie heute kann man etwa drei bis vier Meilen bis zum Horizont sehen. Das Schiff ist noch außer unserer Sichtweite, aber die Segel sind vom Mastkorb aus zu erkennen, weil er entsprechend höher ist.«

»Ist das ein Grund zur Sorge?« fragte Fidelma.

»Solange ich nicht weiß, was es ist, macht mir ein fremdes Schiff immer Sorgen«, erwiderte Murchad.

Gurvan stand am Ruder mit einem Matrosen, von dem Fidelma inzwischen wußte, daß er Drogan hieß. Er rief Murchad zu: »Was für ein Schiff es auch ist, Kapitän, es hat den Wind im Rücken. In einer Stunde haben wir es voll in Sicht.«

Murchad antwortete nachdenklich: »Wir sollten uns in Luv halten, bis wir wissen, um wen es sich handelt. Wer hat die schärfsten Augen?«

»Hoel, Kapitän.«

Murchad wandte sich um und schrie ins Schiff hinunter: »Hoel!«

Ein untersetzter Matrose mit langen, muskulösen Armen kam in dem wiegenden Schritt herauf, den Fidelma seit langem mit Seeleuten verband.

»In den Mastkorb, Hoel, und sag uns laufend Bescheid, was das Schiff macht.«

Der Mann nickte und sprang mit einer Behendigkeit in die Wanten, die Fidelma nicht für möglich gehalten hätte. Nach wenigen Sekunden war er an den Tauen hochgeklettert und löste den Mann im Mastkorb ab, der das Schiff zuerst gesichtet hatte.

Fidelma spürte eine eigenartige Spannung auf dem Schiff.

»Der Ozean ist doch so groß, warum wirkt da der Anblick eines einzigen anderen Schiffes so beunruhigend?« fragte sie.

Der Kapitän lächelte verkniffen.

»Wie ich schon sagte, bis man weiß, wer der andere ist, muß man vorsichtig sein. Erinnerst du dich noch, wovor ich neulich warnte? Diese nördlichen Gewässer sind voll von angelsächsischen Sklavenjägerschiffen, und wenn es keine Angelsachsen sind, dann eben Franken oder sogar Goten. Die treiben sich alle in diesen Gewässern herum.«

Fidelma schaute zu dem Horizont, der ein Schiff verbarg, das so bedrohlich schien.

»Du meinst, es ist ein Piratenschiff?«

Murchad zuckte die Achseln.

»Es ist besser, zu vorsichtig zu sein, als zu leichtsinnig: Erst in ungefähr einer Stunde werden wir wissen, woran wir sind.«

Fidelma war enttäuscht.

Ihr schien, die Seefahrt bestehe aus langen Zeiten langweiliger Untätigkeit, unterbrochen von plötzlichen Ausbrüchen rasender Aktivität. Es war eine seltsame Lebensweise. Sosehr sie die See faszinierte, sie zog ein Leben an Land doch vor. Im Augenblick konnte man zur Lösung des neuen Problems gar nichts tun, sondern mußte abwarten, und in diesem Fall konnte sie die Zeit am besten nutzen, indem sie weitere Erkenntnisse über Schwester Muirgel sammelte.

Sie sah den großen, abweisend aussehenden Bruder Tola auf dem Deck sitzen, mit dem Rücken an das Wasserfaß neben dem Großmast gelehnt. Er las in einem kleinen Buch in einer Tasche von der Art, wie sie die meisten Pilger heutzutage bei sich führten, und schien die Spannung unter den Seeleuten überhaupt nicht wahrzunehmen. Sie ging zu ihm hin. Als ihr Schatten über ihn glitt, schaute Bruder Tola auf, und ein Ausdruck der Verärgerung trat auf sein langes, kantiges Gesicht.

»Ach, die dalaigh.« Sein Ton war bewußt respektlos. Dann schloß er sorgfältig das Buch und steckte es in seine Tasche, die neben ihm lag. »Ich weiß, was du willst, Schwester. Ich bin vorgewarnt, von Schwester Ainder.«

»Mußtest du vorgewarnt werden?« Fidelmas Entgegnung kam automatisch.

Bruder Tola lächelte dünn.

»Nur eine Redensart. In diese Worte ist nichts hineinzulesen, das versichere ich dir.«

»Oft kann man aus der Wahl der Worte, die wir gebrauchen, viel herauslesen, Bruder Tola.«

»Aber nicht in diesem Fall.« Er wies auf die Decksplanken neben ihm. »Möchtest du nicht Platz nehmen, wenn du mir Fragen stellen willst?«

Fidelma ließ sich auf dem Deck neben ihm nieder und kreuzte die Beine. Es war recht angenehm, in der Sonne zu sitzen, während eine leichte Brise ihr das Gesicht kühlte und durch das rötliche Haar fuhr.

Bruder Tola verschränkte die Arme vor der Brust und schaute hinaus auf die jetzt ruhige See.

»Ein recht schöner Tag«, seufzte er. »Unter anderen Umständen könnte diese Reise ganz anregend und lohnend sein.«

Fidelma sah ihn fragend an.

»Und warum ist sie es nicht?«

Bruder Tola lehnte sich mit dem Kopf an den Mast und schloß die Augen.

»Meine Gefährten lassen viel zu wünschen übrig auf einer Pilgerfahrt, die eigentlich religiösen Zwecken dienen sollte. Ich könnte schwören, daß nicht einer unter ihnen ein wirklich ergebener Diener Gottes ist.«

»Du meinst, nicht einer?«

Die Miene des Mönchs war streng.

»Nicht einer. Auch du nicht, Fidelma von Cashel. Würdest du behaupten, daß du zu allererst eine Dienerin Christi bist?« Seine Augen öffneten sich, und sein scharfer Blick bohrte sich unbeirrt in ihr Gesicht. Sie erschauerte leicht.

»Ich hoffe doch sehr, daß ich eine Dienerin des Glaubens bin«, entgegnete sie.

Zu ihrer Überraschung schüttelte er den Kopf.

»Das glaube ich nicht. Du bist eine Dienerin des Gesetzes, nicht der Religion.«

Fidelma erwog die Anschuldigung gründlich.

»Ist das beides unvereinbar?« fragte sie.

»Das kann es sein«, erwiderte Bruder Tola. »In vielen Fällen trifft der alte Spruch zu, daß die Religion eines Menschen das ist, woran sein Herz hängt.«

»Der Meinung bin ich nicht.«

Bruder Tola lächelte spöttisch.

»Ich denke, dein Herz hängt mehr am Gesetz als an der Religion.«

Fidelma schwieg, denn die Worte Tolas hatten sie getroffen wie ein Pfeil. War das nicht genau der Grund, aus dem sie auf diese Pilgerfahrt gegangen war? Wollte sie nicht gerade darüber ihre Gedanken ordnen? Tola bemerkte die Verwirrung in ihrem Gesicht und lächelte befriedigt, ehe er sich wieder mit geschlossenen Augen zurücklehnte.

»Sei nicht verblüfft, Fidelma von Cashel. Du bist nur eine von Tausenden in der gleichen Lage. In der Zeit, bevor der Glaube in die fünf Königreiche kam, wärst du dalaigh oder Brehon geworden, ohne das Gewand einer Nonne tragen zu müssen. Unsere Gesellschaft verwechselt Wissen mit Religion und hat die beiden so fest miteinander verbunden, als ob sie eins wären.«

»Es gibt immer noch weltliche Hochschulen«, widersprach Fidelma. »Ich besuchte die des Brehon Mo-rann in Tara. Erst nach Erlangung meines akademischen Grades bin ich ins Kloster eingetreten.«

»Morann von Tara? Das war ein guter Mann, ein guter Richter und ein guter Rechtslehrer.« Darin pflichtete ihr Bruder Tola bei. »Doch als er starb, was wurde aus seiner Hochschule?«

Fidelma wußte es nicht und gab das auch zu.

»Auf Anweisung des Comarb von Patrick wurde sie von der Kirche übernommen.« Der Comarb war der Nachfolger des heiligen Patrick und zugleich Bischof von Armagh, einer der beiden höchsten Geistlichen in den fünf Königreichen. Der andere war der Comarb von Ailbe und Bischof von Emly in Fidelmas heimatlichem Königreich. »Moranns Hochschule hätte außerhalb der Kirche verbleiben sollen. Weltliche und kirchliche Bildung gehen oft widersprüchliche Wege.«

»Das sehe ich nicht so«, entgegnete sie fest. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie nicht gewußt hatte, daß ihre alte Hochschule geschlossen worden war.

»Ich bin Mönch«, fuhr Bruder Tola fort. »In der Kirche ist sicherlich auch Raum für Wissen, aber nicht unter Ausschluß der Religion.«

Fidelma ärgerte sich über seine versteckte Kritik an ihrer Rolle als dalaigh. »Ich habe nicht die Religion aus meinem Leben ausgeschlossen. Ich habe studiert und ...«

»Studiert?« Bruder Tola machte ein Geräusch, das Fidelma erst nach einigen Augenblicken als ein ironisches Kichern erkannte. »Wer glaubt, durch Buchstabengelehrsamkeit etwas zu erreichen, würde viel besser daran tun, einfach nur auf Gott zu hören.«

»Der Himmel und die Bäume und die Flüsse sagen mir wenig über die Welt des Menschen«, erwiderte Fidelma. »Mein Wissen erwächst aus den Erfahrungen von Männern und Frauen.«

»Ach ja, darin liegt der Unterschied zwischen dem Streben nach einem religiösen Leben und dem Streben nach Wissen.«

»Die Wahrheit ist das Ziel unseres Lebens«, ent-gegnete Fidelma. »Man findet die Wahrheit nicht ohne Wissen, und wie Brehon Morann immer sagte: >Liebe zum Wissen bringt uns der Erkenntnis näher.<«

»Welcher Erkenntnis? Menschlicher Erkenntnis, menschlichem Gesetz. Du sprichst sehr beredt, Fidelma. Aber denke an die Worte des heiligen Jakobus: >Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott dem Vater ist der: sich von der Welt unbefleckt erhal-ten.<«

»Du hast aber einen wichtigen Teil dieses Verses ausgelassen, nämlich die Worte über das Besuchen von Waisen und Witwen in ihrer Trübsal«, ergänzte Fidelma bissig. »Ich glaube, ich helfe wirklich denen, die in Trübsal sind.«

»Aber du besudelst dich, indem du menschliches Gesetz über die Gebote Gottes stellst.«

»Ich sehe keinen Widerspruch zwischen den zehn Geboten und menschlichem Gesetz. Da du so gern den Brief des Jakobus zitierst, solltest du auch diese Verse kennen: >Wer aber durchschaut in das vollkommene Gesetz der Freiheit und darin beharrt und ist nicht ein vergeßlicher Hörer, sondern ein Täter, der wird selig sein in seiner Tat.< Ich habe gehört und nicht vergessen, und ich handle nach dem Gesetz, und deswegen bin ich zu dir gekommen, Bruder Tola, um mit dir zu reden, nicht aber, um über unsere verschiedenen theologischen Meinungen zu debattieren.«

Ihr Ton war scharf geworden. Trotzdem fühlte sie sich unsicher, denn sie wußte, daß Tola ihre Schwäche erkannt hatte: ihren Stolz darauf, daß sie eine dalaigh war und nicht einfach nur eine Nonne.

»Ich höre, Schwester Fidelma«, antwortete er. Sein Gesicht blieb ernst, doch Fidelma hatte den Verdacht, er lache im stillen über ihre Verlegenheit. Dann rezitierte er leise:

». achte nicht gering die Züchtigung des Herrn
Und verzage nicht, wenn du von ihm gestraft wirst.
Denn welchen der Herr lieb hat, den züchtigt er;
Und er stäupt einen jeglichen Sohn und eine jegliche
Tochter, die er aufnimmt.«

Fidelma unterdrückte ihren Ärger.

»Hebräer zwölf«, stellte sie mit einem dünnen Lächeln fest, um ihm zu zeigen, daß er ihr mit seiner Bibelkenntnis nicht imponieren konnte. »Aber jetzt habe ich ein paar Fragen, die ich dir im Auftrag von Kapitän Murchad stellen muß.«

»Ich weiß schon, wie ich bereits sagte. Schwester Ainder hat mir von deinen Nachforschungen berichtet.«

»Gut. Du bist älter als die meisten Mitglieder der Gruppe, Bruder. Was hat dich veranlaßt, auf diese Pilgerfahrt zu gehen?«

»Muß ich darauf antworten?«

»Ich kann dich nicht dazu zwingen.«

»So meinte ich das nicht. Ich meinte, das sei offenkundig.«

»Ich verstehe dich so, daß du diese Pilgerfahrt aus religiöser Überzeugung unternommen hast? Das ist sicherlich offenkundig. Aber warum hast du dich gerade Schwester Canairs Gruppe angeschlossen? Mit Ausnahme von Schwester Ainder sind alle ganz jung. Und deiner Ansicht nach geht es deinen Mitreisenden nicht wirklich um die Religion.«

»Schwester Canairs Gruppe war die einzige, die zum Schrein des heiligen Jakobus wollte. Wäre ich nicht mit ihnen gereist, hätte ich mindestens ein Jahr auf die nächste Gruppe warten müssen. Es gab noch Platz für mich, also schloß ich mich ihnen an.«

»Kanntest du Schwester Canair und die anderen, bevor du zu ihnen kamst?«

»Ich kannte niemanden außer denen aus meiner eigenen Abtei Bangor.«

»Nämlich die Brüder Cian, Dathal und Adamrae?«

»Genau.«

»Du hast angedeutet, daß du die Gruppe für schlecht zusammengestellt hältst.«

»Sicherlich.«

»Schließt dieses Urteil auch Schwester Muirgel ein?«

Bruder Tola riß die Augen weit auf und verzog das Gesicht wie im Krampf.

»Eine höchst abscheuliche junge Frau! Sie mochte ich am wenigsten von allen!«

Die Heftigkeit seiner Äußerung überraschte Fidelma.

»Warum das?«

»Ich weiß noch, wie sie gleich anfangs versuchte, unsere Reisegesellschaft zu beherrschen mit der Begründung, ihr Vater sei Fürst der Dal Fiatach gewesen. Mit dem Fürsten war nicht viel Staat zu machen -er war ein übler Halunke, der nur auf Macht und Selbstverherrlichung aus war. Schwester Muirgel kam nach ihrem Vater.«

»Wenn du dieser Meinung warst, hast du da nicht gezögert, dich Schwester Canairs Gruppe anzuschließen?«

»Ich erfuhr erst beim Aufbruch, daß Schwester Mu-irgel der Gruppe angehörte. Ich glaubte, ich könnte auf der Fahrt eine enge Berührung mit ihr vermeiden.«

»Kanntest du sie persönlich oder nur als Tochter eines Fürsten, den du verabscheutest?«

»Ich kannte sie aus den Geschichten, die in unserer Abtei über sie umliefen.«

»Was für Geschichten?« Fidelma war neugierig.

»Von ihrer Promiskuität, von ihren unkeuschen Beziehungen zu anderen Brüdern. Von der Art, wie sie andere Leute für ihre eigenen Zwecke ausnutzte.

Sie war das Gegenteil eines wirklich religiösen Menschen.«

»Das ist ein hartes Urteil über eine Schwester«, meinte Fidelma.

»Ein Größerer als ich wird über sie richten. >Daß ihr wartet und eilet zu der Zukunft des Tages des Herrn, an welchem die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen werden! Wir warten aber eines neuen Himmels und einer neuen Erde nach Seiner Verheißung, in welchen Gerechtigkeit wohnt.<«

Fidelma war nicht beeindruckt von diesem Bibelzitat und überhörte es.

»Wie kommt es, daß solche Geschichten in deiner Abtei Bangor verbreitet wurden, während Muirgel doch Nonne in Moville war?«

»Es gab einen regen Austausch zwischen unseren Gemeinschaften. Unser Abt hatte oft Anlaß, dem Abt von Moville etwas auszurichten. Einmal mußte er ihm mitteilen, daß er solche Geschichten gehört hatte und daß sein Amtsbruder seine Gemeinschaft nicht zu einer Lasterhöhle hinabsinken lassen dürfe.«

»Wie hat der Abt von Moville darauf reagiert?«

»Überhaupt nicht.«

»Vielleicht meinte er, es sei nicht Sache des Abts von Bangor, ihm zu sagen, wie er seine Gemeinschaft zu führen habe?« lächelte Fidelma freudlos. »Jedenfalls hast du dir eine schlechte Meinung von Schwester Muirgel gebildet.«

Bruder Tola nickte und intonierte:

»Denn eine Hure ist eine tiefe Grube,
Und eine Ehebrecherin ist ein enger Brunnen.
Auch lauert sie wie ein Räuber ...«

Fidelma unterbrach ihn scharf.

»Abgesehen davon, daß Christus, wie ich mich erinnere, gesagt hat, Huren würden eher in den Himmel kommen als manche religiösen Führer, willst du jetzt behaupten, Schwester Muirgel sei eine Hure gewesen?«

Tola fuhr einfach fort in seinem Zitat aus den Sprüchen Salomos.

»Denn am Fenster meines Hauses guckte ich durchs Gitter
Und sah unter den Unverständigen und ward gewahr
Unter den Kindern eines törichten Jünglings,
Der ging auf der Gasse an einer Ecke
Und trat daher auf dem Wege bei ihrem Hause,
In der Dämmerung, am Abend des Tages,
Da es Nacht ward und dunkel war.
Und siehe, da begegnete ihm ein Weib,
Im Hurenschmuck, listig,
Wild und unbändig,
Daß ihre Füße in ihrem Hause nicht bleiben können.
Jetzt ist sie draußen, jetzt auf der Gasse,
Und lauert an allen Ecken.
Und erwischte ihn und küßte ihn unverschämt Und sprach zu ihm:
Ich habe Dankopfer für mich heute bezahlt Für meine Gelübde .«

Fidelma hob die Hand, um seinen volltönenden Vortrag zu unterbrechen. Schließlich fuhr sie heftig dazwischen.

»Die Verse aus den Sprüchen Salomos, Kapitel sieben, kenne ich auch. Was meinst du damit, wenn du diesen Abschnitt zitierst? Hast du es Schwester Muirgel verübelt, daß sie Beziehungen zu Männern hatte oder daß sie ihren Körper jedem verkaufte, der dafür zahlte? In dieser Sache müssen wir uns genau ausdrücken. Was verstehst du unter einer Hure?«

»Du bist rechtskundig, du kannst das auslegen, wie du willst. Ich sage nur, sollen ihr doch die törichten Jünglinge folgen wie die Ochsen auf dem Wege zur Schlachtbank.«

Dieselben engstirnigen Ansichten hatte sie schon mehrfach von Mönchen gehört, die für eine Reform der irischen Kirche nach den Grundsätzen der römischen Kirche eintraten. Sie wollte seine Einstellung eindeutig klären.

»Sag mir, Bruder Tola, gehörst du zu denen, die glauben, daß Mönche und Nonnen im Zölibat leben sollten? Diese Meinung habe ich oft in Rom vernommen.«

»Heißt es nicht bei Matthäus, daß Christus, unser Herr, Seinen Anhängern das Zölibat vorgeschrieben hat?«

Das war ein beliebtes Argument derer, die von allen Mönchen und Nonnen ein Gelübde der Keuschheit verlangten. Fidelma hatte es oft gehört und die Antwort parat.

»Als der Jünger Christus fragte, ob es besser sei, nicht zu heiraten, antwortete Er, daß das Zölibat nicht für alle annehmbar sei; es sei nur für die bestimmt, denen Gott es zugedacht habe. Seine Worte lauteten, einige seien von Geburt her unfähig zum Heiraten oder weil sie von Menschen dazu gemacht wurden, während andere in der Tat um des himmlischen Königreichs willen auf die Heirat verzichteten. Er überließ die Entscheidung dem einzelnen. Die es können, mögen es annehmen. Bisher haben die christlichen Kirchen an dieser freien Entscheidung festgehalten .«

Tolas Miene verriet seinen Ärger. Er ließ sich offensichtlich nicht gern mit Bibelzitaten übertreffen.

»Ich folge darin der Lehre des Paulus. Ehelosigkeit ist das Ideal des christlichen Sieges über das Böse in der Welt und muß zur Grundlage des religiösen Lebens gemacht werden.«

»Es gibt eine Fraktion in Rom, die an dieses Zölibat glaubt«, gab Fidelma zu, doch ihr Ton ließ erkennen, daß sie nicht viel davon hielt. »Aber wenn Rom das als Dogma des Glaubens anerkennt, dann heißt das, daß sich der Glaube gegen das stellt, was Gott geschaffen hat. Wenn Gott uns ehelos gewollt hätte, dann hätte er uns so gemacht. Doch ich möchte von der Theologie jetzt wieder auf den vorliegenden Fall zurückkommen. Du hast offensichtlich Schwester Muirgel nicht gemocht.«

»Ich habe nichts getan, um das zu verbergen.«

»Nun gut. Abgesehen davon, daß sie in deinen Augen zu wahllosen geschlechtlichen Beziehungen neigte, verstehe ich trotzdem nicht die Tiefe deiner Abneigung.«

»Sie verführte und verdarb junge Männer.«

»Kannst du mir ein Beispiel nennen?«

»Bruder Guss zum Beispiel.«

»Du wußtest also, daß Bruder Guss behauptet, er habe Schwester Muirgel geliebt?«

»Sie hat ihn mit ihren Ränken umgarnt, wie ich dir klarzumachen versuchte.«

»Ein hartes Urteil. Hatte Bruder Guss keinen freien Willen?«

»Ich habe den Jungen gewarnt«, fuhr Bruder Tola fort. Er verdrehte die Augen und suchte in seinem Gedächtnis nach einem weiteren Bibelzitat.

»So gehorchet mir nun, meine Kinder,
Und merket auf die Rede meines Mundes.
Laß dein Herz nicht weichen auf ihren Weg
Und laß dich nicht verführen auf ihrer Bahn.
Denn sie hat viele verwundet und gefällt,
Und sind allerlei Mächtige von ihr erwürgt.
Ihr Haus sind Wege zum Grab,
Da man hinunterfährt in des Todes Kammern.«

»Die Sprüche Salomos, Kapitel sieben, haben es dir wohl angetan«, spottete Fidelma. »Zitierst du oft daraus?«

»Ich tat mein Bestes, um den armen Bruder Guss zu warnen.« Tola ging nicht auf ihren Ton ein. »Ich preise die Hand Gottes, die die Hure über Bord fegte.«

Fidelma schwieg eine Weile. Ihr war klargeworden, daß Bruder Tola ein Mann von einer so starken religiösen Überzeugung war, daß es an äußerste Intoleranz grenzte. Sie wußte, daß Menschen schon aus religiöser Intoleranz getötet hatten.

»Wann hast du erfahren, daß Schwester Muirgel über Bord gespült wurde?« erkundigte sich Fidelma.

»Zur gleichen Zeit wie alle anderen«, antwortete er. »Heute morgen.«

»Wann hast du Schwester Muirgel zuletzt gesehen?«

»Als wir an Bord gingen. Ich glaube, sie war seekrank von dem Moment an, als wir zum Schiff hinübergerudert wurden. Nein, das stimmt nicht. Es ging ihr gut, bis wir an Bord kamen. In Abwesenheit von Schwester Canair, die auch sehr freizügig war mit ihren Liebesbeweisen, übernahm Muirgel die Führung und teilte die Kajüten zu. Wir gingen alle in unsere Kajüten, und die meisten von uns blieben unter Deck, bis wir ausliefen. Danach bekam ich sie nicht mehr zu Gesicht, und es hieß, sie sei seekrank. Vielleicht war das eine Warnung, daß die Strafe Gottes bevorstand.«

»Hast du während des Sturms geschlafen?«

»Vorige Nacht? Wie konnte man da schlafen? Das war kein angenehmes Erlebnis. Nach einer Weile habe ich aber etwas Schlaf gefunden, rein aus Erschöpfung.«

»Ich nehme an, Bruder Guss wurde auch gestört?«

»Vermutlich. Du kannst ihn ja fragen.«

»Warst du wach, als er die Kajüte verließ?«

Bruder Tola dachte über die Frage nach.

»Hat er denn die Kajüte verlassen?« stellte er die Gegenfrage.

»Das sagt er.«

»Dann muß es wohl so sein. Ach ja, ich erinnere mich, er ging hinaus. Aber nicht lange.«

»Weißt du, wohin er ging?«

»Ich nehme an, er ging auf den Abort. Wo sonst auf dem Schiff sollte man hingehen?«

Fidelma sah ihn einen Moment fest an, denn sie wußte, daß Bruder Tola gemerkt haben mußte, daß Guss vor Mitternacht Schwester Muirgel aufgesucht hatte. Wollte Tola nur Guss beschützen oder gab es einen anderen Grund, weshalb er versuchte, den jungen Mann zu decken?

Innerlich seufzte sie, denn ihr war klar, daß sie aus Bruder Tola nichts weiter herausbekommen würde. Vorsichtig stand sie auf.

»Einen Punkt möchte ich noch näher erläutert haben«, sagte sie. »Du hältst offensichtlich sehr wenig von Nonnen, die sich verlieben oder Liebesverhältnisse haben. Huren und Dirnen nennst du sie. Aber ich habe noch nicht von dir gehört, daß du auch die Mönche verurteilst, die oft diese jungen Frauen verführen. Meinst du nicht, daß du sehr einseitig urteilst?«

Bruder Tola ließ sich davon in keiner Weise beeindrucken.

»War es nicht eine Frau, die zuerst der Versuchung erlag, von der verbotenen Frucht aß und dann den Mann verführte, weshalb wir alle aus dem Garten Eden vertrieben wurden? Die Frauen sind für alle unsere Leiden verantwortlich. Denke an das, was Paulus an die Korinther schrieb: >Denn ich eifere um euch mit göttlichem Eifer; denn ich habe euch vertraut einem Manne, daß ich eine reine Jungfrau Christo zubrächte. Ich fürchte aber, daß, wie der Böse Eva verführte mit seiner Schlauheit, also auch eure Sinne abgewendet werden von der Einfalt in Christo.<«

»Ich kenne den Abschnitt«, erwiderte Fidelma. »Aber da der Böse in seiner Schlauheit Eva verführte, muß er wohl männlichen Geschlechts gewesen sein. Ich überlasse dich wieder deinen Betrachtungen, Bruder Tola. Vielen Dank, daß du dir die Zeit genommen hast, meine Fragen zu beantworten. Du hast mir sehr geholfen.«

Bruder Tolas Augen zogen sich mißtrauisch zusammen, als Fidelma bewußt den letzten Satz hinzufügte. Sie hatte den leisen Verdacht, daß Bruder Tola nichts ferner lag, als ihr bei der Aufklärung von Schwester Muirgels Verschwinden zu helfen.

Sie wandte sich gerade ab, als ein neuer Ruf vom Mastkorb sie aufblicken ließ.

Da war das rätselhafte Fahrzeug, nun deutlich zu sehen! Sie war so mit Bruder Tola beschäftigt gewesen, daß sie nicht bemerkt hatte, wie dicht es herangekommen war.

Im Sonnenlicht des Nachmittags konnte sie manche Einzelheiten des sich nähernden Schiffes ausmachen: das niedrige viereckige Segel mit einem Zeichen darauf, etwas wie ein Blitzstrahl, eine Reihe von Rudern, die sich rhythmisch hoben und senkten, und in der Sonne glitzernde Gegenstände an der ihr zugekehrten Seite des Schiffes.

Sie eilte nach hinten zu Murchad, der das Fahrzeug mit finsterem Gesicht beobachtete.

»Bitte geh mit den Pilgern unter Deck, Lady«, begrüßte er sie.

»Was ist das für ein Schiff?«

»Ein angelsächsisches, nach der Bauart zu urteilen. Siehst du den Blitzstrahl auf dem Segel?«

Fidelma nickte kurz.

»Zweifellos Heiden«, fuhr Murchad fort. »Das ist das Symbol ihres Donnergottes Thunor.«

»Haben sie feindliche Absichten?« fragte Fidelma.

»Jedenfalls keine freundlichen«, erwiderte Murchad grimmig. »Siehst du die Reihe von Schilden über den Rudern und wie die Sonne auf ihren Waffen funkelt? Ich nehme an, sie wollen uns zur Prise machen, und wen sie nicht umbringen, der wird als Sklave verkauft.«

Fidelma spürte, wie ihr Mund trocken wurde.

Sie wußte, daß einige der angelsächsischen Königreiche noch immer heidnisch waren, trotz aller Anstrengungen der Missionare aus Eireann und aus Rom. Insbesondere die südlichen Angelsachsen hielten noch an ihren alten Göttern und Göttinnen fest und trotzten selbst den Missionaren aus den angelsächsischen Königreichen des Ostens und Nordens. Sie schluckte heftig, um den trockenen Geschmack loszuwerden.

»Geh nach unten, Lady«, wiederholte Murchad. »Dort bist du sicherer, wenn sie uns entern.«

»Ich bleibe hier und schaue zu«, erwiderte sie entschlossen. Sie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als in der Dunkelheit unter Deck zu hocken und nicht zu wissen, was vorging.

Murchad wollte protestieren, aber als er den entschiedenen Zug um ihren Mund und ihr vorgeschobenes Kinn sah, gab er es auf.

»Na gut, aber bleib aus dem Wege, und wenn das Schiff dicht herankommt, dann geh unter Deck, ohne daß ich es dir noch einmal sagen muß. Beim ersten Angriff trübt ihnen die Mordlust den Blick, dann ist es ihnen gleich, ob Mann oder Frau.«

Ohne ein weiteres Wort wandte er sich zu Gurvan um und blickte zum Segel hoch.

»Wir halten den Kurs, bis ich es sage.«

Gurvan nickte nur kurz.

Fidelma stellte sich in die hinterste Ecke des Achterdecks und beobachtete das sich entwickelnde Schauspiel.

»Deck!« kam der Ruf vom Mastkorb. »Sie schließt heran.«

Das näher kommende Schiff drehte den Bug auf sie zu. Der Bug war hochgezogen und schnitt durch das Wasser, das nach beiden Seiten wegspritzte. Die Ruder hoben und senkten sich, das von ihnen abtropfende Wasser funkelte wie Silber. Sie konnte etwas wie eine Trommel schlagen hören. Aus der Erfahrung ihrer früheren Reise nach Rom wußte sie, daß auf Galeeren oft ein Mann mit einer Trommel den Rhythmus der Ruderer angab.

»Was schätzt du, Gurvan?« Murchad spähte hinüber. »Fünfundzwanzig Ruder je Seite?«

»Scheint so.«

»Ruder. Die verschaffen den Angelsachsen einen Vorteil uns gegenüber ...« Murchad schien laut zu denken. »Andererseits könnte es auch bedeuten, daß sie sich beim Manövrieren auf kurze Entfernung nicht auf ihre Segelkunst verlassen. Vielleicht haben wir da einen Vorteil.«

Er blickte hoch zum Großsegel.

»Die Steuerbordfallen anziehen!« schrie er. »Sie sind zu locker.«

Je straffer das Segel, desto höher die Fahrt, doch der Wind konnte das Schiff auf die Seite drücken und kreuzenden Wellen aussetzen. Auch belastete es den Großmast.

»Kapitän, wenn der Wind nachläßt, sind wir ohne Ruder hilflos«, meinte Gurvan beunruhigt.

Da tauchte Wenbrit neben Fidelma auf.

»Gehst du nicht nach unten, Lady?« fragte er besorgt. »Die anderen sind alle unter Deck, und ich habe ihnen gesagt, sie sollen da bleiben. Hier wird es gefährlich.«

Fidelma schüttelte rasch den Kopf.

»Unten würde ich sterben, wenn ich nicht weiß, was passiert.«

»Hoffentlich stirbt keiner von uns«, murmelte der Junge und starrte zu dem herankommenden Schiff hinüber. »Beten wir zu Gott, daß er uns einen starken Wind schickt.«

»Backbordschoten fieren! Backbordleinen locker!« schrie Murchad.

Rasch führten die Matrosen seine Befehle aus, und das Großsegel veränderte seinen Winkel zum Schiff.

Murchad hatte den Wechsel der Windrichtung so genau berechnet, daß sich das Segel sofort füllte, und Fidelma spürte, wie das Schiff schneller durch die Wogen glitt.

Aufgeregt zeigte Wenbrit auf das angelsächsische Schiff, denn der Abstand zwischen beiden Fahrzeugen vergrößerte sich. Das Segel des anderen Schiffes hing schlaff. Murchad hatte recht behalten: Der Kapitän des anderen Schiffes hatte sich auf seine Ruderer verlassen und nicht auf Wind und Segel geachtet. Mehrere wertvolle Augenblicke lang lag der Angelsachse ohne Fahrt still.

Durch das Zischen der See und das Pfeifen des Windes in der Takelage hindurch hörte Fidelma ein Rufen schwach herübertönen.

»Was ist das?« fragte sie verwundert.

Wenbrit verzog das Gesicht.

»Sie flehen ihren Kriegsgott um Hilfe an. Hörst du das Rufen? >Woden! Woden!< Solches Geschrei aus angelsächsischen Kehlen kenne ich von früher.«

Mit stummer Frage schaute ihn Fidelma an.

»Das Land meines Volkes grenzt im Osten an das Gebiet der Westsachsen«, erklärte er. »Die fielen immer wieder in unser Land ein und riefen dabei Woden um Hilfe an. Sie glauben, das Größte, was ihnen passieren kann, ist, daß sie mit dem Schwert in der Hand und dem Namen Woden auf den Lippen sterben. Es heißt, daß dann dieser Gott sie hinaufträgt in eine große Halle der Helden und sie dort ewig leben.«

Wenbrit drehte sich um und spuckte über die Reling, um seinen Abscheu zu zeigen.

»Die Angelsachsen sind doch nicht alle gleich«, wandte Fidelma ein, als ihr Eadulf plötzlich vor Augen stand. »Die meisten von ihnen sind jetzt Christen.«

»Aber nicht die auf dem Schiff da drüben«, verbesserte sie Wenbrit spöttisch.

Das andere Schiff hatte nun in den Wind gedreht, die Ruder waren eingezogen, und das Segel füllte sich. Jetzt erkannte Fidelma deutlich die Zeichnung des Blitzstrahls auf dem Segel. Wenbrit sah, wie sie die Augen zusammenkniff.

»Sie haben einen anderen Gott namens Thunor, der einen mächtigen Hammer schwingt. Wenn er damit zuschlägt, erzeugt er den Donner, und die Funken, die dabei sprühen, sind die Blitze«, erläuterte er ihr voller Ernst. »Sie haben sogar einen Wochentag, der diesem Gott heilig ist und Thunors Tag heißt. Es ist der Tag, den wir Christen Dies Jovis nennen.«

Fidelma versagte es sich, dem Jungen zu erklären, daß dies der lateinische Name eines anderen heidnischen Gottes war, nur diesmal eines römischen. Sie hielt das für zwecklose Pedanterie. Von Thunor hatte sie schon in ihren langen Unterhaltungen mit Bruder Eadulf über den alten Glauben seines Volkes erfahren. Sie konnte sich kaum vorstellen, daß es Angelsachsen gab, die nach zwei Jahrhunderten Kontakt mit den christlichen Briten und den irischen Missionaren immer noch an die alten Götter glaubten, während die nördlichen Königreiche bereits von ihrem wilden Aberglauben an Krieg und Mordlust bekehrt waren. Sie beobachtete weiter das angelsächsische Schiff, das nun wieder aufholte.

»Jetzt nutzt er den Wind, Kapitän«, hörte sie Gurvan rufen. »Es ist ein schnelles Schiff, und ihr Kapitän weiß, wie er es mit dem Wind von achtern zu segeln hat.«

Das war noch untertrieben. Selbst Fidelma merkte, daß ihr Verfolger schneller durchs Wasser glitt als die »Ringelgans«. Schließlich war es ein Kriegsschiff und nicht wie Murchads Schiff für den friedlichen Handel gebaut.

Murchad blickte abwechselnd auf die Segel und auf das herannahende Fahrzeug. Er fluchte. So einen Fluch hatte Fidelma noch nie gehört, es war ein vollgewichtiger Seemannsfluch.

»Wenn das so weitergeht, holt sie uns bald ein. Sie ist kleiner und schneller, und außerdem hat sie die Luvposition.«

Fidelma wünschte, sie verstünde die Ausdrücke. Wenbrit kam ihr zu Hilfe.

»Die Windrichtung, Schwester«, erklärte er. »Nicht nur der Wind läßt den Angelsachsen aufholen, sondern durch den Winkel, in dem wir zum Wind liegen, werden wir auch noch auf seinen Kurs herübergedrückt und können keinen seitlichen Abstand von ihm halten.«

Ein Schauer der Furcht überlief sie.

»Dann wird uns der Angelsachse also einholen?«

Wenbrit grinste beruhigend.

»Ihr Kapitän hat bereits einen Fehler gemacht, vielleicht macht er noch einen. Es muß schon ein sehr guter Seemann sein, der besser segeln will als Murchad. Der weiß, was er seinem Namen schuldig ist.«

Fidelma erinnerte sich, daß Murchad »Seekämpfer« bedeutete.

Der Kapitän schritt jetzt hin und her und schlug mit der geballten Faust in die Fläche der anderen Hand. Seine Brauen waren gerunzelt, als suche er nach einer Lösung.

»Wende gegen den Wind!« schrie er plötzlich.

Gurvan fuhr zusammen, dann stemmten er und sein Gefährte sich gegen das Steuerruder.

Die »Ringelgans« drehte herum. Fidelma schwankte und mußte sich an der Reling festhalten. Einige Augenblicke verlor das große Schiff die Fahrt, dann schrie Murchad einen neuen Befehl zum Wenden.

Überrascht von Murchads plötzlichem Wechsel der Taktik mußte sich Fidelma erst nach dem anderen Schiff umsehen.

So fest hatte der gegnerische Kapitän darauf vertraut, seine Beute einzuholen und längsseit zu gehen, daß er mehrere kostbare Augenblicke brauchte, um zu erfassen, was Murchad vorhatte. Das leicht gebaute angelsächsische Kriegsschiff schoß unter vollen Segeln vor dem Wind fast eine Meile weiter, ehe die Segel gerefft waren und das Schiff auf den neuen Kurs der »Ringelgans« einschwenkte.

»Ein gelungenes Manöver«, sagte Fidelma zu Wenbrit, »aber gehen wir jetzt nicht gegen den Wind an? Kann uns der Angelsachse nicht trotzdem einholen?«

Wenbrit wies lächelnd auf den Himmel.

»Wir müssen zwar gegen den Wind segeln, aber der Angelsachse auch. Sieh, wie tief die Sonne am Horizont steht. Vor Einbruch der Nacht erreicht er uns nicht. Ich nehme an, Murchad will sich in der Nacht an ihm vorbeischleichen, vorausgesetzt, die Wolken bleiben und der Mond scheint nicht.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Haben wir den Wind in den Segeln, hat der leichtere und schnellere Angelsachse einen Geschwindigkeitsvorteil. Wir sind schwerer und unhandlicher. Kreuzen wir gegen den Wind, ist das anders. Die Wellen, die uns das Vorwärtskommen erschweren, behindern den Angelsachsen noch stärker. Wir können die hohen Wellen abreiten, während sie das leichtere Fahrzeug noch weiter nach Lee drücken, also haben die es schwerer, an uns heranzukommen.«

Murchad hatte die Erklärung des Jungen gehört und trat mit einem breiten Grinsen zu ihnen. Er schien mit seiner Segelkunst zufrieden und wirkte entspannter, seit das angelsächsische Schiff sich erneut herankämpfen mußte.

»Der Junge hat recht, Lady. Auch reicht unser Kiel tiefer als ihrer. Ein leichtes Schiff spürt jede Welle, während wir besser Kurs halten können, weil uns die unruhige Oberfläche weniger ausmacht. Gegen den Wind segeln wir besser als der Angelsachse.«

Murchad war wieder guter Laune.

»Der Angelsachse hat noch eine Weile zu tun, und inzwischen wird die Nacht anbrechen, und zwar, wie ich hoffe, mit schönen dicken Wolken. Dann steuern wir wieder nach Südsüdwest, und mit etwas Glück kommen wir im Schutz der Dunkelheit an ihnen vorbei.«

Fidelma blickte den stämmigen Seemann mit Bewunderung an. Wie gut Murchad sein Schiff kannte! Irgendwie erinnerte sie das an Roß und Reiter. Sie verstand auch, weshalb ihr dieser Vergleich in den Sinn kam. Murchad empfand für sein Schiff und die Elemente, die es bewegten, die See und den Wind, genau das gleiche, was ein guter Reiter für sein Pferd empfand. Er war eins mit ihm, als sei er mit ihm verwachsen.

Sie spähte zurück zu dem fernen Segelschiff.

»Dann sind wir also in Sicherheit?«

So absolut wollte sich Murchad nicht festlegen.

»Das hängt davon ab, ob ihr Kapitän besser vorausschaut als bisher. Er könnte damit rechnen, daß wir im Schutz der Dunkelheit den Kurs ändern, und dasselbe tun in der Hoffnung, uns im Morgengrauen wieder zu sichten. Ich schätze allerdings, er wird denken, wir kneifen und suchen Schutz in einem Hafen von Cornwall. Das ist die Richtung, in die wir jetzt segeln.«

»Dann ist also die Aufregung für den Augenblick vorbei?«

Murchad grinste.

»Die Aufregung ist vorbei«, bestätigte er. »Bis zum Tagesanbruch!«

Kapitel 13

Nach der Abendmahlzeit beschloß Fidelma, ihre Befragungen zu vervollständigen. Sie suchte die Brüder Dathal und Adamrae in ihrer Kajüte auf. Wie die anderen Kajüten unter Deck war diese dumpf und stickig, und die Laterne darin gab sowohl Hitze wie Licht ab. Nach der kühlen Brise an Deck wirkte es bedrückend hier.

»Was willst du von uns, Schwester?« fragte Bruder Adamrae schroff, als sie nach der kurzen Antwort auf ihr Klopfen eintrat.

»Nur wenig, bloß die Antwort auf ein paar Fragen«, antwortete sie höflich.

»Wahrscheinlich handelt es sich um Schwester Mu-irgel«, murmelte Bruder Dathal. »Ich hörte von Schwester Crella, daß du dem nachgehst.«

Bruder Adamrae schaute sie mißgünstig an.

»Woher nimmst du das Recht, Fragen zu stellen?«

Fidelma blieb gelassen.

»Der Kapitän hat mich darum ersucht«, erwiderte sie. »Ich bin ...«

»Ich weiß, du bist Anwältin«, fauchte Bruder Adamrae. »Uns geht das alles nichts an. Wir kommen nicht aus derselben Abtei. Also stell deine Fragen und geh.«

Bruder Dathal blickte sie entschuldigend an.

»Adamrae meint, unsere Zeit ist kostbar für uns. Wir sind wissenschaftlich beschäftigt, weißt du, wir übersetzen etwas.«

»Zeit ist kostbar für jeden«, stimmte Fidelma ernst zu. »Besonders kostbar ist sie für jemand, dessen Zeit abgelaufen ist - wie für Schwester Muirgel.«

Sie nahm das Pergamentblatt auf, das vor Bruder Dathal auf dem Tisch lag. Es war in der alten Ogham-Schrift beschrieben, der ältesten Schrift der Sprache von Eireann.

»Ceathracha is cheithre chead ...« Sie begann den Text zu lesen.

Bruder Dathal war überrascht.

»Kannst du die alte Ogham-Schrift lesen?«

Sie verzog das Gesicht.

»Hat nicht der heidnische Gott Ogma, der Gott der Schriftkunde und der Gelehrsamkeit in Urzeiten, die Kenntnis solcher Buchstaben zuerst den Leuten von Muman gegeben?« konterte sie. »Wer ist denn in der Lage, die alte Schrift zu entziffern, wenn nicht eine Frau aus Muman?«

Bruder Adamrae machte ein finsteres Gesicht.

»Jeder kann vielleicht die Buchstaben aussprechen, aber was bedeutet der Text? Entziffere die Worte, wenn du so klug bist.«

Fidelma sah sich die alten Sätze genauer an. Sie besaßen deutlich eine Versform.

»Vierzig und vierhundert
Jahre, das ist nicht gelogen,
Vom Auszug des Volkes Gottes,
Das versichere ich euch,
Über die Oberfläche des Meeres von Romhar,
Bis sie über das Meer von Meann eilten,
So kamen die Söhne Miles in das Land Eireann.«

Dathal und Adamrae staunten, wie mühelos sie das alte Epos las.

Dann brummte Bruder Adamrae mürrisch, als wolle er ihre Leistung herabsetzen: »Die alte Sprache der Texte kennst du also, aber verstehst du sie auch? Wo zum Beispiel liegt das Meer von Romhar? Und wo ist das Meer von Meann?«

»Das ist leicht zu beantworten«, erklärte Fidelma. »Romhar heißt heute Rua Mhuir, das Rote Meer, und Meann ist offensichtlich ein alter Name des Mittelmeers.«

Bruder Dathal lächelte über die Niederlage seines Gefährten.

»Sehr gut, Schwester. Wirklich ausgezeichnet«, lobte er.

Schließlich gab auch Bruder Adamrae nach und rang sich sogar ein Lächeln ab.

»Nicht jeder kennt die Geheimnisse der alten Texte«, sagte er. »Wir bemühen uns, sie zu entschlüsseln, Schwester.«

»So wie ich mich bemühe, der Wahrheit im Gesetz nachzuspüren«, antwortete Fidelma. »Wie ihr wißt,

hat mich der Kapitän gebeten, einen Bericht zu verfassen, weil er nach dem Gesetz zum Schadenersatz verurteilt werden kann, wenn ihm Fahrlässigkeit nachzuweisen ist.«

»Das verstehen wir. Was möchtest du von uns erfahren?« fragte Bruder Dathal.

»Erstens, wann habt ihr Schwester Muirgel zuletzt gesehen?«

Bruder Dathal schaute seinen Gefährten hilflos an. Er zuckte die Achseln.

»Das weiß ich nicht mehr.«

Bruder Adamrae meinte: »War es nicht, als wir an Bord gingen?«

Bruder Dathal überlegte einen Moment.

»Ich glaube, du hast recht. Sie teilte uns die Kajüten zu. Danach ist sie uns nicht mehr begegnet. Es hieß, sie sei seekrank geworden und bleibe in ihrer Kajüte.«

»Und ihr beide habt sie nicht mehr gesehen?«

Sie schüttelten gleichzeitig den Kopf.

»Darf ich fragen, wo ihr während des Sturms letzte Nacht wart? Ich möchte nur genau wissen, ob niemand beobachtet hat, wie Schwester Muirgel während des Sturms an Deck ging.«

»Während der ganzen Zeit, als es so stürmte, waren wir hier drin«, erklärte Bruder Dathal. »Es war ein schlimmer Sturm, und wir konnten uns kaum auf den Beinen halten, geschweige denn im Schiff umherwandern.«

Bruder Adamrae nickte bestätigend.

»Wir verglichen ihn mit dem großen Sturm, der die Kinder Gaels auf ihrer Fahrt nach Gothia überfiel. Damals starben Eber, der Sohn von Tat, und Lamhgh-las, der Sohn von Aghnon, und bald darauf erhoben sich die Meerjungfrauen aus der See und machten eine so traurige Musik, daß die Kinder Gaels eingeschläfert wurden, nur der Druide Caicher war dagegen gefeit. Er rettete sie alle, indem er ihnen geschmolzenes Wachs in die Ohren goß. Als sie zu dem Vorgebirge von Sliabh Ribhe kamen, prophezeite ihnen Caicher, sie würden erst Ruhe finden, wenn sie in das Land namens Eireann gelangten, und er fügte hinzu, sie selbst würden es nicht erreichen, aber ihre Nachkommen.«

Erstaunt sah Fidelma den jungen Mann an, der sich so in Begeisterung geredet hatte, daß ihm fast der Atem fehlte.

»Ihr habt euch sehr in diese alten Zeiten vertieft«, bemerkte sie. »Das Thema muß euch Freude machen.«

»Wir haben vor, eine Geschichte der Kinder Gaels vor ihrer Ankunft in den fünf Königreichen zu schreiben«, strahlte Bruder Dathal.

»Ich wünsche euch Glück zu diesem Unternehmen. Es würde mich fesseln, ein solches Werk zu lesen. Doch ich muß meine Untersuchung abschließen. Ihr sagt, ihr beide seid die ganze Zeit in eurer Kajüte geblieben und habt Schwester Muirgel nicht mehr gesehen, nachdem ihr an Bord kamt?«

Bruder Adamrae nickte.

»Das ist eine genaue Zusammenfassung, Schwester.«

Fidelma unterdrückte einen Seufzer der Enttäuschung.

Einer unter den Pilgern mußte lügen. Einer mußte in Schwester Muirgels Kajüte gegangen sein und sie erstochen, an Deck gebracht und über Bord geworfen haben. Dessen war sich Fidelma sicher. Aber warum sollte jemand die Leiche über Bord werfen und die blutbesudelte Kutte mit den Einstichen an Bord lassen? Das war wirklich seltsam.

»Wie bitte?« Sie merkte, daß Bruder Dathal etwas gesagt hatte.

»Ich meinte, es sei traurig, wenn man den Wert eines Menschenlebens geringschätzt. Doch ehrlich gesagt, es werden wahrscheinlich nur wenige eine lange Zeit um Schwester Muirgel trauern.«

»Mir ist klar, daß einige sie nicht mochten.«

»Ein paar Leute haßten sie sogar, Bruder Tola zum Beispiel. Vielleicht auch Schwester Gorman. Ach ja, es gibt mehrere, die ihr nicht allzu sehr nachtrauern werden.«

»Gehört ihr auch dazu?« fragte Fidelma rasch.

Bruder Dathal schaute seinen Gefährten an.

»Wir haben sie nicht gehaßt. Aber wir könnten auch nicht sagen, daß wir sie gemocht hätten«, gab er zu.

»Warum habt ihr sie denn nicht gemocht?«

Bruder Adamrae zuckte die Achseln.

»Sie verachtete uns. Sie war eine sehr sexuell veranlagte junge Frau. Wir brauchen dir wohl nicht zu erklären, weshalb sie auf Dathal und mich hinabsah. Jedenfalls kann man nicht jedem mit Liebe und Barmherzigkeit begegnen. Nehmen wir mal Bruder Tola. Ich wäre nicht traurig, wenn er aus unserer Gesellschaft verlorenginge.«

Fidelma dachte an Bruder Tolas Einstellung zur Gelehrsamkeit und mußte lächeln.

»Ich verstehe, was du meinst. Aber hatte Schwester Muirgel etwas Besonderes an sich, was Abneigung hervorrief?«

»Etwas Besonderes?« Bruder Dathal lachte. »Ich würde eher sagen, alles an ihr ärgerte uns. Sie ließ jeden wissen, daß sie die Tochter eines Fürsten war und daß sie wegen ihres gesellschaftlichen Ranges immer die Führung haben müsse.«

»Warum seid ihr mit auf diese Pilgerfahrt gegangen?« Fidelma wußte die Antwort, sobald ihr die Frage entfahren war.

»Weil zu Beginn Schwester Canair die Gruppe leitete. Muirgel war einfach nur dabei. Schwester Canair konnte sie in ihre Schranken weisen, obgleich Muirgel auch da schon ihren Anspruch zu behaupten versuchte.«

»Ihr Charakter unterschied sich von dem Schwester Canairs?«

»Absolut. Schwester Muirgel war niedrig gesinnt, von Eifersucht zerfressen, hochmütig und ehrgeizig!« Bruder Dathal stieß die Worte geradezu gehässig aus. Fidelma sah ihn überrascht an. Bruder Adamrae kam ihm zu Hilfe.

»Ich glaube, man muß Dathal seine unchristlichen Gedanken verzeihen.« Er lächelte leise. »Wenn man die Wahrheit sagt, kann einem das auch als unfreundlich und hart ausgelegt werden.«

»Worauf richtete sich ihr Ehrgeiz?«

Die beiden Männer wechselten Blicke. Bruder Dathal gab die Antwort.

»Macht, nehme ich an. Macht über Menschen, Macht über Männer.«

»Ich habe gehört, sie habe die kleine Schwester Gorman schikaniert.«

»Davon hören wir zum erstenmal«, antwortete Adamrae. »Aber Gorman sonderte sich immer ab.«

»Und du sagtest, Muirgel sei eifersüchtig gewesen. Auf wen denn?« fragte sie, an Dathal gewandt.

»Offensichtlich auf Schwester Canair. Frage ihre Gefährtinnen aus Moville. Wir haben sie erst zu Beginn der Reise kennengelernt, aber auf dem Wege nach Ardmore haben wir allerhand gehört. Man reist nicht mehrere Tage in einer kleinen Gruppe, ohne manches aufzuschnappen, was die anderen verbergen möchten. Muirgel war derart eifersüchtig auf Schwester Canair, daß es uns erschreckte.«

»Was war der Grund für ihre Eifersucht?«

»Ich meine, in Schwester Muirgel nistete ein Haß, der in Gewalttätigkeit umschlagen konnte.«

»Es hieß, Muirgel sei eifersüchtig auf Canair wegen ... wegen Bruder Cian.«

»Wer hat euch das gesagt?«

»Bruder Bairne«, antwortete Dathal.

»Wart ihr also beunruhigt, als Schwester Canair an dem Morgen, als das Schiff auslief, nicht kam und Schwester Muirgel die Führung übernahm?«

Bruder Adamrae schüttelte den Kopf und antwortete: »Es gab zwei Gründe, weshalb wir uns keine Sorgen machten. Erstens hatte uns Schwester Canair nicht bis Ardmore begleitet. Sie wollte jemanden besuchen, bevor wir die Abtei erreichten. Deshalb war es logisch, anzunehmen, daß sie gar nicht nach Ardmore kommen würde. Zweitens blieb Schwester Muirgel mit uns in der Abtei, bis wir zum Kai kamen und feststellten, daß Canair nicht da war und wir aufs Schiff gehen oder die Abfahrt versäumen mußten. Dathal und ich wären mit oder ohne Canair an Bord gegangen, weil wir unsere Chance, nach Iberia zu reisen und unsere Forschungen zur alten Geschichte unseres Volkes abzuschließen, nicht verschenken durften.«

Fidelma überlegte angestrengt.

»Ich habe noch eine Frage.«

Bruder Dathal lächelte.

»Fragen rufen immer neue Fragen hervor.«

»Seid ihr sicher, daß Muirgel auf Schwester Canair und Cian eifersüchtig war? Ich habe gehört, daß Mu-irgel ihr Verhältnis mit Cian beenden wollte.«

»Nun, Bairne hat auch seine Probleme. Er war in Muirgel verschossen. Aber Muirgel mochte Canair wirklich nicht. Sie war wahrscheinlich erpicht auf die Macht und das bißchen Autorität, das Canair besaß.«

Bruder Adamrae nickte überzeugt.

»Ich glaube, wir haben dir geholfen, so gut wir konnten, Schwester. In unserem Geschwätz wirst du wohl die Antworten, die du suchst, nicht finden. Du hast sicher schon darüber mit Bruder Bairne gesprochen oder wirst es tun?« Er stand auf und öffnete die Kajütentür, und Fidelma ging hinaus, in größerer Verwirrung als zuvor.

Cian blickte überrascht auf, als Fidelma an seine Kajütentür klopfte und eintrat.

»Was kann ich für dich tun?« fragte er. »Bist du gekommen, um wieder über die Vergangenheit zu jammern?«

Kühl erwiderte Fidelma: »Ich suche Bruder Bairne, der die Kajüte mit dir teilt.«

»Wie du siehst, ist er nicht hier.«

»Das sehe ich«, bestätigte Fidelma. »Wo finde ich ihn?«

»Soll ich meines Bruders Hüter sein?« fragte Cian sarkastisch.

Fidelma sah ihn angewidert an.

»Du solltest daran denken, in welchem Zusammenhang diese Frage gestellt wurde, bevor du einen Scherz damit treibst«, erwiderte sie und ging, ehe er etwas erwidern konnte.

Sie fand Bruder Bairne am Eßtisch des Messedecks, wie er trübsinnig in einen Krug Met starrte. Seine Augen waren rotumrandet, und man brauchte ihn nicht nach seinem Gemütszustand zu fragen.

Er blickte auf, als sie eintrat und sich neben ihn setzte.

»Ich weiß«, sagte er, »ein paar Fragen. Ich habe schon alles über deine Nachforschungen gehört. Ja, ich war in Muirgel verliebt. Nein, ich habe sie seit gestern abend nach Ausbruch des Sturms nicht mehr gesehen.«

Fidelma nahm diese Aussage ohne sichtliche Überraschung entgegen.

»Du sagtest, du bist aus Moville, nicht wahr?«

»Ich war dort in Ausbildung, um das Wort Gottes unter den Heiden zu predigen«, bestätigte er.

»Warst du mit Schwester Muirgel gut bekannt?«

»Ich hab dir schon gesagt, ich war verliebt ...«

»Mit Verlaub, das ist nicht dasselbe wie jemanden gut kennen.«

»Ich kannte sie seit mehreren Monaten.«

»Natürlich kanntest du auch Schwester Crella?«

»Natürlich. Sie waren mehr oder weniger unzertrennlich. Muirgel und Crella schienen alles miteinander zu teilen.«

»Einschließlich ihrer Freunde?«

Bruder Bairne errötete und schwieg.

»Hat Muirgel deine Gefühle für sie erwidert?«

»Du hast sicher schon Schwester Crella danach gefragt?«

»Ich betrachte das als eine negative Antwort. Unerwiderte Liebe ist schwer zu ertragen, Bairne. Hast du Muirgel gehaßt, weil sie dich abwies?«

»Natürlich nicht. Ich liebte sie doch.«

»Ich habe mich nur gefragt, warum du heute vormittag ausgerechnet aus dem Propheten Hosea zitiert hast.«

»Ich war völlig außer mir. Ich habe einfach nicht nachgedacht. Ich wollte zuschlagen .«

»Du wolltest Muirgel treffen?«

»Ich ... ich glaube nicht. Hätte sich Muirgel mir zugewandt, hätte ich sie geliebt und beschützt. Aber sie wies meine Liebe zurück und wandte sich Leuten zu, die sie verletzen konnten und es auch taten. Sogar dieser einarmige Halunke, mit dem ich eine Kajüte teilen muß, konnte mit ihr machen, was er wollte ...«

»Bruder Cian?« fragte Fidelma.

»Cian! Wenn ich nur als Krieger ausgebildet wäre, ich hätte ihm eine Lektion erteilt.«

»Du hast Dathal und Adamrae erzählt, daß er ein Verhältnis mit Muirgel hatte? Daß Muirgel ihn noch liebte und auf Canair eifersüchtig war, weil Cian jetzt ein Verhältnis mit ihr hatte?«

»Ich wußte, daß er sie wegen Schwester Canair verlassen hatte, aus demselben Grunde, aus dem er alle seine Frauen im Stich läßt. Canair hatte ihm im Moment mehr zu bieten.«

»Und Muirgel war eifersüchtig?«

»Was empfindet jemand, der abgewiesen worden ist?«

Fidelma spürte, wie sie errötete. Sie fragte sich, ob Bairne etwas von ihrer Vergangenheit wüßte, doch der junge Mann starrte in seinen Krug.

»Wann hast du Muirgel zuletzt gesehen?«

»Gesehen? Gestern abend vermutlich. Ich sprach mit ihr durch ihre Kajütentür kurz vor Mitternacht.«

»Durch die Tür? Wie meinst du das genau?«

»Sie machte nicht auf, als ich anklopfte. Ich fragte, ob es ihr besser ginge und ob ich ihr etwas bringen solle. Sie rief mir durch die Tür zu, sie wolle weiter nichts als in Ruhe gelassen werden. Danach ging ich zu Bett.«

»Bist du während der Nacht aufgestanden?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wann bist du aufgestanden?«

»Ungefähr bei Tagesanbruch, glaube ich. Ich mußte die defectora aufsuchen.« Aus Höflichkeit benutzte er den lateinischen Ausdruck statt des umgangssprachlichen.

»Ach ja. Ich habe gehört, daß du nicht die defectora im Achterschiff benutzt hast, sondern zu der im Bug gegangen bist. Das war ein weiter Weg. Warum hast du das getan?«

Bruder Bairne sah sie überrascht an.

»Ich hatte wohl ganz vergessen, daß es im Achterschiff eine defectora gibt. Ich weiß es nicht mehr genau.«

»Als du zurückkamst, war da noch jemand aufgestanden?«

»Ich sah diesen Halunken Cian an der Tür von Muirgels Kajüte stehen. Er sagte so etwas wie, er wolle sehen, ob alle den Sturm gut überstanden hätten. Ich wartete, weil ich glaubte, er wollte sich wieder an Mu-irgel heranmachen. Aber er kam gleich zurück aus ihrer Kajüte und sagte, er könne sie nicht finden.«

»Und da hast du erfahren, daß sie nicht an Bord zu entdecken war?«

Bruder Bairne beugte sich über den Tisch und schaute ihr ins Gesicht.

»Wenn du die Wahrheit wissen willst, Schwester, dann sag ich sie dir. Ich glaube nicht, daß Muirgel über Bord fiel. Ich glaube, sie wurde gestoßen. Und ich sag dir auch, wer’s getan hat.«

Er legte eine dramatische Pause ein, so daß sie fragen mußte: »Und wer hat’s getan?«

»Schwester Crella.«

Fidelma bemühte sich, ein undurchdringliches Gesicht zu machen.

»Du hast mir gesagt, wer es war; nun sag mir auch, warum.«

»Eifersucht!«

Fidelma musterte Bairnes verbissene Miene.

»Worauf sollte sie eifersüchtig sein?«

»Auf Muirgel natürlich! Frag sie doch. An allem ist nur dieser eingebildete Aff .«

Fidelma unterbrach ihn: »Von wem redest du?«

»Von diesem einarmigen Halunken Cian. Er steckt hinter allem! Das kannst du mir glauben!«

Fidelma wachte früh auf. Es war noch dunkel, als sie aus ihrer Koje kletterte, und sie hörte das zornige Fauchen des Mäuseherrn, der von ihrer plötzlichen Bewegung gestört worden war und sich am Fußende der Koje reckte.

Rasch wusch sie sich und zog sich an. Sie wünschte, sie könnte ein richtiges Bad nehmen, denn sie fühlte sich verschwitzt und unbehaglich. Sie warf sich ihren schweren Mantel über und ging an Deck.

Ein schwacher Lichtstreifen am Osthorizont verriet, daß der Tagesanbruch nicht mehr fern war. Es herrschte eine seltsame, unheimliche Stille auf dem Schiff, obwohl sie die dunklen Gestalten von Männern erkennen konnte, die dastanden, als warteten sie auf etwas. Wie Fidelma warteten sie auf die Morgendämmerung.

Fidelma ging vorsichtig nach achtern und traf wie vermutet auf Murchad und Gurvan, die beieinanderstanden. Zwei Matrosen waren schattenhaft am Steuerruder zu erkennen. Zu hören waren nur der Wind in der Takelage und die leisen Bewegungen der ledernen Segel.

Als es am vorigen Abend dämmerte, hatte das angelsächsische Schiff hinter ihnen immer noch versucht, gegen den Wind an sie heranzukommen. Sobald es dunkel war, hatte Murchad befohlen, alle Lichter zu löschen, die ihre Position hätten verraten können. Er wendete nach Norden und drehte nach einer Stunde in den Wind auf einen Kurs nach Südwest, der sie von der letzten bekannten Position des Angelsachsen wegführte.

Bei Anbruch der Morgendämmerung würde es sich herausstellen, ob die List erfolgreich war.

Es war kalt im grauen Morgenlicht, und der Wind war nicht stark. Es klarte auf, und der schmale Lichtstreif wurde breiter.

Niemand hatte ein Wort zur Begrüßung gesagt. Alle standen still wie Statuen und beobachteten den Osthimmel.

»Rot«, murmelte Gurvan und brach damit das Schweigen.

Weiter fiel kein Wort. Jeder wußte, was er meinte. Morgenrot prophezeite schlechtes Wetter. Doch es gab Wichtigeres zu bedenken jetzt, da sich das Tageslicht immer mehr ausbreitete. Alle versuchten das Zwielicht mit ihren Blicken zu durchdringen.

»Mastkorb! Hoel! Was siehst du?«

Nach einer Pause kam ein schwacher Ruf zurück.

»Der Horizont ist leer. Kein Segel in Sicht.«

Als erster entspannte sich Murchad sichtlich.

»Nichts zu sehen«, murmelte er. »Kein Segel und kein Mast.«

»Ich glaube, es hat geklappt, Kapitän«, stimmte ihm Gurvan zu.

Murchad klatschte vor Freude in die Hände. Er grinste vor Vergnügen.

»Segel sind allemal besser als Ruder«, schmunzelte er. »Ach, da ist sie ja .« Er legte den Kopf schief und nickte zufrieden.

Fidelma fragte sich, was er wohl meinte.

»Die Morgenbrise . ja, der Wind dreht. Dann erreichen wir heute noch Ushant. Vielleicht schon am Mittag, und wenn der Wind zunimmt«, er betrachtete den rötlichen Himmel, »und das Wetter wirklich schlecht wird, können wir dort Schutz suchen. Die Biskaya möchte ich nicht bei schlechtem Wetter durchqueren, wenn ich es vermeiden kann.«

Nachdem Murchad nun die angelsächsischen Seeräuber erfolgreich abgehängt hatte, war er anscheinend wieder in bester Laune.

»Halt sie auf Kurs, Gurvan. Ich geh zum Frühstück. Schwester Fidelma, würdest du mich dazu in meine Kajüte begleiten?«

Fidelma bedankte sich für die ungewöhnliche Einladung, und Murchad ließ Wenbrit ausrichten, er solle das Frühstück für beide in seine Kajüte bringen.

Es war viel angenehmer, mit Murchad zu frühstük-ken als mit den anderen Pilgern, stellte Fidelma fest, besonders nach den Spannungen der letzten vierundzwanzig Stunden. Murchad sprach das Thema an, das ihnen beiden am wichtigsten war.

»Nun, was hast du über den Tod dieser Frau - Mu-irgel - in Erfahrung bringen können?«

Fidelma ließ sich auf einem der zwei Stühle nieder, die zu beiden Seiten des kleinen Holztisches in Mur-chads Kajüte eingeklemmt standen. Der Kapitän holte eine Flasche und zwei Tonbecher aus dem Schrank.

»Corma« erklärte er, als er eingoß. »Das hält die Morgenkälte ab.«

Normalerweise wäre Fidelma nie auf die Idee gekommen, gleich am Morgen so ein kräftiges Getränk zu genießen. Doch der Tag war kühl, und sie fröstelte. Sie nahm den Becher und nippte an der feurigen Flüssigkeit, ließ sie sich auf der Zunge verteilen und befeuchtete damit die Lippen. Sie hüstelte.

»Ich habe mit allen aus der Pilgergruppe gesprochen, Murchad«, antwortete sie. »Ich habe niemandem gesagt, daß wir den Verdacht hegen, sie sei nicht einfach über Bord gespült worden. Interessanterweise vermuten jedoch mindestens zwei Leute, daß sie ermordet wurde.«

»Und?« fragte Murchad gespannt.

»Es gibt keine einfache Lösung ...«

Es wurde angeklopft, und Wenbrit kam herein. Er trug ein Tablett mit gekochtem Fleisch, Käse und Obst sowie Zwieback.

Er lächelte Fidelma an.

»Bruder Cian hat gefragt, wo du bist. Ich hab ihm gesagt, du frühstückst mit dem Kapitän. Das war ihm offenbar gar nicht recht.«

Fidelma gab keine Antwort. Es war ihr gleich, ob Cian sich nach ihr erkundigte.

»Hast du ihnen erklärt, daß wir dem Seeräuber entkommen sind, Junge?« fragte Murchad.

Wenbrit nickte.

»Das interessierte nur wenige von ihnen«, antwortete er. »Wenn die Angelsachsen uns erwischt hätten, hätten sie sich mit Sicherheit dafür interessieren müssen.«

Er wandte sich zur Tür, dann zögerte er.

»Wolltest du noch was sagen?« knurrte Murchad, der den Jungen offensichtlich auch ohne viele Worte verstand.

Wenbrit drehte sich unsicher herum.

»Nichts Wichtiges. Schließlich haben die Pilger für die Überfahrt bezahlt und ...«

»Was ist? Los, raus damit!« Murchad wurde ungeduldig.

»Ich hab gemerkt, daß sich jemand bei den Lebensmitteln bedient hat. Etwas Fleisch, Brot und Obst fehlt, allerdings nicht viel. Das war gestern früh so und heute wieder .«

»Essen fehlt?«

»Und ein Fleischmesser. Erst dachte ich, ich hätte mich geirrt, aber jetzt bin ich sicher. Dabei hab ich bei der Ausgabe nicht geknausert. Wer mehr haben will, braucht es nur zu sagen. Aber Messer sind wertvoll.«

»Wenbrit«, fragte Fidelma plötzlich interessiert, »weshalb weißt du so genau, daß es einer der Passagiere war, der sich bedient hat? Die Mahlzeiten, die du servierst, sind wirklich reichlich. Könnte es nicht einer von der Mannschaft gewesen sein?«

Wenbrit schüttelte den Kopf.

»Die Lebensmittel für die Mannschaft werden getrennt gelagert. Dieses Schiff führt oft Passagiere, deshalb müssen wir Lebensmittel für sie gesondert einlagern und abrechnen. Keiner der Mannschaft würde sich an dem Essen für die Passagiere vergreifen.«

Murchad räusperte sich ärgerlich.

»Ich werde den Pilgern heute erklären, daß sie es nur zu sagen brauchen, wenn sie größere Rationen haben wollen. Und ich werde auch mit der Mannschaft darüber sprechen.«

Der Junge grüßte und verschwand.

Fidelma schaute den Kapitän nachdenklich an.

»Du magst den Jungen, nicht wahr?«

Murchad wurde einen Moment verlegen.

»Er ist Waise. Ich hab ihn von See mitgebracht. Meine Frau und ich sind nicht mit Kindern gesegnet, so wurde er zu dem Sohn, den ich nie hatte. Er ist ein heller Bursche.«

»Ich glaube, er hat mich eben auf einen Gedanken gebracht. Ich möchte, daß Gurvan später mit mir noch einmal das Schiff absucht«, meinte Fidelma.

Murchad runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht.«

»Ich erkläre es dir, wenn ich das nochmal durchdacht habe.«

Murchad langte nach dem Krug mit corma, doch Fidelma wehrte ab.

»Ein Becher ist mehr als genug für mich, Murchad.«

Er schenkte sich noch einmal reichlich ein und lehnte sich zurück. Prüfend schaute er sie an.

»Dieser Bruder Cian scheint ein mehr als flüchtiges Interesse an dir zu nehmen, Lady«, meinte er.

Fidelma spürte, wie sie errötete.

»Wie ich schon sagte, ich kannte ihn vor zehn Jahren, als ich noch Studentin war.«

»Ach so. Nach dem wenigen, was ich mit ihm zu tun hatte, scheint er mir recht verbittert zu sein. Der nutzlose Arm, vermute ich?«

»Der nutzlose Arm«, bestätigte Fidelma.

»Wir sprachen von Schwester Muirgel.« Murchad wechselte das Thema, als er Fidelmas Verlegenheit bemerkte. »Du sagtest die Lösung sei nicht einfach; das habe ich auch nicht erwartet. Aber gibt es überhaupt einen Hinweis darauf, was wirklich geschah?«

Fidelma seufzte verzweifelt.

»Ich glaube, es ist sicher, daß hier an Bord ein Mord verübt wurde. Doch ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wer der Täter war.«

»Aber hast du eine Ahnung, einen Verdacht?«

»Schwester Muirgel wurde anscheinend von mehreren an Bord heftig verabscheut, und wer sie nicht verabscheute, war grenzenlos eifersüchtig auf sie. Sicher bin ich nur in einem: Derjenige, der mit dem Messer auf sie einstach, ist noch an Bord. Doch ob ich ihn finde, bevor das Schiff in Iberia anlegt, dessen bin ich gar nicht sicher.«

»Aber du wirst versuchen, den Mörder aufzuspüren?«

»Die Absicht habe ich. Doch das braucht Zeit«, erwiderte Fidelma ernst.

»Wir haben noch mehrere Tage zu segeln, bevor wir Iberia erreichen«, überlegte Murchad düster. »Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, daß wir weiterfahren, ohne zu wissen, wer der Mörder ist. Wir können alle in Gefahr sein.«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Das glaube ich nicht. Ich denke, der Täter hat sich Schwester Muirgel zum Ziel genommen, weil sie der Gegenstand seines überwältigenden Hasses war. Ich meine nicht, daß sich irgend jemand anders in unmittelbarer Gefahr befindet.«

Murchad sah sie besorgt an.

»Aber hast du einen Verdacht, wer der Mörder sein könnte, Fidelma?« In seiner Stimme schwang verhaltene Spannung mit, als wolle er gern beruhigt werden.

»Ich spreche immer erst davon, wenn ich sicher bin«, erwiderte sie. »Doch mach dir keine Sorgen, ich sage es dir so bald wie möglich.«

Sie hatte ein wenig von den Speisen gekostet, die Wenbrit serviert hatte. Fidelma aß nie ein reichliches Frühstück, meist genügte ihr etwas Obst. Nun erhob sie sich.

»Was hast du als nächstes vor?« erkundigte sich Murchad.

»Ich werde Muirgels Kajüte und ihre Habseligkeiten gründlich durchsuchen.«

Murchad ließ sie nur widerwillig gehen.

»Nun, halte mich auf dem laufenden. Und sei vorsichtig. Wer einmal getötet hat, hat keine Hemmungen, es noch mal zu tun, besonders, wenn er denkt, du bist ihm dicht auf der Spur. Ich kann nicht wie du glauben, daß die Gefahr vorbei ist.«

Sie lächelte ihm von der Tür aus zu.

»Mach dir keine Sorgen um mich, Murchad«, sagte sie. »Ich bin sicher, daß dieses Verbrechen der Leidenschaft entsprang und nur Schwester Muirgel galt.«

Draußen war es jetzt ganz hell. Der Himmel war klar und blau, doch der Wind wehte frisch und kühl. Das Morgenrot war verschwunden; es kündigte meist Windstille an, der aber bald schlechtes Wetter folgen würde. Kein Wetterumschlag vollzieht sich ohne Vorzeichen. Fidelma hatte von Kindheit an gelernt, die Zeichen am Himmel zu beachten. Man mußte sie erkennen und richtig zu deuten wissen. Jetzt war es hell, und die blasse Sonne würde hoffentlich noch wärmer scheinen, aber sie bezweifelte es. Schlechtes Wetter zog heran. Sie fragte sich, was aus dem Glauben des Kapitäns an den »kleinen Sommer des heiligen Lukas« geworden war.

Sie ging hinunter in den Kajütenbereich und blieb stehen, als sie Stimmen vom Messedeck hörte. Die Pilger saßen noch beim Frühstück. Das war die beste Gelegenheit, Schwester Muirgels Kajüte und Habseligkeiten zu durchsuchen, ohne dabei gestört zu werden. Später konnte sie ihnen ihren Verdacht eröffnen, doch sie hoffte, zugleich enthüllen zu können, wer Muirgel über Bord gestoßen hatte.

Das Problem lag darin, daß mehrere Personen die Gelegenheit gehabt hatten, Schwester Muirgel umzubringen, und deshalb unter offensichtlichem Verdacht standen. Nur kam es nach ihrer Erfahrung niemals auf das Offensichtliche an. Aber was tun, wenn man zu viele Verdächtige hatte? Sie gab es ungern zu, auch nicht vor sich selbst, aber sie wünschte, Bruder Eadulf wäre da und sie könnte ihre Überlegungen mit ihm besprechen. Oft hatten seine Kommentare die Lage für sie erhellt.

Sie betrat die dunkle, übelriechende Kajüte und entzündete eine Lampe an der Laterne, die im Durchgang hing. Sie blickte sich um, ob sie unbeobachtet sei, und schloß die Tür hinter sich.

Ein paar Decken lagen im Knäuel auf der Koje, die Schwester Muirgel benutzt hatte. Fidelma hob die Lampe hoch und blickte sich um. Die Kajüte enthielt kaum etwas von Interesse, kein Gepäck, keine Papiere oder Bücher, die einen Anhalt geboten hätten.

Sie schaute in den Ecken nach Schränken oder Haken. Von Schwester Muirgels Gepäck war nichts zu sehen. Jemand mußte es wohl auf die Koje gestellt und mit den Decken verhüllt haben. Sie erinnerte sich nicht, daß die Kajüte so unaufgeräumt gewesen war, als sie mit Wenbrit herkam, um Muirgels Kutte zu untersuchen. Die Kutte hatte sie Murchad übergeben, für den Fall, daß sie als Beweisstück gebraucht wurde.

Sie setzte die Lampe neben der Koje ab und beugte sich vor. In dem Moment packte sie eine schauerliche Vorahnung. Die Decken, das sah sie erst jetzt, verdeckten eine menschliche Gestalt. Den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie, dann zog sie eine Decke fort.

Dort lag eine Frau auf dem Rücken, nur in ihrer blutgetränkten Unterwäsche. Die Augen waren noch offen, und das Blut kam in kleinen Stößen aus einer unregelmäßigen Schnittwunde am Hals, die die Schlagader durchtrennt hatte. Die dunklen, erstarrenden Augen wandten sich stumm und bittend Fidelma zu, dann zuckten die Lippen, brachten noch ein gurgelndes Geräusch zustande und färbten sich mit Blut.

Fidelma beugte sich rasch über sie.

Es gab ein letztes krampfhaftes Atemholen, aber keine Worte mehr. Die sterbende Frau schien Fidelma eine geballte Faust entgegenzustrecken.

Dann sank der Kopf kraftlos zur Seite, und Blut schoß aus dem halbgeöffneten Mund. Die Faust löste sich, und etwas fiel klappernd zu Boden. Fidelma bückte sich unwillkürlich und hob es auf. Es war eine kleines silbernes Kruzifix an einer zerrissenen Kette.

Fidelma stand langsam auf und hielt die Lampe höher, um der Frau ins Gesicht zu sehen. Verwirrt schaute sie sie an und versuchte das, was sie vor sich sah, mit den Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden in Einklang zu bringen.

Die tote Frau, die mit kurz zuvor durchschnittener Kehle auf der Koje vor ihr lag, war Schwester Muirgel.

Kapitel 14

»Das verstehe ich nicht«, erklärte Murchad nicht zum erstenmal, kratzte sich den Kopf und starrte die Leiche an. Fidelma hatte ihn in die Kajüte gerufen, ohne jemand anderem etwas zu sagen. Er sah völlig perplex aus. »Bist du sicher, daß das Schwester Muirgel ist? Ich hab sie nur ganz kurz gesehen an dem Tag, als sie alle an Bord kamen. Kann es nicht eine der anderen Schwestern sein?«

Fidelma schüttelte entschieden den Kopf.

»Ich sah sie auch nur ein paar Minuten, als ich in ihre Kajüte ging, aber ich bin sicher, daß es dieselbe Frau ist. Es ist bestimmt keine der drei anderen.«

Murchad seufzte schwer und ratlos.

»Demnach scheint es so, als wäre diese Schwester Muirgel zweimal ermordet worden«, meinte er trocken. »Einmal in der ersten Nacht nach dem Auslaufen, als ihre blutbefleckte Kutte gefunden wurde, aber nicht ihr Leichnam, und jetzt zum zweitenmal, als ihr jemand die Kehle durchschnitt. Was hat das zu bedeuten?«

»Das bedeutet, daß Schwester Muirgel uns zunächst glauben machen wollte, sie wäre tot ... Während sie in Wirklichkeit noch an Bord war und sich irgendwo versteckt hielt ... Oder von jemandem versteckt wurde. Weißt du noch, was Wenbrit von den fehlenden Lebensmitteln erzählte? Da schöpfte ich gleich Verdacht. Deshalb wollte ich noch einmal suchen lassen. Muirgel spielte uns was vor. Doch das Messer ist nicht zu finden.«

»Aber warum wollte Muirgel uns glauben machen, sie sei erstochen oder vom Sturm über Bord gerissen worden?« fragte Murchad. »Warum hat man die Kutte so hingelegt, daß wir gleich einen Mord vermuten mußten?«

Fidelma besah sich das Kruzifix, das sie in der Hand hielt. Muirgel hatte es fallen lassen. Fidelma hatte es fast vergessen in den letzten Minuten, in denen sie nach einer Erklärung für das Rätsel suchte.

»Was ist das?« fragte der Kapitän, als er es sah.

»Ihr Kruzifix. Es muß ihr in den letzten Minuten ihres Lebens Trost gegeben haben. Sie hielt es umklammert, als sie starb.«

»Eine fromme Frau«, meinte Murchad und wies auf das größere, prunkvollere Kruzifix, das noch am Halse der Toten hing.

Fidelma schaute auf das Kruzifix in ihrer Hand. Es war ganz anders als das, welches Muirgel getragen hatte. Es war zwar kleiner, aber geschmackvoller gearbeitet, und ihr wurde plötzlich klar, daß dieses Kruzifix nicht Muirgel gehört hatte. Sie wendete es nachdenklich um. Erst beim zweiten Umwenden fiel ihr auf, daß ein Name eingeritzt war.

»Halte mal die Lampe näher«, bat sie Murchad. Der tat es.

Die Zeichen waren nur schwach markiert, doch der Name war gut zu lesen. Canair.

Fidelma überlegte.

»Bist du dieser Schwester Canair mal begegnet?« fragte sie Murchad.

»Die hab ich nie gesehen. Die Überfahrt wurde, wie deine auch, vor Ankunft der Pilger bezahlt, in diesem Fall von der Abtei des heiligen Declan. Ich kannte nur die Namen der Pilger, und die mußten mit der Zahl der bezahlten Plätze übereinstimmen. Elf waren bezahlt, aber nur zehn Leute, außer dir, kamen an Bord. Mir wurde gesagt, Schwester Canair, die Führerin der Pilgergruppe, sei nicht in Ardmore angekommen, und da wir mit der Ebbe auslaufen mußten .« Er zuckte abweisend die Achseln. »Was machen wir jetzt?«

Fidelma brauchte einen Moment, um zu einem Entschluß zu kommen.

»Ich forsche weiter, aber nun haben wir eine Leiche, die ein Verbrechen beweist. Zunächst einmal werden ein paar Dinge klarer. Zum Beispiel, daß Bruder Guss, der behauptete, er liebe Muirgel, nicht von Gram gebeugt war, als wir alle glaubten, sie sei über Bord gespült worden. Er wußte offensichtlich, daß sie noch am Leben war. Doch mein Verdacht ändert sich jetzt. Ich fürchte, ich bin der Lösung des Rätsels nicht näher als zuvor. Es sind noch zu viele Fragen offen.«

Fidelma schaute den Kapitän an.

»Es sitzen noch alle beim Frühstück, nehme ich an?

Könntest du wohl Bruder Tola und Bruder Guss herholen? Laß sie aber nicht in die Kajüte, ehe ich es sage. Ach, und kannst du einen Matrosen entbehren? Ich glaube, wir werden eine Wache vor die Kajüte stellen müssen.«

Wortlos ging Murchad los. Kurz danach klopfte es an der Tür. Ein rotgesichtiger Matrose steckte den Kopf herein. »Ich heiße Drogan, Lady. Der Kapitän hat mir gesagt, du brauchst hier unten jemand.«

»Ja. Bleib draußen und laß niemanden in die Kajüte, bis ich es dir sage.«

Drogan legte die Faust zum Gruß an die Stirn und zog sich zurück. Kurz darauf hörte sie draußen Bruder Tolas quengelige Stimme, der wissen wollte, was er hier sollte. Fidelma ging zur Tür.

»Komm rein, Bruder Tola«, befahl sie knapp. Als sie Bruder Guss hinter ihm erblickte, fügte sie hinzu: »Du wartest draußen. Ich habe gleich noch mit dir zu reden.«

Mit düsterer Miene trat Bruder Tola ein.

»Was ist denn jetzt los?« wollte er wissen und sah sich angewidert um.

Fidelma ging zur Koje und hielt die Lampe über der Leiche hoch.

Bruder Tola schnappte nach Luft und trat einen Schritt näher.

»Wer ist das, Bruder Tola?« fragte Fidelma und ließ ihn nicht aus den Augen.

Er sah völlig verwirrt aus und beugte sich kopfschüttelnd vor.

»Es ist Schwester Muirgel«, flüsterte er. »Was hat das zu bedeuten? Ich dachte, sie wäre über Bord gespült worden.«

Es stand außer Frage, daß seine Überraschung echt war.

»Geh zu den anderen zurück, Tola«, befahl ihm Fidelma leise, »aber erzähl nichts hiervon, bis ich nachkomme. Das wird bald sein. Sag Bruder Guss, er soll reinkommen, wenn du rausgehst.«

Mit leichtem Kopfschütteln verließ sie der erschütterte Mönch. Fidelma war enttäuscht. Sie hatte beinahe damit gerechnet, daß ein Anzeichen verraten würde, daß Tola nicht sehr erstaunt wäre über den Anblick der Leiche Muirgels. Ein so guter Schauspieler war er sicher nicht. Er war ebenso verblüfft von Mu-irgels Wiederauftauchen wie sie selbst. Dann trat mit einem leisen Hüsteln der junge Mönch ein.

Wieder hob Fidelma einfach die Lampe hoch und beobachtete sein Gesicht.

»Wer ist das, Bruder Guss?«

Der junge Mann wurde totenblaß und taumelte zurück. Fidelma glaubte einen Moment, er werde ohnmächtig. Er schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte herzzerreißend.

»Muirgel! O mein Gott, Muirgel!« Er wiegte sich auf den Fersen vor und zurück.

Fidelma hängte die Lampe an und schob ihn sacht auf einen Stuhl.

»Du hast mir einiges zu erklären, Bruder Guss. Als ich dich gestern befragte, wußtest du, daß Schwester Muirgel noch am Leben war. Du hast nicht diesen Schmerz gezeigt, als wir alle annahmen, sie sei über Bord gespült worden. Wo hatte sie sich versteckt und warum?«

»Ich habe Muirgel geliebt«, schluchzte der junge Mann leise.

»Und du wußtest, daß sie noch lebte?«

»Ja, das wußte ich«, bestätigte er zwischen seinem Schluchzen.

»Warum hat sie so ein Schauspiel inszeniert und vorgegeben, sie sei über Bord gefallen?«

»Sie fürchtete, daß man sie umbringen würde«, sagte er weinend.

Fidelma betrachtete ihn neugierig.

»Willst du damit sagen, daß sie sich irgendwo an Bord versteckte, weil sie ihr Leben in Gefahr glaubte?«

Er nickte und versuchte sein kummervolles Schluchzen zu unterdrücken.

»Warum kam sie dann überhaupt an Bord, wenn sie um ihr Leben fürchtete? Ist ein Schiff nicht der letzte Ort, an dem man Zuflucht finden kann?«

»Sie begriff erst, daß sie das nächste Opfer sein würde, nachdem sie an Bord war. Da war es zu spät, wir waren schon ausgelaufen. So richtete sie es ein, daß sie sich versteckte, und ich half ihr dabei.«

»Das nächste Opfer?« fragte Fidelma.

»Schwester Canair war schon ermordet worden, bevor wir an Bord kamen.«

»Canair?« Fidelma war erstaunt. »Willst du damit sagen, Schwester Muirgel und du, ihr hättet schon gewußt, als ihr an Bord kamt, daß Schwester Canair tot ist?«

»Das ist eine lange Geschichte, Schwester«, erklärte Bruder Guss, der sich nun wieder ein wenig unter Kontrolle hatte.

»Dann fang mal an damit. Zu welchem Zweck hat sich Schwester Muirgel im Schiff verborgen, statt in ihrer Kajüte zu bleiben?«

»Sie wollte sich vor dem Mörder verstecken, und dann wollte ich sie im ersten Hafen, den wir anliefen, von Bord schmuggeln, wahrscheinlich auf Ushant. Wir hofften, daß wir in der Dunkelheit ankommen würden, und wollten uns dort verbergen, bis das Schiff mitsamt dem Mörder ausgelaufen war.«

»Ein merkwürdiger Plan. Warum habt ihr nicht einfach die Geschichte dem Kapitän berichtet? Wenn ihr wußtet, daß sich ein Mörder an Bord befand und weiter töten wollte .«

»Es war Muirgels Idee. Sie meinte, niemand würde ihr glauben. Jetzt müssen sie’s.« Der junge Bruder begann erneut zu schluchzen.

»Also der Mörder war an Bord. Weißt du, wer es ist?«

Guss schüttelte traurig den Kopf.

»Ich weiß es nicht, jedenfalls nicht sicher. Muirgel wußte es, wollte es mir aber nicht verraten, um mich nicht in Gefahr zu bringen. Ich kann nur vermuten, wer es sein könnte.«

Der junge Mann stand unter Schock, denn er sprach wie im Traum, langsam und bedächtig, mit leerem Blick.

Unter anderen Umständen hätte Fidelma sich um ihn gekümmert, aber sie mußte mehr erfahren, und zwar sofort. Sie langte in ihre Kutte, holte das kleine silberne Kruzifix hervor, das Schwester Muirgel in der Faust gehabt hatte, und hielt es ihm hin.

»Kennst du das?« wollte sie wissen.

Guss stieß ein hysterisches Lachen aus.

»Es gehörte Schwester Canair.«

»Woher weißt du, daß Canair tot ist? Oder wußte das auch nur Muirgel mit Sicherheit?«

»Ich hab ihre Leiche gesehen. Wir beide sahen sie.«

»Bist du sicher, daß es Canair war?«

»Den Anblick dieser Leiche vergesse ich nicht so leicht.«

»Wann war das?«

»In der Nacht, bevor wir an Bord gingen.«

»In der Abtei Ardmore?«

»Nicht in der Abtei. Muirgel und ich blieben dort nicht die ganze Nacht.«

Die plötzlichen Wendungen dieser Geschichte konnten Fidelma kaum noch überraschen.

»Ich dachte, eure ganze Gruppe übernachtete in der Abtei.«

»Wir kamen am späten Nachmittag zusammen in der Abtei an. Vorher hatte uns Schwester Canair erklärt, daß sie in der Nähe einen Besuch machen wollte, und sich von uns getrennt. Sie wollte später dazustoßen, meinte aber, wenn es zu spät würde, dann würde sie uns morgens am Kai treffen. Der Abt hatte unsere Überfahrt auf der >Ringelgans< schon mit dem Kapitän geregelt, wir brauchten uns also nur noch dort zu sammeln und an Bord zu gehen.«

»Ich verstehe. Aber Schwester Canair erschien am nächsten Morgen nicht am Kai, nicht wahr?«

»Nein. Da war sie schon tot.«

»Wann habt ihr erfahren, daß sie tot ist?«

»Wie ich bereits sagte, kamen wir in der Abtei an. Die meisten von uns waren müde und erschöpft und gingen zu Bett. Muirgel flüsterte mir zu, sie wolle vorher noch einen Spaziergang machen. Ich sollte mich, ohne mich sehen zu lassen, vor den Toren der Abtei mit ihr treffen. Crella hängte sich die ganze Zeit an sie und ging ihr auf die Nerven. Sie sagte, sie wolle mit mir allein sein. Du weißt doch, wir liebten uns.«

»Sprich weiter«, forderte ihn Fidelma auf, als er schwieg. »Hast du sie draußen getroffen?«

»Ja. Sie war guter Laune und . auch in einer sehr ungezogenen Stimmung. Sie meinte, am Fuße des Berges gebe es eine Herberge, und dort könnten wir die Nacht verbringen, ohne daß uns jemand fände oder störte.«

»Warst du damit einverstanden?«

»Natürlich.«

»Und ihr habt die Nacht in diesem Gasthaus verbracht?«

»Einen Teil davon.«

»Und Schwester Canair? Was hat das mit ihr zu tun?«

Bruder Guss holte tief Atem und stieß einen schweren Seufzer aus.

»Wir . nachdem wir . einige Zeit, nachdem wir im Bett waren - in der Herberge, meine ich -, hörten wir so etwas wie ein Handgemenge im Nachbarzimmer. Wir dachten uns nichts dabei. Dann vernahmen wir einen Schrei und wie jemand den Gang entlanglief. Wir hätten uns nicht darum gekümmert, wenn nicht ein Stöhnen aus dem Nebenzimmer gedrungen wäre.«

»Was tatet ihr?«

»Aus Neugierde ging Muirgel zur Tür und horchte. Dann schaute sie hinaus auf den Gang. Die Tür des anderen Zimmers stand leicht offen, und drinnen flak-kerte eine Kerze. Sie schaute hinein und wollte sehen, ob sie helfen könnte, denn jemand litt offensichtlich Schmerzen.«

Der junge Mann stockte. Sein Mund war wohl trocken, und Fidelma reichte ihm einen Krug mit Wasser. Danach fuhr er fort.

»Muirgel eilte zu mir zurück. Sie war erregt und entsetzt. Sie flüsterte: >Es ist Schwester Canair!< Ich ging in das Zimmer und sah Canair auf dem Bett liegen. Man hatte ihr mehrmals in die Brust gestochen, in der Herzgegend. Dann hatte man ihr die Kehle durchgeschnitten.«

Fidelma kniff die Augen zusammen.

»Das deutet auf einen Wutanfall hin.«

Bruder Guss ging nicht darauf ein.

Fidelma wollte mehr wissen.

»Doch du sagtest, daß sie noch lebte? Daß ihr sie stöhnen hörtet?«

»Ihre letzten Züge, wie sich herausstellte«, antwortete der junge Mann. »Als ich ins Zimmer kam, war sie schon tot. Ich deckte sie mit der Bettdecke zu und blies die Kerze aus. Dann kehrte ich zu Muirgel zurück.«

»War Canair schon tot, als Muirgel hineinging? Hat sie noch etwas gesagt, ehe sie starb?«

Bruder Guss schüttelte den Kopf.

»Als Muirgel die Wunden sah, geriet sie in Panik. Sie wagte sich nicht näher heran, aber Canair konnte ohnehin keine verständlichen Worte mehr herausbringen.«

»War etwas von der Waffe zu sehen, mit der man ihr die Wunden zugefügt hatte?«

»Ich sah keine Waffe, aber ich war auch zu erschüttert, um danach zu suchen. Wir besprachen lange, was wir tun sollten. Es war Muirgels Idee, daß wir einfach die Herberge verließen, zur Abtei zurückkehrten und so taten, als wären wir die ganze Nacht dort geblieben.«

»Aber der Herbergswirt konnte bezeugen, daß ihr dort wart.«

»Daran dachten wir nicht.«

»Warum habt ihr nicht Alarm geschlagen? Vielleicht hätte man den Mörder noch fassen können.«

»Damit hätten wir verraten, daß wir im Nebenzimmer waren. Der Mörder hätte von unserer Anwesenheit erfahren, und wir hätten auf die Reise verzichten müssen. Es hätte alle möglichen Schwierigkeiten gegeben.«

Er schaute beschämt drein.

»Jetzt klingt es albern und selbstsüchtig, das gebe ich zu, aber damals erschien es uns nicht so, jedenfalls nicht, als wir im Zimmer neben dieser schrecklichen Leiche saßen. Du wirst uns sicher verurteilen. Aber es ist leicht, logisch zu denken, wenn Zeit vergangen ist und man Abstand vom Geschehenen hat.«

»Urteilen soll man erst, wenn alle Vorgänge geklärt sind. Sprich weiter.«

»Wir waren noch vor Tagesanbruch zurück in der Abtei.«

»Habt ihr nicht befürchtet, der Herbergswirt würde Alarm schlagen und ihr könntet wegen eurer Flucht in Mordverdacht geraten?«

»Wir hatten Geld für unser Zimmer hinterlassen. Die Tür zu Canairs Zimmer hatten wir geschlossen und hofften, daß die Leiche erst später entdeckt würde. Wir glaubten, daß alle noch schliefen, als wir aufbrachen, doch wir merkten, daß der Herbergswirt bei Fackellicht seinen Karren belud. Er sah uns nicht. Wir eilten zurück zur Abtei und nahmen unsere Plätze im Speisesaal ein, und als die anderen Mitglieder unserer Gruppe erschienen, kamen sie nicht auf die Idee, daß wir nicht die ganze Nacht dort verbracht hätten.«

Fidelma rieb sich die Nase und überlegte. Die Geschichte klang so seltsam, daß sie nicht an ihrer Wahrheit zweifelte.

»Alle anderen aus eurer Gruppe waren in der Abtei?«

»Ja.«

»Keiner hatte den Verdacht, daß ihr nicht die ganze Nacht dort geblieben wärt?«

Bruder Guss schüttelte den Kopf, fügte aber hinzu: »Ich glaube, Crella hatte Verdacht geschöpft. Sie warf uns böse Blicke zu.«

»Canair erschien also nicht am Kai, ihr beide habt keinem etwas von eurer Geschichte erzählt, und dann gingt ihr alle an Bord.«

Bruder Guss bejahte das mit einer Geste.

»Ich dachte, alles wäre in Ordnung. Muirgel hatte die Führung übernommen und die Kajüten zugeteilt, wie ich schon sagte. Sie nahm eine für sich allein in der Hoffnung, wir könnten später dort zusammenkommen. Doch sie rief mich noch vor dem Auslaufen zu sich. Sie war bleich und zitterte, war fast außer sich vor Furcht.«

»Hat sie dir erklärt, weshalb?«

»Sie sagte, sie wüßte, daß Canairs Mörder an Bord sei.« Er wies auf das Kreuz, das Fidelma noch in der Hand hielt. »Sie hatte jemanden gesehen, der dieses Kreuz trug. Es war Canairs Kreuz, das sie immer bei sich hatte. Sie hatte Muirgel einmal erzählt, es sei ein Geschenk von ihrer Mutter. Muirgel schwor, Canair habe es getragen, als sie uns verließ, um ihre Freunde zu besuchen. Es konnte ihr nur von der Person abgenommen worden sein, die sie tötete.«

»Aber das allein konnte doch Schwester Muirgel nicht solche Angst einjagen. Sie hatte offensichtlich die Person mit dem Kruzifix erkannt. Sie hätte zum Kapitän gehen und ihm alles berichten können.«

»Nein! Ich sagte dir schon - sie fürchtete sich sehr.

Sie meinte, sie wüßte, weshalb Canair umgebracht worden sei, und sie wäre das nächste Opfer.«

»Hast du eine weitere Erklärung von ihr verlangt?«

»Ich hab’s versucht. Als ich sie fragte, woher sie das wüßte, zitierte sie einen Vers aus der Bibel.«

»Welchen?« fragte Fidelma rasch. »Kannst du dich daran erinnern?«

»Die Worte lauteten etwa so:

>Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz
Und wie ein Siegel auf deinen Arm.
Denn Liebe ist stark wie der Tod,
Und Eifersucht ist fest wie die Hölle.
Ihre Glut ist feurig
Und eine Flamme des Herrn.<«

Fidelma blieb nachdenklich.

»Hat sie dir erklärt, was sie damit meinte?«

Bruder Guss errötete.

»Muirgel hatte . hatte andere Männer vor mir gekannt, das leugne ich nicht. Sie gestand mir, daß sie und Canair einmal in denselben Mann verliebt waren. Mehr wollte sie nicht sagen.«

»In denselben Mann verliebt? >Eifersucht fest wie die Hölle<?« Fidelma seufzte. »Das ergibt ein wenig Sinn, aber nicht viel. Bist du sicher, daß sie dir weiter nichts erzählt hat?«

»Nur, daß sie wüßte, daß dieselbe Person, die Ca-nair getötet hatte, auch sie umbringen würde, bevor die Seereise beendet wäre.«

»Aus Eifersucht?«

»Ja. Sie erklärte mir, sie werde sich den ganzen Tag in der Kajüte einschließen und vorgeben, sie wäre seekrank.«

»Dann kam ich an Bord, und Wenbrit meinte, ich sollte mit in ihre Kajüte ziehen«, sagte Fidelma.

»Ja - sie wehrte sich dagegen, aber auch als du woanders untergebracht wurdest, fühlte sie sich noch bedroht. Da faßte sie den Plan, sich zu verstecken und die blutbefleckte Kutte in ihrer Kajüte zu hinterlassen. Die Leute sollten denken, der Mord sei schon verübt worden, und deshalb nicht mehr nach ihr suchen.«

»Wollte sie vorgeben, vom Sturm über Bord gerissen worden zu sein?«

»Nein. Wir wußten ja nicht, daß ein Sturm über uns hereinbrechen würde. Die blutige Kutte sollte den Anschein erwecken, als sei sie erstochen worden. Die Leute sollten annehmen, sie sei in der Nacht umgebracht und über Bord geworfen worden. Der Sturm machte es nur schwieriger. Die Leute dachten, sie sei nachts über Bord gerissen worden. Jetzt ärgerten wir uns, daß wir die Kutte zurückgelassen hatten, weil dadurch alles komplizierter wurde.«

»Allerdings; hättet ihr die Kutte nicht in der Kajüte gelassen, wären wir davon ausgegangen, daß Muirgel das Opfer eines Unfalls geworden wäre.« Fidelma lächelte düster. »Und du hast wahrscheinlich das Blut für die Kutte geliefert.«

Bruder Guss faßte automatisch mit den rechten Hand den linken Arm, dann zuckte er die Achseln.

»Ich habe mir in den Arm geschnitten, um Blut auf die Kutte zu schmieren«, gab er zu. »Ich wußte nicht, daß du die Kutte schon gesehen hattest, und wunderte mich, weshalb du dich so für meinen verletzten Arm interessiertest. Ich mußte etwas erfinden.«

»Das ließ mich jedenfalls vermuten, daß du an ihrem vorgetäuschten Tod beteiligt warst. Wo hatte sie sich versteckt? Der Steuermann hat das Schiff abgesucht und keine Spur von ihr gefunden.«

»Ganz einfach, sie lag unter meiner Koje. Bruder Tola schläft fest, den würden nicht einmal die Posaunen des Jüngsten Gerichts aufwecken. Aus natürlichen Gründen mußte sie ab und zu mal hinausgehen, aber das tat sie in der Nacht oder kurz vor Tagesanbruch, bevor jemand anders auf war. Es war ganz problemlos. Wer dachte schon daran, unter meiner Koje nachzusehen?«

»Und heute morgen?«

»Sie stand früh auf und meinte, sie wäre sicher, wenn sie nun in ihre eigene Kajüte zurückginge. Da sie jetzt offiziell tot wäre, erklärte sie mir, würde niemand mehr nach ihr suchen. Nach dem Frühstück sollte ich zu ihr kommen.«

»Was meinst du, was dann geschah?«

»Sie wurde von derselben Person, die Schwester Canair getötet hatte, gesehen und umgebracht.«

»Nun gut. Du hast angedeutet, du wüßtest, wer sie umgebracht hat, oder besser, du hättest jemanden im Verdacht. Meinst du damit dieselbe Person, der du bei unserem Gespräch gestern die Schuld gegeben hast?«

»Crella? Ja, ich glaube, sie war es, die in der Nacht vor Muirgels Tür stand und vor sich hin sprach. Crella hat uns nachspioniert. Sie war eifersüchtig auf Canair, und sie war eifersüchtig auf Muirgel, obwohl sie so tat, als wäre sie Muirgels beste Freundin.«

»Aber du hast doch gesagt, daß Muirgel den Namen der Person, die sie im Verdacht hatte, nicht preisgab? Sie hat dir den Namen der Person, die sie mit Canairs Kreuz gesehen hat, nicht genannt? Ist es lediglich deine Vermutung, daß sie Schwester Crella gemeint hat?«

»Ich hab dir doch gesagt, ich glaube ...«

»Ich brauche Tatsachen«, unterbrach ihn Fidelma scharf, »nicht deine Vermutungen. Hat Muirgel gesagt, vor wem sie sich fürchtete?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf.

»Nein, das hat sie nicht«, gab er zu.

Fidelma rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Wir können nicht auf einen Verdacht hin vorgehen, Guss. Wenn du mir keine handfesten Beweise vorlegen kannst, dann .« Sie ließ den Satz unvollendet.

»Dann läßt du Crella entwischen?« hielt ihr Bruder Guss zornig vor.

»Mir geht es darum, die Wahrheit herauszubekommen.«

Der junge Mann starrte sie einen Moment herausfordernd an, dann wandelte sich seine Miene in ein Bild des Schmerzes.

»Ich habe sie geliebt! Ich hätte alles für sie getan.

Jetzt fürchte ich um mein eigenes Leben, denn Crella wird nun wissen, daß ich Muirgels Geliebter war und sie versteckt hatte. Wie weit wird sie in ihrer Eifersucht noch gehen?«

Fidelma schaute den jungen Mann mitleidig an.

»Wir werden aufpassen, Bruder Guss. In der Zwischenzeit kannst du in dem Gedanken Trost finden, daß du Muirgel geliebt hast, und wenn sie, wie du sagst, dich auch geliebt hat, dann warst du doppelt gesegnet. Denk an das Hohelied Salomos, denn daraus ist der Vers, den Muirgel zitiert hat. Der nächste Vers lautet:

>Daß auch viele Wasser nicht mögen die Liebe
auslöschen
Noch die Ströme sie ertränken.<«

Bruder Guss brachte es nicht über sich, zu den Gefährten zurückzukehren, sondern ging in seine eigene Kajüte um dort seinem Kummer nachzuhängen. Fidelma traf Murchad vor der Tür von Muirgels Kajüte, wo er mit dem Matrosen Drogan zusammenstand.

»Halte hier Wache, Drogan, und laß niemand hinein ohne meine oder Murchads Erlaubnis«, wies sie ihn an. Dann fragte sie den Kapitän: »Sind noch alle beim Frühstück?«

Er nickte.

»Was wirst du ihnen sagen?« erkundigte er sich.

»Ich werde ihnen die Wahrheit sagen. Der Mörder kennt die Wahrheit, warum also sollen die anderen sie nicht auch kennen? Je eher alles aufgedeckt ist, desto eher macht der Mörder vielleicht einen Fehler.«

Murchad folgte Fidelma zum Messedeck, wo Wen-brit gerade die Reste der Frühstücksmahlzeit abräumte. Die Pilger saßen schweigend da. Bruder Tola war wieder unter ihnen, und obgleich er sich geweigert hatte, ihnen zu sagen, was geschehen war, merkten doch alle, daß etwas Schlimmes passiert sein mußte. Als Fidelma eintrat und sich ans Kopfende des Tisches stellte, versuchte nur Cian, sie zu begrüßen. Sie reagierte nicht darauf. Alle Blicke waren auf sie gerichtet, und jeder bemühte sich zu erraten, um was es ging.

Selbst Wenbrit spürte das und blieb stehen, die gebrauchten Teller noch in den Händen.

»Wir haben die Leiche von Schwester Muirgel gefunden«, verkündete Fidelma.

Schwester Crella erhob sich halb und sank dann mit einem schmerzlichen Stöhnen zurück. Schwester Gorman kicherte vor Aufregung.

Bruder Tola, der bisher hatte Schweigen bewahren müssen, stellte die erste Frage.

»Heißt das, daß sie die ganze Zeit an Bord war? Daß sie nicht über Bord gefallen war?«

»Ja.«

»Das verstehe ich nicht. Wie konnte sie denn ertrinken, wenn sie nicht über Bord gefallen war?« wollte Schwester Ainder wissen.

Fidelma sah sie mit einem kühlen Lächeln an.

»Das ist ganz einfach: Sie ist nicht ertrunken. Man hat ihr innerhalb der letzten Stunde die Kehle durchgeschnitten.«

Schwester Crellas Stöhnen steigerte sich zu einem schrillen Schreien.

Fidelma sah sich rasch am Tisch um. Schwester Crella war anscheinend die einzige, die sichtlich erschüttert war, obgleich alle eine gewisse Bewegung zeigten.

»Bist du sicher?« Diese Frage kam von Cian.

»Sicher worin?« fragte sie zurück.

Cian wurde verlegen unter ihrem durchdringenden Blick.

»Sicher, daß es Schwester Muirgel ist, von der wir reden«, erklärte er lahm. »Erst heißt es, sie ist tot, dann wieder ist sie lebendig und jetzt wieder tot. Was ist sie denn nun wirklich?«

Fidelma schaute Bruder Tola an.

»Es ist Schwester Muirgel«, bestätigte er ruhig. »Ich habe die Leiche erkannt, ebenso Bruder Guss ...« Er blickte sich um und merkte erst jetzt, daß Guss nicht zurückgekommen war.

Fidelma erriet, wonach er fragen wollte.

»Bruder Guss hat sich in seiner Kajüte hingelegt«, erklärte sie allen. »Er war auch sehr erschüttert.«

Am Tisch gab es keinen Laut außer dem Schluchzen Schwester Crellas.

»Schwester Muirgel wurde im Laufe der letzten Stunde ermordet«, fuhr Fidelma fort. »Könnt ihr alle darüber Rechenschaft geben, wo ihr in dieser Zeit wart?«

»Was?« Schwester Gorman war völlig aus dem Häuschen.

»Behauptest du, es war einer von uns?«

Fidelma sah sie alle der Reihe nach an.

»Jedenfalls war es keiner von der Mannschaft!« Sie lächelte dünn. »Schwester Muirgel kannte ihren Mörder. Sie hatte ihr Verschwinden vorgetäuscht, um ihrem Mörder zu entgehen. Sie versteckte sich am Tage und kam nachts oder im Morgengrauen heraus, um zu essen und sich Bewegung zu verschaffen.« Da fiel Fidelma etwas ein. »An dem Morgen nach der Nacht, in der sie über Bord gegangen sein sollte, als dichter Nebel das Schiff einhüllte, traf ich sie an Deck und erkannte sie nicht. Wir können davon ausgehen, Wen-brit, daß sie die Lebensmittel verzehrt hat, die dir fehlen.«

Der Junge schaute sie erstaunt an.

»Willst du damit sagen, daß Schwester Muirgel es so eingerichtet hat, daß wir denken sollten, sie sei über Bord gefallen?« Schwester Ainder hatte immer noch Mühe, das zu begreifen. »Warum denn?«

»Sie wollte ihren Mörder irreführen.«

Bruder Tola stieß ein ungläubiges Lachen aus.

»Wo in Gottes Namen könnte sie sich auf dem Schiff versteckt haben? Es gibt doch keinen Platz dafür.«

»Verzeih, aber darin kann ich dir nicht zustimmen.« Fidelma war versucht, ihm zu erklären, daß Muirgel die erste Nacht nur eine Armlänge von ihm entfernt verbracht hatte, während er schlief. »Wichtiger ist jedoch, daß der Mörder Schwester Muirgels unserer Gruppe angehört. Wo wart ihr alle innerhalb der vergangenen Stunde?«

Sie sahen einander mißtrauisch an.

Bruder Tola nahm für sie das Wort.

»Wir setzten uns alle zum Frühstück hin. Das war etwa vor einer Stunde.«

Wie sich herausstellte, wollte jeder davor in seiner Kajüte gewesen sein, mit Ausnahme von Schwester Ainder, die erklärte, sie habe die defectora aufgesucht, und Cian, der sagte, er habe an Deck Freiübungen gemacht.

»Warst du in deiner Kajüte, Bruder Bairne?« erkundigte sich Fidelma.

»Ja.«

»Sie liegt neben der von Muirgel. Hast du etwas gehört?«

»Willst du mich beschuldigen?« entrüstete sich der junge Mann und wurde rot im Gesicht. »Eine solche Anschuldigung müßtest du beweisen.«

»Ich würde eine solche Beschuldigung nur erheben, wenn ich sie beweisen könnte«, erwiderte Fidelma fest. »Ich muß mit jedem von euch noch einmal einzeln sprechen.«

»Mit welchem Recht?« fauchte Schwester Ainder empört. »Das ist doch alles lächerlich. Leute werden über Bord gespült, und dann sind sie’s gar nicht. Unfälle verwandeln sich in Morde. Hier gibt’s sogar Leichen, die nicht tot sind!«

»Du kennst mein Recht und meine Befugnis zu dieser Untersuchung bereits«, unterbrach Fidelma ihren Redeschwall.

Bruder Tola sah Murchad an.

»Ich nehme an, Fidelma handelt weiterhin mit deiner Billigung, Kapitän?«

»Ich habe Fidelma von Cashel unbeschränkte Vollmacht in dieser Sache erteilt«, sagte Murchad. »Und dabei bleibt es.«

Kapitel 15

Sie hatten die Westküste von Armorica gesichtet, dem Land, das nun »Klein-Britannien« oder Bretagne genannt wurde.

Murchad verkündete: »In ein paar Stunden werden wir die Insel Ushant in Sicht bekommen, die vor seiner Westspitze liegt.«

Fidelma war noch nie in Armorica gewesen, aber sie wußte, daß in den beiden letzten Jahrhunderten Zehntausende von Briten durch die Ausbreitung der Angeln und Sachsen aus ihrem Land vertrieben worden waren und die meisten von ihnen eine neue Heimat bei den Armorikanern gefunden hatten. Andere hatten im Nordwesten Iberias Zuflucht gesucht, und dieses Land, nach dem sie jetzt fuhren, nannte man Galicia. Wieder andere siedelten sich in den fünf Königreichen von Eireann an, allerdings nicht in solcher Zahl wie woanders. Doch in Armorica, unter einem Volk mit ähnlicher Sprache und Kultur, hatten die Flüchtlinge aus Britannien die politische Landschaft so verändert, daß man das Land nun »Klein-Britannien« nannte.

»Auf Ushant werden wir Wasser und frische Lebensmittel an Bord nehmen«, fuhr Murchad fort. »Wir haben noch nicht den halben Weg zurückgelegt, doch danach gibt es keine Gelegenheit mehr für euch, sich die Beine auf festem Boden zu vertreten und eine warme Mahlzeit und ein Bad zu genießen.«

Fidelma hörte seinen Worten nur zerstreut zu. Sie beobachtete, wie sich die Pilger auf dem Hauptdeck ergingen. Sie war verwirrt. Einer von ihnen war ein Mörder, und sie hatte keine Ahnung, wen sie verdächtigen sollte! Sie hatte Bruder Guss’ Geheimnis, daß Schwester Canair ebenfalls tot war, nicht preisgegeben. Sie hoffte, daß so vielleicht jemand seine Kenntnis davon verraten würde, die ihn oder sie als Mörder überführen würde. Die Anschuldigung gegen Schwester Crella ließ sich jedenfalls vorerst nicht beweisen.

Bruder Tola hatte seine gewohnte Stellung an Deck eingenommen, er saß mit dem Rücken an das Wasserfaß neben dem Großmast gelehnt und las in seinem Meßbuch. Die Brüder Dathal und Adamrae spazierten Arm in Arm auf dem Deck herum und lachten unpassenderweise, so meinte Fidelma, über einen gemeinsamen Witz. An der Steuerbordseite saß die hochgewachsene Schwester Ainder und hielt Bruder Bairne einen Vortrag. Schwester Crella wanderte mit verschränkten Armen immer noch erregt auf dem Deck umher und redete mit sich selbst. Fidelma schaute sich nach Bruder Guss um, doch der war nicht zu sehen, ebensowenig wie Schwester Gorman.

»Nun, Fidelma?« Cian war neben ihr aufgetaucht und riß sie aus ihren Gedanken. Sein Ton war spöttisch. »Nach dem Ruf zu urteilen, den du dir in den letzten Jahren erworben hast, hätte ich gedacht, das Rätsel um Schwester Muirgel wäre inzwischen gelöst.«

Es fiel ihr schwer zu glauben, sie sei einmal so unreif gewesen, diesen Mann zu lieben. Sie widerstand der Regung, ihm eine scharfe Antwort zu geben, denn auch ihm wollte sie noch ein paar Fragen stellen. Und nun bot sich die Gelegenheit dazu. Statt einer Antwort fragte sie also kühl: »Wie lange hat deine Affäre mit Schwester Muirgel gedauert?«

Cian fuhr zusammen. Sein überhebliches Lächeln wurde noch breiter.

»Rechnest du jetzt meine Liebesverhältnisse nach? Was willst du über Muirgel wissen?«

»Ich setze lediglich meine Nachforschungen über ihren Tod fort.«

Cian musterte ihre gelassene Miene, zuckte dann leicht mit den Schultern.

»Wenn du es genau wissen willst, nicht sehr lange. Bist du sicher, daß du kein persönliches Interesse an der Antwort hast?«

Fidelma mußte lachen.

»Du schmeichelst dir selbst, Cian - aber das hast du ja immer getan. Schwester Muirgel wurde von jemandem ermordet, den sie kannte. Das sagte ich schon am Frühstückstisch.«

»Willst du mich da hineinziehen?« tobte Cian. »Hat dir dein verletzter Stolz nach so vielen Jahren derart den Sinn verwirrt, daß du mich beschuldigst? Das ist doch völlig absurd!«

»Warum sollte das absurd sein? Bringen Liebende nicht gelegentlich einander um?« fragte sie harmlos.

»Meine Affäre mit Muirgel war lange vorbei, bevor wir auf diese Fahrt gingen.«

»Lange ist ein dehnbarer Begriff.«

»Na ja, ungefähr eine Woche vor unserem Aufbruch.«

»Hast du sie ohne ein Wort verlassen oder hattest du diesmal soviel Mut, es ihr ins Gesicht zu sagen?« fügte sie rücksichtslos hinzu.

Cian lief rot an.

»Tatsächlich war es so, daß sie mich verließ und, ja, sie hat es mir gesagt. So unglaublich es klingt, sie hat mir erklärt, sie liebe jemand anderen - nämlich Bruder Guss, diesen kleinen Idioten.«

Damit bestätigte sich, daß zumindest ein Teil der Geschichte von Bruder Guss der Wahrheit entsprach, obwohl Crella leugnete, daß ihre Freundin ein Verhältnis mit ihm hatte.

»Wie ich dich kenne, Cian, hast du das nicht einfach so hingenommen. Dafür bist du zu eitel. Du mußt doch dagegen protestiert haben.«

Cians herzhaftes Lachen überraschte Fidelma.

»Wenn du es wissen willst, ihr Geständnis hat mich sehr erleichtert, denn ich wollte das Verhältnis von mir aus beenden.«

Das glaubte sie ihm nicht. »Du kannst mich kaum davon überzeugen, daß du dich von einem jungen Burschen wie Guss verdrängen läßt, ohne daß das deinen Stolz verletzt.«

»Wenn du schon die schauerlichen Einzelheiten erfahren willst, Canair und ich liebten uns bereits eine Weile. Ich bemühte mich, Muirgel loszuwerden. Zum Glück machte sie es mir leicht.« An seiner prahlerischen Haltung war zu merken, daß Cian nicht log.

»Wann wurdest du Canairs Liebhaber?«

»Ach, das willst du auch genau wissen! Also wirklich, Fidelma, seit wann frönst du dem Voyeurismus?«

Sie mußte sich beherrschen, um ihm nicht in das höhnisch lachende Gesicht zu schlagen.

»Ich muß dich wohl daran erinnern«, erwiderte sie eisig, »daß ich eine dalaigh bin, die einen Mordfall untersucht.«

»Eine dalaigh meilenweit von unserem Heimatland entfernt, an Bord eines Pilgerschiffs«, spottete Cian. »Du hast kein Recht, in meinen Privatangelegenheiten herumzuschnüffeln, dalaigh.«

»Ich habe jedes Recht dazu. Du hattest also Liebesaffären mit Muirgel und Canair? Wie ich dich kenne, hast du es wahrscheinlich mit den meisten jungen Frauen in Moville getrieben.«

»Eifersüchtig, wie?« höhnte Cian. »Du warst schon immer besitzergreifend und eifersüchtig, Fidelma von Cashel. Versuch deine Schnüffelei nicht als Teil deiner Pflicht auszugeben. Von deinen Schmolltouren hatte ich bereits genug, als wir noch jünger waren.«

»Dein törichter Stolz interessiert mich nicht, Cian. Ich will nur die Wahrheit herausbekommen. Ich muß Muirgels Mörder finden.«

Sie merkte, daß ihre Stimmen immer lauter geworden waren und sie sich fast anschrien. Zum Glück hatten wohl die Geräusche von Wind und Meer ihre Worte unverständlich gemacht, obgleich Murchad, der in der Nähe am Steuerruder stand, so bemüht nach See hinausblickte, als sei er verlegen. Er mußte ihren Wortwechsel mitgehört haben.

Fidelma fiel plötzlich auf, daß die junge, naive Schwester Gorman unbemerkt an Deck gekommen war, in der Nähe stand und sie mit unverhohlener Neugier beobachtete. Sie zupfte an einem Schal, den sie sich zum Schutz vor dem kühlen Wind um die Schultern gelegt hatte. Als ihr Blick dem Fidelmas begegnete, fing sie an zu kichern und zu singen.

»Mein Freund ist weiß und rot,
Auserkoren unter vielen Tausenden.
Sein Haupt ist das feinste Gold.
Seine Locken sind kraus, schwarz wie ein Rabe.
Seine Augen sind wie Augen der Tauben an den Wasserbächen,
Mit Milch gewaschen und stehen in Fülle.«

Cian stieß einen unterdrückten Ausruf des Unwillens aus, wandte sich von Fidelma ab, rempelte das Mädchen leicht an und verschwand den Niedergang hinab. Schwester Gorman lachte schrill auf.

Gorman ist ein seltsames kleines Ding, dachte Fidelma. Sie scheint in der Lage, mühelos ganze Passagen aus der Heiligen Schrift zu zitieren. Woher stammte dieser Text jetzt gerade, aus dem Hohelied Salomos? Schwester Gorman blickte auf, und als ihre Augen erneut Fidelmas trafen, lächelte sie wieder - ein merkwürdiges, humorloses Lächeln, nur eine Bewegung ihrer Gesichtsmuskeln. Dann wandte sie sich ab und ging weg.

»Schwester Gorman!« Fidelma hatte sich vorgenommen, einige Zeit mit dem Mädchen zu verbringen, denn sie war sichtlich überreizt, und niemand schien sich um sie zu kümmern. Das Mädchen schaute ihr mißtrauisch entgegen. »Ich hoffe, du machst dir nicht immer noch Vorwürfe wegen dessen, was mit Schwester Muirgel passiert ist?«

Die Miene des Mädchens wurde noch ängstlicher.

»Was meinst du damit?«

»Nun, als wir glaubten, sie sei über Bord gefallen, hast du mir doch gesagt, daß du dich schuldig fühltest, weil du sie verflucht hattest.«

»Ach das!« Gorman machte eine wegwerfende Geste. »Da war ich einfach albern. Natürlich hat nicht mein Fluch sie umgebracht. Das ist nun durch ihren Tod erwiesen. Wenn mein Fluch sie wirklich getötet hätte, dann hätte sie nicht noch zwei Tage gelebt.«

Fidelma hob leicht die Brauen bei der offenkundigen Gefühllosigkeit im Ton des Mädchens. Gorman machte sichtlich eigenartige Stimmungswechsel durch.

»Wie du weißt«, sprach Fidelma eilig weiter, »fragte ich jeden, wo er sich unmittelbar vor dem Frühstück befand Ich glaube, du hast gesagt, du warst in deiner Kajüte?«

»Ja.« Die Antwort war kurz.

»Zusammen mit Schwester Ainder, mit der du die Kajüte teilst?«

»Sie war eine Weile hinausgegangen.«

»Ach ja, das hat sie auch gesagt.«

»Muirgel ist tot. Du verschwendest nur deine Zeit mit solchen Fragen«, fauchte Gorman.

Fidelma stutzte bei ihrem rüden Ton.

»Es ist meine Pflicht«, erklärte sie und wechselte dann das Thema, um das Mädchen zu beruhigen. »Wie ich höre, singst du gern Verse aus der Bibel.«

»Alles ist in den heiligen Worten enthalten«, erwiderte Gorman beinahe arrogant. »Alles.« Plötzlich starrte sie Fidelma fest in die Augen, und auf ihrem Gesicht bildete sich wieder dieses unheimliche Lächeln.

»Dein Schade ist verzweifelt böse,
Und deine Wunden sind unheilbar.
Alle deine Liebhaber vergessen dein,
Fragen nichts darnach.
Ich habe dich geschlagen, wie ich einen Feind schlüge.«

Unwillkürlich erschauerte Fidelma.

»Ich verstehe dich nicht .«

Gorman stampfte tatsächlich mit dem Fuß auf.

»Jeremia. Du kennst doch wohl die Bibel? Das ist eine passende Grabschrift für Muirgel.«

Damit wandte sie sich ab und eilte an der hohen Gestalt Schwester Ainders vorbei. Diese wollte mit ihr sprechen, aber das Mädchen hielt nicht an, und die Frau machte ihrer Empörung mit einem Ausruf Luft, weil Gorman sie fast aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.

»Ist mit Schwester Gorman etwas nicht in Ordnung?« fragte sie Fidelma.

»Ich glaube, sie braucht dringend eine Freundin, die ihr raten kann«, antwortete Fidelma.

Schwester Ainder lächelte tatsächlich.

»Das mußt du mir nicht erst sagen. Sie bleibt immer für sich, redet zuweilen mit sich selber, als brauchte sie niemand anderen. Aber man sagt ja auch, daß die wahren Heiligen Engel sehen und mit ihnen sprechen. Ich würde sie nicht verurteilen, denn vielleicht hat sie einen stärkeren Glauben als wir anderen alle zusammen.«

Fidelma blieb skeptisch.

»Ich meine, sie ist einfach eine Seele in Nöten.«

»Aber Wahnsinn kann auch eine Gabe Gottes sein, vielleicht ist sie damit gesegnet.«

»Glaubst du, daß sie wahnsinnig ist?«

»Wenn nicht wahnsinnig, dann ein bißchen wunderlich, wie? Sieh mal, da ist sie wieder und murmelt Verwünschungen und Flüche.«

Schwester Ainder preßte die Lippen zusammen und wollte dieses Thema anscheinend nicht weiter verfolgen, denn sie bemerkte: »An dieser Pilgerfahrt von Mönchen und Nonnen zu einem heiligen Schrein fehlt offensichtlich etwas.«

»Nämlich?« fragte Fidelma vorsichtig.

»Die Religion selbst. Ich fürchte, von wenigen Ausnahmen abgesehen ist Gott nicht mit denen, die diese Reise machen.«

»Wie kommst du zu diesem Urteil?«

Schwester Ainders Augen bohrten sich in Fidelmas Gesicht.

»Es war zweifellos nicht die Lehre Christi, die die Hand führte, die Schwester Muirgel tötete, und sie wiederum war keine richtige Nonne. Sie wäre in einem Bordell besser aufgehoben gewesen.«

»Du mochtest Muirgel also nicht?«

»Wie ich dir schon gesagt habe, ich kannte sie nicht gut genug, um sie nicht zu mögen. Mir hat nur ihr freizügiger Umgang mit Männern nicht gefallen. Aber damit war sie ja nicht fehl am Platz unter unseren sogenannten Pilgern.«

»Ich nehme an, du zählst dich nicht zu denen, die >fehl am Platz< sind? Gibt es noch weitere Ausnahmen?«

»Bruder Tola natürlich.«

»Aber ich nicht?« lächelte Fidelma.

Schwester Ainder schaute sie mitleidig an.

»Du bist keine Nonne. Dir geht es um das Recht, und eine Schwester des Glaubens bist du nur zufällig.«

Fidelma hatte Mühe, eine unbewegte Miene zu bewahren. Sie hatte nicht gedacht, daß es so auffällig wäre. Erst Bruder Tola und nun Schwester Ainder fühlten sich imstande, ihre Hingabe an Gott in Zweifel zu ziehen.

»Und was ist mit den anderen in der Gruppe? Meinst du, die gehörten auch nicht ins Kloster?«

»Mit Sicherheit nicht. Cian zum Beispiel ist ein Schürzenjäger ohne jede Moral und ohne einen Gedanken an andere Menschen. Er besitzt keinerlei Mitgefühl. Bei seiner Eitelkeit käme es ihm nie in den Sinn, daß er vielleicht andere verletzt. Krieger war wahrscheinlich der richtige Beruf für ihn. Das Schicksal ließ ihn Zuflucht in einem Kloster suchen. Das war ein falscher Entschluß.«

Dann wies Schwester Ainder auf Dathal und Adamrae. »Diese jungen Männer sollten lieber ... na ja!« Ihr Gesicht drückte ihr Mißfallen aus.

»Würdest du sie verurteilen?« forschte Fidelma.

»Unsere Religion verurteilt sie. Denk an die Worte, die Paulus den Römern schrieb: >Desgleichen auch die Männer haben verlassen den natürlichen Gebrauch des Weibes und sind aneinander erhitzt in ihren Lüsten und haben Mann mit Mann Schande getrieben und den Lohn ihres Irrtums (wie es denn sein sollte) an sich selbst empfangen. Und gleichwie sie nicht geachtet haben, daß sie Gott erkenneten, hat sie Gott auch dahingegeben in verkehrten Sinn, zu tun, was nicht taugt.<«

Fidelma verzog das Gesicht.

»Wir wissen alle, daß Paulus von Tarsus ein Asket war, der an Enthaltsamkeit und strenge Moral glaubte.«

Schwester Ainder schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Es ist ganz klar, Schwester, daß du nicht die Worte beachtest, die Gott zu Mose sprach. Drittes Buch Mose, Kapitel achtzehn, Vers zweiundzwanzig: >Du sollst nicht bei Knaben liegen wie beim Weibe; denn es ist ein Greuel.< Ein Greuel!« wiederholte sie zornig.

Fidelma wartete einen Moment und sagte dann: »Ist nicht die Grundlage unseres Glaubens die Rettung aller? Wir sind doch alle Sünder und bedürfen alle der Rettung. Gott hat die Welt nicht verurteilt, deshalb haben wir kein Recht, sie zu verurteilen. Ich antworte dir mit den Worten des Johannesevangeliums: >Denn Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde.<«

Schwester Ainder lachte sogar, wenn auch säuerlich.

»Du bist wirklich eine dalaigh, zitierst Sätze von hier und da zur Bekräftigung deiner Argumente. Du bist und bleibst eine Frau des Gesetzes, und doch sprichst du davon, die Welt nicht zu richten?«

»Ich richte nicht. Ich suche die Wahrheit - und in der Wahrheit liegt auch die Verantwortlichkeit.«

Schwester Ainder schnaubte und beendete das Gespräch. Doch dann wandte sie sich noch einmal um.

»Bruder Bairne ist vermutlich der einzige, den ich außerdem noch von diesem Narrenschiff retten würde«, fügte sie hinzu. »Er hat eine gewisse Anlage zur Frömmigkeit, aber die anderen, Schwester Crella zum Beispiel, na, die ist wohl auch nicht besser als ihre Freundin Muirgel. Ich nehme es auf meinen Eid, daß wir auf diesem winzigen Schiff, das die Wogen durch-pflügt, alle sieben Todsünden an Bord haben, die der lebendige Gott verflucht hat. Es gibt Zorn und Geiz, Neid und Unmäßigkeit, Unkeuschheit und Stolz und Trägheit.«

Fidelma blickte die strenge Nonne mit unverhohlener Belustigung an.

»Hast du alle diese Sünden bei uns festgestellt?«

Schwester Ainders Miene wurde nicht freundlicher.

»Du wirst bemerken, daß die Unkeuschheit auf diesem Schiff an erster Stelle steht. Diese Sünde begehen anscheinend viele aus unserer Gruppe.«

»Ach ja?« Fidelma lächelte leise. »Gehöre ich auch zu denen, die dieser Sünde frönen?«

Schwester Ainder schüttelte den Kopf.

»O nein, Fidelma von Cashel. Du bist der schlimmsten Sünde unter diesen sieben schuldig - denn deine Sünde ist der Stolz. Mit Stolz verdeckt man die eigenen Fehler.«

Fidelma spürte, wie ihre Miene sich verhärtete. Hätte ihr Schwester Ainder eine der sechs anderen Sünden vorgeworfen, hätte sie ehrlich darüber lachen können, aber auf den Stolz war sie nicht gefaßt. Der Stich schmerzte, weil Fidelma sich selbst schon lange darum Sorgen machte. Sie war tatsächlich stolz auf ihre Fähigkeiten, aber das war keine Eitelkeit. Darin bestand ein Unterschied. Doch sie war sich dessen nie ganz sicher. Sie hielt falsche Bescheidenheit für schlimmer als den Stolz auf die eigenen Erfolge.

Schwester Ainder lächelte zufrieden, als sie den Widerstreit in Fidelmas Miene beobachtete.

»Sprüche Salomos, Schwester Fidelma«, erklärte sie. »Sprüche sechzehn, Vers achtzehn: >Wer zu Grunde gehen soll, der wird zuvor stolz; und Hochmut kommt vor dem Fall.<«

Fidelma errötete vor Zorn.

»Und welche Sünde gestehst du ein, Ainder von Moville?« fragte sie gereizt.

Schwester Ainder lächelte dünn.

»Ich halte alle Gebote des Herrn«, erwiderte sie selbstsicher.

Fidelma hob leicht die Brauen.

»Wer Rotz an der Backe hat, freut sich über den Rotz an der Backe des anderen«, sagte sie rücksichtlos.

Es war ein altes ländliches Sprichwort, das Fidelma einmal von einem Bauern gehört hatte. Es war grob und kräftig, doch Fidelma ärgerte sich plötzlich über diese eingebildete Frau und sprach es unbedacht aus.

Schwester Ainder schäumte vor Wut bei dieser Ungezogenheit. 

Fidelma hörte, wie der nahe dabeistehende Murchad vor Vergnügen wieherte. Diese Art von Humor genoß er.

Doch kaum hatte Fidelma das Sprichwort losgelassen, bereute sie es und wollte sich dafür entschuldigen, daß sie sich hatte von ihrem Zorn hinreißen lassen. Aber Schwester Ainder war schon davonstolziert.

Schuldbewußt schaute Fidelma den Kapitän an. Murchad grinste noch und unterdrückte ein Lachen.

»Tut mir leid, Lady, aber du hast recht. Die Frau ist voll von genau dem Stolz, den sie dir vorwirft.«

Fidelma war dankbar für seine Unterstützung, aber immer noch reuevoll.

»Im Zorn gesprochene Worte, ob sie nun richtig sind oder nicht, haben meistens keine Wirkung, außerdem .«

Sie wurde von einem Schrei unterbrochen. Es war kein Ruf des Ausgucks, sondern ein Warnschrei. Jemand auf dem Hauptdeck, anscheinend Bruder Bair-ne, hatte ihn ausgestoßen. Er zeigte nach vorn.

Auf dem Vorderdeck standen sich zwei Gestalten gegenüber, Schwester Crella und dicht vor ihr Bruder Guss. Er wich vor ihr zurück in einer beinahe unterwürfigen Haltung. Bruder Bairne wollte ihn mit seinem Ruf warnen, weil Guss rückwärts gehend der Reling gefährlich nahe kam.

Der Warnschrei kam zu spät.

Bruder Guss taumelte an der Steuerbordkante und fiel mit einem Angstschrei rücklings ins Meer.

Schwester Crella stand da und schien mit ausgestreckten Händen auf die Stelle zu weisen, wo er über Bord gefallen war.

Murchad brüllte: »Mann über Bord!«

Viele an Deck, auch Fidelma, rannten zur Steuerbordseite. Das Schiff machte schnelle Fahrt, und sie sahen, wie Bruder Guss’ Kopf beunruhigend rasch achteraus verschwand.

»Klar zum Halsen!« rief Murchad.

Wie durch Zauber war die Mannschaft zur Stelle und holte das Segel ein, während Gurvan und der andere Rudergänger sich gegen das Steuerruder stemmten und das Schiff mit anscheinend unglaublicher Langsamkeit in einem weiten Bogen drehten.

Fidelma war über das Hauptdeck zu dem kleinen Vorderdeck gelaufen.

Schwester Crella stand noch dort. Sie hatte sich jetzt vorgebeugt und die Arme um die Schultern geschlungen. Sie sah Fidelma auf sich zukommen. Ihr Gesicht war weiß, die Augen hatte sie weit aufgerissen. Der Schock stand ihr deutlich im Gesicht.

»Er ... er fiel ...« setzte sie hilflos an.

»Was hast du zu ihm gesagt?« fuhr Fidelma sie an. »Was waren deine Worte?«

Crella starrte sie an, als habe sie die Sprache verloren.

»Er wich vor dir zurück, hast du ihm gedroht?« drang Fidelma in sie.

»Gedroht?« Schwester Crella schaute sie verwirrt an. »Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Warum ist er dann so angstvoll rückwärts von dir weg gegangen, daß er über Bord fiel?«

»Wie soll ich das wissen?«

»Was hast du zu ihm gesagt?«

»Ich hab ihm gesagt, ich wüßte von der siebenten Vereinigung, weiter nichts.«

»Wovon?« Fidelma tappte im dunkeln.

»Das solltest du doch wissen«, erwiderte Schwester Crella und riß sich zusammen. Sie setzte eine trotzige Miene auf. »Jetzt laß mich in Ruhe. Sie werden ihn gleich rausfischen, und dann kannst du ihn selber fragen.«

Schwester Crella schob sich an Fidelma vorbei und rannte davon.

Fidelma eilte zu Murchad zurück. Seeleute und Passagiere standen auf beiden Seiten an der Reling und spähten nach Guss aus.

»Können wir ihn retten?« fragte Fidelma atemlos, als sie Murchad erreichte.

Der Kapitän schaute düster drein.

»Ich fürchte, wir sehen ihn überhaupt nicht mehr.«

»Was? Wir kamen doch so dicht an ihm vorbei.«

Der Kapitän blieb bei seiner trüben Stimmung.

»Auch wenn wir sofort die Segel gerefft und gewendet haben, sind wir doch ein ganzes Stück von der Stelle entfernt, an der er hineingefallen ist. Ich segle in meinem Kielwasser zurück, aber ich finde keine Spur von ihm.«

Er blickte zu dem Ausguck im Mastkorb hinauf.

»Siehst du was, Hoel?« rief er ihn an.

Der verneinte.

»Wir suchen, solange wir können. Er hat nur eine Chance, wenn er ein ausdauernder Schwimmer ist.«

Fidelma schaute hinüber zu Bruder Bairne, der auch sorgenvoll die See musterte.

»Weißt du, ob Guss gut schwimmen kann?« fragte sie.

Bruder Bairne schüttelte den Kopf.

»Selbst ein guter Schwimmer hält es in diesem Meer nicht lange aus.«

»Ich versuche mein Bestes«, meinte Murchad. »Mehr kann ich nicht tun.«

Fidelma trat zu Bruder Bairne.

»Als du den Warnruf ausgestoßen hast, was hast du da gesehen?« fragte sie ihn so leise, daß die anderen es nicht hören konnten.

»Gesehen? Ich schrie eine Warnung, weil Guss zu dicht an den Rand taumelte.«

»Hast du gesehen, warum er sich rückwärts in diese gefährliche Stellung begab?«

»Ich glaube nicht, daß er das wahrgenommen hat.«

Fidelma wurde ungeduldig.

»Hast du gesehen, daß Schwester Crella ihn bedroht hat?« Bruder Bairne machte ein verstörtes Gesicht.

»Schwester Crella ihn bedroht? Meinst du das im Ernst?«

»Du hast doch bemerkt, daß Schwester Crella mit ihm auf dem Vorderdeck stand?«

»Natürlich. Sie sprachen miteinander, und dann ging Bruder Guss rückwärts, ein bißchen schnell, wie mir schien. Ich warnte ihn mit meinem Ruf, aber er stolperte und fiel.« Bruder Bairne schaute ihr mit einiger Verwirrung ins Gesicht.

»Vielen Dank«, sagte Fidelma. »Ich wollte nur wissen, was du gesehen hast, weiter nichts.«

Mit gesenktem Kopf ging sie nachdenklich zurück zum Achterdeck. Die Minuten verstrichen, und alle wurden immer bedrückter. Erst eine Stunde später brach Murchad die Suche ab.

»Ich fürchte, wir können nichts mehr für den armen Jungen tun«, erklärte er Cian, der wieder seine Führungsrolle in der Gruppe herausstrich. »Ich nehme an, er ist beinahe sofort untergegangen. Es gibt keine Hoffnung mehr. Es tut mir sehr leid.«

Fidelma ging nach unten zu Schwester Crellas Kajüte.

Schwester Crella lag auf der Koje und starrte an die Decke. Als Fidelma eintrat, setzte sie sich mit hoffnungsvollem Gesicht auf, doch sobald sie Fidelmas grimmige Miene sah, versteinerte ihre eigene.

»Murchad hat die Suche nach Bruder Guss aufgegeben«, erklärte Fidelma. »Es besteht keine Hoffnung mehr, ihn noch lebend zu bergen.«

Schwester Crellas Gesicht blieb unbewegt.

»Vielleicht sagst du mir jetzt, was du gemeint hast?« fuhr Fidelma fort.

Schwester Crella antwortete mit gepreßter Stimme »Für eine dalaigh wie dich sollte es doch leicht zu verstehen sein, was die siebente Vereinigung bedeutet.«

»Die siebente Vereinigung?« Jetzt begriff Fidelma. »Meinst du die siebente Form der Vereinigung von Mann und Frau? Den Rechtsausdruck für heimliche sexuelle Beziehungen?«

Schwester Crella schloß die Augen und gab keine Antwort.

»Ja, ich kenne das Gesetz über die siebente Vereinigung«, meinte Fidelma, »aber es enthält nichts, was ich mit Bruder Guss in Zusammenhang bringen könnte. Warum hat er auf diese Weise reagiert?«

»Ich habe ihm nur gesagt, ich wüßte, wie er Muirgel belästigt hat.« Mit trotzigem Blick fügte sie hinzu:

»Weißt du, ich glaube, Guss hat sie umgebracht, weil sie auf seine Annäherungsversuche nicht einging.«

Fidelma setzte sich auf einen Stuhl.

»Belästigt? Das ist ein interessantes Wort.«

»Wie soll man es denn sonst nennen, wenn jemand versucht, einem anderen Menschen seine Gefühle aufzudrängen?« wollte Schwester Crella wissen.

»Also du glaubst, Bruder Guss wollte Schwester Muirgel seine Gefühle aufdrängen und sie ist nicht darauf eingegangen?«

»Natürlich. Er war völlig verknallt in sie - genau wie Bruder Bairne. Muirgel wollte nichts mit ihm zu tun haben. Da bin ich mir sicher.«

»Woher willst du das so genau wissen?«

»Weil Muirgel meine Freundin war. Ich hab dir schon gesagt: Zwischen uns gab es keine Geheimnisse.«

»Trotzdem hat Muirgel dir nicht erzählt, daß sie für ihr Leben fürchtete und sich auf dem Schiff versteckt hielt, nicht wahr? Wenn es kein Verhältnis gab, warum hat Muirgel dann Guss gebeten, sie zu verbergen -selbst vor dir?«

Crella starrte Fidelma zornig an.

»Guss hat Lügen über Muirgel verbreitet.«

»Wie erklärst du es dann, daß es Guss war, an den sich Muirgel wandte, als sie sich bedroht fühlte?« be-harrte Fidelma. »Daß es Guss war, der ihr half, sich die beiden letzten Tage zu verstecken?«

»Dieser Milchbart hat behauptet, er wäre Muirgels Liebhaber. Deswegen habe ich ihm die siebente Vereinigung vorgehalten.«

Plötzlich beugte sie sich nieder, holte mit einer fließenden Bewegung unter der Koje ein langes, schmales Messer hervor, stand auf und reckte es Fidelma entgegen. Fidelma war rasch auf den Beinen und reagierte blitzschnell in der Annahme, sie müsse sich gegen einen Angriff wehren. Doch Schwester Crella stand nur da und starrte auf das Messer. Dann hielt sie Fidelma den Griff hin.

»Hier, nimm es.«

Fidelma war überrascht.

»Na los!« fauchte Schwester Crella. »Nimm’s schon! Du siehst ja, daß noch getrocknetes Blut dran ist.«

»Was ist das?«

»Das Messer, mit dem wahrscheinlich meine arme Freundin umgebracht wurde, was sonst?«

Fidelma nahm ihr vorsichtig das Messer aus der Hand. Es stimmte, daß getrocknetes Blut an der Klinge haftete. Ob es wirklich die Tatwaffe war, konnte sie nicht wissen. Andererseits konnte sie auch nicht beweisen, daß es nicht die Mordwaffe war. Es war ein Messer, wie man es gewöhnlich zum Fleischschneiden benutzte.

»Wieso vermutest du, daß dies die Tatwaffe ist?« Sie formulierte die Frage vorsichtig. »Wie kommst du zu dem Messer?«

»Bruder Guss hat es in meine Kajüte geschmuggelt.« Crella schluckte. »Ich war zum Frühstück gegangen. Dann kamst du dazu und berichtetest von Muirgels Tod. Als ich zurückkehrte, stieß ich im Gang auf Guss. Mir gefiel es nicht, wie er mich anstarrte. Er schob sich an mir vorbei und stieg an Deck. Ich ging weiter in meine Kajüte. Da fand ich dann das Messer.«

Fidelma richtete den Blick auf die Koje; von dort, wo sie stand, konnte man nicht unter die Koje sehen.

»Wo war es versteckt?« fragte sie.

»Unter der Koje.«

»Wie hast du es entdeckt?«

»Durch Zufall.«

»Auch durch Zufall kann man nicht durch feste Gegenstände hindurchschauen! Von keinem Punkt in diesem Raum wäre es zu erblicken, falls man nicht auf Knien unter der Koje nachsieht.«

Crella ließ sich nicht beirren.

»Ich kam zurück mit einem Apfel in der Hand. Als ich die Tür öffnete, fiel mir der Apfel herunter. Ich bückte mich und hob ihn auf, und dabei sah ich das Messer.«

»Du hast aber nicht selbst gesehen, daß Guss es dort hingelegt hat, nicht wahr? Aus deiner Schilderung geht nicht hervor, weshalb du ihn dafür verantwortlich machst.«

»Weil wir alle beim Frühstück saßen - mit einer Ausnahme. Bruder Guss war nicht da. Du behauptest, er sei in seiner Kajüte gewesen, aber ich sah ihn aus seiner Kajüte herauskommen. Guss hat versucht, mir den Mord an Muirgel anzuhängen. Allen hat er erzählt, ich hätte sie umgebracht.« Sie runzelte die Stirn. »Dir muß er es doch auch gesagt haben.«

»Von wem hast du gehört, er habe allen erklärt, du wärst die Mörderin?« wollte Fidelma wissen.

Crella zögerte. »Von Bruder Cian. Guss hatte es ihm gesagt, und Cian sagte es mir.«

»Was hast du da getan? Du hattest das Messer gefunden, und Cian hatte dir gesagt, daß Guss dich beschuldigte. Was geschah dann?«

»Ich war so wütend, daß ich an Deck stürmte und Guss zur Rede stellte.«

»Aber das Messer hast du in der Kajüte gelassen.«

»Woher weißt du das?«

»Weil du es nicht in der Hand hieltest, als du an Deck standest. Du hast eben erst unter die Koje gelangt und es hervorgeholt.«

»Dann habe ich es wohl da gelassen.«

»Daher ist es merkwürdig, daß du ihm nicht die Waffe vorgehalten hast. Wäre das nicht die normale Reaktion gewesen?«

»Das weiß ich nicht. Ich wollte ihm nur zu verstehen geben, daß ich sein Geschwätz von seinen sexuellen Beziehungen mit Muirgel kannte. Ich wollte ihn nur warnen, daß er mit solchen Behauptungen nicht durchkäme!«

»Und das ist er ja auch nicht, nicht wahr? Er hatte solche Angst vor dir, daß er zurückwich und über Bord fiel.« Schwester Crella wollte protestieren, doch Fidelma fuhr unerbittlich fort. »Ein wirklich kaltblütiger Mörder war dieser Bruder Guss, der nicht nur tötete, sondern auch falsche Spuren legte - und dann, als er vor aller Augen einer Frau gegenüberstand, so erschrocken war, daß er sich buchstäblich über Bord treiben ließ.«

Schwester Crella spürte den Sarkasmus in ihrer Stimme.

»Er hat das Messer bei mir versteckt, und er hat mich beschuldigt!«

»Schade, Bruder Guss können wir nun nicht mehr befragen«, bemerkte Fidelma trocken. »Mit seinem Tod ist anscheinend alles sauber erledigt.«

Crella sah sie mißtrauisch an.

»Ich weiß nicht, was du damit meinst.«

»Sag mal, weshalb bist du so sicher, daß Muirgel kein Verhältnis mit Guss hatte? Das verstehe ich immer noch nicht.«

Crella schob trotzig das Kinn vor.

»Du glaubst mir nicht?«

»Hatte Muirgel viele Liebesaffären?«

»Wir waren beide normale junge Frauen. Wir hatten beide unsere Liebesgeschichten.«

»Also hat sie dir immer anvertraut, mit wem sie ein Verhältnis hatte?«

Crella schnaubte unwillig.

»Natürlich.«

»Wann hat sie dir das letzte Mal von einer Affäre erzählt?«

»Das habe ich schon erwähnt. Sie hatte ein Verhältnis mit Cian. Ich hatte übrigens selbst ein kurzes Verhältnis mit Cian, bis ich von ihm genug hatte.«

»War es nicht in Wahrheit so, daß Cian dich Muir-gels wegen fallengelassen hat?«

Crella lief rot an.

»Mich läßt niemand fallen.«

»Hat dich das nicht eifersüchtig und zornig gemacht?«

»Nicht so sehr, daß ich sie umgebracht hätte! Werd nicht albern. Wir haben oft unsere Liebhaber getauscht. Wir waren Kusinen und enge Freundinnen, vergiß das nicht.«

»Und du meinst, sie habe immer noch ein Verhältnis mit Cian gehabt und nicht mit Guss?«

»Nicht mit Guss, aber ich glaube, sie und Cian hatten einen Streit, kurz bevor wir von Moville aufbrachen.«

»Weshalb bist du so sicher, daß sie kein Verhältnis mit Guss hatte? Trotz Muirgels offen gezeigten freizügigen Ansichten?«

»Weil sie es mir gesagt hätte«, erwiderte Crella hartnäckig. »Guss wäre der letzte gewesen, mit dem sie sich eingelassen hätte. Er war zu ernst. Für mich liegt es auf der Hand, daß Guss sich in sie verknallte, sie ihn abwies und er daraufhin ihren Tod plante und sie umbrachte.«

»Wie erklärst du dir dann, warum und wie Muirgel sich zwei Tage auf diesem Schiff versteckte und alle glauben machen wollte, sie sei über Bord gespült worden?«

»Vielleicht wollte sie so Guss’ unwillkommenen Nachstellungen entgehen.«

»Warum hat sie dich dann nicht in das Geheimnis eingeweiht? Tut mir leid, Crella, aber es gibt Beweise dafür, daß Guss tatsächlich ihr Geliebter war. Es geht noch um eine andere Sache. Wie erklärst du dir das mit Schwester Canair?«

Fidelma sah dabei Crella tief in die Augen, um ihre Reaktion zu prüfen.

Es war nur ein leichter Ausdruck von Verwunderung zu bemerken.

»Schwester Canair? Was ist mit ihr?«

»Behauptest du, daß Guss sie auch umgebracht hat?«

Schwester Crellas Verwunderung nahm zu und war nicht geheuchelt.

»Wie kommst du darauf, daß Schwester Canair umgebracht wurde?« wollte sie wissen. »Du bist doch erst zu uns gestoßen, als wir schon ausliefen. Woher weißt du überhaupt etwas von Schwester Canair?«

Fidelma betrachtete Crella einige Augenblicke, dann lächelte sie leicht.

»Keine Ursache«, sagte sie und beendete das Thema. »Gar keine Ursache.«

Sie drehte sich um und verließ die Kajüte, das Messer in der Hand.

Entweder sagte Schwester Crella die Wahrheit oder ... Fidelma schüttelte den Kopf. Dies war der undurchsichtigste Fall, mit dem sie bisher zu tun gehabt hatte. Sagte Schwester Crella die Wahrheit, dann mußte Guss ein außerordentlicher Lügner gewesen sein. Sagte Bruder Guss die Wahrheit, dann mußte Crella lügen. Wer sagte die Wahrheit? Wer log? Sie hatte gelernt, daß die Wahrheit groß sei und sich immer durchsetze. Aber in diesem Fall hatte sie keine Ahnung, woran sie die Wahrheit erkennen sollte.

Es hätte keinen Zweck, Crella die ganze Geschichte zu unterbreiten, die Guss erzählt hatte. Sie würde einfach leugnen, falls sie schuldig war, und ohne weitere Beweise führte das zu nichts. Anscheinend war Fidelma in eine Sackgasse geraten.

Kapitel 16

Murchad wies auf die dunkle Küstenlinie, die sich aus dem Dunst über See abhob.

»Das ist die Insel Ushant.«

»Es sieht wie eine große Insel aus«, bemerkte Fidelma neben ihm. In den letzten Stunden hatte sie über die Geschichte nachgedacht, die Guss ihr vom Tod der Schwester Canair erzählt hatte und von seiner und Muirgels Verwicklung darin. Hatte man Muirgel umgebracht, weil sie eine Zeugin war? Oder hatte Guss recht und es gab ein anderes Motiv? Und wenn das Motiv wirklich Eifersucht war, konnte Crella dann die Mörderin sein? War Guss deswegen zu Tode gekommen? Fidelma wußte, daß Crellas Wahrheit nicht mit der Wahrheit von Bruder Guss übereinstimmte, aber sie besaß keine sicheren Beweise.

Vor ungefähr einer Stunde hatten sie einen Gottesdienst für Schwester Muirgel abgehalten und ihre Leiche dem Meer übergeben. Es war der zweite Gottesdienst für sie, und er war bedrückter und zurückhaltender als der erste. Zugleich hatten sie einen Gedenkgottesdienst für den armen Bruder Guss gehalten und seine Seele der Obhut Gottes empfohlen. Es war seltsam zu wissen, daß ein Mensch unter ihnen nicht die Gesinnung teilte, die in den Gebeten ausgesprochen wurde. Nun war es später Nachmittag, die Sonne stand tief am Westhimmel, an dem sich Wolken ballten. Es wurde kühler, und am Horizont war die dunkle Küstenlinie immer deutlicher geworden. Sie mußte mehrere Meilen lang sein.

»Es ist eine große Insel«, bestätigte der Kapitän. »Und eine gefährliche. Aber ich glaube, wir haben Glück.«

Fidelma sah ihn überrascht an.

»Glück? In welcher Hinsicht?«

»Dieser Dunst . Der könnte sich leicht in einen plötzlichen Nebel verwandeln, wie oft hier um Us-hant herum, und außerdem gibt es starke Strömungen und unzählige Riffe, und bei ungünstigem Wind läuft man Gefahr, entweder auf die Riffe oder an die felsige, zerrissene Küste getrieben zu werden. Ein Sturm kann hier eine Woche oder zehn Tage ohne Unterbrechung dauern.«

Selbst in dem Dunst machte die niedrige schwarze Küstenlinie, auf die sie zuhielten, einen finsteren Eindruck. Berge waren nicht zu sehen. Fidelma schätzte den höchsten Punkt der Insel auf nicht mehr als sechzig Meter, aber das ferne Klatschen und Zischen der Wellen, die sich an den Felsen des Ufers brachen, wirkte bedrohlich. Es schien eine sehr unwirtliche Insel zu sein.

»Weißt du, wo du landen kannst?« fragte sie. »Ich sehe nur eine undurchdringliche Felsenwand.«

Murchad verzog das Gesicht.

»Wir werden bestimmt nicht versuchen, an dieser Küste zu landen. Dies ist die Nordküste. Wir müssen nach Süden segeln, um eine Spitze herum in eine weite Bucht, wo auch die größte Ansiedlung liegt. Dort gibt es eine Kirche, die vor hundert Jahren vom heiligen Paul Aurelian, einem Briten, erbaut wurde.«

Er zeigte hinüber. »Wir müssen das Vorgebirge dort umrunden - siehst du es? Von wo das Schiff auf uns zu kommt.«

Fidelma folgte seinem ausgestreckten Arm und erblickte ein fernes Schiff, das hinter dem dunklen Vorgebirge hervorkam und auf sie zu kreuzte. Eine Stimme rief etwas vom Mastkorb.

Murchad trat einen Schritt vor und schrie ärgerlich: »Das sehen wir auch schon. Das hättest du uns vor zehn Minuten sagen müssen!«

Gurvan kam vom Bug her.

»Es ist ein Rahsegler aus Montroulez.«

»Das ist der Typ des Schiffes. Das sagt uns noch nicht, wer es führt«, antwortete Murchad. »Ein Ausguck ist nutzlos, wenn er die Decksmannschaft nicht auf dem laufenden hält.«

Fidelma konnte jetzt das viereckige Segel erkennen, das dem der »Ringelgans« ähnelte.

Gurvan, der mit Drogan am Steuerruder stand, spähte nach vorn und versuchte Einzelheiten des aufkommenden Schiffes auszumachen.

»Mit dem ist was nicht in Ordnung, Kapitän«, rief er.

Murchad betrachtete das andere Schiff stirnrunzelnd.

»Das Segel ist schlecht gesetzt und zieht es zu dicht an den Wind«, murmelte er. »So kann man ein Schiff nicht führen.«

Fidelma verstand zwar nicht, was an dem anderen Schiff verkehrt war, verließ sich aber darauf, daß die geübten Augen Murchads und Gurvans die Fehler der anderen Seeleute feststellen könnten.

Dann rief Murchad plötzlich: »Dieser Trottel! Jetzt müßte er halsen, sonst treibt der auflandige Wind sein Schiff auf die Riffe.«

Fidelma zuckte zusammen.

Die beiden Schiffe näherten sich rasch, nur holte die »Ringelgans« weit nach Westen aus, um genügend Raum zum Umrunden der Riffe zu haben. Das andere Schiff wurde vom Wind in Richtung Küste gedrückt.

»Warum halst er nicht? Sieht er denn die Gefahr nicht?« rief Gurvan. Niemand antwortete.

Ein paar Matrosen standen an der Backbordreling, beobachteten das andere Schiff und machten ebenfalls kritische Bemerkungen über seine Führung.

»Schluß damit!« rief Murchad. »An die Falleinen!«

Die Matrosen eilten an die Leinen, die das Segel setzen oder reffen. Fidelma merkte sich diesen Seemannsjargon, denn sie wollte lernen, was da vor sich ging. Sie spürte, wie der Wind plötzlich umsprang. Es war merkwürdig, wie schnell sie sich daran gewöhnt hatte, auf den Wechsel der Windrichtungen zu achten, seit sie wußte, wie wichtig das war.

»Das hab ich doch geahnt!« rief Murchad und stampfte fast mit dem Fuß auf. »Was für ein verdammter Idiot von Kapitän!«

Sein Schrei ließ sie wieder zu dem anderen Schiff hinüberblicken, das sich weiter entfernt hatte. Wenn sie Murchad richtig verstand, hätte der andere Kapitän das Segel anbrassen und das Schiff wenden oder halsen müssen. So oder so, jetzt sah sie das Ergebnis.

Der Wind hatte das Segel des Schiffes so voll erfaßt, daß es vorwärtsschoß wie ein Pfeil vom Bogen, direkt auf die flachen Klippen zu. Dann legte eine andere Bö es so weit auf die Seite, daß Fidelma einen Augenblick glaubte, es würde kentern. Langsam richtete es sich auf. Wieder packte es der Wind, und dann hörte Fidelma trotz Wind und Wellen, wie das Segel mit einem schrecklichen Geräusch zerriß.

»Sprich ein Gebet für sie, Lady!« rief Gurvan. »Jetzt haben sie nicht die Spur einer Chance mehr.«

»Wie meinst du das?« keuchte Fidelma und merkte sofort, daß das ein dumme Frage war.

Einen Moment schien das fremde Schiff seltsam still zu liegen, dann fuhr der Wind in die Fetzen des Großsegels und das noch intakte Steuersegel, und das Schiff taumelte wieder vorwärts.

Ein solches Geräusch hatte Fidelma noch nie gehört. Es klang, als breche ein riesiges Tier durchs Unterholz und fetze Büsche und Bäume auseinander. Das Wasser vertausendfachte jeden Laut.

Das andere Schiff wurde vorwärtsgeschleudert, und vor Fidelmas entsetzten Blicken brach es völlig auseinander.

»Beim lebendigen Gott, auf den Riffen zertrümmert!« rief Murchad. »Der Himmel sei den armen Seelen gnädig.«

In eisiger Spannung sah sie zu, wie drüben der Großmast plötzlich barst und wie ein fallender Baum umschlug und dabei das Tauwerk und die Reste des Segels mitriß. Dann brachen die Planken auseinander. Sie konnte erkennen, wie kleine dunkle Gestalten vom Schiff in die weißschäumende See sprangen. Sie glaubte Schreie und Rufe zu hören, doch der Wind und die gegen die Felsen schlagenden Wellen hätten jeden Laut übertönt.

In wenigen Augenblicken war das fremde Schiff verschwunden, um die dunklen Zacken der Riffe trieben anscheinend nur noch ein paar Wrackteile auf den Wellen, meist zertrümmerte hölzerne Planken, dazu noch ein Faß, ein Weidenkorb und hier und da einige wenige Leichen, das Gesicht im Wasser.

Murchad stand da und schaute wie versteinert zu. Dann riß er sich zusammen wie aus tiefem Schlaf erwachend, schüttelte den Kopf klar und hustete sich das Mitgefühl aus der Stimme.

»Großsegel einholen!« befahl er.

Die Matrosen hatten die Falleinen schon in den Fäusten und zogen nun daran.

Cian und einige andere Pilger waren an Deck gekommen, als sie merkten, daß sich etwas ereignete, und wollten nun wissen, was geschehen sei.

Murchad starrte Cian einen Moment an und schrie dann: »Alle unter Deck! Sofort!«

Fidelma ging verlegen nach vorn und half, ihre Mitreisenden zum Niedergang zu schieben.

»Ein Schiff ist gerade dort drüben auf die Riffe gelaufen«, gab sie ihnen auf ihre Proteste zur Antwort. »Für die armen Seelen an Bord gibt es anscheinend kaum Hoffnung.«

»Können wir nichts tun?« fragte Schwester Ainder. »Es ist doch unsere Pflicht zu helfen?«

Fidelma blickte zurück auf Murchad, der Befehle gab, und wehrte ab.

»Der Kapitän tut alles, was er kann«, versicherte sie der hochgewachsenen Nonne. »Ihr helft ihm am meisten, wenn ihr seine Anordnungen befolgt.«

»Dreh gegen den Wind, Gurvan! Treibanker raus! Kurs beibehalten! Klar zum Aussetzen des Skiffs!«

Diesem Wirrwarr von Befehlen entnahm Fidelma, daß Murchad versuchen wollte, Überlebende zu retten.

Als sie sah, daß ihre Gefährten, wenn auch widerwillig, unter Deck gingen, wandte sie sich an Murchad mit der Frage: »Können wir irgendwie helfen?«

Murchad schüttelte den Kopf.

»Überlaß das vorläufig uns, Lady«, erwiderte er kurz.

Fidelma wollte nicht zurück in ihre Kajüte, also suchte sie sich eine Ecke, in der sie vermutlich nicht im Wege wäre und beobachten konnte, was weiter geschah.

Gurvan hatte seinen Platz am Steuerruder einem anderen abgetreten und war mit zwei weiteren Matrosen dabei, das Boot - das Skiff hatte es Murchad genannt - in der kabbeligen See auszusetzen. Fidelma erkannte mit Bewunderung, daß jeder offensichtlich wußte, wo er zu stehen und was er zu tun hatte. Die »Ringelgans« hatte nun beigedreht und die Segel gerefft, und die Treibanker hielten sie ziemlich genau in Position. Fidelma begriff jedoch, daß sich in dieser See kein Schiff lange an einer Stelle halten konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Murchad wieder Segel setzen und sein Schiff in Sicherheit bringen mußte. Die Riffe schienen schon gefährlich nahe.

Das kleine Boot setzte klatschend auf dem Wasser auf, Gurvan stand im Bug und gab den Kurs an, und mit zwei Matrosen an den Rudern schoß es durch die bewegte See auf die Riffe und die treibenden Wrackteile zu.

Fidelma beobachtete es gespannt.

»Ich glaube kaum, daß von denen einer überlebt hat«, sagte eine leise Stimme an ihrer Seite.

Wenbrit stand plötzlich neben ihr. Der Junge sah ganz blaß aus und betastete mit der Hand die Narbe an seinem Hals, die ihr schon aufgefallen war, als sie an Bord kam. Solche Furcht hatte sie noch nie in seinem Gesicht gesehen.

»Passiert so etwas oft auf See?«

Der Junge blinzelte, seine Stimme klang gepreßt.

»Daß Schiffe auf Felsen auflaufen, meinst du?«

Fidelma nickte.

»Oft. Viel zu oft«, antwortete der Junge. »Nur wenige laufen durch schlechte Schiffsführung auf, wegen Leuten, die keine Ahnung von der See und keinen Respekt vor ihr haben und die nie den Fuß auf eine Planke setzen sollten, geschweige denn ein Schiff führen und Verantwortung für das Leben von Menschen tragen. Viele gehen durch Wetter verloren, das man nicht beherrschen kann, durch Stürme und Gezeiten. Ein paar Schiffe gehen auch unter, weil die Mannschaft oder der Kapitän zuviel getrunken haben.«

Fidelma vernahm erstaunt die unterdrückte Heftigkeit im Ton des Jungen.

»Wie ich sehe, hast du viel darüber nachgedacht, Wenbrit.«

Der Junge lachte mit einer unerwarteten Härte auf.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?« fragte sie.

Wenbrit entschuldigte sich sofort.

»Nichts Falsches, Lady, es ist nicht dein Fehler. Jetzt kann ich es dir auch sagen. Murchad hat mir das Leben gerettet. Er holte mich aus der See bei einem solchen Schiffsuntergang wie diesem.« Er nickte zu den treibenden Trümmern hinüber.

Sie war überrascht. Nach einer Weile forschte sie: »Wann war das, Wenbrit?«

»Vor ein paar Jahren. Ich war auf einem Schiff, das infolge schlechter Führung auf Felsen auflief. Ich weiß nicht mehr viel davon, außer daß der Kapitän betrunken war und falsche Befehle gab. Das Schiff zerschellte. Murchad fischte mich ein paar Tage später aus dem Meer. Ich war an einem Stück Gräting festgebunden, sonst wäre ich ertrunken. Eins der Taue hatte sich um meinen Hals gewickelt. Die Narbe hast du ja wohl schon bemerkt.«

Nun verstand Fidelma, weshalb der Junge Murchad so tief verehrte.

»Du warst also bereits Kajütenjunge, als du noch ganz klein warst?«

Wenbrit lächelte freudlos.

»Haben deine Eltern das erlaubt?« fragte sie sanft.

Wenbrit blickte zu ihr auf. Sie sah tiefe Angst in seinen dunklen Augen.

»Mein Vater war der Kapitän.«

Fidelma bemühte sich, ihn ihr Erschrecken nicht merken zu lassen.

»Dein Vater war Kapitän?«

»Er war betrunken. Er war oft betrunken.«

»Und deine Mutter?«

»An die kann ich mich nicht erinnern. Er hat mir erklärt, sie sei bald nach meiner Geburt gestorben.«

»Wurde sonst noch jemand von dem Schiff gerettet?«

»Nicht daß ich wüßte. Ich kann mich an nichts erinnern zwischen dem Scheitern des Schiffes und der Zeit, als ich an Bord der >Ringelgans< kam. Murchad meinte, ich müßte mehrere Tage auf See getrieben sein und sei halbtot gewesen, als er mich auffischte.«

»Hast du versucht, andere Überlebende ausfindig zu machen? Dein Vater hätte doch auch überlebt haben können.«

Wenbrit zuckte gleichgültig die Achseln.

»Murchad lief den Heimathafen des Schiffes meines Vaters in Cornwall an. Dort hatte man keine Nachricht. Die ganze Besatzung war längst aufgegeben worden.«

»Wer außer Murchad kennt deine Geschichte?«

»Die meisten Männer auf diesem Schiff, Lady. Dies ist nun meine Heimat. Gott sei Dank, daß Murchad damals hinzukam. Jetzt habe ich eine neue Familie und eine bessere als ich jemals hatte.«

Fidelma lächelte und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Gott sei wahrhaftig Dank, Wenbrit.« Dann kam ihr ein Gedanke. »Und Dank sei auch dem, der dich, als du bewußtlos warst, an der Gräting festgebunden hat, so daß du wenigstens eine Chance auf Rettung hattest.«

Ein Ruf drang herüber, als das Skiff die treibenden Wrackstücke erreichte. Gurvan stand mühsam aufrecht und suchte die See ab. Dann zeigte er auf eine Stelle und setzte sich wieder. Die Ruder peitschten das Wasser.

»Haben sie einen Überlebenden gefunden?« fragte Fidelma.

Wenbrit schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, es ist eine Leiche. Sie lassen sie wieder ins Wasser.«

»Können wir nicht die Leichen bergen?« wandte Fidelma ein. Sie meinte, man könnte eine Totenfeier für sie halten.

»Auf See, Lady, kommen immer die Lebenden vor den Toten«, erklärte ihr Wenbrit.

Dann hörten sie erneut einen Ruf und sahen, wie eine zweite Gestalt in das Skiff gezogen wurde. Spritzer in der Nähe zeigten, daß jemand darauf zu schwamm.

»Wenigstens zwei Seelen gerettet«, murmelte Wenbrit.

Eine Viertelstunde später kehrte das Skiff zurück. Im ganzen waren nur drei Menschen lebend gefunden worden, und nun hatte es Murchad eilig, sein Schiff wieder in Fahrt zu bringen, denn selbst Fidelma erkannte, wie Wind und Gezeiten die »Ringelgans« trotz gereffter Segel und Treibanker auf die Riffe zu trieben. Fidelma hatte sich gefragt, was Treibanker wohl wären. Einen normalen Anker kannte sie. Wen-brit erklärte ihr, daß das Schiff vier große Ledersäcke mitführte, die ins Wasser gelassen wurden und als Bremse wirkten, damit das Schiff nicht ohne Widerstand dahintrieb.

Die drei geretteten Seeleute wurden an Deck gehievt, und dann schrie Murchad eine Reihe von Befehlen.

»Großsegel setzen! Treibanker einholen. Klar Schiff zum Halsen. Gurvan ans Steuerruder.«

Fidelma übernahm es, sich um die drei Geretteten zu kümmern. Der größte Teil der Mannschaft war damit beschäftigt, das Schiff aus der Gefahrenzone zu bringen.

Einer saß schon aufrecht und hustete etwas. Die beiden anderen lagen bewußtlos da.

Fidelma fielen sofort mehrere Dinge auf. Die beiden Bewußtlosen trugen die übliche Seemannskleidung, es waren anscheinend einfache Matrosen. Der Mann, der aufrecht saß und wieder zu sich kam, war gut gekleidet, und obgleich seine Sachen durchnäßt waren und er keine Waffe trug, erkannte Fidelma, daß er ein Mann von Rang war.

Er war kräftig gebaut und hatte vielleicht auch deshalb den Schiffbruch relativ gut überstanden, war blond und trug einen langen Schnurrbart, der nach Art der Gallier zu beiden Seiten des Mundes herabhing. Sein Gesicht war salzverkrustet, aber angenehm geschnitten, mit hellblauen Augen. Obwohl durchweicht, verriet seine Kleidung gute Qualität. Er schien an ein Leben im Freien gewöhnt. Ihr fielen einige wertvolle Schmuckstücke an ihm auf.

»Quomodo vales?« fragte sie ihn lateinisch in der Annahme, daß er bei seinem Rang die Sprache kenne, unabhängig von seiner Nationalität.

Zu ihrer Überraschung antwortete er in ihrer eigenen Sprache und mit einem Akzent, den sie dem Königreich Laigin zurechnete.

»Ich komm schon zurecht.« Er wies auf seine reglosen Gefährten. »Für die sieht’s schlechter aus.«

Fidelma beugte sich nieder und fühlte dem ersten Mann den Puls. Er war zu spüren, schlug aber sehr schwach.

»Er hat viel Wasser geschluckt, glaube ich«, meinte der Ire.

Wenbrit kam zu ihnen.

»Ich weiß, wie man ihn wiederbeleben kann, Lady«, erbot er sich.

Fidelma trat beiseite, und der Junge rollte den Mann auf den Rücken und kniete sich über ihn.

»Wir müssen das Wasser aus ihm rauskriegen. Geh zu seinem Kopf und zieh ihm die Arme nach hinten, und wenn ich es sage, schieb sie nach vorn, wie bei einer Pumpe.«

Ein anderer Matrose tat dasselbe bei dem zweiten Mann.

Fidelma folgte den Anweisungen des Jungen und sah, daß die Bewegung die Brust des Mannes hob und senkte. Zwischen jeder Bewegung blies Wenbrit dem Mann kräftig in den Mund. Fidelma wollte gerade sagen, daß das Verfahren wohl keinen Erfolg habe, als der Mann krächzte, Wasser ausspuckte und hustete. Wenbrit rollte ihn auf die Seite, und dann erbrach sich der Matrose.

Fidelma trat zurück. Der andere Matrose hatte eine Wunde an der Stirn und war bewußtlos, schien aber normal zu atmen. Zwei Seeleute trugen ihn zu den Mannschaftskajüten. Fidelma sah, daß der Mann aus Laigin schon auf den Beinen war und den Schiffbruch wohl gut überstanden hatte. Er schaute trübselig um sich.

Wenbrit half dem wiederbelebten Matrosen beim Aufstehen. Der Mann murmelte etwas, und Wenbrit antwortete ihm in derselben Sprache.

»Das ist also kein Ire?« fragte Fidelma den Iren.

»Es war ein bretonisches Handelsschiff, Schwester, mit einer bretonischen Mannschaft. Ich hatte darauf die Überfahrt bis zur Mündung der Sleine bezahlt.«

Fidelma sah ihn nachdenklich an.

»Du bist offensichtlich aus Laigin.«

»Ja. Ist dies ein irisches Schiff?«

»Aus Ardmore«, bestätigte Fidelma, »aber mit einer gemischten Besatzung. Murchad ist der Kapitän.«

»Aus dem Königreich Muman?« Er sah sich um und lächelte. »Sicherlich ein Pilgerschiff. Wohin wollt ihr?«

»Zum Schrein des heiligen Jakobus in Iberia.«

Er ließ einen leisen Fluch los.

»Das hilft mir nicht viel. Wer ist der Kapitän, sagtest du? Ich muß sofort mit ihm sprechen.«

Fidelma blickte zum Achterdeck, wo Murchad sehr beschäftigt war.

»Ich würde dir raten, damit etwas zu warten, wenn du nicht wieder Bekanntschaft mit der See und ihren Klippen machen willst«, meinte sie lächelnd. »Außerdem werden wir in Kürze Ushant anlaufen, um frisches Wasser zu übernehmen.«

Der Mann zog die Mundwinkel herab.

»Von Ushant komme ich gerade.«

Wenbrit hatte geholfen, die Überlebenden fortzuschaffen, und säuberte nun das Deck.

»Werden die Seeleute durchkommen?« fragte ihn Fidelma.

Der Junge grinste.

»Die beiden haben Glück gehabt, schätze ich. Ich hole gleich mal einen Schnaps, damit dem Herrn hier wieder warm wird.«

»Eine gute Idee, mein Junge«, lobte ihn der Gerettete.

»Wie heißt du?« fragte ihn Fidelma höflich.

»Das sage ich dem Kapitän«, antwortete er wegwerfend.

Fidelma fuhr herum und wollte ihn für seine schlechten Manieren tadeln. Dabei glitt das Kreuz an der goldenen Kette in den Ausschnitt ihrer Kutte. Dieser alte dynastische Orden der Eoghanacht war ihr von ihrem Bruder, König Colgü von Cashel, verliehen worden. Das goldene Kreuz funkelte in der Sonne. Später war sich Fidelma nicht mehr sicher, ob sie nicht im Unterbewußtsein die Bewegung absichtlich gemacht hatte. Jedenfalls übte sie eine starke Wirkung auf den Mann aus.

Seine Augen weiteten sich, und er starrte sie an. Es war das Abzeichen der Niadh Nasc, des Ordens der Goldenen Halskette, einer ehrwürdigen Adelsbruderschaft von Muman, die aus der alten Kriegergarde der Könige von Cashel hervorgegangen war. Die Mitgliedschaft wurde vom Eoghanacht-König von Cashel persönlich verliehen, und jeder Ausgezeichnete schwor ihm persönliche Treue. Zum Zeichen dessen trug er ein Kreuz, das aus einem alten Sonnensymbol abgeleitet war, denn es hieß, der Ursprung des Ordens läge in dunkler Vorzeit. Einige Geschichtsschreiber behaupteten, er sei fast tausend Jahre vor Christi Geburt gegründet worden.

Der Mann aus Laigin wußte, daß keine gewöhnliche Nonne ein solches Zeichen trug. Er erinnerte sich anscheinend auch, daß der Junge sie mit »Lady« angeredet hatte. Nun räusperte er sich verlegen und verneigte sich.

»Ich vergesse meine Manieren, Lady. Ich bin Toca Nia vom Clan Baoiscne. Ich befehligte früher einmal die Leibwache Faelans, des verstorbenen Königs von Laigin. Mit wem spreche ich?«

»Ich bin Fidelma von Cashel.«

Sein Erstaunen war offenkundig.

»Die Schwester Colgüs von Cashel? Die dalaigh, die in dem Streit zwischen Muman und Laigin auftrat und ...«

»Colgü ist mein Bruder«, unterbrach sie ihn.

»Ich kenne deinen Ruf, Lady.«

»Ich bin nur eine Anwältin und Nonne auf der Pilgerfahrt nach Iberia.«

»»Nur?« Toca Nia lachte entwaffnend. »Jetzt ist mir klar, daß ich dich schon einmal gesehen habe, aber ich habe dich erst wiedererkannt, als du deinen Namen nanntest.«

Jetzt war die Reihe an Fidelma, überrascht zu sein.

»Ich erinnere mich nicht, daß wir uns schon begegnet sind.«

»Das kannst du auch nicht, denn wir haben uns nicht wirklich kennengelernt«, erklärte er. »Ich sah dich nur in der überfüllten Halle einer Abtei. Es war in der Abtei von Ros Ailithir, vor mehr als einem Jahr. Nach dem Tode meines Königs Faelan blieb ich noch eine Weile im Dienst des jungen Königs von Laigin, Fianamail. Ich begleitete ihn, den Abt Noe von Fearna und den Brehon Fornassach zur Abtei, wo du die Verschwörung aufdecktest, mit der Laigin und Muman zum Krieg gegeneinander getrieben werden sollten.«

Das schien Fidelma schon ein ganzes Leben zurückzuliegen. War das tatsächlich erst vor einem Jahr gewesen?

»Ein eigenartiger Ort, an dem wir uns wiedertreffen«, bemerkte sie höflich. »Wie geht es Fianamail, dem König von Laigin? Ein feuriger und ungestümer junger Mann, wie ich mich erinnere.«

Toca Nia lächelte und nickte.

»Nach Ros Ailithir verließ ich seinen Dienst. Ich glaube, ich hatte genug vom Krieg und vom Kriegerleben. Ich hatte gehört, daß der Fürst von Montroulez einen Ausbilder für seine Pferde suchte. Auf dem Gebiet hatte ich guten Erfolg. Ich verbrachte ein Jahr an seinem Hof und war auf dem Rückweg nach Laigin, als ...«

Mit einer beredten Handbewegung wies er auf das Meer. Diese Geste holte Fidelma in die Gegenwart zurück. Sie wandte sich um und sah zu ihrer Überraschung, daß die Reihe der gezackten Felsen schon weit in die Ferne gerückt war.

Wieder einmal hatte Murchad sein Können bewiesen und sein Schiff aus der Gefahr herausmanövriert.

Gerade kam Murchad vom Achterdeck her mit raschen Schritten auf sie zu.

Toca Nia begrüßte ihn.

»Hast du Verletzungen erlitten?« erkundigte sich Murchad und musterte den kräftig gebauten Krieger mit durchdringendem Blick.

»Keine, dank des rechtzeitigen Eingreifens von dir und deiner Mannschaft, Kapitän.«

»Und deine Gefährten?«

Wenbrit trat vor und antwortete für ihn.

»Zwei Matrosen von der Mannschaft. Einer hat kaum etwas abbekommen, der andere wird ein paar Tage brauchen, bis er wiederhergestellt ist. Sein Kopf ist auf einen Felsen aufgeschlagen.«

»Auf welchem Schiff wart ihr?« fragte Murchad den Überlebenden.

»Das Schiff hieß >Morvaout< - wir würden es wohl >Kormoran< nennen, glaube ich.«

Murchad sah ihn scharf an.

»War es ein Pilgerschiff?«

Toca Nia lächelte. »Ein Handelsschiff mit einer Ladung Wein und Olivenöl nach Laigin, und mit mir.«

Fidelma schaltete sich ein.

»Dies ist Toca Nia, der frühere Kommandeur der Leibgarde des Königs von Laigin und zuletzt der Ausbilder der Pferde des Fürsten von . welches Fürsten?«

»Montroulez ist ein kleines Fürstentum auf dem Festland, an der Nordküste von Klein-Britannien.«

»Was hat sich euer Kapitän dabei gedacht, als er sein Schiff in so gefährliches Wasser steuerte?« war Murchads nächste Frage.

Der frühere Krieger zuckte die Achseln.

»Der Kapitän starb vor zwei Tagen. Deshalb lief das Schiff auf Südkurs nach Ushant, statt direkt nördlich nach Laigin zu steuern. Der Steuermann hatte das Kommando übernommen, aber ich fürchte, er war wohl kein fähiger Seemann und wurde auch mit einigen aus der Mannschaft nicht fertig. Sie gehorchten seinen Befehlen nicht. Er war zu sehr dem Apfelwein zugetan.«

»Heißt das, daß die Mannschaft meuterte?« fragte Fidelma.

»So etwas Ähnliches, Lady.«

»Waren die Überlebenden auch daran beteiligt?« wollte Murchad wissen. »Ich will keine Meuterer auf meinem Schiff haben.«

»Das könnte ich nicht sagen. Nach dem Tod des Kapitäns ging viel durcheinander.«

»Woran starb er? Wurde er bei der Meuterei umgebracht?«

»Er fiel einfach am Steuer tot um. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Ich habe manchmal solche unerklärlichen Todesfälle erlebt, vor und sogar nach der Schlacht. Tod nicht durch Wunden, sondern weil das Herz stillstand.«

»Und der Kapitän war der einzige tüchtige Seemann an Bord?« wollte Murchad wissen. »Das ist aber seltsam.«

»Seltsam oder nicht, das Ergebnis hast du gesehen. Zum Glück warst du da, sonst wäre ich nicht mehr am Leben. Kapitän, ich brauche eine Überfahrt nach Laigin.«

Murchad schüttelte den Kopf.

»Wir sind auf einer Pilgerreise zum Schrein des heiligen Jakobus. Ardmore werden wir wohl frühestens in drei Wochen wiedersehen. Aber wir laufen Ushant an. Dort wirst du bald ein Schiff finden, das dich nach Hause bringt.«

Der frühere Krieger lächelte trübe.

»Ich werde wohl ein paar von diesen Klunkern verkaufen müssen.« Er wies auf die Ringe an seiner Hand. »Der Verdienst eines Jahres liegt irgendwo dort auf dem Meeresgrund.« Mit dem Daumen zeigte er zurück auf die Klippen. »Ich besitze nur noch, was ihr an mir seht. Na ja, vielleicht kann ich einen Schiffer überreden, mich als Matrosen anzuheuern.«

Murchad betrachtete ihn zweifelnd.

»Hast du seemännische Erfahrung?«

Der Mann lachte schallend.

»Bei allen Schlachtengöttern, überhaupt keine. Ich bin ein guter Krieger. Ich kenne mich in Strategie und Waffenkunde aus. Ich liebe Pferde und kann sie ausbilden. Ich spreche drei Sprachen. Ich kann lesen und schreiben und sogar etwas in Ogham ritzen. Aber in der Seefahrt habe ich überhaupt keine Erfahrung.«

Murchad verzog den Mund.

»Na, dann wirst du dir wohl in Ushant eine Überfahrt suchen müssen. Ihr entschuldigt mich?« Er ging zurück zu seinen Pflichten.

Wenbrit kam mit einem Becher voll Schnaps und reichte ihn dem Krieger.

»Du solltest deine nasse Kleidung ablegen«, riet er ihm. »Ich glaube, ich finde ein paar passende Sachen für dich.«

»Das ist gut, meine Junge . « Er brach mitten im Satz ab.

Sein Gesicht war erstarrt, den Becher hatte er halb erhoben, den Mund wie zum Trinken geöffnet, die Augen weit aufgerissen. Ein ungläubiger Ausdruck huschte über sein Gesicht, an einer Wange begann ein Muskel zu zucken.

Fidelma drehte sich um und suchte den Grund dieser plötzlichen Veränderung.

Cian war an Deck gekommen, um zu sehen, was sich ereignet hatte, seit Murchad die Pilger unter Deck geschickt hatte. Er sah Fidelma und kam auf sie zu.

Aus der Kehle Toca Nias brach ein tierartiger Laut hervor. Der Becher entfiel seiner Hand, der Inhalt ergoß sich auf das Deck.

Bevor Fidelma begriff, was vor sich ging, stürzte sich der Mann auf den verblüfften Cian.

»Schurke! Mörder!«

Die beiden Worte fielen wie Peitschenhiebe.

Im selben Moment hatte er Bruder Cian erreicht, und seine Faust fuhr dem Verdutzten ins Gesicht. Einen Augenblick stand Cian mit blutiger, eingeschlagener Nase da, die Augen starr vor Verwunderung, dann fiel er rücklings um, so langsam, als wolle er den Gesetzen der Schwerkraft trotzen.

Kapitel 17

Fidelma stand vor Verblüffung wie angewurzelt da. Wenbrit reagierte als erster mit einem Warnruf. Zwei Matrosen erreichten Toca Nia, bevor er mit dem Fuß auf Cians ungeschützten Kopf eintreten konnte. Sie zerrten ihn, der sich sich heftig wehrte, von dem an Deck liegenden Cian weg. Murchad kam herbeigerannt.

»Was zum Teufel ...?« setzte er an.

»Teufel ist richtig!« tobte Toca Nia und bemühte sich mit haßverzerrtem Gesicht, sich dem Griff der Matrosen zu entwinden.

Fidelma beugte sich über den bewußtlosen Cian und fühlte ihm den Puls. Sie schaute zu Murchad auf.

»Würde wohl jemand Bruder Cian in seine Kajüte schaffen und sich um ihn kümmern? Die Verletzung scheint nicht gefährlich, aber er ist bewußtlos.«

Murchad winkte zwei Matrosen heran, und wortlos trugen sie Cian unter Deck.

Fidelma hatte sich erhoben und trat Toca Nia gegenüber. Er stand jetzt still im festen Griff der Matrosen. Mit gekreuzten Armen blickte sie ihm in das erregte Gesicht.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte sie ihn.

Toca Nia gab keine Antwort.

»Du bist uns eine Erklärung schuldig, mein Freund«, sagte Murchad. »Ich habe dich nicht aus dem Meer geholt, damit du einen meiner Passagiere totschlägst, noch dazu einen heiligen Bruder auf einer Pilgerreise. Was ist in dich gefahren?«

Toca Nia schaute Murchad in das ernste Gesicht und wandte sich dann an Fidelma.

»Das ist kein heiliger Bruder!«

»Das mußt du uns erklären«, beharrte Murchad. »Bruder Cian gehört zu den Pilgern, die auf meinem Schiff reisen.«

»Cian! Ja, so heißt er. Ich habe allen Grund, mich daran zu erinnern. Aber er ist ein Krieger wie ich. Einer der Krieger von Ailech. Er ist der >Schlächter von Rath Bile<!«

Fidelma starrte Toca Nia an und bemühte sich, seine Anschuldigung zu begreifen.

»Der >Schlächter von Rath Bile<?« wiederholte sie ratlos.

»Ein ganzes Dorf und eine Burg zerstört, alle Gebäude niedergebrannt, Männer, Frauen und Kinder niedergemetzelt auf Befehl von Cian von Ailech. Hundertundvierzig Seelen in den Himmel geschickt von diesem Scheusal ...« Toca Nias Stimme schwoll an vor Erregung.

Fidelma hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen.

»Beruhige dich, Toca Nia. Wieso bist du sicher, daß Bruder Cian für solch ein Massaker verantwortlich war?«

Das Gesicht des Iren war wutverzerrt, in seinen Augen stand seine Qual.

»Weil meine Mutter, meine Schwestern und mein jüngerer Bruder dort hingeschlachtet wurden, weil ich dabei war und es bezeugen kann.«

Fidelma saß auf der Koje in Murchads Kajüte, während der Kapitän sich auf einem Stuhl ausstreckte. To-ca Nia war in Gurvans Kajüte gebracht worden, und Drogan hielt davor Wache. Fidelma schaute besorgt drein. Die neue Situation hatte etwas Unwirkliches an sich.

»Ich habe noch nie erlebt, daß sich die Persönlichkeit eines Menschen derartig verändert«, erklärte sie Murchad. »Zuerst machte dieser Toca Nia einen angenehmen, freundlichen Eindruck, doch in dem Moment, als er Cian sah, verwandelte er sich in einen tobenden Irren und geriet völlig außer Kontrolle.«

Murchad zuckte die Achseln.

»Wenn seine Behauptung stimmt, ist seine Wut verständlich. Du kennst doch Cian von früher her, da mußt du doch etwas von dem gehört haben, was Toca Nia vorbringt?«

Fidelma machte eine verlegene Bewegung.

»Ich kannte Cian vor zehn Jahren«, gab sie zu. »Damals war er Krieger in der Leibgarde des Königs von Ailech. Darüber hinaus weiß ich nichts. Von diesem Rath Bile habe ich noch nie etwas gehört.«

Es trat ein längeres Schweigen ein, in dem Murchad in seinem Gedächtnis nachforschte.

»An einiges kann ich mich erinnern«, meinte er schließlich.

»Wann ereignete sich das?«

»Vor mehreren Jahren. Vielleicht vor fünf Jahren. Rath Bile liegt im Gebiet der Ui Feilmeda im Königreich Laigin.«

»Das heißt südlich der Abtei Kildare«, überlegte Fidelma. »In der Abtei war ich ein paar Jahre, aber an die Geschichte kann ich mich nicht erinnern.« Sie dachte einen Moment nach. »Vor fünf Jahren? Es könnte in der Zeit gewesen sein, als ich nach dem Westen geschickt worden war. Was weißt du von dem Massaker?«

Murchad zuckte die Achseln.

»Herzlich wenig. Es gab einen Konflikt zwischen dem Großkönig Blathmac und Faelan von Laigin - einen Streit darüber, ob die Ui Cheithig ihren Tribut an Blathmac in Tara oder an Faelan in Fearna zu entrichten hätten. Ich weiß, daß ein Vertrag geschlossen wurde. Aber anscheinend hatte Blathmac vor, Faelan wegen seines Widerstandes eine Lektion zu erteilen, und schickte eine Schar seiner Elitetruppe zu Schiff die Küste entlang ins Land der Ui Enechglais. Sie marschierte zur Burg von Faelans Bruder in Rath Bile und richtete ein Blutbad an. Es stimmt, daß viele Greise, Frauen und Kinder dabei ebenso ums Leben kamen wie die Handvoll Krieger von Laigin, die den Ort verteidigten.«

Fidelma war beunruhigt.

»Das ist eine Verwicklung, die uns auf dieser Reise gerade noch gefehlt hat.«

Murchad teilte ihre Besorgnis.

»Und du bist der Aufklärung des Mordes an Schwester Muirgel noch nicht näher gekommen? Es wird geflüstert, Schwester Crella sei die Schuldige. Stimmt das?«

»Ich sehe noch nicht klar. Es steckt mehr dahinter, als man auf den ersten Blick erkennt. Wie lange dauert es noch, bis wir den Hafen von Ushant erreichen?«

»Bei diesem Wind können wir in einer Stunde dort sein. Du mußt mir einen Rat geben, was ich mit Toca Nia und Cian machen soll, Lady.«

Fidelma schüttelte den Kopf. »Wenn ich die Gesetze über Kriegsverbrechen in den Critb Gablach richtig in Erinnerung habe, heißt es dort nur, daß nach Abschluß eines cairde oder Friedensvertrages alle Ansprüche dieser Art binnen eines Monats gestellt werden müssen. Wer nach dem Gesetz eine Entschädigung für ungesetzliche Tötung erlangen will, muß innerhalb dieser Frist darauf klagen. Das Massaker, von dem hier die Rede ist, ereignete sich vor mehreren Jahren.«

Murchad schaute trübe drein.

»Erst Mord und jetzt auch noch Kriegsverbrechen! In all meinen Jahren auf See habe ich so etwas nicht erlebt. Was müßten wir tun? Toca Nia hält mir Zitate aus der Bibel vor und verlangt Rache.«

»Rache ist nicht Gerechtigkeit«, erwiderte Fidelma.

»Dieser Fall gehört vor einen höheren Brehon, ich bin nicht befugt, hierüber zu entscheiden.«

»Na, ich schon gar nicht, Lady.«

»Ich werde mit Cian reden«, erklärte Fidelma und erhob sich. »Als erstes müssen wir hören, was er dazu zu sagen hat.«

Cian hatte es sich in halb sitzender Stellung auf seiner Koje bequem gemacht und hielt sich ein blutgetränktes Tuch vor die Nase. Die Kajüte, die er mit Bruder Bairne teilte, war dunkel. Eine Laterne schwang an einem Haken an der Decke hin und her und warf ein unruhiges, flackerndes Licht. Offensichtlich hatte ihm noch niemand etwas von Toca Nias Anschuldigung gesagt. Er nahm den Lappen von der Nase und begrüßte Fidelma mit einem schiefen Lächeln.

»Unser schiffbrüchiger Seemann hat eine merkwürdige Art, seinen Rettern Dankbarkeit zu bezeigen«, meinte er ironisch.

Fidelmas Miene blieb ausdruckslos.

»Ich nehme an, du hast den Mann nicht erkannt?«

Cian zuckte die Achseln und verzog schmerzvoll das Gesicht.

»Hätte ich ihn erkennen sollen?«

»Sein Name ist Toca Nia.«

»Nie gehört.«

»Er ist kein Seemann, sondern war Passagier auf dem gesunkenen Schiff. Er war Krieger bei Faelan von Laigin.«

Cian reagierte wegwerfend.

»Na, ich kenne nicht alle Krieger der fünf Königreiche. Was hat er gegen mich?«

»Ich dachte, du kennst ihn, weil er dich kennt.«

»Wie heißt er noch mal?« fragte Cian.

»Toca Nia.«

Cian dachte einen Moment nach und schüttelte dann den Kopf.

»Toca Nia von Rath Bile«, fügte Fidelma kalt hinzu.

Ohne Zweifel bedeutete dieser Zusatz etwas für Cian.

»Würdest du mir davon berichten?« fuhr Fidelma fort.

»Worüber genau?«

»Über das, was in Rath Bile geschah.«

»In Rath Bile wurde ich am Arm verwundet.« In seiner Stimme klang Bitterkeit mit.

»Was tatest du in Rath Bile?«

»Ich stand im Dienste des Großkönigs.«

»Ich glaube, das muß ich ein bißchen genauer wissen, Cian.«

»Ich befehligte eine Schar der Leibgarde des Großkönigs. Wir führten dort ein Gefecht, und ich bekam einen Pfeil in den Oberarm.«

Fidelma holte tief Atem.

»Ich möchte nicht jede Einzelheit aus dir herausquetschen müssen.«

»Was genau wirft mir dieser Toca Nia denn vor?«

»Er behauptet, du seist der >Schlächter von Rath Bile<. Er sagt, du gabst den Befehl, ungefähr hunder-tundvierzig Männer, Frauen und Kinder niederzumetzeln und das Dorf und die Burg in Brand zu stek-ken. Ist da etwas Wahres dran?«

»Hat Toca Nia dir auch gesagt, wie viele Krieger des Großkönigs dort gefallen sind?« konterte Cian zornig.

»Das ist keine Entschuldigung. Wenn diese Krieger das Dorf und die Burg angriffen, dann war es ihre Entscheidung, sich der Gefahr auszusetzen. Der Tod von Frauen und Kindern ist nicht gegen ihren Tod aufzurechnen. Es gibt keine Rechtfertigung für ein Massaker.«

»Wie kannst du das behaupten?« widersprach Cian. »Es ist gerechtfertigt, wenn der Großkönig es will!«

»Das ist eine schöne Moral, Cian. Das ist überhaupt keine Rechtfertigung. Ich würde dir dringend raten, mir zu sagen, was geschah, sonst muß man annehmen, daß Toca Nias Anschuldigungen stimmen und du für das Massaker verantwortlich bist.«

»Sie stimmen nicht! Sie stimmen ganz und gar nicht!« rief Cian in hilflosem Zorn.

»Dann erzähl mir deine Version der Geschichte. Es gab einen Grenzstreit zwischen dem Großkönig und dem König von Laigin, nicht wahr?«

Cian stimmte widerwillig zu.

»Der Großkönig meinte, die Ui Cheithig, die um Cloncurry herum ansässig sind, sollten Tribut direkt an ihn entrichten. Der König von Laigin behauptete, er sei ihr Lehensherr. Der Großkönig hielt dagegen, der Tribut sei an Stelle von boramha zu zahlen.« Cian benutzte einen alten Ausdruck, der Rinder-Berechnung bedeutete.

»Das verstehe ich nicht«, erklärte ihm Fidelma.

»Das geht zurück auf die Zeit, als Großkönig Tua-thal der Rechtmäßige in Tara herrschte. Tuathal hatte zwei Töchter. Es wird erzählt, daß damals Eochaidh Mac Eachach der König von Laigin war. Er heiratete die ältere Tochter Tuathals, doch dann stellte er fest, daß sie ihm nicht so gut gefiel wie die jüngere Tochter. Also kehrte er an den Hof Tuathals zurück, gab vor, seine erste Frau sei gestorben, und war so in der Lage, die zweite Tochter zu heiraten.«

Cian hielt inne und grinste trotz seiner ernsten Lage.

»Er war schon ein gerissener alter Knabe, dieser König Eochaidh.«

Fidelma schwieg dazu. Sie fand den Betrug gar nicht komisch.

»Nun«, fuhr Cian fort, »irgendwann erfuhren die beiden Töchter natürlich die Wahrheit. Die jüngere Tochter stellte fest, daß sie ungesetzlich verheiratet war, denn ihre Schwester lebte ja noch. Als sie merkten, daß sie beide denselben Gatten hatten, sollen sie vor Scham gestorben sein.« Er unterbrach sich wieder und grinste. »Was für eine Dummheit! Jedenfalls kam die Geschichte ihrem Vater, dem Großkönig, zu Ohren, und aus Rache marschierte er mit seinem Heer in Laigin ein, stellte Eochaidh zur Schlacht, erschlug ihn und verwüstete das Land.

Die Männer von Laigin baten um Frieden und ver-pflichteten sich, einen jährlichen Tribut zu zahlen, vorwiegend in Rindern. Von der Zeit an forderten die Ui Neill als Nachfolger Tuathals diesen boramha oder Rindertribut, mußten ihn aber oft mit Gewalt erzwingen. Deshalb gab uns Blathmac den Befehl, nach Süden zu ziehen und Rath Bile dem Erdboden gleichzumachen zum Zeichen dafür, daß er entschlossen war, diesen Tribut vom König von Laigin einzufordern.«

»Aber war nicht schon ein Abkommen geschlossen worden?« wandte Fidelma ein. »Seid ihr nicht nach dem Süden gezogen, nachdem die beiden Könige sich verständigt hatten?«

Cian antwortete mit einer ungeduldigen Geste.

»Einem Krieger kommt es nicht zu, seine Befehle in Frage zu stellen, Fidelma. Ich hatte Befehl, nach dem Süden zu ziehen, also tat ich es.«

»Du gibst zu, daß du die Schar befehligt hast?«

»Natürlich habe ich das. Das leugne ich doch nicht! Aber ich hatte den gültigen Auftrag vom Großkönig. Ich ging dorthin, um den Tribut zu erzwingen.«

»Selbst der Großkönig steht nicht über dem Gesetz, Cian. Was geschah dann weiter?«

»Wir fuhren auf vier Schiffen, vier Fünfzigschaften der Fianna der Großkönigs. Wir waren die Elite seiner Leibgarde. Wir landeten im Hafen der Ui Enechglais und marschierten nach Westen über den Fluß Sleine, bis wir Rath Bile erreichten. Der Bruder des Königs von Laigin weigerte sich, Burg und Dorf zu übergeben.«

»Also habt ihr angegriffen?«

»Wir griffen an«, bestätigte Cian. »Auf Befehl des Großkönigs.«

»Gibst du zu, daß du und deine Krieger auch Frauen und Kinder erschlagen haben?«

»Als unsere Männer vorgingen, konnten wir uns nicht erst erkundigen, wer unser Feind war und wer nicht. Die Leute kämpften gegen uns, beschossen uns mit Pfeilen, ob sie nun Krieger oder Greise oder sogar Frauen und Kinder waren. Es war unsere Aufgabe, den Auftrag auszuführen und unsere rechtmäßigen Befehle zu befolgen.«

Fidelma erwog die Geschichte eine Weile. Die Situation auf der »Ringelgans« wurde immer verzwickter. Das Rätsel um den Mord an Schwester Muirgel war schlimm genug, und dann kam noch die Behauptung Bruder Guss’ hinzu, Schwester Canair sei ebenfalls ermordet worden, noch bevor das Schiff auslief. Nun stand sie vor einer zusätzlichen Schwierigkeit durch Toca Nias Anschuldigung gegen Cian.

»Das ist eine ernste Angelegenheit, Cian. Sie muß vor den Oberrichter und den Gerichtshof des Großkönigs gebracht werden. Ich weiß wenig vom Kriegsrecht. Das muß ein berufenerer Richter beurteilen. Ich weiß, daß es Umstände gibt, unter denen das Töten von Menschen gerechtfertigt ist und nicht unter Strafe steht. Es verstößt nicht gegen das Gesetz, in der Schlacht zu töten - oder auch einen Dieb zu töten, der auf frischer Tat ertappt wird. Aber die Entscheidung liegt bei einem Gerichtshof.«

Cians Miene spiegelte seinen Zorn.

»Heißt das, daß du Toca Nia glaubst und mir nicht?« fragte er grollend.

»Es steht mir nicht zu, zu entscheiden, wer von euch beiden die Wahrheit sagt. Toca Nia erhebt eine Beschuldigung, und du mußt darauf antworten. Es ist eine schwerwiegende Beschuldigung. Es geschieht zu deinem eigenen Besten, Cian, denn Toca Nia weiß sehr gut, daß ein Rechtsbrecher von jedem straflos getötet werden darf. Er könnte dich töten und auf Straflosigkeit pochen.«

»Das Gesetz gilt doch nicht außerhalb der fünf Königreiche«, protestierte Cian.

»Das spielt keine Rolle. Du befindest dich auf einem irischen Schiff und stehst damit ebenso unter den Gesetzen der Fenechus wie auf dem Boden von Ei-reann. Du mußt nach Laigin zurückkehren und dich dort verteidigen.«

Cian starrte sie ungläubig an.

»Das kannst du mir doch nicht antun, Fidelma.«

Ihre Augen trafen sich, ihr Blick war unnachgiebig.

»Das kann ich«, sagte sie leise. »Dura lex sed lex. Das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz.«

»Und wenn ich mich nicht auf diesem Schiff befände, dann würde das Gesetz nicht gelten?«

Fidelma antwortete mit einem Achselzucken und wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb sie stehen.

»Es ist an Murchad als Kapitän, seine Pflicht nach dem Gesetz zu erfüllen. Ich fürchte, er muß entscheiden, was mit Toca Nia und mit dir geschehen soll, ob er euch gehen läßt oder euch beide zur Verhandlung nach Eireann zurückbringt. Ich würde empfehlen, daß er euch einem Brehon in Laigin übergibt.«

»Ich handelte auf Befehl des Großkönigs«, beharrte Cian.

Fidelma stand an der Kajütentür.

»Das spricht dich nicht von deiner moralischen Verantwortung frei.«

Als sie später Murchad den Stand der Dinge erläuterte, spitzte der stämmige Kapitän die Lippen zu einem lautlosen Pfiff.

»Du meinst, ich muß Cian und Toca Nia nach Ei-reann zurückschaffen?«

»Oder sie einem anderen Schiff übergeben, das sie zurückbringt«, erklärte sie.

»Dann wollen wir hoffen, daß solch ein Schiff in Ushant liegt«, murmelte Murchad.

»Inzwischen, Kapitän, schlage ich vor, daß du sowohl Cian als auch Toca Nia verbietest, ihre Kajüten zu verlassen. Wir wollen kein weiteres Blutvergießen auf diesem Schiff.«

»Das werde ich tun, Lady«, stimmte er zu. »Beten wir dafür, daß Pater Pol in Ushant eine Möglichkeit findet, mir in dieser Sache zu helfen.«

Die »Ringelgans« umrundete das Vorgebirge von Ponte de Pern und holte dabei weit nach See aus, denn die Klippen und kleinen Inseln hier waren gefährlich. Murchad brauchte kaum darauf hinzuweisen, denn das Vorgebirge lief aus in zerklüftete schwarze Granitfelsen, die wie schlechte Zähne aus der See ragten, die sie gelblich umschäumte. Murchad steuerte langsam in die langgezogene, u-förmige Bucht von Porspaul hinein und hielt auf den geschützten Ankerplatz an ihrem Ende zu.

»Es wird schön sein, wieder eine Weile festen Boden unter den Füßen zu haben«, sagte Fidelma dankbar zu Murchad.

Der wies auf die Küste.

»Es sind keine anderen Schiffe im Hafen«, stellte er überflüssigerweise fest. »Das Hauptdorf und die Kirche von Lampaul liegen oberhalb von dem kleinen Kai, den du dort siehst. Ich will hier nur für einen Tag anlegen und frisches Wasser und Lebensmittel übernehmen. Das nächste Stück unserer Reise ist das längste, je nach dem Wind. Wir segeln dann fast genau nach Süden und sehen die ganze Zeit kein Land.«

»Aber wir müssen an die Sache mit Toca Nia denken«, erinnerte ihn Fidelma.

Murchad schaute sorgenvoll drein.

»Ich wäre sehr dafür, Toca Nia und Cian hier an Land zu bringen. Dann sollen sie die Sache unter sich ausmachen.«

»Das wäre eine einfache Lösung ... für uns. Aber ich sehe Schwierigkeiten dabei«, antwortete sie.

Die »Ringelgans« kreuzte die drei Kilometer bis zum hinteren Ende der Bucht, von wo ein Pfad zu der Ansiedlung Lampaul hinaufführte. Die Einwohner hatten ihre Ankunft beobachtet, und einige kamen zur Begrüßung hinunter an den Hafen.

Murchad ließ erst das Großsegel und dann das Steuersegel reffen. Der Buganker fiel, und zum erstenmal seit Tagen schwoite das Schiff leicht in ruhigem Wasser.

»Ich gehe an Land«, verkündete Murchad und fragte Fidelma: »Möchtest du mitkommen und Pater Pol kennenlernen? Er ist hier nicht nur der Priester, sondern mehr oder weniger auch der Herrscher der Insel. Es wäre am besten, wenn wir die Sache von Bruder Cian und Toca Nia mit ihm besprechen.«

Fidelma erklärte sich bereit dazu. Sie brachten gerade das Skiff zu Wasser, als Bruder Tola und die anderen Pilger an Deck erschienen. Tola wollte sofort wissen, ob sie auch an Land gehen könnten, und die anderen verlangten ebenfalls danach.

Murchad hob die Hand und gebot Ruhe.

»Erst muß ich hin und das regeln. Ihr könnt später an Land und meinetwegen eine Nacht bleiben, um euch die Beine zu vertreten, während wir die Vorräte für die weitere Reise übernehmen. Aber bis ich das geklärt habe, ist es besser, wenn ihr alle an Bord bleibt.«

Diese Anordnung gefiel den Pilgern offensichtlich nicht, zumal sie sahen, daß Fidelma mit dem Kapitän ins Boot stieg.

Murchad und Gurvan ruderten das leichte Fahrzeug mit Fidelma am Heck das kurze Stück von der »Ringelgans« zu dem aus Steinen gefügten Kai.

Ein hochgewachsener Mann mit dunklem Teint und scharfgeschnittenen Zügen begrüßte den Kapitän, als dieser aus dem Boot stieg. Seine Kutte und das Kruzifix an seinem Hals zeigten seinen Beruf an.

»Schön, dich wiederzusehen, Murchad!« Sein Akzent verriet, daß Gälisch nicht seine Muttersprache war.

Gurvan hatte das Skiff angebunden und half Fidelma heraus.

»Es ist schön, wieder auf deiner Insel zu sein, Pater Pol«, antwortete Murchad. Dann stellte er Fidelma vor, die zu ihm getreten war: »Pater, dies ist Fidelma von Cashel, die Schwester unseres Königs Colgü ...«

»Ich bin Schwester Fidelma«, unterbrach ihn Fidelma mit einem ernsten Lächeln. »Einen anderen Titel führe ich nicht.

Pater Pol gab ihr die Hand und musterte sie kurz.

»Sei willkommen, Schwester«, lächelte er und wandte sich dann dem Steuermann zu. »Und du sei auch willkommen, Gurvan, du alter Halunke. Es ist schön, dich wiederzusehen.«

Gurvan grinste verlegen. Offensichtlich war die ganze Besatzung der »Ringelgans« auf der Insel wohlbekannt, weil das Schiff oft hier anlegte.

»Kommt mit, wir stärken uns in Lampaul«, fuhr der Priester fort und wies auf den Pfad. »Bringt ihr interessante Nachrichten mit?«

Sie folgten ihm den Pfad hinauf.

»Schlechte Nachrichten, fürchte ich, Pater. Nachricht von der >Morvaout<.«

Pater Pol blieb stehen und drehte sich rasch um.

»Die >Morvaout<? Sie ist erst heute früh hier ausgelaufen. Was wißt ihr von ihr?«

»Sie scheiterte auf den Riffen nördlich der Insel.«

Der Priester bekreuzigte sich.

»Gab es Überlebende?« fragte er.

»Nur drei Mann. Zwei Matrosen und ein Passagier, der nach Laigin wollte. Die Matrosen lasse ich nachher an Land schaffen.«

Pater Pol schaute einen Moment traurig drein.

»Ach ja, das ist so oft das Schicksal der Seefahrer. Die Besatzung kam vom Festland. Wir werden Kerzen für die Heimkehr ihrer Seelen anzünden.« Er bemerkte Fidelmas verständnislose Miene. »Wir sind hier ein Inselvolk, Schwester«, erläuterte er. »Wenn wir Menschen auf See verlieren, stellen wir ein kleines Kreuz auf und zünden eine Kerze an, halten eine Nacht lang Wache und beten für die Ruhe der Seelen der Dahingegangenen. Am folgenden Tag wird das Kreuz in ein Reliquiar in der Kirche gelegt und später in ein Mausoleum zu all den Kreuzen der auf See Verschollenen gebracht. Dort erwarten die Kreuze die Heimkehr der Seelen vom Meer.«

Sie kamen zu dem Dorf, einem typischen Hafenort, der sich um eine graue Steinkapelle in der Mitte gruppierte.

»Das ist meine kleine Kapelle.« Pater Pol zeigte auf das Gebäude. »Kommt, sprechen wir gemeinsam ein Dankgebet für eure glückliche Ankunft.«

Murchad hüstelte diskret.

»Es gibt etwas, das wir dringend besprechen müßten«, setzte er an.

Pater Pol legte ihm lächelnd die Hand auf den Arm.

»Nichts ist so dringend, daß ein Dankgebet nicht Vorrang davor hätte«, meinte er bestimmt.

Murchad schaute Fidelma an und zuckte die Achseln.

Sie gingen in die kleine Kapelle und knieten vor dem Altar nieder, der Fidelma durch seine Pracht überraschte. Sie hatte geglaubt, die Insel sei arm, doch hier glänzten Gold und Silber auf der seidenen Altardecke.

»Du hast anscheinend eine reiche Gemeinde, Pater«, flüsterte sie.

»Arm an Gütern, aber reich im Herzen«, erwiderte der Priester nachsichtig. »Sie spenden, was sie haben, dem Hause Gottes, um seine Größe zu rühmen. Dominus optimo maximo ...«

Er sah nicht, wie sie mißbilligend die Mundwinkel herabzog. Sie hielt nichts von müßiger Pracht, wenn die Menschen in Armut lebten.

Pater Pol neigte den Kopf und sprach ein lateinisches Gebet, zu dem sie jeweils ihr »Amen« beisteuerten.

Danach führte er sie in sein kleines Haus neben der Kirche und bot ihnen Apfelwein in Steingutbechern an, während Murchad die Angelegenheit von Toca Nia und Cian erläuterte.

Pater Pol rieb sich nachdenklich die Nase. Das schien eine Angewohnheit von ihm zu sein.

»Quid faciendum?« fragte er, als Murchad geendet hatte. »Was ist zu tun?«

»Wir hofften, daß du einen Vorschlag hättest«, antwortete Murchad. »Ich kann Toca Nia und Cian nicht den ganzen Weg nach Iberia und zurück nach Laigin auf meinem Schiff behalten. Man hat mir erklärt, daß über diese Anschuldigungen vor einem sachkundigen Richter in Eireann verhandelt werden muß, doch ich kann die beiden nicht direkt dorthin bringen, ich kann mir aber auch nicht leisten, zu warten, bis ein Schiff in Ushant anlegt, das dorthin will.«

»Warum solltest du das eine oder das andere tun?«

»Weil«, schaltete sich Fidelma vorsichtig ein, »Toca Nia seine Anklage vor einem Gericht in Eireann erheben muß. Ich glaube, Murchad hofft, du könntest beide hier sicher verwahren, bis das nächste Schiff nach Eireann hier einläuft.«

Pater Pol erwog das eine Weile und machte dann eine ablehnende Geste.

»Wer weiß, wann das ist? Jedenfalls könnt ihr doch kaum von einem Glaubensbruder verlangen, daß er eine Pilgerfahrt aufgibt, um sich gegenüber diesen Anschuldigungen zu verantworten? Was weißt du vom Recht, Schwester?«

»Schwester Fidelma ist Anwältin bei Gericht«, erklärte Murchad eilig.

Pater Pol sah sie interessiert an.

»Bist du Kirchenjuristin?«

»Ich kenne die Bußgesetze, bin aber Anwältin nach unseren alten weltlichen Gesetzen.«

Pater Pol schien enttäuscht.

»Aber das Kirchenrecht hat doch sicher Vorrang vor dem weltlichen Gesetz? In diesem Fall brauchtest du diese Anschuldigungen gar nicht zu berücksichtigen?«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»So verfährt die Rechtsprechung in unserem Land nicht, Pater. Toca Nia hat eine der schwersten Anschuldigungen erhoben, die denkbar sind. Cian muß sich dagegen verteidigen.«

Pater Pol überlegte eine Weile und schüttelte dann ablehnend den Kopf.

»Als Führer der hiesigen Gemeinschaft wie als Vertreter der Kirche muß ich sagen, daß euer Gesetz auf dieser Insel nicht gilt. Ich kann nichts tun. Wenn Bruder Cian oder Toca Nia oder beide aus freiem Willen euer Schiff verlassen und hier bleiben wollen, bis ein Schiff nach Eireann ankommt, dann können sie das tun. Wenn sie woandershin reisen wollen, können sie das auch tun. Ich kann ihnen aber nichts vorschreiben oder sie hier festhalten, solange sie nicht gegen die Gesetze verstoßen, die auf dieser Insel gelten. Ihr müßt entscheiden, was das Beste ist.«

Murchad war sichtlich unglücklich.

»Es scheint«, sagte Fidelma zu ihm, »daß dir nur eine Wahl bleibt. Dein Schiff ist dein Königreich, Murchad, du herrschst dort unbeschränkt nach den Gesetzen der Fenechus. Es ist deine Schuldigkeit, Ci-an und Toca Nia auf deinem Schiff zu behalten und späterhin nach Eireann zurückzubringen.«

Murchad wollte etwas einwenden, doch Fidelma hob abwehrend die Hand.

»Ich sagte, es ist deine Schuldigkeit. Ich habe nicht gesagt, du bist dazu verpflichtet. Du mußt darüber entscheiden, was geschehen soll. Ich kann dir nur raten.«

Der Kapitän schüttelte niedergeschlagen den Kopf.

»Es ist eine schwierige Entscheidung. Wer entschädigt mich für das alles? Cian wird sich bestimmt weigern, seine Rückfahrt zu bezahlen, wenn er sie unter Zwang antreten muß, und Toca Nias Schmuck reicht auch nicht für das Fahrgeld. Ich muß nicht nur an mein eigenes Wohl denken, verstehst du, sondern auch an das meiner Mannschaft, die ernährt werden muß und ihre Familien zu unterhalten hat.«

»Wenn Toca Nias Anschuldigungen sich als berechtigt erweisen, dann müßte dich der König von Laigin entschädigen. Wenn nicht, kannst du eine Zwangsvollstreckung gegen Toca Nia beantragen.«

Murchad kämpfte immer noch mit sich.

»Ich glaube nicht, daß er über genügend Geld oder Grundbesitz verfügt. Das muß ich mir noch mal überlegen.«

Pater Pol klatschte in die Hände, um das Thema abzuschließen.

»Und während du das tust, Freund Murchad, können deine Passagiere an Land kommen, sich von den Strapazen der Seereise erholen und mit uns das Fest des großen Märtyrers meines Landes, Justus, feiern.«

»Das ist nett von dir, Pater Pol«, murmelte Murchad, der nach wie vor mit seinem Problem beschäftigt war.

»Ich möchte dir ebenfalls danken, Pater«, fügte Fidelma hinzu. »Es ist sehr freundlich von dir, daß du dir diese Mühe mit unseren Angelegenheiten machst.« Sie hielt inne. »Das Fest des Justus? Ich kenne verschiedene große Kirchenmänner dieses Namens, aber von einem Justus aus dieser Gegend habe ich noch nicht gehört.«

»Er wurde schon als Knabe getötet«, erläuterte Pater Pol. »Es geschah während der Christenverfolgungen unter Kaiser Diocletian. Er soll zwei andere Christen vor den römischen Soldaten versteckt haben und wurde deshalb getötet.«

Pater Pol erhob sich langsam, und Murchad und Fidelma folgten seinem Beispiel ebenso wie Gurvan, der sich am Gespräch nicht beteiligt hatte.

»Ich vermute, du willst frisches Wasser, Brot und andere Vorräte übernehmen?«

Der Kapitän bestätigte dies.

»Gurvan wird sich darum kümmern, Pater, und ich bringe meine Passagiere an Land, damit sie sich die Beine vertreten können.«

»Unser Gottesdienst für Justus beginnt bei Sonnenuntergang, und das Fest schließt sich daran an.«

Sie verabschiedeten sich für den Augenblick von dem Priester und gingen langsam zurück zum Kai. Murchad war in düsterer Stimmung wegen der Aussicht, Cian und Toca Nia bis zu seiner Rückkehr nach Ardmore an Bord behalten zu müssen, meinte aber resigniert, es sei wohl das einzige, was ihm unter diesen Umständen übrigbliebe.

»Ich glaube, du hast eine weise Entscheidung getroffen, Murchad«, tröstete ihn Fidelma. »Mehr Sorgen macht mir die Sache mit Schwester Muirgel, denn ich habe noch nie zuvor vor einem Problem gestanden, bei dem ich auch nicht einen einzigen Weg sah, den ich auf der Suche nach einer Lösung einschlagen könnte.«

Kapitel 18

Fidelma erwachte plötzlich mit heftig klopfendem Herzen. Es war dunkel, und sie wußte nicht, was sie mit solch einem Ruck geweckt hatte. Sie fühlte sich erschöpft: Es war ein langer Tag gewesen. Alle waren an Land gegangen mit Ausnahme von Cian und Toca Nia, die unter Bewachung in ihren Kajüten bleiben mußten. Die schiffbrüchigen Matrosen waren an Land gebracht worden, und die Pilger und einige Besatzungsmitglieder hatten den Gottesdienst und das Fest des Justus besucht. Es wurde Mitternacht, bis alle wieder an Bord waren; in Lampaul war niemand über Nacht geblieben, denn Murchad hatte angekündigt, er werde mit der Ebbe am Morgen auslaufen. Die Vorräte waren schon alle geladen worden. Je schneller er Iberia erreichte, meinte er zu Fidelma, desto eher könne er seine beiden lästigen Passagiere nach Ardmore zurückschaffen.

Während Fidelma noch überlegte, was sie wohl geweckt hatte, hörte sie ein merkwürdiges kratzendes Geräusch, das aus dem Raum unter den Decksplanken ihrer Kajüte zu kommen schien. Verwundert richtete sie sich auf. Dann fiel ihr ein, was Wenbrit gesagt hatte. Ratten und Mäuse bevölkerten die unteren Räume des Schiffes.

Sie langte nach dem schweren warmen Knäuel am Fußende ihrer Koje und streichelte das schwarze Fell des Katers.

»Nun mach schon, Mäuseherr«, flüsterte sie. »Gehst du nicht ziemlich säumig deiner Pflicht nach?«

Der Kater rollte sich auf und streckte sich zu voller Länge. Es überraschte Fidelma immer wieder, wie lang sich Katzen machen konnten. Das Tier gab ein merkwürdig zirpendes Geräusch von sich, mehr wie ein Vogel denn wie eine Katze, glitt von der Koje, schlich durch den Raum, sprang zum Fenster hoch und verschwand.

Das Kratzen hörte bald auf, und Fidelma erschauerte leicht, als sie an die Ratten in der Dunkelheit unter ihr dachte, von denen sie nur einige Planken trennten. Sie horchte angespannt. Jetzt war alles still. Vielleicht waren sie fort. Mäuseherr löste seine nächtlichen Aufgaben anscheinend sehr gründlich.

Gähnend ließ sie sich wieder in die Kissen fallen und schlief sofort ein. Gleich darauf, so schien es ihr, wurde sie von Gurvan wachgerüttelt. Der Steuermann war sichtlich beunruhigt.

»Komm bitte in die nächste Kajüte, Lady«, flüsterte er kaum hörbar.

Fidelma zog sich die Kutte um die Schultern und schwang sich aus der Koje. Gurvans Miene hatte ihr deutlich gesagt, daß keine Zeit mit unnützen Fragen zu verlieren war. Ihr fiel ein, daß es sich um Gurvans Kajüte handelte, in der Toca Nia eingesperrt war.

Gurvan stand im Gang und hielt ihr die Tür zu seiner Kajüte auf. In dem kleinen Raum brannte eine Laterne, denn die Morgendämmerung hatte noch nicht begonnen. Fidelma blickte hinein.

Toca Nia lag auf dem Rücken mit weit offenen Augen, seine Brust blutig zerfetzt.

»Mehrere Einstiche in der Herzgegend, würde ich sagen«, murmelte Gurvan hinter ihr, als brauche sie eine Erklärung.

Fidelma stand einen Augenblick wie gelähmt da.

»Ist Murchad verständigt?« fragte sie dann.

»Ich habe ihm Bescheid sagen lassen«, antwortete Gurvan. »Vorsicht, Lady, auf dem Boden ist viel Blut.«

Sie schaute hin und sah, daß der ganze Boden blutig war. Es war schon jemand hineingetreten, vermutlich Gurvan, aber ihr kam ein Gedanke.

»Bleib dort stehen«, ermahnte sie ihn. Dann ging sie zur Tür und verfolgte die klebrigen Spuren auf dem Boden. Offensichtlich war Gurvan über die ersten Abdrücke gelaufen, die von dem Mörder stammen mußten. Die Abdrücke gingen bis zu ihrer Kajütentür und nicht weiter. Das verblüffte Fidelma. Sie hätte gedacht, die Spuren würden zum Ausgang auf das Hauptdeck führen. Sie öffnete die Tür ihrer Kajüte. Ein paar schwächere Abdrücke zeigten, wo Gurvan bei ihr eingetreten war. Der Mörder hatte wohl erkannt, daß er eine Spur hinterließ, und sich das Blut von den Sohlen abgewischt, bevor er vom Tatort verschwand.

Instinktiv schaute sie in dem Beutel nach, in den sie das Messer getan hatte, das ihr Crella gegeben hatte. Es war fort. Sie ging zurück zu Gurvan.

»Schick am besten mal jemand zu Cians Kajüte«, schlug sie vor. Unter den gegebenen Umständen war dies das Naheliegendste.

Im selben Moment kam Murchad den Gang entlang. In seiner Miene drückte sich tiefe Besorgnis aus. Er hatte Fidelmas Anweisung gehört.

»Ich habe schon nach Cian geschickt, Lady. Sobald ich die Nachricht bekam, wußte ich, daß du ihn sprechen wolltest. Aber er ist nicht mehr an Bord.«

»Was?« Fidelma hätte nie gedacht, daß Cian so etwas Dummes tun würde. Dann wurde ihr klar, daß sie nie ganz begriffen hatte, was in Cian vorging und welcher Logik er folgte.

»Drogan ist zu seiner Kajüte gegangen. Der Mann, der dort Wache halten sollte, schlief. Bairne, mit dem er die Kajüte teilt, erklärte, er habe nicht gehört, daß er hinausging. Ich glaube, meinem Matrosen können wir keinen Vorwurf machen. Wir sind es nicht gewohnt, Gefangene zu bewachen.«

Fidelma war nicht an Entschuldigungen interessiert.

»Wir müssen das noch einmal nachprüfen«, sagte sie bestimmt. »Würdest du das bitte tun, Gurvan?«

Der Steuermann ging sofort daran.

»Es scheint ziemlich klar, was passiert ist«, murmelte Murchad mit einem Blick auf Toca Nias Leiche.

»Cian hat seinen Ankläger getötet und ist an Land geflohen.«

Das schien die einzige logische Erklärung zu sein. Fidelma seufzte resigniert.

»So sieht es aus«, gab sie zu. »Aber er muß doch wissen, daß die Insel zu klein ist, als daß er sich darauf verstecken könnte. Es ist und bleibt eine Insel. Früher oder später finden wir ihn. Ich ziehe mich an. Wir müssen an Land und sofort nach Cian suchen.«

Murchad, Gurvan und Fidelma stiegen am Kai aus dem Skiff. Niemand regte sich im grauen Licht des frühen Morgens. Sie gingen sogleich den Pfad zur Kirche hinauf, und zu ihrer Überraschung löste sich eine Gestalt aus dem Schatten der Tür und begrüßte sie. Es war Pater Pol. Seine Miene war ernst.

»Ich weiß, wen ihr sucht«, sagte er.

Fidelma antwortete mit gleichem Ernst.

»Hat er dir gesagt, weshalb er hierher geflohen ist?« fragte sie.

»Ich weiß, wessen man ihn beschuldigt«, erwiderte der Priester.

»Weißt du, wo er ist? Es würde uns helfen, wenn du uns das sagen kannst, dann brauchen wir nicht Zeit damit zu verschwenden, die Insel nach ihm abzusuchen.«

»Das braucht ihr nicht, Schwester. Solche eine Suche würde ich auch nicht erlauben. Bruder Cian ist in der Kirche.«

Sie wunderte sich über den barschen Ton des Priesters, der ganz anders war als am Vortag.

»Dann bringen wir ihn zurück auf die >Ringelgans<, damit er sich verteidigen kann.«

Der Priester hob die Hand und gebot ihnen Einhalt.

»Das kann ich nicht dulden.«

Fidelma schaute Pater Pol überrascht an.

»Du kannst es nicht dulden?« wiederholte sie belustigt. »Gestern sagtest du noch, Cians Lage ginge dich nichts an. Jetzt sagst du, wir dürfen Cian nicht auf das Schiff zurückbringen. Was ist das für eine Logik?«

»Ich habe das Recht, euch daran zu hindern, Cian fortzuführen.«

»Das Verbrechen wurde auf Murchads Schiff begangen, nicht auf deiner Insel. Die Gerichtsbarkeit liegt eindeutig bei Murchad.«

Der Priester schien einen Moment verwirrt, dann kreuzte er die Arme in unbeweglicher Haltung.

»Erstens hat Bruder Cian in diesem Hause Asyl gesucht«, verkündete er. »Zweitens liegt das sogenannte Verbrechen, dessen man ihn beschuldigt, fünf Jahre zurück und wurde Hunderte von Meilen entfernt begangen. Ihr habt keine Befugnis, über solche Anschuldigungen an Bord eures Schiffes zu verhandeln. Das hast du gestern selbst gesagt.«

Murchad kratzte sich den Hinterkopf und schaute Fidelma ratsuchend an.

»Asyl?« fragte er unsicher. »Ich verstehe nicht ganz ...«

Pater Pol unterbrach ihn.

»Schwester Fidelma wird dir erklären, daß es im vierten Buch Mose steht, daß der Herr zu Mose sprach: >Und ihr sollt Städte auswählen, daß sie Freistädte seien, wohin fliehe, wer einen Totschlag unversehens tut. Und sollen unter euch solche Freistädte sein vor dem Bluträcher ...<«

»Wir wissen, was im vierten Buch Mose steht, Pater Pol«, pflichtete ihm Fidelma ruhig bei. Murchad erklärte sie: »Dieses Kirchenasyl ist vergleichbar unserem eigenen Gesetz Nemed Termann, nach dem jemand, der einer Gewalttat angeklagt ist, selbst wenn er schuldig ist, Asyl suchen kann für eine gewisse Zeit, bis eine ordentliche Verhandlung über seinen Fall stattgefunden hat. Doch unser Gesetz, Pater«, damit wandte sie sich wieder an Pater Pol, »sieht auch vor, daß ein Schuldiger, der Asyl sucht, dadurch nicht in die Lage versetzt wird, schließlich der Gerechtigkeit zu entgehen.«

Pater Pol neigte zustimmend den Kopf.

»Das verstehe ich, Schwester. Aber hier gelten nicht die Gesetze von Eireann. Unser Gesetz ist Gottes Gesetz, wie es uns in der Heiligen Schrift gegeben ist. Im zweiten Buch Mose heißt es: >Wer einen Menschen schlägt, daß er stirbt, der soll des Todes sterben. Hat er ihm aber nicht nachgestellt . so will ich dir einen Ort bestimmen, dahin er fliehen soll.< An diesem Ort findet er Asyl so lange, bis er eine ordentliche Verteidigung vorbereiten kann gegen die, die an ihm Rache nehmen wollen.«

»Pater Pol, wir wollen keine Rache. Aber Bruder Cian muß sich gegen den Vorwurf dieses Verbrechens verteidigen.«

»Er hat in ordentlicher Weise um Asyl nachgesucht, und es ist ihm gewährt worden.«

Fidelma überlegte rasch.

»In ordentlicher Weise?« fragte sie.

Sie war bemüht, sich so zu verhalten, wie es sich für eine dalaigh geziemte, also ohne Emotionen zu handeln und nur auf die Tatsachen zu achten, aber es war Cian, um den es ging, nicht irgendein Fremder, der vor dem Gesetz floh. Cian! Mochte sie ihn jetzt auch hassen, einmal hatte sie ihn geliebt. Sie mußte ihre gefühlsmäßige Bindung außer acht lassen, denn sie traute ihren Gefühlen nicht mehr. Sie durfte nur an das Gesetz denken. Nur auf das Gesetz kam es jetzt an.

»Er hat in ordentlicher Weise um Asyl ersucht?« wiederholte sie ihre Frage.

Pater Pol antwortete nicht, denn er merkte, daß sie auf etwas hinsteuerte.

»Du hast gerade aus dem zweiten Buch Mose zitiert, aber nicht bis zum Ende. Der nächste Vers lautet: >Wo aber jemand an seinem Nächsten frevelt und ihn mit List erwürgt, so sollst du denselben von meinem Altar nehmen, daß man ihn töte.< Stimmt das nicht?«

»Gewiß. Aber wo war im Krieg die List? Im Krieg kann getötet werden. Ein Krieger mag vom Kampffieber gepackt werden und die Beherrschung verlieren. Wenn das bei Cian der Fall war, muß er für die Folgen einstehen. Aber ich glaube kaum, daß man ihm Arglist in seinem Handeln unterstellen kann.«

»Wir sprechen nicht von den Verbrechen, die Toca Nia Bruder Cian vorwarf aus der Zeit, als er noch Krieger war«, erwiderte sie langsam. »Es geht darum, daß Toca Nia heute morgen in seiner Koje auf Mur-chads Schiff ermordet wurde zu der gleichen Zeit, als Bruder Cian von dort floh und bei dir um Asyl bat.«

Pater Pol erschrak und ließ die Hände sinken.

»Davon hat er nichts gesagt.«

Fidelma beugte sich vor wie eine Jägerin, die ihre Beute vor sich sieht.

»Dann darf ich dich an das Gesetz erinnern, das im Buche Josua steht. >Und der da flieht zu der Städte einer, soll stehen draußen vor der Stadt Tor und vor den Ältesten der Stadt seine Sache ansagen.< Hat er denn draußen gestanden und seine Sache in bezug auf den Mord an Toca Nia angesagt?«

Pater Pol war sichtlich beunruhigt.

»Davon hat er nicht gesprochen. Er suchte um Asyl nach nur wegen des Verbrechens, das ihm Toca Nia zur Last legte.«

»Dann hat er nach dem Kirchenrecht, auf das du dich beziehst, nicht in ordentlicher Weise seinen Fall dargelegt und hat keinen Anspruch auf Asyl.«

Pater Pol war hin und her gerissen. Schließlich entschied er sich, trat zurück und gab ihnen mit einer Geste den Weg frei.

»Wir werden mit Bruder Cian darüber reden«, sagte er ruhig.

Cian saß in dem schattigen Garten hinter der Kirche, als Pater Pol Murchad und Fidelma zu ihm führte. Er stand auf und blickte nervös von Murchad zu Fidelma.

»Mir ist Asyl gewährt worden«, verkündete er. »Das könnt ihr Toca Nia sagen. Ich bleibe hier. Du und deine Gesetze, ihr könnt mich hier nicht erreichen.«

Murchad öffnete den Mund, doch Fidelma winkte ihm zu schweigen.

»Meinst du wirklich, daß Toca Nia darauf hören wird?« fragte sie unschuldig.

»Du kannst doch mit Worten umgehen, Fidelma. Erklär ihm das Asylgesetz.«

»Ich fürchte, Toca Nia interessiert sich nicht mehr für das Gesetz.«

Cian stutzte.

»Meinst du damit, er zieht seine Anschuldigung zurück?«

Fidelma schaute Cian tief in die Augen. Sie las Mißtrauen darin, sogar Hoffnung, aber weder Verstellung noch Hinterlist.

»Ich meine damit, daß Toca Nia tot ist.«

Cians Reaktion verriet seine unverkennbare Überraschung.

»Tot? Wie ist das möglich?«

»Toca Nia wurde ermordet etwa zur gleichen Zeit, als du vom Schiff geflohen bist.«

Cian trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Sein Erschrecken war echt, das ließ sich nicht spielen.

Pater Pol zuckte hilflos die Achseln.

»Das bringt mich in eine unangenehme Lage, Bruder. Nach unserem Kirchenrecht habe ich dir Asyl in dieser Kirche gewährt, aber nur wegen der gegen dich erhobenen Beschuldigungen. Jetzt jedoch ...«

Cian blickte verwirrt von dem Priester zu Fidelma.

»Aber ich weiß nichts von Toca Nias Tod. Was meint er denn?« fragte er sie.

»Leugnest du, daß es deine Hand war, die die tödlichen Streiche gegen Toca Nia führte?«

Cians Augen weiteten sich in noch größerer Verwirrung.

»Meinst du das im Ernst? Soll das heißen . daß ich des Mordes an ihm beschuldigt werde?«

Fidelma blieb ungerührt.

»Du streitest es also ab?«

»Natürlich streite ich das ab. Es stimmt nicht«, rief Cian empört.

Fidelma setzte eine spöttische Miene auf.

»Willst du behaupten, daß der Mord ein Zufall war? Daß du nichts davon weißt?«

»Nenn es, wie du willst. Ich habe ihn nicht getötet.«

Fidelma setzte sich auf die Bank, von der Cian aufgestanden war.

»Du mußt zugeben, wenn das ein Zufall war, dann kommt er dir äußerst gelegen. Vielleicht erklärst du uns, warum du von dem Schiff geflohen bist?«

Cian setzte sich ihr gegenüber und beugte sich vor. Seine Haltung war eindeutig bittend.

»Ich habe das nicht getan, Fidelma«, sagte er mit ruhigem Nachdruck. »Du kennst mich doch. Ich gebe zu, daß ich im Krieg getötet habe, aber ich habe nie kaltblütig gemordet. Niemals! Du mußt doch wissen, daß ich nie .«

»Ich bin dalaigh, Cian«, unterbrach sie ihn scharf.

»Berichte mir, was vorgefallen ist, so wie du es weißt. Weiter brauche ich nichts zu hören.«

»Aber ich weiß nichts. Ich kann dir nichts berichten.«

»Warum bist du dann von der >Ringelgans< geflohen und hast hier um Asyl nachgesucht?«

»Das sollte doch klar sein«, antwortete Cian.

»Falls du nicht Toca Nia umgebracht hast, würde ich sagen, daß es überhaupt nicht klar ist.«

Cian errötete vor Zorn.

»Ich habe nicht ...« setzte er an und stockte. »Ich bat hier um Asyl, weil ich Zeit zum Nachdenken brauchte. Als du mich nach Toca Nias Beschuldigung verhört hast, habe ich begriffen, daß du es ernst meintest, daß du und Murchad mich festsetzen, nach Laigin zurückschaffen und vor Gericht bringen wolltet. Sicher wäre ich wegen des Massakers in Rath Bile verurteilt worden.«

»Wie ich mich erinnere, hast du das Massaker zugegeben.«

»Als Tat ja, aber nicht als Verbrechen. Es war Krieg, und ich tat nur, was mir befohlen worden war.«

»Dann solltest du auch bereit sein, dich gegen die Anschuldigung zu verteidigen. Wenn du nicht des Mordes schuldig bist, solltest du auf das Gesetz vertrauen.«

»Ich brauchte Zeit zum Überlegen. Die Beschuldigung kam so plötzlich.«

Murchad unterbrach ihn barsch.

»Viel vordringender ist, daß man dich jetzt des Mordes an Toca Nia beschuldigt und du dich dagegen wehren mußt.«

Fidelma war derselben Meinung.

»Solange kein anderer Zeuge auftritt und dich anklagt, sind Toca Nias Beschuldigungen mit ihm gestorben. Deswegen können wir dich weder festsetzen noch dich zur Rechenschaft ziehen, denn er hat sie nicht gerichtlich zu Protokoll gegeben.«

Cian war total verblüfft.

»Heißt das, die Beschuldigung wegen Rath Bile fällt weg?«

»Toca Nia hat nicht offiziell Anklage erhoben, sie wurde weder niedergeschrieben noch durch Zeugen bestätigt. Die mündliche Beschuldigung eines Toten, falls sie nicht als sein letztes Wort zu verstehen und als solches von Zeugen beglaubigt ist, kann nicht als Beweismittel gegen dich verwendet werden.«

»Dann bin ich also von dieser Beschuldigung frei?«

»Es sei denn, es gibt andere Zeugen aus Rath Bile, die auftreten und gegen dich aussagen. Da keine hier sind, bist du davon frei.«

Auf Bruder Cians Gesicht trat ein breites Lächeln, doch dann besann er sich und wurde wieder ernst.

»Ich schwöre bei der Heiligen Dreifaltigkeit, daß ich Toca Nia nicht getötet habe.«

Fidelma hörte die Wahrheit aus seiner Stimme heraus, doch ihr persönliches Mißtrauen ließ sie an seinen Unschuldsbeteuerungen zweifeln. Was hatte Horaz einst gesagt? Naturam expellas furca, tamen usque re-curret - Treib die Natur mit der Forke hinaus: Stets kehret sie wieder. Cian war ein geborener Betrüger, und an der Wahrheit seiner Worte mußte man immer zweifeln. Mit einem leichten Schuldgefühl stellte sie fest, daß sie ihn schon wieder aus ihrem persönlichen Empfinden heraus verurteilte.

Sie setzte zum Sprechen an, als in der Nähe ein lauter Ruf ertönte.

Pater Pol sah stirnrunzelnd auf, als einer der Inselbewohner, ein schmächtiger Bursche in Fischerkleidung, um die Ecke der Kirche gerannt kam. Bei ihrem Anblick blieb er jäh stehen und rang nach Luft.

»Was ist los, Tibatto?« fragte Pater Pol unwirsch. »Du solltest wissen, daß man nicht so ungestüm zum Haus Gottes kommt.«

»Angelsachsen!« keuchte der junge Mann atemlos. »Angelsächsische Räuber!«

»Wo?« fragte der Priester nur, während Murchad entsetzt herumfuhr und nach dem Messer im Gurt langte.

»Ich war auf der Landspitze oberhalb Rochers .«

»An der Nordküste«, warf Pater Pol zu ihrer Erklärung dazwischen.

»Da sah ich ein angelsächsisches Schiff nach Süden auf die Bucht zu kreuzen. Es ist ein Kriegsschiff mit einem Blitz auf seinem Segel.«

Murchad wechselte einen raschen Blick mit Fidelma, die ebenso wie Cian aufgesprungen war.

»Wie bald werden sie in der Bucht sein?« fragte der Priester mit düsterer Miene.

»In einer Stunde, Pater.«

»Schlag Alarm. Wir führen die Leute ins Innere der Insel«, entschied er. »Komm, Murchad, bring deine Mannschaft und die Pilger an Land. Es gibt Höhlen, in denen wir uns verstecken und schlimmstenfalls auch verteidigen können.«

Murchad schüttelte entschlossen den Kopf.

»Ich überlasse mein Schiff keinem Piraten, ob Angelsachse, Franke oder Gote! Die Gezeiten wechseln gerade. Ich segle aus der Bucht heraus. Wenn einer meiner Passagiere an Land gehen will, ist das seine Entscheidung.«

Pater Pol starrte ihn einen Moment entgeistert an.

»Du schaffst es auf keinen Fall, in Fahrt zu kommen, bevor sie die Mündung der Bucht blockieren. Wenn sie schon auf der Höhe von Rochers sind, brauchen sie nur noch eine halbe Stunde, bis sie das Vorgebirge umrundet haben.«

»Lieber bin ich auf dem Schiff, als daß ich hier auf der Insel sitze und darauf warte, bis sie landen und alles niedermachen«, erwiderte Murchad. Er wandte sich an Gurvan. »Ist noch jemand an Land außer uns?«

»Niemand, Kapitän.«

»Kommst du mit, Lady?« fragte er Fidelma.

Sie zögerte keinen Augenblick.

»Wenn du versuchst, ihnen zu entkommen, dann bin ich dabei, Murchad.«

»Also los!«

Cian hatte daneben gestanden, während sie das besprachen. Jetzt trat er vor.

»Wartet! Nehmt mich mit.«

Murchad schaute ihn überrascht an.

»Ich dachte, du suchst Asyl«, spottete er.

»Ich sagte doch schon, ich suchte um Asyl nach, weil ich Zeit haben wollte, meine Verteidigung gegen die Beschuldigungen Toca Nias vorzubereiten.«

»Aber jetzt mußt du dich womöglich gegen die Beschuldigung, ihn ermordet zu haben, verteidigen«, gab ihm Fidelma zu bedenken.

»Darauf lasse ich es ankommen. Aber ich möchte nicht hier wehrlos diesen Räubern ausgeliefert sein. Nehmt mich mit.«

Murchad zuckte die Achseln. »Wir haben keine Zeit zu verschwenden. Komm mit oder bleib hier. Wir gehen jetzt.«

Ein zorniges, warnendes Hornsignal ertönte. Als sie die Kirche verließen, sahen sie, wie die Leute in alle Richtungen auseinanderrannten, Frauen mit schreienden Kindern, Männer mit Waffen, die sie gerade zur Hand hatten.

Murchad verabschiedete sich von dem Priester.

»Viel Glück, Pater Pol. Ich glaube, dieses angelsächsische Schiff hat es hauptsächlich auf uns abgesehen, nicht auf deine Insel. Wir sind ihm schon einmal entkommen, vielleicht schaffen wir es wieder.«

Murchad führte sie rasch den Pfad hinunter zur Bucht.

Fidelma schaute sich um und sah Pater Pol sie mit erhobenem Arm segnen, dann verschwand er. Jetzt war es seine Pflicht, dafür zu sorgen, daß die Menschen auf der Insel in Sicherheit gebracht wurden.

Wortlos eilten die vier den Pfad hinab zum Kai, wo ihr Skiff lag. Erst als sie im Boot saßen und Gurvan und Murchad sie mit kraftvollen Schlägen zur »Ringelgans« hinüberruderten, begegnete Cian dem forschenden Blick aus Fidelmas grünen Augen. Er hielt ihm stand, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Ich habe Toca Nia nicht umgebracht, Fidelma«, erklärte er ruhig. »Ich habe erst erfahren, daß er tot ist, als ihr zu Pater Pol kamt und es mir gesagt habt. Das schwöre ich.«

Beinahe glaubte ihm Fidelma, aber sie wollte sichergehen. Sie konnte Cian nie trauen, das hatte sie schon vor langer Zeit gelernt.

»Du wirst später noch genügend Zeit haben, deine Unschuld zu beweisen«, antwortete sie kurz.

Sie legten am Schiff an. Fidelma ging als vorletzte an Bord, denn Murchad war sofort an Deck gesprungen und brüllte Befehle. Gurvan folgte ihr als letzter und machte das Skiff fest.

»Alles seeklar?« rief Murchad, als Gurvan zu ihm auf das Achterdeck kam. Die Mannschaft war schon durch Murchads Zuruf gewarnt worden, als sie sich dem Schiff näherten.

»Jawohl, Kapitän«, antwortete der Steuermann und übernahm mit dem Matrosen Drogan das Steuerruder.

Fidelma stellte sich wie selbstverständlich neben Murchad.

»Was können wir tun, Murchad?« fragte sie und spähte zur Mündung der Bucht.

Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske, seine meergrauen Augen waren zusammengekniffen, so starrte er über die tief eingeschnittene Bucht. Sie konnten die dunklen Umrisse des angelsächsischen Schiffes erkennen, das das südliche Vorgebirge umrundete und ihr Entkommen aus der Bucht verhindern wollte. Von ihrem Ankerplatz waren es drei Kilometer bis zur Mündung der Bucht, die an der breitesten Stelle höchstens einen Kilometer maß. Die Seeräuber hatten genügend Zeit, jeden Fluchtversuch zu vereiteln.

»Sie sind hartnäckig, diese Teufel von Angelsachsen«, knurrte Murchad. »Das muß man ihnen lassen. Ihr Kapitän muß so viel Seeverstand gehabt haben, daß er merkte, daß wir neulich nachts hinter ihm kehrtgemacht haben. Daß er uns bis hierher verfolgen konnte, spricht für ihn.«

»Diesmal verbirgt uns keine Dunkelheit«, warf Fidelma ein.

Murchad schrie den Befehl, die Pilger sollten wieder unter Deck, denn Cian, sich selbst überlassen, war unter Deck gegangen und hatte seine Gefährten mit der Nachricht vom Auftauchen der Seeräuber aufgeschreckt. Dann blickte Murchad finster zum leicht diesigen blauen Himmel empor, über den lange Streifen kleiner weißer Wölkchen zogen.

»Das kann man wohl sagen«, antwortete er Fidelma. »Das ist ein Schäfchenhimmel da oben - klar, aber unbeständig. Der hüllt uns weder in Dunkelheit noch in Nebel. Käme Nebel, würde ich versuchen, an ihm vorbeizusegeln. Ha! Das ist das erstemal, daß du einen Seeemann um Nebel bitten hörst!«

Fidelma hatte den Eindruck, er rede nur, um ihr die Angst zu nehmen.

»Mach dir keine Sorgen um mich, Murchad. Wenn wir angegriffen werden, wollen wir wenigstens nicht kampflos zugrunde gehen.«

Er sah sie anerkennend an.

»Das ist nicht wie von einer Nonne gesprochen, Lady.«

Fidelma erwiderte sein grimmiges Lächeln.

»Das spricht eine Prinzessin der Eoghanacht. Vielleicht soll ich mein Leben so beschließen, wie ich es begonnen habe, als Tochter von König Failbe Fland und Schwester von König Colgü. Wenn wir kämpfend untergehen, dann wollen wir dafür sorgen, daß unsere Feinde einen hohen Preis dafür bezahlen.«

Gurvan verließ seinen Posten und trat zu ihnen. Seine Miene war ernst.

»Also ich jedenfalls habe nicht vor, kämpfend unterzugehen«, erklärte er. »Ein guter Rückzug ist besser als eine schwache Verteidigung.«

Murchad kannte Gurvan zur Genüge und hörte etwas aus seinem Ton heraus.

»Heißt das, du hast eine Idee?«

»Das hängt vom Wind und vom Segeln ab«, antwortete Gurvan mit einem kurzen Nicken. »Der Angelsachse ist sich sicher, daß er uns in der Falle hat. Er liegt beigedreht bei Pointe de Pern im Norden und will uns entern, wenn wir herauskommen. Wie eine Katze vor dem Mauseloch, was?«

»Das merkt man auch, wenn man kein Seemann ist«, stimmte ihm Fidelma zu.

»Seht ihr die kleine Insel da vor uns?« Gurvan zeigte auf den Ausgang der Bucht.

»Die sehe ich, ungefähr einen Kilometer vor uns«, meinte Murchad.

»Nun guck dir das angelsächsische Schiff an«, sagte Gurvan.

Sie spähten hinüber.

Das große längliche Segel wurde gerefft.

»Der Kapitän will sich zum Angriff wieder auf die Ruder verlassen. Das hat schon beim vorigen Mal nicht geklappt«, murmelte Gurvan.

Murchad lächelte anerkennend, denn ihm war plötzlich klar, was sein Steuermann im Sinn hatte.

»Jetzt weiß ich, was du meinst. Wir steuern erst die kleine Insel an und passieren sie im Süden außer Sicht. Dann weiß er nicht, wo wir hinaus wollen. Das verschafft uns einen Vorsprung.«

Fidelma schaute unsicher drein.

»So ganz verstehe ich euren Plan nicht, Murchad.«

Der Wind zerrte an dem gerefften Segel und dem Tauwerk. Die Mannschaft wartete gespannt.

»Keine Zeit für Erklärungen«, rief Murchad. »Wir müssen in Fahrt kommen!« Er wandte sich um und schrie: »Alle Mann an die Brassen!«

Seine Mannschaft reagierte sofort.

Fidelma trat zurück und beobachtete, wie die Matrosen das Segel setzten. Gurvan und Drogan packten das Steuerruder. Das gewohnte freudige Klatschen

zeigte an, daß die Brise das lederne Segel erfaßt hatte. Rasch wurde der Anker gelichtet. Dann schoß die »Ringelgans« vorwärts.

Über das Wasser der Bucht hinweg kam der mächtige Ruf »Woden!« von dem Seeräuberschiff. Die Ruderblätter wurden gehoben, das Wasser auf ihnen funkelte im Sonnenlicht, und der hohe Bug des Schiffes schien auf sie zuzustürmen.

Wie Gurvan vermutet hatte, ruderten die Angelsachsen ihnen entgegen, um sie abzufangen, und hielten sich dabei an die breite nördliche Durchfahrt. Der Wind wehte nach Südwest, und bald schäumte das Wasser um den Bug der »Ringelgans«, die der südlichen Durchfahrt im Schutz der kleinen Insel zustrebte.

»Das wird gefährlich«, hörte sie Murchad rufen.

»Stimmt schon«, erwiderte der Steuermann. »Aber ich kenne diese Gewässer.«

»Ich gehe zum Bug und lotse dich durch die Durchfahrt«, antwortete Murchad.

Verwirrt sah Fidelma zu, wie der Kapitän nach vorn ging. Mittschiffs blieb er stehen und gab seinen Matrosen ein paar Anweisungen. Ein halbes Dutzend von ihnen verschwanden unter Deck und kamen kurz darauf wieder mit ein paar traditionellen Bogen von anderthalb Meter Länge und Köchern mit Pfeilen. Murchad ließ keine Chance aus. Wenn er kämpfen mußte, dann würde er auch kämpfen. Inzwischen war die »Ringelgans« in den Schutz der kleinen Insel gelangt. Die schien an ihr vorbeizufliegen, und als sie hinter der Insel hervorkamen, sah sie, daß der Kapitän des angelsächsischen Schiffes gezögert hatte, weil er annahm, seine Beute werde das Segel reffen, Treibanker auswerfen und hinter der Insel mit ihm Verstek-ken spielen wollen. Andererseits konnte die »Ringelgans« auch versuchen, kehrtzumachen und doch die nördliche Durchfahrt zu nehmen. Sein Zögern hatte der »Ringelgans« einen kleinen Vorsprung verschafft, weil sie gerade durch die südliche Durchfahrt hinter der Insel gesegelt war. Sobald die Angelsachsen das begriffen hatten, wendeten sie ungeschickt ihr Schiff und setzten ihnen mit wütenden Ruderschlägen nach.

Gurvan grinste Fidelma an und hob den Daumen.

»Jetzt brauchen wir nur noch dafür zu beten, Lady, daß sich ihr Kapitän entschließt, das Segel zu setzen und uns hinterherzujagen.«

Fidelma war immer noch verwirrt.

»Ich dachte, das angelsächsische Schiff wäre unter Segeln mit dem Wind von achtern schneller als wir.«

»Das hast du dir gut gemerkt - aber wir wollen hoffen, daß er das alte Sprichwort nicht kennt: Ein Blick voraus ist besser als zwei zurück.«

Gurvans belustigte Miene sagte Fidelma nichts.

Die »Ringelgans« legte sich weit über, als sie vor dem Wind an der Südseite der Bucht nur wenige Meter von der Felsenküste entfernt dahinbrauste. Fidelma merkte, daß Gurvan das südliche Vorgebirge umrunden wollte. Sie konnte sich aber nicht vorstellen, was er danach vorhatte, denn dann wären sie auf offener und ziemlich ruhiger See. Dort würden die Angelsachsen sie leicht einholen können.

Lag die Antwort in den langen Bogen, die die Mannschaft an Deck gebracht hatte? Wollten Murchad und Gurvan es einfach auf einen Kampf auf offener See ankommen lassen?

In dem Augenblick erkannte sie, was vor ihnen lag: Ein wahrer Irrgarten von Felsen und winzigen Inseln, durch die starke Strömungen tobten und schäumten. So weit sie sehen konnte, erstreckten sich unzählige Riffe. Ihr erschienen sie noch bedrohlicher als die bei den Sylinancim-Inseln, die sie passiert hatten.

Gurvan bemerkte die Anspannung, die sie erfaßt hatte.

»Verlaß dich auf mich, Lady«, rief er, den Blick nach vorn gerichtet. »Was du siehst, ist der Grund, weshalb kein Schiff das südliche Vorgebirge dieser Insel umsegelt. Hier herrschen Wind und Gezeiten, und wenn sie ein Schiff auf die zerklüftete Felsenküste treiben, schlagen sie es in tausend Stücke. Deshalb nehmen wir diesen Kurs. Ich bin hier schon einmal durchgefahren, und ich hoffe, ich schaffe es wieder. Wenn nicht ... na, dann lieber in Freiheit sterben, als versklavt werden oder durch das Messer der Angelsachsen fallen.«

»Und wenn die Angelsachsen hinter uns her kommen?«

»Dann sollten sie zu ihrem Gott Woden beten, daß ihr Kapitän ein guter Seemann ist. Ich glaub es nicht, und wenn er die breitere Durchfahrt außerhalb der Felsen nimmt, haben wir viele Meilen Vorsprung vor ihm.«

Sie schaute nach vorn, wo Murchad am Bug des Schiffes stand. Mit den Händen gab er Zeichen, die Gurvan und seinem Gefährten am Steuerruder offensichtlich etwas sagten, denn sie schienen auf jedes Signal zu reagieren. Fidelma spürte, wie die Strömung die »Ringelgans« erfaßte und sie noch schneller dahintrieb. Einmal schrammte ein Felsen mit einem seltsam stöhnenden Geräusch an ihrer Seite entlang.

Sie schloß die Augen und sprach ein kurzes Gebet.

Dann war der Felsen vorüber und das Schiff noch heil.

»Kannst du mal zurückschauen, Lady?« rief Gur-van. »Siehst du was von den Angelsachsen?«

Fidelma hielt sich an der Heckreling fest und spähte nach hinten.

Sie erschauerte, als sie das schäumende Kielwasser sah und wie die Riffe und Felsen vorbeiflogen. Dann hob sie den Blick in die Ferne.

»Da hinten ist das Segel der Angelsachsen«, rief sie aufgeregt. Sie hatte gerade das Zeichen des Blitzes auf dem Segel erkannt, auf das Murchad sie aufmerksam gemacht hatte.

»Da hinten sind sie«, rief sie noch einmal. »Sie folgen uns durch diese Durchfahrt.« Ihre Stimme war hoch vor Erregung.

»Dann möge ihnen ihr Gott Woden helfen«, antwortete Gurvan mit einem wilden Lachen.

»Möge Gott uns helfen«, flüsterte Fidelma.

Die »Ringelgans« rollte derartig, daß der Horizont sich heftig bewegte und sie das Segel des Verfolgers immer wieder aus dem Blick verlor.

Das Schiff stampfte und bockte beunruhigend. Gur-van und Drogan stemmten sich mit ganzer Kraft gegen das Steuerruder und riefen noch einen weiteren Mann zu Hilfe, weil sie den Druck nicht mehr bewältigten.

Murchad machte unentwegt Zeichen vom Bug, und die »Ringelgans« schoß in schwindelerregender Fahrt durch die schaumumtosten Felsen und Inselchen, bis sie schließlich in ruhigeres Wasser hinausgeschleudert wurde. Beinahe noch ehe sie wieder auf ebenem Kiel lag, kam Murchad mit besorgtem Gesicht aufs Achterdeck gerannt.

»Wo sind sie?« schnaufte er.

»Ich hab sie aus den Augen verloren«, antwortete Fidelma. »Sie folgten uns durch die felsige Durchfahrt.«

Mit zusammengekniffenen Augen spähte Murchad zurück zu der Felsenküste, die auf diese Entfernung unter einem feinen Dunst zu liegen schien.

»Gischt von den Felsen«, erklärte er ungefragt. »Da kann man schwer etwas ausmachen.«

Er schaute zu den schwarzen Zacken, die aus dem weißen Schaum herausragten.

Fidelma erschauerte, nicht zum erstenmal. Es war kaum zu glauben, daß sie unversehrt dieser Wasserhölle entronnen waren.

»Dort!« rief Murchad plötzlich. »Ich sehe sie!«

Fidelma strengte die Augen an, konnte aber nichts erkennen.

Kurze Zeit herrschte Schweigen, dann seufzte Murchad.

»Ich dachte, einen Moment hätte ich ihren Großmast gesehen, aber jetzt ist er weg.«

»Wir haben einen guten Vorsprung, Kapitän«, rief Gurvan. »Sie müssen schon ganz schön schnell segeln, wenn sie uns einholen wollen.«

Murchad wandte sich um und schüttelte langsam den Kopf.

»Ich glaube, wegen denen brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen, mein Freund«, meinte er ruhig.

Fidelma blickte zurück auf die rasch verschwindende Küste der Insel. Von einem verfolgenden Schiff war nichts mehr zu entdecken.

»Meinst du, sie sind auf die Riffe geraten?« fragte sie.

»Hätten sie die Durchfahrt geschafft, würden wir sie jetzt schon sehen«, sagte Murchad düster. »Entweder wir oder sie, Lady. Gott sei Dank hat es sie erwischt. Nun sind sie in ihren heidnischen Heldenhimmel eingegangen.«

»Das ist ein schrecklicher Tod«, meinte Fidelma ernst.

»Tote beißen nicht mehr«, war Murchads einziger Kommentar.

Fidelma murmelte ein kurzes Gebet für die Ertrunkenen. Es war ein angelsächsisches Schiff, ob nun heidnisch oder nicht, und sie mußte an Bruder Eadulf denken.

Kapitel 19

»Heute ist ein sehr ruhiger Morgen, Murchad.«

Der Kapitän nickte, aber er war nicht erfreut. Vor zwei Tagen hatten sie Ushant verlassen. Er zeigte auf das schlaffe Segel.

»Zu ruhig«, beklagte er sich. »Es geht fast kein Wind. Wir kommen kaum voran.«

Fidelma blickte hinaus auf die glatte See. Sie kam auch nicht voran. Nachdem sie ihren Verfolgern entronnen waren, hatten sie Toca Nias Leiche dem Meer übergeben. Es war Bruder Dathal, der bemerkt hatte, ihre Seereise verwandle sich in eine Todesfahrt, als gehöre das Schiff dem alten irischen Totengott Donn, der die Seelen der Verstorbenen auf seinem Totenschiff sammelte und in die Andere Welt hinüberbrachte. Mit seinem Vergleich hatte sich Dathal sofort die Kritik von Bruder Tola und Schwester Ainder zugezogen, aber doch für eine düstere Stimmung unter den verbleibenden Pilgern gesorgt.

Immer wieder hatte Fidelma die Tatsachen erwogen und versucht, einen winzigen Faden zu finden, der zur Lösung des Rätsels führen könnte. Was den Mord an Toca Nia betraf, so schwor Cian, daß er das Schiff gleich nach Mitternacht verlassen habe, nachdem die letzten Passagiere und Matrosen von der Insel zurückgekehrt waren. Gurvan bestätigte, er habe einige Zeit später bei Toca Nia hineingeschaut und ihn friedlich schlafend vorgefunden. Wenn Cian über den Zeitpunkt, an dem er von Bord ging, die Wahrheit sagte, dann war er schuldlos.

Fidelma blickte zu den schlaffen Segeln auf und faßte einen Entschluß.

»Vielleicht können wir dieses Wetter doch noch gut nutzen«, meinte sie fröhlich.

»Wie das?« erkundigte sich Murchad.

»Ich habe schon seit Tagen nicht mehr gebadet. Auf Ushant hatte ich keine Zeit dazu, und ich fühle mich schmutzig. In dieser ruhigen See kann ich ein wenig schwimmen und mir den Dreck vom Körper spülen.«

Murchad schaute verlegen drein.

»Wir Seeleute sind daran gewöhnt, Lady. Aber wir haben keine Gelegenheit für Frauen zum Baden.«

Fidelma warf den Kopf zurück und lachte.

»Hab keine Angst, Murchad. Ich werde euer männliches Schamgefühl nicht verletzen. Ich behalte ein Hemd an.«

»Es ist zu gefährlich«, wandte er kopfschüttelnd ein.

»Wieso? Wenn deine Matrosen sich bei so ruhigem Wetter sauber schwimmen können, warum kann ich das dann nicht?«

»Meine Matrosen kennen die Tücken der See. Sie sind gute Schwimmer. Was ist, wenn Wind aufkommt? Das Schiff kann eine weite Strecke zurücklegen, bevor du wieder heranschwimmen kannst. Du hast doch gesehen, wie schnell der arme Bruder Guss achteraus trieb.«

»Die Gefahr ist doch dieselbe, ob man Matrose oder Passagier ist«, konterte Fidelma. »Was machen denn deine Leute?«

»Sie schwimmen an einem Tau festgebunden.«

»Dann mache ich das auch so.«

»Aber ...«

Murchad fing ihren Blick auf und las ihre Unnachgiebigkeit darin. Er seufzte tief.

»Na gut.« Er rief den Steuermann. »Gurvan!«

Der Bretone kam herbei.

»Fidelma will das ruhige Wetter nutzen und neben dem Schiff schwimmen. Sieh zu, daß man ihr ein Tau um den Leib bindet und an der Reling befestigt.«

Gurvan zog die Brauen hoch und öffnete den Mund, als wolle er protestieren, doch dann entschied er sich dagegen.

»Von wo aus willst du schwimmen, Lady?« fragte er resigniert.

Fidelma lächelte. »Welches ist die Leeseite? So nennt ihr doch die windgeschützte Seite des Schiffes?«

Gurvans Gesichtsmuskeln zuckten, und einen Moment schien es, als wolle er ihr Lächeln erwidern.

»Das stimmt, Lady«, antwortete er ernst. Er wies auf die Steuerbordseite. »Dort findest du ruhiges Wasser, wenn auch im Augenblick kein Wind weht. Aber wenn er aufkommt, denke ich, dann von Backbord.«

»Bist du ein Prophet, Gurvan?«

Der Bretone schüttelte den Kopf. »Siehst du die Wolken dort im Nordwesten? Die bringen uns bald Wind, also bleib nicht zu lange im Wasser.«

Fidelma trat an die Reling und blickte hinunter auf die See. Sie schien recht ruhig.

Sie wollte gerade ihre Kutte ausziehen, doch sie hielt inne, als sie Gurvans ängstliche Miene sah.

»Hab keine Angst, Gurvan«, sagte sie fröhlich. »Ich behalte meine Unterkleidung an.«

Trotz seines dunklen Teints schien Gurvan zu erröten.

»Halten Nonnen es nicht für eine Sünde, sich vor anderen zu entblößen?«

Fidelma verzog spöttisch das Gesicht und zitierte: »>Und der Herr rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? Und er sprach: Ich hörte deine Stimme im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. Und er sprach: Wer hat dir’s gesagt, daß du nackt bist?< Ich glaube, Gott wollte damit sagen, daß die Sünde im Geist des Betrachters liegt und nicht in seinem Blick.«

Gurvan war immer noch ganz verlegen.

»Aber wie ich schon sagte, ich werde nicht nackt sein. Nun laß mich schwimmen, ehe der Wind aufkommt.«

Ohne viel Federlesen zog Fidelma ihre Kutte aus. Sie trug immer Unterkleidung aus srol - Seide oder Satin, von gallischen Kaufleuten eingeführt. Diese Gewohnheit hatte sie als Mitglied der Königsfamilie von Cashel angenommen, und es war der einzige Luxus in der Kleidung, den sich Fidelma leistete, denn nichts war so angenehm, als dieses fremde Material auf der Haut zu spüren. Natürlich konnten sich nur Leute von Rang und Reichtum solche feinen Stoffe kaufen. Andere, das wußte sie, trugen Unterkleidung aus Wolle oder Leinen.

Als junge Studentin bei ihrem Mentor, dem Brehon Morann von Tara, hatte Fidelma zu ihrer Überraschung erfahren, daß es sogar Gesetze gab, die die Kleidung regelten. Das Senchus Mor legte fest, welche Kleidung Pflegekinder zu tragen hatten. Jedes Kind mußte zwei vollständige Garnituren besitzen, damit es eine tragen konnte, während die andere gewaschen wurde. Die Kleidung der Söhne und Töchter von Königen, dann von Fürsten . und so weiter bis zu den niederen Rängen der Gesellschaft, alle wurden entsprechend ihrer Stellung aufgezählt, und waren die Kinder in Pflege gegeben - eine Form der Erziehung -, dann hatten sie an Feiertagen immer die beste Kleidung zu tragen.

Fidelma verlor sich ins Nachdenken darüber und kam sich plötzlich sehr einsam vor. Wie sehr wünschte sie sich, Eadulf wäre da! Dann könnte sie mit ihm darüber reden. Auch für die Klärung der Mordfälle benötigte sie dringend seine Hilfe. Vielleicht würde ihm etwas auffallen, was sie übersehen hatte.

Sie merkte, daß Gurvan mit abgewendetem Blick neben ihr stand, ein langes Stück Tau in der Hand.

»Ich bin fertig, Gurvan. Ich schwöre dir, ich bin anständig angezogen.«

Zögernd hob Gurvan den Blick.

Es stimmte, daß Fidelmas Unterkleidung nicht unzüchtig war, aber sie verbarg auch nicht ganz ihre gute Figur und ihre jugendliche Gestalt, die eine Lebensfreude ausstrahlte, die schlecht zu ihrem religiösen Beruf paßte.

Er schluckte nervös.

»Zeig mir, wie ich mich damit festbinde«, bat sie ihn.

Er trat näher, das Tauende in der Hand.

»Am besten bindest du es dir um die Taille, Lady. Ich mache einen sicheren Knoten, der aber auch leicht zu lösen ist - einen Kreuzknoten.«

»Ich weiß, wie man den macht. Ich versuch’s, und du kontrollierst, ob ich es richtig gemacht habe.«

Sie nahm ihm das Tau aus der Hand, zog es sich um die Taille und konzentrierte sich auf den Knoten.

»Rechts über links und links über rechts ... ist es nicht so?«

Gurvan prüfte den Knoten und war zufrieden.

»Genau richtig. Ich binde das andere Ende mit dem gleichen Knoten an der Reling fest.«

Das tat er dann. Das Tau reichte aus, daß sie die ganze Länge des Schiffes hin und her schwimmen konnte.

Fidelma dankte mit einem Winken, ging zur Reling und sprang elegant über Bord.

Das Wasser war kälter als erwartet, und sie tauchte keuchend und fast atemlos wieder auf. Sie brauchte einige Augenblicke, um sich zu erholen und an die Wassertemperatur zu gewöhnen. Sie machte ein paar langsame Schwimmstöße. Fidelma hatte schwimmen beinahe eher gelernt als laufen, im Fluß Suir, dem »Schwesterfluß«, der dicht an Cashel vorbeifloß. Sie hatte keine Angst vor dem Wasser, aber einen gesunden Respekt, denn sie wußte, wozu es fähig war.

Es war merkwürdig, daß vom Volk von Eireann viele Menschen, die im Binnenland lebten, in den Flüssen schwimmen lernten, während die meisten Einwohner der Fischersiedlungen an der Küste, besonders an der Westküste, sich weigerten, es zu lernen. Fidelma erinnerte sich, daß sie einmal einen alten Fischer nach dem Grund dafür gefragt hatte, denn sie meinte, wenn ein Boot sank, mußte man doch schwimmen können? Er hatte den Kopf geschüttelt.

»Wenn unsere Boote untergehen, ist es besser, gleich ins Meeresgrab zu sinken, als einen längeren und qualvollen Tod zu sterben, indem man versucht, in der See zu überleben.«

Es stimmte, daß die düstere, felsige Küste mit ihrer schäumenden Brandung nicht gut zum Schwimmen war. Vielleicht hatte der alte Fischer recht.

»Wenn Gott will, daß wir leben, dann rettet Er uns. Es hat keinen Zweck, gegen das Schicksal anzukämpfen.«

Fidelma hatte das Gespräch nicht weitergeführt, denn es war ein Thema, über das die Fischer nicht gern redeten. Der schwerste Fluch, den man unter Küstenbewohnern kannte, lautete: »Mögest du ertrinken!«

Fidelma lag auf dem Rücken und ließ sich von den leichten Wellen tragen. Die »Ringelgans« ragte gewaltig und dunkel neben ihr auf, das große Segel hing immer noch schlaff von der Rahe. Sie sah, wie Gurvan über die Reling gebeugt nach ihr schaute, hob lässig den Arm und winkte ihm zu, es sei alles in Ordnung. Er nickte und wandte sich ab.

Seufzend schloß sie die Augen und spürte die sanfte Wärme der Sonne auf ihrem Gesicht. Salzwasser trocknete auf ihren Lippen, und sie widerstand der Versuchung, es abzulecken. Sie wußte, wie unwahrscheinlich durstig man davon wurde.

So sehr sie sich bemühte, sie konnte sich nicht ganz auf den Tod der armen Schwester Muirgel konzentrieren. Statt dessen mußte sie an Cian denken. Cian! Seltsamerweise kamen ihr dabei sofort Worte aus dem Propheten Jeremia in den Sinn. »Du aber hast mit vielen Buhlen gehurt; doch komm wieder zu mir.« Sie erschauerte leicht. Warum war ihr gerade das eingefallen? Sie wußte zwar, daß die Worte paßten, aber warum ausgerechnet aus der Bibel? Auf dieser Fahrt hatte man schon oft genug aus ihr zitiert! Vielleicht wirkte das ansteckend.

Einen Moment empfand sie Mitleid mit Cian wegen der Verwundung, durch die er seinen Beruf als Krieger nicht mehr ausüben konnte. Sie wußte, wie sehr sein Leben von seiner körperlichen Tüchtigkeit bestimmt war. Er war die Eitelkeit in Person: stolz auf seinen Körper, stolz auf seine Waffenführung, stolz auf den Glauben, Jugend bedeute Unsterblichkeit.

War es nicht Aristoteles, der gesagt hatte, die Jugend befinde sich in einem Zustand dauernder Trunkenheit? Das beschrieb den jungen Cian ganz genau. Er war berauscht von seiner eigenen Jugendlichkeit, denn Jugend war unsterblich; in seiner Welt wurden nur die Älteren alt.

Das war es, was sie zu ihm hingezogen hatte. Seine Jugendlichkeit. Seine Kraft. Er hatte nur geringe intellektuelle Fähigkeiten. Er konnte gut reiten, er warf den Speer mit großer Treffsicherheit, er konnte mit dem Schwert zustoßen und parieren und sich mit dem Schild decken, er konnte gut mit dem Bogen schießen. Die einzige intellektuelle Tätigkeit, die ihn interessierte, war die Erfindung von Kriegslisten.

Cian wurde nie müde, die Geschichte vom Großkönig Aedh Mac Ainmirech zu erzählen, der vor sechzig Jahren von König Brandubh von Laigin besiegt worden war. Dieser hatte seine Krieger in Vorratskörben versteckt in das Lager des Großkönigs geschmuggelt.

Fidelma hatte sich nicht besonders dafür interessiert, sondern versucht, Cian zu überreden, mit ihr »Schwarzer Rabe« oder »Hölzerne Weisheit« zu spielen, weil man sich dabei in militärischer Strategie üben konnte. Selbst das mochte Cian nicht. Solche Spiele trieben ihn zur Verzweiflung.

Ohne den Gebrauch seinen rechten Arms konnte er kein Krieger mehr sein. Sie hatte erkannt, daß er nicht in der Lage war, sich darauf einzustellen und eine neue Rolle im Leben zu übernehmen. Cian als Mönch war undenkbar. Seine Bitterkeit und seinen Zorn über sein Mißgeschick hatte er bereits deutlich gezeigt. Sein törichter Versuch, zum Ausgleich seine Vorstellung von Männlichkeit durchzusetzen, war in ihren Augen einfach kläglich. So etwas hätte Eadulf nie getan. Eine Zeile aus Vergils »Aeneis« kam ihr in den Sinn. »Tu ne cede malis, sed contra audentior ito« - Weiche dem Unheil nicht, noch mutiger geh ihm entgegen! Das wäre Eadulfs Einstellung, aber Cian mit seinem unbrauchbaren Arm .

Plötzlich wurde sie starr.

Sein unbrauchbarer Arm! Wie hätte Cian das Schiff um Mitternacht verlassen und sich allein an Land rudern können? Mit einem Arm war das Skiff unmöglich zu rudern. Und das Skiff! Mein Gott, was war nur mit ihrer Beobachtungsgabe los? Wenn er es durch ein Wunder fertiggebracht hätte, das Skiff vom Schiff zur Insel zu bewegen, wie kam das Skiff zum Schiff zurück? Jemand hatte Cian zur Insel gerudert und war mit dem Boot zurückgekehrt.

Eadulf hätte das gemerkt. Ach Gott, wie nötig brauchte sie ihn. Sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, solche Dinge mit ihm durchzusprechen und sich seinen Rat anzuhören.

Sie hätte eher daran denken sollen, anstatt sich in Tagträume zu verlieren. Die Wirkung der sanften Wellen war zu einschläfernd und .

Da spürte sie auf einmal, daß die Wellen nicht mehr so sanft waren wie vorhin. Sie wurden kabbeliger, und sie hörte ein fernes Knallen. Sie öffnete die Augen und blinzelte. Das Großsegel der »Ringelgans« bauschte sich im Wind. Der versprochene Wind war aufgekommen, und das Schiff gewann Fahrt. Sie drehte sich um und schwamm ein paar Stöße.

Die Erkenntnis durchfuhr sie wie ein eisiger Schreck.

Das Tau um ihren Leib war nicht straff. Es schwamm, jedenfalls der Teil, der nicht vom Wasser durchweicht und deshalb schwerer war. Das Tau war nicht mehr an der Reling befestigt.

Sie stieß einen Hilferuf aus.

Sie sah weder Gurvan noch jemand anders an der Reling. Die »Ringelgans« entfernte sich mit zunehmender Schnelligkeit von ihr.

Sie schwamm jetzt um ihr Leben, aber der Wellengang wurde stärker, und es wurde schwieriger, schnell zu schwimmen. Noch als sie ausholte, war ihr klar, daß sie unmöglich das Schiff erreichen konnte, ehe es verschwand und sie allein mitten im Meer zurückließ.

Kapitel 20

Das Zischen der See, das leise Pfeifen des Windes über den schäumenden Wellen, die aus ihrem Blickwinkel gigantisch erschienen, bösartig und mächtig, übertönten alle anderen Geräusche. Sie glaubte ein fernes Rufen zu hören, doch mit gesenktem Kopf schwamm sie mit aller Kraft weiter. Dann war plötzlich jemand neben ihr im Wasser.

Überrascht schaute sie auf. Es war Gurvan.

»Halt dich an mir fest!« schrie er kaum verständlich, weil die Wellen über ihn hinweggingen. »Rasch!«

Fidelma hatte nichts dagegen. Sie packte ihn an den Schultern.

»Um Himmels willen, laß ja nicht los!« brüllte Gurvan.

Er drehte sich um, und nun sah Fidelma, daß er an einem Tau hing, das sie beide rasch durchs Wasser zog. Dunkle Gestalten an der Reling des Schiffes holten es mühsam ein, und sie merkte, daß sie langsam, fürchterlich langsam, von der reinen Muskelkraft der Matrosen an das Schiff herangezogen wurden.

Ihr kam ein schrecklicher Gedanke. Sie hingen hilflos an der Seite des fahrenden Schiffes, und wenn die Männer da oben das Tau losließen, würde der Schwung sie beide unter das Schiff drücken, und das wäre ihr sicheres Ende.

Dann wurden sie aus dem Wasser gehoben.

»Halt dich ganz fest«, schrie Gurvan.

Fidelma gab keine Antwort. Ihre Hände krallten sich unwillkürlich in die Kleidung des Steuermanns.

Augenblicke später wurden sie hochgezogen aus der See, die sie nicht loslassen wollte, deren weißschäumende Wellen wie mit Fingern nach ihnen griffen und sie in den Abgrund des Meeres hinunterzulocken versuchten.

Fidelma schloß die Augen und hoffte nur, daß das Tau nicht reißen würde. Dann packten Fäuste ihre Handgelenke und Arme. Sie hoben sie über die Reling, und sie sank auf dem Deck zusammen, nach Luft ringend und zitternd. Wenbrit eilte herbei und legte ihr ihre Kutte über die Schultern. Er machte ein besorgtes Gesicht. Sie blickte auf und lächelte ihn dankbar an, sprechen konnte sie nicht.

Es dauerte eine Weile, bis sie, noch unsicher, auf den Beinen stand. Wenbrit stützte sie. Gurvan lehnte neben ihr an der Reling und rang ebenfalls nach Luft. Hätte er seinen Rettungsversuch nur ein wenig später unternommen, hätte es keine Hoffnung mehr gegeben. Das Schiff schnitt jetzt schnell durch die Wellen. Das Segel bauschte sich unter dem aufgekommenen Wind. Mit stummem Dank streckte sie Gurvan die Hand entgegen. Erst dann konnte sie wieder sprechen und sagte: »Du hast mir das Leben gerettet, Gurvan.«

Der Steuermann zuckte die Achseln. In seiner Miene spiegelte sich seine Besorgnis. Schließlich fand auch er die Sprache wieder.

»Ich hätte besser aufpassen müssen, als du im Wasser warst, Lady.«

Murchad eilte herbei und war froh, daß Fidelma unverletzt war.

»Ich habe dich gewarnt, Lady, es ist gefährlich, so zu baden«, sagte er streng.

»Sieh mal.« Gurvan trat beiseite und wies auf die Reling. »Schau, Kapitän, das Tau ist zerschnitten.«

Das Ende des Taus war angebunden wie zuvor, aber nur ein kurzes Stück hing noch daran.

Fidelma versuchte zu erkennen, auf was Gurvan zeigte.

»Ist es gerissen?« fragte sie. Sie merkte, daß das eine dumme Frage war, denn jetzt fiel ihr auf, daß das Tau durchgeschnitten war, die einzelnen Stränge wie von einem scharfen Messer durchgetrennt.

»Jemand wollte dich umbringen, Lady«, erklärte ihr Gurvan leise. Er hatte recht, es war deutlich genug zu erkennen.

»Als ich im Wasser war«, fragte sie Gurvan, »wie lange hast du noch neben dem Tau gestanden?«

Gurvan überlegte.

»Ich wartete, bis ich sah, daß du gemütlich geschwommen bist. Du hast mir zugewinkt, und ich habe geantwortet. Dann hat mich Bruder Tola abgelenkt. Er fragte mich, wer da schwimmt und ob das nicht gefährlich wäre.«

»Bist du längere Zeit von dieser Stelle fort gewesen?«

»Höchstens ein paar Minuten. Ich ging nach achtern, um etwas mit dem Kapitän zu besprechen.«

»War sonst niemand an Deck?«

»Ein paar Matrosen.«

»Ich meine nicht von der Mannschaft, sondern von den Passagieren.«

»Da war die junge Nonne, Schwester Gorman, und Schwester Crella zusammen mit dem Mann mit dem kraftlosen Arm, Bruder Cian. Und dann noch der Schweigsame, Bruder Bairne.«

Fidelma blickte sich um und sah, daß die meisten von ihnen ein Stück entfernt zusammenstanden und sie verlegen beobachteten. Alle hatten bei ihrer Rettung zugeschaut.

»Kam jemand von ihnen dem Tau nahe?«

»Da bin ich nicht sicher. Jeder hätte es sein können. Ich ging sofort zurück, als ich merkte, daß der Wind aufkam. Da sah ich, daß das Tau durchgeschnitten war. Ich rief ein paar Matrosen, wir nahmen ein anderes Tau, und den Rest weißt du.«

Fidelma versank in Nachdenken.

»Lady.« Das war Wenbrit. »Zieh lieber deine nassen Sachen aus.«

Fidelma lächelte ihm zu. Ihr wurde bewußt, daß die nasse Seide sich an ihren Körper schmiegte wie eine zweite Haut. Sie zog die Kutte enger um sich.

»Ein Schluck corma wäre nicht verkehrt, Wenbrit«, meinte sie. »Ich bin in meiner Kajüte.«

Sie eilte über das Deck, und Mannschaft und Passagiere lösten sich in kleine Gruppen auf, in denen aufgeregt, aber leise geredet wurde.

Eine halbe Stunde später kam Fidelma, innerlich erwärmt durch das feurige corma und äußerlich durch ein kräftiges Abreiben und trockene Sachen, nach achtern zu Murchad in seine Kajüte. Der Kapitän sah immer noch verstört aus bei dem Gedanken, wie nahe die Schwester seines Königs Colgü von Cashel dem Tode gewesen war.

»Geht es dir wieder gut, Lady?« begrüßte er sie, als sie eintrat.

»Ich komme mir wie ein Trottel vor, Murchad, weil ich nicht daran gedacht habe, daß ein Mensch, der einmal getötet hat, manchmal Lust am Töten bekommt.«

Murchad erschrak.

»Meinst du, wir haben einen mordlustigen Irren an Bord?«

»Wenn jemand vorsätzlich tötet, ist das immer ein Zeichen für einen gestörten Verstand, Murchad.«

»Hast du weiterhin Bruder Cian im Verdacht? Schließlich hatte kein anderer durch Toca Nias Tod etwas zu gewinnen. Deshalb muß er Schwester Muirgel ermordet und dann versucht haben, dich zum Schweigen zu bringen.«

Fidelma machte eine ablehnende Geste, als sie sich ihm gegenüber niederließ.

»Ich glaube nicht, daß diese Logik zwingend ist. Es könnte sein, daß der Mörder Toca Nias nicht derselbe ist, der Muirgel umgebracht hat. Es ist auch der Mord an Schwester Canair zu bedenken, für den wir allerdings nur die Aussage von Bruder Guss haben. Ich fürchte, daß jetzt, da Guss tot ist, seine Aussage als einziger Zeuge keinen Wert mehr hat. Der gleiche Umstand, der eine Verhaftung und Anklage Cians unmöglich macht, gilt auch für den Fall von Canair ... Wo sind die Zeugen? Doch von der Rechtslage abgesehen bin ich geneigt, anzunehmen, daß Guss die Wahrheit gesagt hat.«

»Meinst du damit, daß du Schwester Crella für die Schuldige hältst?«

»Sie könnte es sein. Die Widersprüche in ihrer Geschichte deuten darauf hin. Aber warum sollte sie mir etwas erzählen, was sich sofort widerlegen läßt? Hat sie gelogen, oder hat sie selbst geglaubt, es sei wahr? Vor allem, ich entdecke kein Motiv für die Tat.«

»Wie konnte das passieren?« fragte sich Murchad. »Bei einem Leben auf See ist man immer dem Tode nahe, aber nie dem Tod auf solche Art und Weise. Vielleicht ist diese Fahrt verhext. Ich hörte, wie Bruder Dathal so etwas sagte, daß sie wie eine Fahrt des Totengottes Donn wäre .«

Fidelma lächelte mit schmalem Mund.

»Aberglaube, Murchad, er sperrt die Welt in den Kerker der Furcht ein. Die Vernunft öffnet diesen Kerker. Es gibt eine logische Erklärung für jedes Geheimnis, und wir werden sie finden. Mit der Zeit.« Sie hielt inne und setzte dann hinzu: »Warst du ständig an Deck, während ich gebadet habe?«

»Ja. Ich sah, wie Gurvan dir ein Tau umband und es an der Reling befestigte. Dann sprangst du ins Meer. Glaub nicht, ich hätte mir nicht schon den Kopf darüber zerbrochen, ob ich gesehen habe, daß jemand zu dem Tau ging.«

»Gurvan kam zu dir, um etwas zu besprechen?«

»Genau wie er gesagt hat. Eine Weile blieb er an der Reling. Ich sah, wie er die Hand hob. Dann hat ihn Tola, der auf dem Deck umherging, in ein Gespräch verwickelt. Der Wind frischte auf, und er kam zu mir, und wir besprachen das. Ich sagte ihm, er solle dich hereinziehen, denn wir würden bald Fahrt aufnehmen.«

»Du hast nicht jemanden an Deck nahe dem Tau bemerkt?«

»Ein paar Matrosen waren in den Rahen. Mit denen habe ich schon gesprochen, während du dich umgezogen hast. Sie haben nichts gesehen. Wir rechneten mit Wind, und sie sollten das Segel trimmen, sobald er aufkam. Da war aber noch jemand ...« Er fuhr sich durchs Haar und überlegte. »Ich weiß nicht, wer es war.«

»Du kannst aber die Person doch sicher beschreiben?«

»Nicht genau, denn sie war auf dem Vorschiff und hatte diese Kapuze auf, du weißt schon .«

»Eine Mönchskapuze?«

»Ja, so eine, die den Kopf bedeckt.«

»Also jemand von den Pilgern? Kannst du sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war?«

»Nicht mal das könnte ich genau sagen, Lady.«

»Hast du gesehen, daß sie zur Reling ging?«

»Das könnte sein. Zu der Zeit war niemand sonst dort. Der Wind erhob sich, und ich gab der Mannschaft Anordnungen. Gurvan ging dann zurück zum Tau und merkte, daß da etwas verkehrt war. Die Gestalt in der Kutte war verschwunden, und ich nahm an, sie sei nun unter Deck.«

Murchad machte plötzlich ein Gesicht, als sei ihm etwas Wichtiges eingefallen.

»Ich weiß genau, sie kam nicht über den Achterschiffsniedergang zurück.«

Fidelma war verblüfft.

»Wie kann sie dann nach unten gelangt sein?«

»Wahrscheinlich durch die Vorderluke.«

»Aber dort kommt man doch nicht zu den unteren Decks, oder doch?«

»Es gibt eine kleine Luke gleich neben deiner Kajütentür, aber die benutzt keiner. Jedenfalls kein Passagier, denn sie führt nur zu den Stauräumen, und man müßte durch die hindurchgehen zu den anderen Bereichen im Schiff.«

»Aber es gibt einen Weg, auf dem man dort unter Deck und zu den Kajüten der Passagiere gelangen kann?« Als er das bejahte, stand sie auf und sagte: »Dann untersuchen wir ihn.«

Sie brauchten ein Licht, denn der kleine Gang zwischen Gurvans und Fidelmas Kajüten auf den beiden Seiten und dem Abtritt vorn war dunkel. Fidelma holte eine Lampe aus ihrer Kajüte. Der Kater Mäuseherr, zu einem weichen schwarzen Knäuel zusammengerollt, lag auf dem Fußende ihrer Koje und schlief. Fidelma zündete die Lampe an und kehrte zu Murchad zurück, der eine kleine Luke im Boden öffnete. Die war ihr vorher noch nicht aufgefallen. Es konnte sich immer nur eine Person hindurchzwängen.

»Du meinst, die wird nicht oft benutzt?«

»Selten.«

»Und von hier aus kann man das Schiff in seiner ganzen Länge und Breite erreichen?«

Murchad bejahte es.

Sie blieben am Fuße der Holztreppe in einem kleinen Stauraum stehen. Hier konnte man sich kaum aufrichten. Fidelma hob die Lampe und schaute sich um.

»Viel Staub«, murmelte sie. »Ich nehme an, der Raum wird nicht oft als Kajüte und nicht einmal zum Stauen benutzt?«

»Kaum jemals«, erwiderte Murchad. »Unsere Vorräte lagern größtenteils im nächsten Raum.«

Fidelma zeigte auf eine Reihe von Fußspuren auf dem Boden.

»Sicherlich hat Gurvan den Raum hier abgesucht, als er am zweiten Tag der Reise nach Schwester Muirgel forschte.« Als Murchad nickte, fuhr sie fort: »Und dann prüfte er nach dem Sturm, ob der Schiffsrumpf Schaden erlitten hatte?«

»Natürlich.«

Sie beugte sich nieder und leuchtete den Boden vor der Treppe ab, über die sie gekommen waren.

Es gab braune Flecke auf den Planken und unterhalb der letzten Stufe einen deutlichen Fußabdruck.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Murchad.

»Ich nehme an, du und Gurvan, ihr habt ungefähr die gleiche Größe, nicht wahr?« erkundigte sich Fidelma.

»Wahrscheinlich. Warum?«

»Setz deinen Fuß neben den Abdruck hier, Murchad. Aber daneben, nicht darauf.«

Murchad tat es. Sein Schuh war wesentlich größer.

»Das beweist mir, daß dieser Abdruck nicht von Gurvan gemacht stammt.«

»Und weiter?«

»Hier ist der Mörder Toca Nias in der Nacht entlanggekommen. Er schlich sich leise durchs Schiff und diese Treppe hoch. Ich wurde von dem Geräusch wach und dachte dummerweise, es wären Ratten oder Mäuse und schob Mäuseherr hinaus. Aber es war Toca Nias Mörder, der in seine Kajüte ging und ihn in wütendem Haß erstach. Davon lief das Blut bis auf den Boden und ihm über die Füße. Ich sah die Spuren, die auf den Gang hinausführten, und versuchte sie von Gurvans zu unterscheiden. Sie hörten plötzlich auf, und ich dachte, der Mörder hätte sich die Füße abgewischt, weil ich nichts von der verborgenen Luke wußte. Jetzt ist mir klar, daß er auf demselben Weg zu seinem Platz im Schiff zurückging.«

Murchad schüttelte ratlos den Kopf.

»Aber diese Flecke verraten dir nicht viel.«

»Im Gegenteil, der Fußabdruck hier unten verrät mir sehr viel.« Sie zeigte auf ihn, und zum erstenmal seit Tagen erfüllte sie Freude, weil sie endlich einen greifbaren Beweis gefunden hatte.

»Was sagt er dir?«

»Seine Größe enthüllt mir viel über die Person, die Toca Nia umbrachte. Und ich sehe allmählich einen Zusammenhang. Vielleicht gibt es gar nicht so viele Zufälle, wie wir denken. Die Person, die Toca Nia tötete, ist dieselbe, die Schwester Canair in Ardmore umbrachte und Schwester Muirgel erstach. Vielleicht . « Fidelma verstummte und dachte nach.

»Ich wäre vorsichtig, Lady«, warf Murchad besorgt ein. »Wenn diese Person schon einmal versucht hat, dich zu töten, kann sie es wieder versuchen. Du stellst offensichtlich eine Bedrohung für sie dar. Vielleicht bist du nahe daran, sie zu entdecken.«

»Wir alle müssen gut aufpassen«, meinte Fidelma. »Aber diese Person tötet im geheimen, dessen bin ich sicher. Und eins weiß ich noch mit Bestimmtheit.«

»Nämlich?«

»Unser Mörder ist eine von drei Personen auf diesem Schiff, und ich glaube, er ist irre. Wir müssen wirklich aufpassen.«

Am Abend änderte sich der Wind erneut. Nachdem das wie üblich von Wenbrit servierte Abendessen in leicht gedrückter Stimmung eingenommen worden war, ging Fidelma an Deck und gesellte sich zu Murchad und Gurvan, die am Steuerruder standen.

»Ich fürchte, wir kriegen noch einmal Sturm, Lady«, begrüßte sie Murchad trübe. »Auf dieser Fahrt haben wir mehr als genug Pech. Hätte das ruhige Wetter angehalten, wären wir schon vor zwei Tagen wieder aus dem iberischen Hafen ausgelaufen. Jetzt müssen wir abwarten, wohin uns der Sturm treibt.«

Fidelma blickte zum Himmel. Die Anzeichen für einen Sturm schienen nicht so bedrohlich wie in der ersten Nacht. Die Wolken waren dunkel, aber sie jagten nicht so schnell über den Himmel wie damals.

»Wie lange dauert es noch, bis er uns erfaßt?« fragte sie.

»Noch vor Mitternacht ist er hier«, antwortete Murchad.

Fidelma merkte, daß das Schiff mit schäumender Bugwelle geradezu durch die Wogen schnitt. Alles wirkte so ruhig und friedlich.

Gegen Mitternacht konnte Fidelma kaum glauben, wie plötzlich sich das Wetter geändert hatte. Die See ging hoch, und der Wind wechselte so oft die Richtung, daß ihr fast schwindelte. Fidelma hatte an Deck gesessen und alle Fakten und Ereignisse in Gedanken geordnet und analysiert. Nun stand sie auf, als das Deck unter ihr zu schaukeln begann. Gurvan beaufsichtigte die Matrosen, die an der Takelage arbeiteten.

Er kam zu ihr.

»Am sichersten bist du in deiner Kajüte, Lady, und vergiß nicht .«

»Alle losen Gegenstände festzumachen«, beendete Fidelma seinen Satz. Das hatte sie bei dem vorigen Sturm gelernt.

»Du wirst eine richtige Seefahrerin, Lady«, lächelte Gurvan anerkennend.

»Wird es so schlimm wie letztes Mal?« fragte sie.

Gurvan antwortete mit einer unverbindlichen Geste.

»Es sieht nicht sehr gut aus. Wir müssen gegen den Wind kreuzen.«

»Wäre es nicht leichter, zu wenden und mit dem Wind zu segeln, selbst wenn uns das wieder zurücktreibt?«

Gurvan schüttelte den Kopf.

»Bei diesem Seegang würden dann die schweren Wellen ständig über uns hinweggehen. Ihre Gewalt könnte uns sogar unter Wasser drücken.«

Wie zur Betonung seiner Worte fegte die Gischt über das Deck, und Fidelma sah, wie die See ringsum zu kochen begann. Der Wind hatte so zugenommen, daß selbst der dicke, starke Mast stöhnte und sich leicht bog. Fidelma schien es, als wolle der Wind ihn aus seiner Verankerung reißen. Das lederne Segel schlug im Wind und schien in Gefahr zu zerreißen.

»Geh jetzt lieber hinein!« drängte sie Gurvan.

Fidelma folgte seinem Rat und schritt vorsichtig mit gesenktem Kopf über das Hauptdeck.

Nun war weiter nichts zu tun, als alle beweglichen Gegenstände wieder zu verstauen und dann auf der Koje zu sitzen und den Sturm abzuwarten. Aber der ließ nicht so schnell nach. Die Stunden vergingen, und Fidelma hatte das Gefühl, daß sich das Wetter eher noch verschlimmerte.

Einmal erhob sie sich von der Koje und tastete sich zum Fenster hin. Sie schaute auf das Deck, sah aber nichts. Es herrschte pechschwarze Finsternis, und der Regen - oder war es Gischt? - stürzte in Güssen über das Schiff. Es schien fast, als stünde die »Ringelgans« völlig unter Wasser. Während sie nach draußen starrte, schleuderte der Wind Seewasser von den Wogenkämmen über das Schiff; es fuhr ihr in Gesicht und Augen und durchnäßte sie.

Sie kehrte zu ihrer Koje zurück.

Durch den Lärm von Wind und Wellen hörte sie ein seltsames Stöhnen. Es schien von den Seitenplanken ihrer Kajüte zu kommen. Ohne Warnung schoß plötzlich ein Strom Seewasser schäumend und gurgelnd durch die Planken.

Einen Moment starrte Fidelma entsetzt auf das Wasser und das zersplitterte Holz, dann langte sie eine Decke von ihrer Koje und stopfte sie verzweifelt in den Riß. Sie spürte, wie das zerbrochene Holz unter ihren Händen arbeitete. Alles wurde naß - ihre Kleidung, die Strohmatratze, die Decken. Das Seewasser war so kalt, daß ihr die Zähne klapperten.

Sie versuchte zu rufen, aber Wind und See übertönten ihre Stimme. Sie wußte nicht, wie lange sie dort blieb und betete, das Holz möge nicht weiter reißen. Ihr schienen es Stunden, und ihre Hände wurden gefühllos vor Kälte.

Schließlich merkte sie, daß die Kajütentür in ihrem Rücken sich geöffnet und geschlossen hatte. Sie blickte über die Schulter zurück und sah, daß Wenbrit, ebenso naß, mit einem Eimer und anderen Dingen in der Hand hereingetaumelt war.

»Ist es schlimm?« schrie er ihr ins Ohr.

»Sehr schlimm!« schrie sie zurück.

Der Junge setzte den Eimer und die anderen Gegenstände ab, zog die Decke weg und prüfte den Schaden.

»Die See hat Planken des Rumpfes zerbrochen«, rief er ihr zu. »Ich verstärke und kalfatere sie, so gut ich kann. Eine Weile sollte das halten.«

Er hatte ein paar Stücke Holz unter dem Arm und nagelte sie über die beschädigte Stelle. Dann stopfte er sie mit durchtränkten Haselstrauchblättern aus. Das Einströmen des Seewassers verminderte sich zu einem winzigen Rinnsal.

»Dabei muß es bleiben, bis der Sturm vorüber ist!« Wenbrit mußte wieder schreien, um sich verständlich zu machen. »Ich fürchte, bis dahin sind wir alle naß. Die Brecher gehen über das Schiff, und alle sind durchweicht.«

Eine Stunde später gab Fidelma ihrer Erschöpfung nach und versuchte auf dem nassen Stroh einzuschlafen. Sie hörte noch ein lautes »Miau!« und begriff, daß Mäuseherr die ganze Zeit voller Angst unter der Koje gehockt hatte. Schläfrig lockte sie ihn und spürte, daß er zu ihr auf die Koje sprang. Mit tiefem, zufriedenem Schnurren rollte sich sein warmer Körper auf ihrer Brust zusammen. Sie empfand ihn als wohlig und tröstend auf ihrer nassen Kleidung, und schließlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

Der Schmerz durchzuckte sie jäh.

Die feinen Nadeln bohrten sich ihr peinigend in die Brust. Dann ertönte ein gräßlicher, fast menschlicher Schrei, der Fidelma an die bean sidhe erinnerte, an die Totenfee, deren schrille, klagende Schreie einen bevorstehenden Todesfall ankündigen. Erst nach einem Moment merkte Fidelma, daß Mäuseherr mit gebogenem Rücken und gesträubtem Fell auf ihrer Brust stand und seine Krallen tief in ihr Fleisch schlug. Er stieß durchdringende Schreie aus. Dann sprang er von der Koje.

Vor Schmerz fuhr Fidelma mit einem Satz hoch.

Sie erspähte eine Gestalt an der Tür, eine schlanke Gestalt, die sich nur für einen Moment abzeichnete. Dann schlug die Kajütentür zu. Das Schiff holte über, und Fidelma verlor das Gleichgewicht. Sie landete auf den Knien. Ein dunkler Schatten, sicherlich der Kater, schoß unter die Koje. Sie hörte sein schreckliches Jaulen. Dann packte sie die Tür und riß sie auf.

Es war niemand da. Die Gestalt war verschwunden. Sie hielt sich mit einer Hand fest, schloß die Tür und blickte sich um. Was war da los gewesen?

Der Kater hatte aufgehört zu schreien. Es war dunkel, aber sie hatte das Gefühl, der Morgen könne nicht mehr weit sein. Das Schiff stampfte und rollte. Sie taumelte zurück zur Koje und setzte sich darauf.

»Mäuseherr?« rief sie schmeichelnd. »Was ist denn mit dir?«

Der Kater antwortete nicht. Sie wußte, daß er da war, denn sie hörte seine Bewegungen und seinen seltsam rasselnden Atem. Ihr wurde klar, daß sie erst bei Tageslicht herausfinden konnte, was ihm fehlte. Sie saß auf der Koje und konnte nicht schlafen, sah, wie sich der Himmel aufhellte, ohne daß der Sturm nachließ. Als sie meinte, nun sei es hell genug, ließ sie sich auf die Knie nieder und spähte unter die Koje.

Mäuseherr spuckte und schlug mit der Pfote nach ihr, die Krallen ausgefahren. So hatte er sich noch nie zu ihr benommen.

Sie hörte die Tür gehen und fuhr herum. Wenbrit trat ein mit einem zugedeckten kleinen Ledereimer.

»Ich hab dir ein bißchen corma und Zwieback gebracht, Lady«, sagte er und wunderte sich, was sie auf den Knien suchte. »Mahlzeiten gibt es heute nicht. Mehr kann ich nicht bieten. Der Sturm wird erst heute abend nachlassen.«

»Mit Mäuseherr ist irgend etwas nicht in Ordnung«, erklärte Fidelma. »Er läßt mich nicht an sich heran.«

Wenbrit stellte seinen Eimer ab und kniete sich neben ihr hin. Dann zeigte er auf ihre Kutte.

»Du hast da Blut auf deiner Kutte, Lady.«

Fidelma befühlte die klebrige Masse auf ihrer Brust.

»Ich sehe keine Kratzer«, meinte Wenbrit. »Wenn Mäuseherr dich gekratzt hätte ...«

»Kannst du den Kater unter der Koje hervorholen? Ich glaube, er ist verletzt«, unterbrach sie ihn. Sie merkte, daß das Blut nicht von den Stellen kommen konnte, an denen sich der Kater nachts in seiner Angst festgekrallt hatte.

Wenbrit brauchte einige Zeit, bis er den Kater schließlich zu greifen vermochte. Er hielt ihm die Vorderbeine zusammen, damit er nicht kratzen konnte. Mit sanften, beruhigenden Lauten holte er Mäuseherr endlich unter der Koje hervor und legte ihn auf das Bettzeug. Offenbar hatte das Tier Schmerzen.

»Er hat einen Schnitt.« Der Junge wunderte sich, als er den Kater untersuchte. »Einen tiefen Schnitt sogar. Seine Hinterhand blutet noch. Was ist denn passiert?«

Mäuseherr beruhigte sich, als er merkte, daß man ihm nichts Böses antun wollte.

»Ich weiß es nicht ... ach so!«

Noch während sie sprach, wurde Fidelma klar, was die Schmerzen in der Nacht bedeutet hatten, von denen sie geweckt wurde. Sie beugte sich über den Strohsack und fand sofort, was sie suchte. Es war das Messer, das Schwester Crella ihr gegeben und von dem sie behauptet hatte, Bruder Guss hätte es unter ihrer Koje versteckt. Es war blutverschmiert, mit Mäuseherrs Blut. Fidelma schimpfte sich einen Trottel. Sie hatte das Messer aus Crellas Kajüte mitgebracht und in ihren Beutel getan, und noch vor Toca Nias Tod war es daraus verschwunden.

Wenbrit war mit der Untersuchung des Katers fertig.

»Ich muß Mäuseherr mit nach unten nehmen, damit ich ihn waschen und die Wunde nähen kann. Ich glaube, jemand hat ihn in die Hinterhand gestochen. Armer Kater. Er hat versucht, die Wunde zu lecken.«

Fidelma sah Mäuseherr mitfühlend an. Wenbrit schmuste mit dem Kater, der sich von ihm unterm Kinn streicheln ließ. Er fing an, leise zu schnurren.

»Wie kam es dazu, Lady?« fragte Wenbrit erneut.

»Ich glaube, Mäuseherr hat mir das Leben gerettet«, erklärte sie ihm. »Ich schlief, und er lag zusammengerollt auf meiner Brust. Jemand kam an meine Kajütentür. Vielleicht sprang Mäuseherr auf, als der Mörder eintrat. Den Kater hat er offensichtlich nicht gesehen. Ich hatte Glück, denn er kam nicht nahe genug heran, um mich zu erstechen. Er warf das Messer. Ob der Kater es abgelenkt hat, weiß ich nicht, aber das arme Tier bekam es in die Flanke. Die Reaktion des Katers weckte mich und verscheuchte den Angreifer.«

»Hast du die Person erkannt?« fragte Wenbrit.

»Leider nicht. Dazu war es zu dunkel.« Fidelma erschauerte, als ihr bewußt wurde, wie nahe sie zum zweitenmal dem Tode gewesen war. Dann riß sie sich zusammen.

»Kümmere dich um Mäuseherr, Wenbrit. Tu dein Bestes. Er hat mir das Leben gerettet. Nicht mehr lange, dann werden wir mehr wissen. So Gott will, wird dieser Sturm bald nachlassen. Solange er tobt, kann ich mich nicht konzentrieren.«

Aber Gott wollte es nicht, der Sturm hielt noch einen vollen Tag an. Der ständige Lärm und das Schaukeln stumpften Fidelmas Sinne ab, ihr Schicksal wurde ihr beinahe gleichgültig. Sie wollte einfach nur schlafen, von dem unbarmherzigen Wüten des Wetters erlöst werden. Ab und zu legte sich das Schiff so weit über, daß Fidelma sich fragte, ob es sich überhaupt noch einmal aufrichten würde. Dann, nach einer scheinbaren Ewigkeit, wälzte sich die »Ringelgans« wieder herum, bis die nächste riesige Welle aus der Dunkelheit heranbrauste.

Manchmal meinte Fidelma, das Schiff müsse untergehen, so tief schien es im Seewasser versunken. Sie mußte um Atem ringen gegen das lungenzerreißende Salzwasser, das sie durchnäßte. Von dem ständigen Umherwerfen des Schiffes wurde ihr Körper grün und blau geschlagen.

Es war in der Morgendämmerung des nächsten Tages, als sie trübsinnig feststellte, daß der Wind weniger scharf zu wehen schien und das Schiff nicht mehr so heftig bockte. Sie verließ die Kajüte und schaute sich um. Am grauen Morgenhimmel jagten einzelne zerfetzte Sturmwolken niedrig dahin unter einer hohen Decke dünner weißer Wölkchen. Am Osthorizont tauchte sogar das blasse Rund der Sonne auf. Es war noch kein richtiger Morgen, aber er barg die Andeutung, daß der Tag besser werden könnte.

Zu ihrer Überraschung sah sie Murchad über das Hauptdeck auf sie zu kommen. Nach zwei Tagen mit schwerem Sturm, an denen er die meiste Zeit am Steuerruder gestanden hatte, machte er einen völlig erschöpften Eindruck.

»Bist du unversehrt, Lady?« fragte er. »Wenbrit hat mir erzählt, was passiert ist, und ich habe Gurvan beauftragt, dich zu bewachen, für den Fall, daß du noch einmal angegriffen wirst.«

»Mir ging’s schon mal besser«, gestand Fidelma. Dann erblickte sie Wenbrit, der auf dem Deck beschäftigt war. »Wie geht es Mäuseherr?«

Murchad lächelte.

»Er wird vielleicht ein bißchen hinken, aber Mäuse wird er noch jagen können. Wenbrit hat die Wunde genäht, und er wird es wohl gut überstehen. Du hast nicht gesehen, wer das Messer nach dir warf?«

»Dazu war es zu dunkel.« Sie wechselte das Thema. »Haben wir den Sturm hinter uns?«

»Jedenfalls das Schlimmste, meine ich«, antwortete er. »Der Wind hat auf Süd gedreht, und das macht es uns leichter, das Großsegel wieder zu setzen und unseren ursprünglichen Kurs zu halten. Wenn diese Fahrt erst einmal zu Ende ist, werde ich froh sein. Ich freue mich schon darauf, in den Armen Aoifes zu liegen.«

»Aoife?«

»Meine Frau heißt Aoife«, lächelte Murchad. »Sogar Seeleute haben Frauen.«

Plötzlich kamen Fidelma Zeilen aus einem alten Lied in den Sinn.

»Du liebtest uns einst, deine Liebe versank
Im Abgrund des Hasses. Von Bitterkeit krank,
Warfst weg du die Liebe, das sanfte Gefühl,
Und nun ist die Rache dein einziges Ziel!«

Murchad sah sie fragend an.

»Ich dachte gerade an die eifersüchtige Gier von Aoife, der Frau des Meergottes Lir, und wie sie alle vernichtete, die ihn liebten.«

Der Kapitän schnaufte geringschätzig.

»Meine Aoife ist eine wunderbare Frau«, erklärte er abweisend.

Fidelma lächelte rasch.

»Es tut mir leid. Es war lediglich der Name, der mich auf einen Gedanken brachte. Ich wollte keineswegs etwas gegen deine Frau sagen - aber ihr Name hat in mir eine Erinnerung wachgerufen.«

Wie lautete der Bibelvers, den Muirgel zitiert hatte, als sie Guss sagte, sie wüßte, warum sie das nächste Opfer werden könnte?

». Eifersucht fest wie die Hölle.
Ihre Glut ist feurig
Und eine Flamme des Herrn.«

Sie blickte hinaus auf die See. Sie trug immer noch Schaumkämme, ging aber nicht mehr so hoch, und die großen Wellen wurden kleiner und weniger häufig. Endlich paßte alles zusammen! Sie lächelte zufrieden und wandte sich dem müden Murchad zu.

»Entschuldigung, Kapitän«, sagte sie. »Ich war mit den Gedanken woanders.«

Erst jetzt bemerkte Fidelma die Schäden, die der Sturm auf dem Schiff angerichtet hatte. Auf dem Deck lagen zersplitterte Rahen herum, das Wasserfaß war zu Bruch gegangen, und Taue und Takel hingen wirr durcheinander. Matrosen waren anscheinend vor Erschöpfung umgefallen, wo sie gerade standen.

»Ist jemand verletzt?« fragte Fidelma beim Anblick dieser Trümmer.

»Ein paar von meinen Leuten haben Kratzer abbekommen«, gab Murchad zu.

»Und die anderen Passagiere?«

Murchad schüttelte den Kopf.

»Denen wurde kein Haar gekrümmt, Lady - diesmal. «

Fidelma erschien es wie ein Wunder, daß das kleine Schiff zwei Tage lang von der wilden See derartig umhergeschleudert worden war und dennoch niemand verletzt wurde.

»Morgen oder übermorgen werden wir die iberische Küste in Sicht bekommen, Lady«, sagte er ruhig. »Und wenn ich gut navigiert habe, sind wir bald danach im Hafen. Von dort ist es nicht mehr weit über Land zum heiligen Schrein.«

»Ich werde froh sein, wenn ich der Enge deines Schiffes entronnen bin, Murchad«, gestand Fidelma.

Der Kapitän warf ihr einen trüben Blick zu.

»Was ich damit meinte, Lady, ist etwas anderes: Sobald wir den Hafen erreichen, haben wir keine Gelegenheit mehr, den Mörder von Muirgel oder Toca Nia vor Gericht zu bringen. Das wäre sehr schlecht. Die Geschichte würde dieses Schiff verfolgen wie ein Gespenst, sie würde wie ein Fluch auf ihm liegen. Meine Matrosen nennen diese Fahrt schon die Reise der Verdammten.«

»Das Rätsel wird gelöst, Murchad«, versicherte ihm Fidelma zuversichtlich. »Der Name deiner lieben Frau hat meine Überlegungen zum Abschluß gebracht, oder vielmehr, er hat mir einige Dinge deutlich werden lassen.«

Er starrte sie verständnislos an.

»Der Name meiner Frau? Aoifes Name hat dir gesagt, wer für die Morde verantwortlich ist?«

»Ich glaube, wir können den Schuldigen jetzt benennen«, erwiderte sie optimistisch. »Aber wir werden damit warten, bis alle Pilger zum Mittagessen versammelt sind. Dann werden wir alles mit ihnen besprechen. Ich möchte, daß du und Gurvan und Wen-brit auch dabei sind. Vielleicht brauche ich tatkräftige Hilfe«, fügte sie hinzu.

Sie lächelte über seine verwirrte Miene und legte ihm freundlich die Hand auf den Arm.

»Mach dir keine Sorgen, Murchad. Heute nachmittag weißt du, wer all diese schrecklichen Verbrechen auf dem Gewissen hat.«

Kapitel 21

Sie hatten sich versammelt, wie Fidelma es gewünscht hatte, und saßen zu beiden Seiten des langen Tisches in der Mittelkajüte. Murchad lehnte am Mastfuß, Gurvan saß etwas unbequem an einer Seite und Wen-brit mit baumelnden Beinen auf dem Tisch, auf dem er sonst das Essen zubereitete. Er verfolgte das Verfahren mit Interesse. Fidelma saß zurückgelehnt auf ihrem Stuhl am Kopfende des Tisches. Alle schauten sie erwartungsvoll an.

»Man hat mir nachgesagt«, begann sie gelassen, »daß ich jemand sei, der alles durch eine Art von Instinkt weiß. Ich kann euch versichern, das stimmt nicht. Als dalaigh stelle ich Fragen und höre zu. Manchmal erfahre ich durch das, was die Leute in ihren Antworten weglassen, mehr als durch das, was sie wirklich sagen. Aber ich brauche Informationen. Ich brauche Tatsachen oder auch Fragen, über die ich nachdenken kann. Ich prüfe lediglich diese Beweise und erwäge diese Fragen, und nur dadurch kann ich zu Schlußfolgerungen kommen.

Nein, weder verfüge ich über ein geheimes Wissen, noch bin ich eine Prophetin, die die Lösung eines Rätsels ohne Kenntnisse erahnt. Die Kunst der Ermittlung ist den Spielen fidchell oder brandubh vergleichbar. Alles muß offen auf dem Brett liegen, damit man die Lösung des Problems suchen kann. Das Auge muß sehen, das Ohr muß hören, der Verstand muß arbeiten. Instinkte können lügen oder in die Irre führen. Deshalb sind Instinkte nicht unfehlbar, wenn es darum geht, die Wahrheit zu ergründen, obwohl sie manchmal gute Führer sein können.«

Sie hielt inne. Es herrschte Schweigen. Alle blickten sie gebannt an wie Kaninchen einen Fuchs.

»Mein Mentor, der Brehon Morann, warnte uns Studenten immer vor dem Offensichtlichen, weil das Offensichtliche manchmal täuscht. Davon bin ich ausgegangen, bis ich merkte, daß das Offensichtliche des öfteren deswegen so offensichtlich ist, weil es die Wirklichkeit ist.

Wenn dir jemand begegnet, der mit stierem Blick, wirrem Haar und verzerrtem Gesicht die Straße entlangrennt, schreiend und mit Schaum vor dem Mund, ein blutiges Messer in der Hand und Blut auf seiner Kleidung, wofür würdest du ihn halten? Es könnte sein, daß er das Gesicht verzerrt und schreit, weil er sich verletzt hat, daß er ein blutiges Messer in der Hand hält, weil er gerade Fleisch zum Essen geschnitten und sich dabei mit Blut bespritzt hat. Es gibt viele mögliche Erklärungen, aber die offensichtliche lautet, er ist ein mordender Irrer, der auf alle losstürmt, die ihm oder ihr nicht aus dem Wege gehen. Und manchmal ist die offensichtliche Erklärung auch die richtige.«

Wieder hielt sie inne, aber es kamen keine Bemerkungen.

»Ich fürchte, ich habe lange auf das Offensichtliche gestarrt und es nicht als die Wahrheit erkennen wollen.

Als ich alles zurückverfolgte, gab es eine Person, mit der sämtliche Ereignisse in Verbindung standen, einen gemeinsamen Faktor, an dem auf keine Weise vorbeizukommen war. Cian war der gemeinsame Faktor.«

Cian erhob sich mühsam, das Schwanken des Schiffes warf ihn gegen den Tisch, und er rettete sich vor dem Fall, indem er sich mit einer Hand daran festhielt.

Gurvan war aufgestanden und hinter ihn getreten, und nun legte er ihm seine gesunde Hand auf die Schulter.

Cian schüttelte sie zornig ab.

»Du gemeines Biest! Ich bin kein Mörder! Nur aus deiner miesen Eifersucht klagst du mich an. Bloß weil ich dich nicht wollte .«

»Setz dich hin und sei still, sonst lasse ich dich von Gurvan bändigen!«

Fidelmas eisiger Ton beendete seinen Ausbruch. Trotzig blieb Cian stehen, und sie mußte es wiederholen.

»Setz dich hin und schweig, habe ich gesagt! Ich bin noch nicht fertig.«

Bruder Tola schaute Fidelma mißbilligend an.

»Cum tacent clamant«, murmelte er. »Wenn du ihm nicht erlaubst zu sprechen, wird ihn doch sein Schweigen verurteilen?«

»Er kann sprechen, wenn ich fertig bin und wenn er weiß, worüber er zu reden hat«, versicherte ihm Fidelma kühl. »Es ist besser, man spricht wissend als unwissend.« Sie wandte sich wieder an alle. »Wie ich schon sagte, als ich erst einmal erkannt hatte, daß Cian der gemeinsame Faktor bei allen diesen Morden war, wurde mir der Zusammenhang zwischen ihnen klar.« Sie hob die Hand, um einen neuen Ausbruch Cians abzuwehren. »Ich habe nicht gesagt, daß Cian der Mörder ist, merkt euch das. Ich habe bisher nur gesagt, daß er den gemeinsamen Faktor bildete.«

Cian war jetzt offensichtlich ebenso ratlos wie alle anderen. Er sank auf seinen Stuhl zurück.

»Wenn du mich nicht des Mordes beschuldigst, wessen klagst du mich dann an?« murrte er.

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Es gibt viele Dinge, die man dir anlasten kann, Ci-an, aber in diesem besonderen Fall gehört Mord nicht dazu. Ob du der Schlächter von Rath Bile bist oder nicht, das geht mich nichts mehr an. Diese Anschuldigung ist mit Toca Nia gestorben.«

Sie betrachtete ihre Zuhörer, die immer noch wie gebannt dasaßen und darauf warteten, daß sie fortfuhr. Sie schaute einem nach dem anderen ins Gesicht. Cian starrte sie trotzig an. Bruder Tola und Schwester Ainder hatten eine leicht höhnische, spöttische Miene aufgesetzt. Schwester Crella und Schwester Gorman hielten die Köpfe gesenkt. Bruder Bairne machte den Eindruck eines gehetzten Tieres, seine Augen fuhren hin und her, als suche er einen Fluchtweg. Bruder Dathal hatte sich leicht vorgebeugt und erwiderte ihren Blick fast mit Begeisterung, als warte er freudig erregt auf ihre Enthüllungen. Sein Gefährte, Bruder Adamrae, starrte auf den Tisch und trommelte lautlos mit den Fingern, als ob ihn das ganze Verfahren langweile.

»Ich brauche euch natürlich nicht erst zu sagen, daß ein gefährlicher Mörder unter uns sitzt.«

»Das ist logisch«, nickte Bruder Dathal eifrig. »Aber wenn es nicht Bruder Cian ist, wer ist es dann? Und warum nennst du ihn den gemeinsamen Faktor?«

»Den Mörder kennt ihr, seit ihr im Norden zu dieser Pilgerfahrt aufgebrochen seid«, fuhr sie fort, ohne auf seine Worte einzugehen. »Sein erstes Opfer war Schwester Canair.«

Schwester Ainder stieß heftig den Atem aus.

»Woher willst du das wissen?« fragte sie. »Schwester Canair erschien einfach nicht, als die Gezeiten das Schiff zum Auslaufen zwangen. Wieso glaubst du, daß sie ermordet wurde?«

Beistimmendes Gemurmel erhob sich.

»Weil ich mit jemandem gesprochen habe, der ihre Leiche sah. Bruder Guss hat sie gesehen und Schwester Muirgel auch.«

Cian lachte höhnisch auf.

»Sehr bequem, was, denn Muirgel und Guss sind beide tot und können deine Behauptung nicht beweisen.«

»Sehr bequem«, pflichtete ihm Fidelma bei. »Muirgel wurde ebenfalls ermordet, während Guss ...« Sie zuckte die Achseln. »Na, wir wissen alle, was mit ihm geschah. Er fiel über Bord, weil er von der Furcht getrieben wurde.«

Alle Blicke richteten sich auf Schwester Crella.

»Es gab nur eine Person, vor der Guss aus Angst zurückwich«, bemerkte Bruder Dathal.

Schwester Crella saß starr da wie ein erschrockenes Kaninchen. Sie war totenblaß und konnte nur ablehnend den Kopf schütteln.

»Schwester Crella?« Bruder Tola nickte nachdenklich. »Das ergibt wohl einen Sinn. Es hieß, sie sei eifersüchtig auf Muirgel.«

»Bruder Guss hat mir erklärt, er sei überzeugt, daß Crella diejenige war, die Muirgel umbrachte«, schaltete sich Cian ein, froh darüber, daß anscheinend nicht mehr er verdächtigt wurde.

»Eifersucht? Wollust!« höhnte Schwester Ainder. »Die größte Sünde von allen.«

Schwester Crella brach in leises Weinen aus. Fidelma meinte die Sache klarstellen zu müssen.

»Schwester Crella war nur die ungewollte Ursache für den Tod von Bruder Guss«, erklärte sie. »Unglücklicherweise hegte Bruder Guss einen unerschütterlichen Glauben an Crellas Schuld. Er war jung und ängstlich - und vergeßt nicht, er hatte gesehen, was der Mörder sowohl Canair als auch Muirgel angetan hatte. Er fürchtete für sein Leben, und diese Furcht raubte ihm den Verstand. Als Crella auf ihn zu kam, dachte er, sie wolle ihn erstechen, und er wich aus Angst zurück und fiel über Bord. Sein Tod wurde nicht von Crella verursacht, sondern von der Person, die ihm solche Todesfurcht eingejagt hatte.«

Wieder trat ein langes Schweigen ein. Schwester Crella schaute Fidelma unter Tränen an. Sie verstand nicht recht, was sie gesagt hatte, begriff nur, daß Fidelma sie nicht beschuldigte.

»Treibst du ein Spiel mit uns, Schwester?« fragte Schwester Ainder zornig. »In einem Atemzug beschuldigst du jemanden und im nächsten sprichst du ihn frei. Was soll denn das heißen? Kannst du uns nicht einfach sagen, welches Motiv es für diese Morde gab und wer der Täter war?«

Fidelma sprach so gelassen weiter, als rede sie über das Wetter.

»Du selbst hast mir das Motiv genannt.«

Schwester Ainder war verblüfft.

»Wie?«

»Du hast es gesagt - es war eine der sieben Todsünden, die Sünde der Unkeuschheit.« Fidelma schwieg und ließ ihre Worte auf die Zuhörer wirken, ehe sie fortfuhr. »Bei jeder Ermittlung muß man von der Frage ausgehen, die Cicero einmal einem römischen Richter gestellt hat: Cui bono? Wem nutzt es? Welches ist das Motiv?«

»Du meinst also, das Motiv war Unkeuschheit?« unterbrach Bruder Tola voller Geringschätzung. »Was hat denn der Tod des Kriegers aus Laigin, Toca Nia, mit Unkeuschheit zu tun? Oder behandelst du diesen Mord getrennt? Mir erscheint es offenkundig, daß er wegen seiner Beschuldigungen gegen Cian getötet wurde. Von seinem Tod hatte nur Cian einen Nutzen.«

Es war klar, daß er und Cian alles andere als Freunde waren.

»Du hast recht«, stimmte ihm Fidelma ruhig zu. »Toca Nia wurde getötet, um Cian zu schützen.«

Cian wollte wieder aufstehen, doch Gurvan drückte ihn auf seinen Platz zurück.

»Also beschuldigst du mich am Ende doch?« fragte er verbittert. »Ich habe nicht .«

»Du hast ihn nicht umgebracht?« unterbrach ihn Fidelma in mildem Ton. »Nein, das hast du nicht. Ich habe gesagt, er wurde getötet, um dich zu schützen; ich habe nicht gesagt, er wurde von dir getötet. Doch das Motiv für den Mord an Toca Nia war dasselbe wie für die Morde an Canair und Muirgel und die beide Versuche, mich zu ermorden.«

»Zwei?« forschte Bruder Dathal. »Jemand hat zweimal versucht, dich zu töten?«

»O ja«, nickte Fidelma. »Der zweite Versuch wurde letzte Nacht in meiner Kajüte während des Sturms unternommen. Ich verdanke mein Leben einem Kater.« Weitere Erklärungen gab sie nicht dazu. Dafür war später noch Zeit.

»Also gibt es nur einen Mörder und ein Motiv? Das meinst du damit?« fragte Murchad, der ihrer Logik zu folgen versuchte.

»Und dieses Motiv ist die Unkeuschheit«, bestätigte sie. »Oder vielleicht sollte ich lieber sagen, der Glaube an eine Liebe zu Cian, der so stark war, daß er jede Vernunft austrieb und nur noch die Besessenheit hinterließ, ihn zu beschützen und alle zu beseitigen, die nach seiner Liebe strebten.«

Bleich und zitternd lehnte sich Cian zurück.

»Ich verstehe nicht, was du damit meinst.«

»Hätte Toca Nia dir geschadet, dann wärst du für die Person, die dich für sich haben wollte, nicht mehr erreichbar gewesen.«

»Das verstehe ich immer noch nicht.«

»Dabei ist es ganz einfach. Ich sagte, du warst der gemeinsame Faktor. Warst du nicht zu verschiedenen Zeiten der Geliebte sowohl von Canair wie von Muirgel?«

Cian blieb verstockt.

»Das leugne ich nicht«, antwortete er knapp.

»Es gab noch mehrere andere, deren Zuneigung du mit deinem unersättlichen Appetit auf junge Frauen errungen hast. Wolltest du dich damit für das entschädigen, was Una dir angetan hatte?« Diesen boshaften Stich konnte sie sich nicht versagen.

»Una hat damit nichts zu tun«, schwor Cian.

Schwester Gorman beugte sich gespannt vor.

»Wer ist Una? Wir hatten keine Schwester Una in Moville.«

»Una war Cians Ehefrau. Sie ließ sich von ihm scheiden mit der Begründung, er sei steril«, sagte Fidelma mit einem unversöhnlichen Lächeln. »Vielleicht wollte Cian diese herabwürdigende Erfahrung dadurch wettmachen, daß er sich so viele junge Geliebte wie möglich suchte.«

Cians Gesicht verzerrte sich vor Zorn.

»Du ...« setzte er an.

»Eine dieser Geliebten konnte die Vorstellung, daß du noch andere hättest, nicht ertragen«, schnitt ihm Fidelma das Wort ab. »Anders als die meisten deiner Geliebten war diese Person geistesgestört, man könnte auch sagen, wahnsinnig vor Eifersucht. Du hast nie begriffen, was für einen Hexenkessel von Eifersucht und Haß du da aufgerührt hast. Was für ein Glück für dich, Cian, daß sich dieser Haß nicht gegen dich richtete, sondern gegen deine anderen Geliebten.«

Als hätte sie Eiswasser auf seinen Zorn gegossen, so plötzlich wurde Cian still. Er saß mit halbgeöffnetem Mund da und versuchte rasch zu überdenken, was sie gesagt hatte.

Bruder Tola beugte sich zu ihr herüber.

»Wenn ich dich richtig verstanden habe, wurde To-ca Nia umgebracht, weil er eine Bedrohung für Cian war, und diese Person, irrsinnig entschlossen, Cian zu schützen, sah in ihm nur die Bedrohung, die ebenso beseitigt werden mußte wie seine anderen Geliebten.«

»Die Person wollte Cian für sich allein«, bestätigte Fidelma.

»Abgesehen von Crella gab es niemand, mit der ich eine Affäre hatte«, stellte Cian fest, »außer ...« Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Fidelma mißtrauisch an, Furcht trat in seinen Blick.

Fidelma lachte spöttisch auf, als sie begriff, was in seinem Kopf vorging. Daß er sie beschuldigte, war einfach grotesk, aber es folgte aus seiner natürlichen Arroganz, daß er tatsächlich glaubte, sie hege nach all diesen Jahren noch so ein starkes Gefühl für ihn.

»Ich muß gestehen, als ich achtzehn Jahre alt war, hätte ich vielleicht auch das Opfer eines solchen Wahnsinns werden können«, gab sie vor allen zu. »Jugend verstärkt die Gefühle, und manchmal fehlt uns die Reife, sie zu beherrschen. Ja, auch in diesem Fall müssen wir die mangelnde Charakterfestigkeit der Jugend in Betracht ziehen. Aber du täuschst dich, Cian, wenn du glaubst, du hättest noch die Fähigkeit, solche Gefühle in mir zu wecken. Du erregst nicht einmal mein Mitgefühl.«

Bruder Dathal fragte wie ein eifriger Spürhund: »Aber du bist doch sicher nicht die Geliebte Cians gewesen, Schwester?«

Fidelma verzog resignierend das Gesicht.

»O ja. Vor zehn Jahren, als ich eine junge Studentin an der Hochschule des Brehons Morann in Tara war, bin auch ich dem Zauber Cians erlegen.« Sie schaute Cian nachdenklich an. »Es war eine unreife jugendliche Affäre auf beiden Seiten«, fügte sie mit einer Böswilligkeit hinzu, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte. »Ich bin erwachsen geworden, Cian nicht.«

»Aber wie konnte diese wahnsinnige Geliebte das wissen?« fragte Bruder Dathal gespannt. »Wenn eure Affäre zehn Jahre zurückliegt, war das weit vor der Zeit, als Cian in die Abtei Bangor eintrat, und zweifellos lange bevor einer von uns ihn kannte.«

Fidelma warf ihm einen anerkennenden Blick zu.

»Du hast eine gute Frage gestellt, Bruder Dathal. Als ich an Bord kam, habt ihr alle erfahren, daß ich Cian schon kannte. Eine Person interessierte sich sehr dafür. Dieselbe Person hörte mit an, wie Cian und ich uns über unsere traurige kleine Affäre unterhielten.«

Sie wandte sich plötzlich an Cian.

»Sicherlich kannst du dir jetzt alles selbst zusammenreimen. Mir gegenüber hast du zugegeben, daß du Liebschaften mit Canair, Muirgel und Crella hattest.«

Noch bevor sie ausgeredet hatte, war Bruder Bairne von seinem Platz Cian gegenüber aufgesprungen und hatte sich über den Tisch geworfen. Er zückte ein Messer.

»Schweinehund!« schrie er, fuhr Cian an die Kehle und hob die Waffe.

Gurvan beugte sich vor, packte Bairnes Waffenhand mit eisernem Griff und bog ihm den Arm schmerzhaft nach hinten. Bruder Bairne schrie auf und ließ das Messer auf den Tisch fallen. Bruder Tola hob es geistesgegenwärtig auf und reichte es Murchad.

Bruder Bairne war kein Gegner für den stämmigen und muskulösen Bretonen. Während Cian sich aus dem Weg bog, zog Gurvan den vor Aufregung puterroten jungen Mann über den Tisch und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Der junge Mönch erschlaffte, aller Kampfgeist schien von ihm gewichen.

Fidelma sah ihn strafend an.

»Das war ausgesprochen dumm von dir, Bruder Bairne, nicht wahr?«

»Ich hasse ihn!« jammerte der junge Mann.

»Du haßt ihn und verlangst nach ihm?« Schwester Ainder war entsetzt. »Das verstehe ich nicht!«

»Bruder Bairne, erkläre uns, warum du Cian haßt«, forderte Fidelma ihn geduldig auf.

»Ich hasse Cian, weil er mir Muirgel weggenommen hat.«

Cian lachte rauh.

»Wahnsinn! Muirgel gehörte dir nie, also konnte ich sie dir auch nicht wegnehmen, du dummer Junge!«

»Schweinehund!« rief Bairne wieder, aber Gurvan hielt ihn fest in seinem Griff.

Schwester Crella hatte wieder etwas Mut gefaßt.

»Cian sagt die Wahrheit. Muirgel wollte nichts mit Bairne zu tun haben. Sie hielt ihn für verschroben, für einen weichlichen Träumer. Und mit Cian hatte sie wirklich eine Liebschaft.«

Cian nickte bestätigend.

»Aber Muirgel und ich hatten diese Beziehung schon beendet, kurz bevor wir von Moville aufbrachen. Muirgel hatte einen anderen Liebhaber gefunden, und ich hatte Canair. So einfach war das. Muirgel erzählte mir, daß sie, so unwahrscheinlich das klingt, sich in Guss verliebt hatte.«

»Guss?« Crella starrte ihn entgeistert an. »Stimmt das? Das kann doch nicht sein.« Sie hielt sich die Wange, als sie entsetzt merkte, was ihre Leugnung der Beziehung ihrer Freundin zu dem jungen Mann bedeutete.

»Es stimmt«, erklärte ihr Fidelma. »Muirgel liebte ihn wirklich, und nur wegen deiner Abneigung gegen Guss hast du das nicht glauben wollen. Das ließ mich eine Zeitlang einen Verdacht gegen Guss hegen, und zugleich hat deine Abneigung, die ihm als Eifersucht erschien, Guss annehmen lassen, daß du die Mörderin wärst - deswegen seine große Angst vor dir, durch die er dann über Bord gefallen ist.«

Bruder Tola schüttelte verwirrt den Kopf.

»Ich verstehe immer noch nicht, weshalb Bruder Bairne Toca Nia töten sollte, wenn er, wie du sagst, Cian haßt. Mit Toca Nias Auftauchen hätten sich doch Bairnes Träume erfüllt - dadurch konnte er ihn endlich loswerden?«

Fidelma wurde ungeduldig.

»Du hast mich falsch verstanden. Bairne hat niemanden getötet. Dazu ist er überhaupt nicht in der Lage. Ihr habt doch gesehen, was für einen schwächlichen Versuch er eben gemacht hat! Ich komme auf das zurück, was ich gesagt habe, bevor er diese Torheit beging. Ich habe vorhin festgestellt, Cian könne sich jetzt alles selbst zusammenreimen. Er hat seine Liebschaften mit Canair und Muirgel zugegeben. Er hat sogar eine kurze Affäre mit Crella eingestanden. Aber es gibt noch eine Person an Bord dieses Schiffes, mit der er eine Affäre hatte, die einzige, die unsere Auseinandersetzung über unsere Jugend mitangehört hat.«

Schwester Gorman war aufgestanden, denn schon breitete sich Entsetzen auf Cians Gesicht aus, als ihm die Erinnerung voll zum Bewußtsein kam. In ihrer Miene spiegelte sich nicht Schuld, sondern Trotz, und ihre Augen glänzten eigenartig. Angriffslustig schob sie das Kinn vor. Ihr Lachen klang etwas hysterisch, es war eher ein schrilles Kichern, das einem boshaften Triumph glich. Als Fidelma sie anschaute, fand sie sich in ihrer Vermutung bestätigt, daß Gorman wahnsinnig war.

Finster blickte das Mädchen in die Runde.

»Ich habe kein Verbrechen begangen«, sagte sie verächtlich. »Heißt es nicht im ersten Buch Mose:

>Ich habe einen Mann erschlagen für meine Wunde
Und einen Jüngling für meine Beule;
Kain soll siebenmal gerächt werden,
Aber ich siebenundsiebzigmal!<«

Fidelma verbesserte sie.

»Du zitierst aus dem Gesang von Lamech, dem Sohn von Methusael, dessen endloser Rachedurst durch Christi Wort verwandelt wurde. Weißt du, was Christus nach dem Evangelium des Matthäus zu Petrus sagte? >Da trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist’s genug siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.< Laß Lamechs Schatten mit seiner Rache sterben, Gorman.«

Das Mädchen fuhr wütend auf sie los.

»Spiel hier nicht die Neunmalkluge, du babylonische Hure! Dich hätte ich auch umgebracht, aber du bist mir zweimal entgangen. Doch deine Strafe bekommst du noch. >Und ich sah ein Weib sitzen auf einem schar-lachfarbnen Tier, das war voll Namen der Lästerung und hatte sieben Häupter und zehn Hörner. Und das Weib war bekleidet mit Purpur und Scharlach und übergoldet mit Gold und edlen Steinen und Perlen und hatte einen goldenen Becher in der Hand voll Greuel und Unsauberkeit ihrer Hurerei, und an ihrer Stirn geschrieben einen Namen, ein Geheimnis: Die große Babylon, die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden. Und ich sah das Weib trunken von dem Blut der Heiligen und von dem Blut der Zeugen Jesu.<«

»Das Mädchen phantasiert«, murmelte Schwester Ainder unsicher, stand auf und rückte von ihr weg.

Murchad sah Fidelma an, als frage er, was er tun solle.

Cian hatte sich entspannt und die Hände auf den Tisch gelegt. Er schaute das Mädchen mit völliger Gleichgültigkeit an.

»Na, Gott sei Dank ist die Angelegenheit geklärt«, sprach er allgemein in die Runde. »Dieser Irrsinn hat nichts mit mir zu tun. Ich bin für die Wahnsinnstaten dieses Mädchens nicht verantwortlich. Dominus illu-minatio ... Ich habe übrigens nur einmal mit ihr geschlafen.«

Mit funkelnden Augen fuhr Schwester Gorman zu ihm herum.

»Aber ich habe es doch für dich getan, für dich ... Verstehst du das nicht? Ich hab es getan, um dich zu retten! Damit wir beisammen sein konnten!«

Cian grinste.

»Für mich?« höhnte er. »Du bist verrückt. Wie kommst du auf die Idee, daß ich nach der einen Nacht noch etwas von dir wollte? Ihr Frauen macht immer aus allem einen ewigen Besitzanspruch.«

Schwester Gorman prallte zurück, als habe er ihr ins Gesicht geschlagen. Verwirrung trat in ihr Gesicht.

»Das kannst du doch nicht im Ernst meinen. In der Nacht hast du gesagt, du liebst mich.« Ihre Stimme wurde zu einem leisen Jammern.

Fidelma fühlte Mitleid mit der jungen Frau in sich aufsteigen, sie erinnerte sich an ihre eigene Jugend.

»Cian liebt nur Cian, Gorman«, sagte sie streng. »Er ist nicht fähig, jemand anderen zu lieben. Was dich angeht, Cian, so kannst du wohl behaupten, daß du für diese Greueltaten nicht verantwortlich bist, und im juristischen Sinne hast du recht. Aber das Gesetz ist nicht immer gleich mit der Gerechtigkeit. Die moralische Verantwortlichkeit, die du trägst, kannst du nicht leugnen. Für deine Selbstsucht, dein Ausnutzen der Gefühle anderer, insbesondere der Gefühle junger Frauen, bist du selbst verantwortlich. Darüber wirst du eines Tages Rechenschaft ablegen müssen, wenn nicht in nächster Zeit, dann in einem späteren Abschnitt deines Lebens.«

Cian errötete vor Ärger.

»Was ist falsch daran, daß man nach den Freuden des Lebens greift? Sollen wir alle römische Asketen werden und als Einsiedler in die Wüste gehen? Warum können wir nicht unser Leben genießen?«

In Bruder Tolas Gesicht spiegelte sich Zorn.

»Du sollst nicht töten, so lautet das Gebot unseres Herrn. Die Frau ist verurteilt, doch du, Cian, warst die Ursache ihres Wahnsinns und bist ebenso verurteilt.«

Cian wandte sich voller Verachtung zu ihm um.

»Nach welchem Gesetz? Zwing mir nicht deine engen Moralbegriffe auf. Sie gelten nicht für mich.«

Gorman stand mit hängenden Schultern da wie eine geprügelte Hündin; sie hatte die Arme um den Körper geschlungen, als finde sie darin Trost. Schluchzend wiegte sie sich auf den Fersen vor und zurück.

»Ich hab es für dich getan, Cian«, klagte sie leise. »Muirgel . Canair . selbst Toca Nia habe ich getötet, um dich vor seinen bösen Anschuldigungen zu schützen. Ich hätte sie auch getötet - Fidelma - und dann Crella. Die beiden wollten dir schaden. Du mußtest beschützt werden. Ohne sie hätten wir beisammen sein können. Sie störten unser Glück.«

Fidelma sprach sanft, fast freundlich mit ihr.

»Vielleicht erzählst du uns, wie du Schwester Ca-nair getötet hast. Einen Teil der Geschichte weiß ich von Guss, nun möchte ich den anderen Teil erfahren. Kannst du uns das erklären?«

Gorman kicherte. Der Laut ließ einen erschauern, denn es war das Kichern eines unschuldigen jungen Mädchens.

»Er liebte mich. Cian liebte mich - das weiß ich. >Ich will mich mit dir verloben in Ewigkeit; ich will mich mit dir vertrauen in Gerechtigkeit und Gericht, in Gnade und Barmherzigkeit. Ja, im Glauben will ich mich mit dir verloben ...<!«

Fidelma erinnerte sich dunkel an diesen Text. Sie meinte, er stamme aus dem Propheten Hosea. Es war schon oft aus Hosea zitiert worden.

»Selbst wenn er es jetzt leugnet, er liebte mich so, wie ich ihn liebte. Wir hätten geheiratet, wenn nicht . Wenn diese anderen ihn nicht mit ihrer Wollust umgarnt hätten und . und .«

Cian zuckte verlegen die Achseln.

»Sie ist offensichtlich irre«, murmelte er. »Ich will mit der Sache nichts zu tun haben.«

»Gorman!« Fidelma wandte sich wieder an das Mädchen. »Sag uns, was mit Canair geschah. Wann hast du sie getötet?«

Irgendwie holte Fidelmas lockender Ton Gorman aus der Dunkelheit zurück, in die sie hinabsinken wollte, und sie hatte wieder einige lichte Momente.

»In der Nacht, bevor wir ausliefen, tötete ich sie in der Herberge in Ardmore.«

Sie machte diese Aussage ganz kühl und emotionslos. Sie stand still und starrte Cian mit leerem Blick an.

»Und alles nur, weil Canair eine Liebschaft mit Cian hatte?« warf Bruder Tola ein.

Das Mädchen lächelte seltsam.

»Sie überredete ihn mit vielen Worten
Und gewann ihn mit ihrem glatten Munde.
Er folgte ihr alsbald nach,
Wie ein Ochse zur Fleischbank geführt wird,
Und wie zur Fessel, womit man die Narren züchtigt,
Bis sie ihm mit dem Pfeil die Leber spaltet;
Wie ein Vogel zum Strick eilt
Und weiß nicht, daß es ihm das Leben gilt.«

»Hör auf mit dem Quatsch!« rief Cian. »Ich habe genug von diesem unsinnigen Gerede.«

Schwester Ainder beugte sich vor und schalt ihn mit frostiger Miene.

»Die Sprüche Salomos sind kein Quatsch, Bruder Cian. Du bist nicht würdig, solche Worte zu hören, und nicht geeignet, die Kutte eines Mönchs zu tragen.«

»Denkst du denn, ich hätte jemals diese blöden Lumpen tragen wollen?« schoß Cian zurück.

»Was ich heute vernommen habe, ist einfach widerlich«, antwortete Schwester Ainder. »Zumindest werde ich dem Abt von Bangor einen ausführlichen Bericht erstatten. Wenn du in deine Abtei zurückkehrst, wirst du nach allen Regeln bestraft werden, dafür werde ich sorgen.«

»Wenn ich jemals nach Bangor zurückkehre«, spottete Cian.

Schwester Gorman redete inzwischen weiter, als ob ihre Umgebung nicht mehr existierte.

Fidelma beugte sich vor und sprach langsam und deutlich mit ihr.

»Warum hast du Schwester Canair getötet?« wollte sie wissen.

»Canair hat ihn verführt, hat ihn von mir weggelockt«, erwiderte sie unsicher. »Sie mußte sterben.«

Cian öffnete den Mund und wollte widersprechen, doch Fidelma winkte ihm zu schweigen und sprach wieder zu dem Mädchen.

»Wie ist es geschehen? Soviel ich weiß, hatte Canair eure Gruppe verlassen, bevor ihr in Ardmore ankamt. Ihr habt alle in der Abtei des heiligen Declan übernachtet. Du warst dabei, nicht wahr?«

»Ich hörte, wie Canair sich mit Cian verabredete, daß sie sich später in der Herberge treffen wollten.«

Fidelma schaute Cian an, der einfach die Achseln zuckte.

»Das stimmt«, gab er zu. »Canair sagte, sie würde nach Mitternacht in der Herberge sein, nachdem sie ihre Freundin besucht hatte. Das war der Hauptgrund, weshalb sie nicht zur Abtei mitkam. Sie suchte eine Freundin auf, die in der Nähe wohnte. Erst danach fiel uns ein, daß wir uns ja verabreden könnten.«

»Gingst du zur Herberge, Cian?«

Er schwieg.

»Hast du dich mit Canair getroffen?« wollte Fidelma wissen.

Cian nickte finster, als gäbe er das nicht gern zu.

»Was geschah dann?«

»Als ich zu der Herberge kam, waren noch mehrere Leute zugange. Ich war nicht sicher, ob Canair schon da war, und während ich noch draußen abwartete, sah ich Muirgel und Guss ankommen. So wie sie sich benahmen, glaubte ich, daß sie dieselbe Absicht hatten wie wir.« Cian rümpfte die Nase. »Mich ging das nichts an. Wie gesagt, meine Affäre mit Muirgel war schon lange vorbei.«

»Sprich weiter«, sagte Fidelma, als er verstummte.

»Ich wartete ab. Als es spät wurde und Canair nicht auftauchte, ging ich zurück zur Abtei. Das ist alles.«

Fidelma wartete gespannt.

Cian lehnte sich zurück und verschränkte die Arme zum Zeichen, daß er fertig sei.

»Du sagst, das ist alles?« fragte Fidelma etwas ungläubig.

»Ich ging zurück zur Abtei«, wiederholte Cian. »Was sollte ich denn sonst tun?«

»Du machtest dir keine Sorgen, weil Canair nicht zu der Verabredung erschienen war?«

»Sie war kein Kind mehr. Sie konnte selbst entscheiden, ob sie kommen wollte oder nicht.«

»Fandest du es nicht seltsam, daß Canair auch am nächsten Morgen nicht am Kai war, um an Bord zu gehen? Warum hast du nicht Alarm geschlagen?«

»Warum sollte ich denn Alarm schlagen?« verteidigte er sich. »Canair erschien nicht, weder zu der Verabredung noch am Kai. Was ging mich das an? Es war ihre Entscheidung. Ich hatte keine Ahnung, daß sie umgebracht worden war.«

»Aber .« Ausnahmsweise fehlten Fidelma die Worte für diese selbstische Haltung Cians.

»Überhaupt, bei wem sollte ich denn Alarm schlagen?« fügte er hinzu.

Fidelma wandte sich wieder an Gorman.

»Kannst du uns sagen, was in der Herberge geschah?«

Gorman schaute sie mit leerem Blick an.

»Ich war dort als die rechte Hand von Gottes Rache. Die Rache ist ...«

»Gingst du dort hin, um Canair zu töten?« unterbrach sie Fidelma hart.

»Canair kam zu der Herberge. Ich verbarg mich im Schatten. Sie stand eine Weile in der Tür und schaute sich um. Sie wartete auf Cian, aber der war schon zur Abtei zurückgekehrt. Ich sah, wie er wegging. Dann faßte Canair einen Entschluß und trat ins Haus. Ich hörte, wie sie sich in der Herberge erkundigte, ob jemand nach ihr gefragt oder ein Mönch ein Zimmer genommen habe. Sie erfuhr, daß ein Mönch und eine Nonne ein Zimmer bezogen hatten, aber als man sie ihr beschrieb, verlor sie das Interesse. Ich blieb im Schatten und lauschte. Schließlich mietete sie ein Zimmer und ging hinein. Ich stand im Hof und überlegte. Dann sah ich oben ein Licht. Canair schaute hinaus und hoffte, Cian würde noch auftauchen. Ich glitt zurück in den Schatten. Sie sah mich nicht.«

Plötzlich wurde Gorman lebendig, und mit der weiteren Erzählung nahm ihr Gesicht den Ausdruck boshafter Freude an.

»Ich wartete eine Weile, und als es in der Herberge ruhig wurde, schlich ich hinein. Es war ganz leicht.«

»Verflucht sei das Gesetz, das es Herbergs wirten verbietet, ihre Türen vor Reisenden abzuschließen«, murrte Schwester Ainder. »Es läßt uns ohne Schutz.«

Das Mädchen fuhr fort, ohne sie zu beachten.

»Ich ging hinauf in Canairs Zimmer. Die Hure schlief, und ich erstach sie. Dann schlich ich so leise hinaus, wie ich gekommen war.«

»Warum hast du ihr Kruzifix mitgenommen?« fragte Fidelma und hielt es ihr hin, wie es der sterbenden Muirgel aus der Hand gefallen war.

Gorman kicherte erneut.

»Es war ... so hübsch, einfach hübsch.«

»Dann kehrtest du zur Abtei zurück?«

»Am nächsten Morgen waren Muirgel und Guss in der Abtei und frühstückten, als wären sie nie fort gewesen. Na, Muirgel konnte ich später noch bestrafen. Das tat ich dann auch.«

»Das tatest du auch«, wiederholte Fidelma. »Also blieb Canairs Leiche wahrscheinlich unentdeckt in der Herberge, bis wir ausgelaufen waren?«

Ihre Bemerkung war nicht direkt an Gorman gerichtet, und es war Murchad, der darauf antwortete.

»So wird es sein«, meinte er und rieb sich den Nak-ken. »Ich kenne Colla, den Herbergswirt. Er hätte sofort Alarm geschlagen, wenn er die Leiche entdeckt hätte.«

»Muirgel und Guss waren im Nebenzimmer und hörten Canairs Todesstöhnen. Das hat mir Guss berichtet«, erklärte Fidelma. »Sie sahen ihre Leiche und beschlossen dummerweise, zur Abtei zurückzukehren und nichts zu sagen. Erst als Muirgel an Bord kam, fiel ihr auf, daß Gorman das Kruzifix Canairs trug. Muirgel reimte sich zusammen, weshalb Gorman Ca-nair umgebracht hatte, und ihr wurde klar, daß sie als nächste an der Reihe wäre. Deshalb gab sie zuerst vor, sie sei seekrank, und dann, sie sei über Bord gespült worden. Aber Gorman traf sie zufällig, als sie Guss’ Kajüte verließ, und tötete sie. Muirgel packte das Kruzifix, das Gorman an sich genommen hatte. Muirgel lebte noch, als ich sie fand, und sie versuchte mich zu warnen, aber sie schaffte es nur noch, mir Canairs Kruzifix in die Hand zu drücken.«

»Also sind Canair, Muirgel und Toca Nia alle diesem Wahnsinn zum Opfer gefallen«, murmelte Schwester Ainder. »Die Mädchen, weil sie das Unglück hatten, von diesem«, sie zeigte mit einem Ruck des Kopfes auf Cian, »diesem entarteten Schuft verführt zu werden, und der Krieger aus Laigin, weil er Cian schwerer Verbrechen und Vergehen beschuldigte und dieses wahnsinnige Geschöpf darin eine weitere Gefahr erblickte. Was ist das hier nur für ein Irrsinn und eine Verderbtheit, Brüder?«

Cian stand zornig auf.

»Anscheinend gebt ihr jetzt mir die Schuld und nicht dieser blöden Metze!« zischte er.

Wieder fuhr Gormans Kopf zurück, als hätte er sie geschlagen.

»Mich hast du verlassen, dich entkleidet und gelegt Auf das breite Bett, das du bereitet hast,

Und Geschäfte gemacht .

Um der Freude willen, zusammen zu schlafen,

Und du hast unzählige Male Hurerei getrieben In der Hitze deiner Wollust .«

Dann fuhr ihre Hand in die Kutte und warf etwas. Murchad, der neben Cian stand, reagierte blitzschnell und schob den ehemaligen Krieger zur Seite. Ein Messer bohrte sich in den Balken hinter Cian.

Vor Wut über den Fehlwurf aufschreiend, nutzte Gorman die Gelegenheit, die durch die Verwirrung und Unentschlossenheit der anderen entstand, und stürmte aus der Kajüte und den Niedergang zum Deck hinauf.

Fidelma faßte sich als erste wieder und wollte ihr nacheilen, doch Murchad hielt sie zurück.

»Keine Sorge, Lady«, sagte er. »Wo soll sie denn hin? Wir sind mitten auf dem Ozean.«

»Ich fürchte nicht, daß sie uns entkommt«, entgeg-nete sie, »sondern daß sie sich etwas antut. Der Wahnsinn kennt keine Logik.«

Als sie an Deck kamen, rief ihnen Drogan am Steuerruder etwas zu und zeigte nach oben.

Sie schauten empor.

Mehr als sechs Meter über ihnen hing Gorman pendelnd in der Takelage.

»Halt!« rief Fidelma. »Gorman, nicht weiter! Du kannst nicht fliehen.«

Das Mädchen kletterte noch höher.

»Gorman, komm herunter. Wir finden eine Lösung für dein Problem. Komm herunter. Niemand tut dir etwas.« Noch während Fidelma ihr das zurief, merkte sie, wie hohl solche Versicherungen klingen mußten, selbst für jemanden, dessen Geist gestört war.

Murchad, der neben Fidelma stand, berührte ihren Arm und schüttelte den Kopf.

»Sie kann dich nicht hören bei dem Wind da oben.«

Fidelma starrte weiter hinauf. Der Wind zerrte am Haar und an der Kleidung des Mädchens, das in der Takelage hing. Murchad hatte recht. Dort hinauf trug kein Schall.

»Ich klettere ihr nach«, erbot sich Fidelma. »Jemand muß sie herunterholen.«

Murchad hielt sie zurück. »Du kennst die Gefahren nicht, wenn man bei so starkem Wind nach oben geht. Ich mach das.«

Fidelma zögerte, dann trat sie zurück. Ihr wurde klar, daß nur jemand, der in der Takelage sicherer war als sie, in der Lage wäre, die geistesgestörte junge Frau herunterzubringen.

»Erschreck sie nicht«, meinte sie. »Sie ist vollständig verrückt und zu allem fähig.«

Murchads Miene war düster.

»Sie ist nur ein kleines Mädchen.«

»Es gibt ein altes Sprichwort, Murchad: Wenn ein gesunder Hund mit einem tollen Hund kämpft, dann wird eher dem gesunden Hund ein Ohr abgebissen.«

»Ich passe auf«, versicherte er ihr und fing an zu klettern.

Er war noch nicht weit gekommen, als Schwester Ainder einen Warnschrei ausstieß. Fidelma blickte auf.

Gorman hatte mit den Füßen den Halt verloren, hing verzweifelt mit einer Hand an einem Tau und versuchte, mit der anderen die Takelage zu fassen.

»Halt dich fest!« schrie Fidelma, doch ihr Ruf verflog im Wind.

Auch Murchad hatte es gesehen und beeilte sich. Doch er war kaum einen Meter höher gekommen, als Gormans Griff sich löste und sie mit einem dumpfen Laut auf dem Deck aufschlug.

Fidelma war als erste bei ihr.

Sie brauchte nicht mehr nach dem Puls zu fühlen. Es war klar, daß Gorman sich bei dem Fall das Genick gebrochen hatte. Fidelma beugte sich nieder und drückte ihr die starren Augen zu. Schwester Ainder sprach ein Totengebet.

Murchad war wieder heruntergeklettert und trat zu ihnen.

»Es tut mir leid«, keuchte er. »Ist sie .«

»Ja, sie ist tot. Du kannst nichts dafür«, sagte Fidelma und erhob sich.

Cian schaute Bruder Dathal über die Schulter und auf die Leiche des Mädchens hinunter.

»Na«, sagte er erleichtert, »das wäre das.«

Kapitel 22

Fidelma stand in der warmen Herbstsonne am Kai und atmete die exotischen Düfte der malerischen kleinen Hafenstadt ein, die sich im Schutz eines alten römischen Leuchtturms erstreckte, der als der »Turm des Herkules« bekannt war. Die »Ringelgans« lag am Kai vertäut. Die übriggebliebenen Passagiere hatten sich über Land auf ihre Pilgerschaft zum Schrein des heiligen Jakobus begeben. Fidelma hatte es abgelehnt, mit ihnen gemeinsam zu wandern, unter dem Vorwand, sie müsse einen Bericht über die Fahrt für den Oberrichter von Cashel verfassen, damit Murchad ihn auf der Rückreise gleich mitnehmen könne.

Schon eine Stunde, nachdem die »Ringelgans« in diesen Hafen an der Nordwestküste Iberias eingelaufen war, vielleicht demselben Hafen, von dem aus Go-lamh und die Kinder Gaels vor mehr als einem Jahrtausend nach Eireann übergesetzt hatten, war das Schlußdrama dieser Überfahrt vonstatten gegangen.

Cian war wieder vom Schiff verschwunden, aber diesmal mit Schwester Crella. Fidelma war davon nicht sonderlich überrascht.

»Erinnerst du dich noch, daß Cian vom Schiff auf die Insel Ushant geflohen ist?« fragte sie Murchad. »Es war klar, daß er dabei Hilfe gehabt hatte.«

Der Kapitän war verblüfft und sagte es auch.

»Ein Mann, der seinen rechten Arm nicht gebrauchen kann, ist nicht in der Lage, das Skiff zur Insel zu rudern, geschweige denn es zum Schiff zurückzubringen.«

Murchad schien beschämt, daß ihm das nicht aufgefallen war.

»Daran habe ich nicht gedacht.«

»Er mußte eine Komplizin haben. Er überredete Crella, ihm zu helfen, so wie jetzt auch. Vielleicht hätte ich versuchen sollen, sie davor zu warnen, sich noch einmal mit Cian einzulassen, aber ich glaube nicht, daß sie auf mich gehört hätte. Er wußte von jeher die Frauen zu nehmen. Wenn Not am Mann ist, kann er die Vögel auf den Bäumen bezaubern.«

»Wo wollen sie jetzt hin? Nach Eireann können sie doch sicher nicht zurück.«

»Wer weiß? Vielleicht ist er unterwegs zu dem Arzt Mormohec, um zu sehen, ob der seinen Arm heilen kann. Vielleicht auch nicht. Die arme Crella tut mir leid. Eines Tages wird sie ein böses Erwachen erleben.«

»Warum ist sie zu ihm zurückgekehrt, wenn er sie schon einmal als seine Geliebte abgelegt hat?« wollte Murchad wissen.

»Vielleicht hat sie noch nie davon gehört, daß man sich, wenn man einmal gebissen wurde, vor einem zweiten Biß in acht nehmen soll. Er wird sie abhängen, wenn er meint, er brauche sie nicht mehr. Wahrscheinlich werden wir ihn in Eireann nicht wiedersehen, aber nicht, weil er sich schuldig fühlt für das, was auf dieser Fahrt geschehen ist. Seine Arroganz hindert ihn daran, dafür irgendwelche Verantwortung zu übernehmen. Er wird sein Geburtsland meiden, um allen Zeugen aus dem Wege zu gehen, die ihn als den >Schlächter von Rath Bile< anklagen könnten.«

»Also wird er frei und ohne Strafe bleiben?«

»In solchen Dingen kommt oft der wirklich Schuldige straflos davon, und die werden bestraft, die er als seine Werkzeuge benutzt oder mit hineingezogen hat.«

Nicht lange danach war die überlebende Schar der Pilger unter der Führung von Bruder Tola aus der Hafenstadt aufgebrochen. Fidelma hatte beobachtet, wie Bruder Tola und Schwester Ainder sich in Gesellschaft von Bruder Dathal und Bruder Adamrae, die ihnen mit wenig Begeisterung folgten, auf den Weg gemacht hatten. Bruder Bairne begleitete sie, doch anscheinend ebenso widerwillig, wie sie seine Anwesenheit duldeten. Vergebung war offenbar kein Bestandteil des Glaubens, dem diese kleine Gruppe von Pilgern anhing.

Fidelma blieb in der Hafenstadt, während die Sturmschäden der »Ringelgans« repariert wurden. Sie nahm sich ein Zimmer in einem kleinen Wirtshaus mit Blick auf den Hafen, ruhte sich aus, gewöhnte sich wieder an das Gefühl, festen Boden unter den Füßen zu haben, und schrieb ihren Bericht. Als sie hörte, daß die »Ringelgans« zum Auslaufen bereit war, ging sie hinunter zum Kai.

Sie wollte sich an Bord von allen verabschieden, vor allem von Mäuseherr, für den sie am Kai Fische gekauft hatte. Der Kater hinkte leicht, schien sich aber von seiner Schnittwunde gut zu erholen. Er ließ sich von ihr streicheln und schnurrte ein bißchen, doch dann wandte er seine Aufmerksamkeit wichtigeren Dingen zu, wie etwa den Fischen, die sie vor ihm aufs Deck gelegt hatte.

Auf dem nun schon vertrauten Achterdeck sprach sie mit Murchad.

»Wann brichst du zum heiligen Schrein auf, Lady? Es sind schon mehrere Pilgerscharen hier durchgekommen, seit wir angelegt haben. Ich hatte gedacht, du wärst bereits fort.«

Fidelma erwiderte unbesorgt, sie würde schon eine passende Gruppe finden.

»Es gibt ein altes Sprichwort, Murchad: Sieh dir die Gesellschaft an, bevor du dich zu ihr setzt. Die Reisenden, die du an Bord hattest, hätte ich mir nicht als Gefährten ausgesucht, wenn ich gewußt hätte, was passiert.«

Murchad lachte verständnisvoll, war aber weiterhin besorgt um sie.

»Willst du allein wandern? Ich habe ebenfalls ein Sprichwort für dich: Heißt es nicht, daß ein gesundes Schaf auch eine räudige Herde als Gesellschaft nicht verschmäht?«

Fidelma erlaubte sich ein mutwilliges Grinsen.

»Ich glaube, das hast du umgedreht, Murchad. Das Sprichwort lautet: Es gab noch nie ein räudiges Schaf, das nicht gern eine Herde als Gesellschaft hatte. Aber ich danke dir für den Rat. Nein, ich will hier noch ein paar Tage warten, denn durch diesen Hafen kommen viele Schafe. Ich werde sehen, ob eine Herde dabei ist, die mir gefällt. Aber vielleicht trete ich die Reise auch allein an, wie du vermutest.«

»Wäre das klug, Lady?«

»Wie ich höre, sind die Banditen zwischen hier und dem Schrein nicht sehr zahlreich. Ich bin sicher, die Gefahren der Landstraße sind nicht größer als die, die mir auf der >Ringelgans< drohten.«

Murchad schüttelte den Kopf.

»Ich weiß immer noch nicht, wie du herausgefunden hast, daß Schwester Gorman die Schuldige war, und was meine Frau Aoife damit zu tun hatte.«

»Es war nicht deine Frau, wie ich dir schon sagte, es war der Name Aoife und die Sage von Lir. In der Geschichte der Kinder von Lir war Aoife die zweite der drei Töchter des Königs von Aran. Aoife war schön, doch der Meeresgott Lir heiratete ihre jüngere Schwester Albha. Albha starb, und Lir heiratete darauf ihre ältere Schwester Niamh. Niamh starb ebenfalls, und schließlich heiratete Lir Aoife.«

»Ich kann mich dunkel an die Geschichte erinnern«, meinte Murchad ohne Überzeugung.

»Nun, dann weißt du auch, daß Aoife auf alle eifersüchtig wurde, die Lir nahestanden, obgleich Lir sie liebte. Das wuchs sich zu einer solchen Besessenheit aus, daß sie völlig verbitterte und auf Böses sann und alle vernichten wollte, die Lir liebten, damit sie ihn ganz für sich allein haben könnte. Der Stachel unverständiger Eifersucht saß tief in ihrem Herzen, und sie mußte zerstören. >Eifersucht ist fest wie die Hölle<, wie Muirgel sagte.«

»Ich verstehe, wie das zu Gorman paßt, aber wie .?«

»Es fiel mir auf, wie sehr Gorman sich dafür interessierte, wie lange ich Cian kannte, schon gleich nachdem ich an Bord kam. Dann erklärte mir Crella, als ich sie am zweiten Tag der Reise befragte, daß Cian mit Gorman geschlafen habe. Ich achtete nicht weiter auf diese Dinge. Aber eine gute dalaigh muß ein hervorragendes Gedächtnis besitzen. Ich speicherte diese Tatsachen. Als ich dann ständig die Bibelzitate über Wollust und Eifersucht hörte, wurde mir allmählich klar, daß die Antwort in dieser Richtung zu finden war. Doch erst als du den Namen deiner Frau Aoife erwähntest und ich mich an die Eifersucht dieser Gestalt erinnerte, ging mir auf, wonach ich zu suchen hatte: nach unvernünftiger, rasender Eifersucht.

Cian schlief nur eine Nacht mit ihr, und in seiner Arroganz erinnerte er sich erst im letzten Moment wieder daran. Wie Aoife, die Frau Lirs, hatte Gorman den Verstand verloren. Ihr unverhohlener Haß war so offenkundig, daß ich sie zuerst als Verdächtige ausschloß.«

»Es ist schade, daß Schwester Gorman der Gerechtigkeit entging«, überlegte Murchad.

Fidelma dachte darüber nach, ehe sie antwortete.

»Ich meine, nein. Sie war geistesgestört, von einer Krankheit befallen, die einen ebenso verwirrt wie hohes Fieber. Ich glaube, ich kann verstehen, wie heftig die Eifersucht ist, die in einer Frau geweckt wird, wenn sie merkt, daß der Mann, von dem sie sich geliebt wähnt, sie betrügt.«

Fidelma errötete leicht, als sie das sagte, weil sie sich an ihre eigenen Gefühle erinnerte.

»Doch sie hat getötet. Müßte sie dafür nicht bestraft werden?«

»Ach, Bestrafung. Ich fürchte, ein neuer Moralbegriff dringt in unsere Kultur ein, Murchad. Das ist das einzige, was mir an dem neuen Glauben Sorgen bereitet. Die Bußgesetze der Kirche predigen Bestrafung statt Schadenersatz und Rehabilitierung wie unsere einheimischen Gesetze.«

»Aber das ist doch die Lehre des Glaubens.« Murchad war verwirrt. »Wie kannst du eine Glaubensschwester sein und diese Lehre nicht akzeptieren?«

»Weil es eine Lehre der Rache ist und nicht ein Gesetz der Gerechtigkeit. Unsere Gesetze verlangen Gerechtigkeit, nicht Rache. Juvenal schrieb, Rache bereite nur einem engstirnigen, kranken oder kleinlichen Geist Freude. Blut kann nicht mit Blut abgewaschen werden. Wir müssen Schadenersatz für die Opfer und Rehabilitierung der Übeltäter anstreben. Wenn wir das nicht tun, geraten wir in einen ständigen Kreislauf der Rache, und Blut wird immer wieder fließen. Diejenigen, die ihre Gesetze zum Fluch machen, werden unter diesen Gesetzen selbst leiden.«

»Hättest du es denn lieber gesehen, wenn das Mädchen entkommen wäre?«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Sie wäre sich selbst niemals entkommen. Ihr Geist war von diesem Wahnsinn so verstört, daß ich meine, in diesem Fall endete sie durch einen Akt der Gnade.«

Gurvan kam herbei und sah sie entschuldigend an.

»Gezeitenwechsel, Kapitän«, sagte er zu Murchad.

Murchad nickte ihm zu.

»Wir müssen in See stechen, Lady«, erklärte er respektvoll.

»Ich hoffe, eure Rückfahrt nach Ardmore wird nicht so abenteuerlich wie die Fahrt hierher.«

»Ich wäre nicht Seemann geworden, wenn ich Angst vor Stürmen und Piraten hätte«, grinste Murchad. »Mord an Bord habe ich allerdings noch nicht oft erlebt. Bleibst du lange in diesem Land, Schwester? Vielleicht machst du die Rückreise wieder auf meinem Schiff? Ich laufe diesen Hafen häufig an.«

»Das würde mich sehr freuen. Aber ich bin noch nicht sicher, was mir die Zukunft bringt. Kann schon sein, daß sich unsere Wege wieder kreuzen. Wenn nicht, möge Christus immer mit dir segeln. Und paß gut auf Wenbrit auf. Aus ihm kann noch mal ein guter Kapitän mit eigenem Schiff werden.«

Sie ging hinunter auf das Hauptdeck und verabschiedete sich von Gurvan, Wenbrit, Drogan und den anderen Besatzungsmitgliedern. Dann stieg sie auf den Kai. Murchad hob die Hand zum Gruß.

Sie sah zu, wie die Gangway auf den Kai zurückge-zogen wurde, die Taue gelöst wurden und die »Ringelgans« langsam ablegte. Sie winkte ihnen allen stürmisch zu, und dann überkam sie Heimweh, so daß sie langsam zu dem Wirtshaus zurückkehrte, in dem sie wohnte. Trotz der Traurigkeit empfand sie auch Erleichterung. Sie war im wesentlichen mit zwei Absichten auf diese Pilgerfahrt gegangen, und sie wußte, daß sie eine davon erreicht hatte. Es gab keinen Konflikt mehr zwischen ihren Rollen als Nonne und als dalaigh. Ihre Leidenschaft für das Recht ließ ihr keine Wahl: Sie würde es immer dem kontemplativen Leben vorziehen. Als sie beim Wirtshaus anlangte, war auf der »Ringelgans« schon das Segel gesetzt worden, und sie lief aus dem Hafen aus.

Fidelma setzte sich auf eine Holzbank im Schatten eines Weinstocks und schaute nachdenklich über das blaue Wasser der Bucht dem verschwindenden Schiff nach.

Der Wirt kam heraus und brachte ihr ein Glas mit einem Getränk aus frisch gepreßter Zitrone und kaltem Wasser. Schon in der kurzen Zeit ihres Hierseins hatte Fidelma gelernt, daß dies die beste Art war, den Durst zu löschen und trotz der Hitze kühl zu bleiben. Zu ihrer Überraschung reichte er ihr außerdem noch ein Stück gefaltetes Pergament. Sie verstand nicht ganz, was er sagte, doch er wies auf ein schlankes Fahrzeug, das erst vor einer Stunde eingelaufen war.

»Gratias tibi ego.« Sie dankte ihm auf Latein, der einzigen Sprache, in der sie sich etwas verständigen konnten.

Sie bezwang ihre Neugier, denn sie wollte zusehen, wie Murchads Schiff den Hafen verließ. Sie blieb noch eine Weile sitzen, nippte an ihrem Getränk und beobachtete, wie die »Ringelgans« die Meeresbucht entlangsegelte, die man hier ria nannte, bis sie hinter dem Vorgebirge verschwand. Es war angenehm, so in der Wärme der Sonne zu sitzen. Doch dann überwältigte sie wieder ein Gefühl der Verlassenheit. Sie versuchte es zu ergründen. War Verlassenheit das richtige Wort für ihre Stimmung? Es war besser, allein zu sein als in schlechter Gesellschaft - und sie trug wahrhaftig kein Verlangen danach, jemals wieder Cian gegenüberzustehen. Doch das hatte auch seine positive Seite; sie war froh, daß sie ihm noch einmal begegnet war.

All die Jahre war Cian ein Stachel in ihrem Herzen gewesen, denn sie erinnerte sich immer wieder der Ängste und der Leidenschaften ihrer Jugend. Nun war ihr ein Wiedersehen mit Cian gewährt worden, und sie hatte ihn aus dem Blickwinkel der Reife betrachtet. Sie hatte ihn studiert, und ihr war die Torheit der bittersüßen Heftigkeit ihrer jugendlichen Liebe klargeworden. Ohne jede Reue hatte sie Cian verabschiedet und sich eingestanden, daß das, was einmal war, nun vorbei war. Sie konnte es als eine Erfahrung des Erwachsenwerdens ansehen und nicht mehr als eine schwere Bürde, die sie ewig zu tragen hätte. Nein, Ci-an hatte keine Macht mehr über sie, und sie empfand das nicht als einen Verlust - eine enorme Last war ihr von den Schultern gefallen.

Irgendwie kehrten ihre Gedanken mit einer Plötzlichkeit zu Eadulf zurück, die sie für einen Moment so erschreckte, daß ihre Hand mit dem Glas zitterte.

Eadulf! Sie spürte, daß er ihr als ein verschwommener Schatten auf der ganzen Reise gefolgt war, als ein ätherischer Hauch auf ihrem Weg.

Warum kamen ihr gerade Worte von Publilius Sy-rus, ihrem Lieblingsautor von Maximen, in den Sinn?

Amare et sapere vix deo conceditur.

Selbst einem Gott ist es kaum vergönnt, gleichzeitig zu lieben und weise zu sein.

Plötzlich erinnerte sie sich an das gefaltete Stück Pergament, und sie nahm es zur Hand. Überrascht stellte sie fest, daß es von ihrem Bruder Colgü in Cashel einen Tag nach Antritt ihrer Seereise geschrieben worden war. Als sie die wenigen Worte las, durchfuhr sie ein eisiger Schreck, dem eine panische Angst folgte, wie sie sie noch nie gespürt hatte. Die Botschaft war kurz: Komm sofort zurück! Eadulf wird des Mordes beschuldigt!