1

Der Regen fiel in Strömen; ein heftiger Frühlingsregen, der wütend gegen die Fensterscheiben schlug. Mrs. Pollifax dachte an Cyrus, der sich auf einer zehntägigen ornithologischen Expedition befand. Sie hoffte, er würde besseres Wetter haben, wenn er mit seinem Fernglas bewaffnet stundenlang im Gebüsch kauerte oder im Geäst eines Baumes hockte, um den Geheimnissen der Vogelwelt auf die Spur zu kommen. Sie hatte es vorgezogen, zu Hause zu bleiben - eine recht weise Entscheidung, wie sie inzwischen fand -, um sich um die Handwerker zu kümmern, die durch das alte Haus schwärmten, das Cyrus und sie gekauft hatten, und die damit beschäftigt waren, ein Gewächshaus für ihre Geranien, einen Balkon, von dem aus Cyrus die Vögel beobachten konnte, und ein leicht asymmetrisch versetztes Rundfenster zu bauen; ein Wunsch, der Mr. Lupalak, den Handwerkermeister, schier zur Verzweiflung brachte, da er ein Mensch war, dem vergessene i-Tüpfelchen und t-Striche Pein bereiteten und dessen exakt und penibel gezogener Mittelscheitel seine Leidenschaft für Symmetrie verriet. Mr. Lupalak war der perfekte Handwerker, den man allerdings keinen Moment lang aus den Augen lassen durfte.

Mrs. Pollifax stand am Fenster und sah auf das üppig grüne und sehr nasse Land hinaus, und zum ersten Mal kamen ihr Zweifel, ob sie das Landleben überhaupt mochte. Die makellos grünen Hügel, das gewundene Band der Straße, die Spitze des Kirchturms, die hinter der tropfnassen Trauerweide hervorlugte, entbehrten zwar nicht eines gewissen Charmes, doch etwas ließ diese Idylle ganz eindeutig vermissen: Bewegung, Aktion, Spannung. Als die Handwerker, die während des Vormittags eine Menge Lärm im Haus gemacht hatten, gegangen waren, fragte sich Mrs. Pollifax, ob es hier draußen möglicherweise nicht doch ein wenig... einsam werden würde. Sie wußte, daß es in den Wiesen und Hecken dort draußen vor Tieren nur so wimmelte -Mäuse, Kröten, Ameisen, und in den Büschen jenseits der Steinmauer lebte sogar eine Igelfamilie -, doch was es hier nicht gab, waren Menschen.

Mrs. Pollifax mochte Menschen - Menschen jeder Gestalt und jeder Größe. Menschen jeder Art und jeden Temperaments.

Mit einem Mal - als hätte das Schicksal ihre Gedanken belauscht - kam Bewegung in die beschauliche Idylle: Ein Wagen fuhr die Route 2 herab, hielt an, setzte ein Stück zurück und bog dann in die Zufahrt zu ihrem Haus ein. Mit hoher Geschwindigkeit jagte er durch die Pfützen, spritzte Wasserfontänen rechts und links über den Wegrand und kam schließlich vor der Haustür zum Stehen.

>Wer könnte.. .?< überlegte Mrs. Pollifax.

Ein gutaussehender junger Mann stieg aus dem Wagen. Er trug einen auffallenden, karierten Anzug mit passender Weste und hatte einen schwarzen Diplomatenkoffer bei sich. Mrs. Pollifax kannte den Mann sehr gut, und er erinnerte sie an Zeiten in ihrem Leben, in denen es außer Geranienzüchten noch eine Menge Aufregung, Gefahr, Abenteuer und Menschen gegeben hatte.

Sie war vor ihm an der Tür. »Bishop!« rief sie. »Was für eine Überraschung! Wie, um alles in der Welt...?«

»Reichlich mühsam, Sie zu finden«, erwiderte er und umarmte sie stürmisch. »Von irgendwo höre ich das Kreischen von Motorsägen; lassen Sie sich etwa eine Arche bauen?«

Sie lachte. »Es regnet nicht immer hier bei uns auf dem Land, und wenn Sie angerufen hätten, hätte ich Ihnen den Weg hierher ganz genau beschrieben. Ich werde Kaffee aufstellen. Ich freue mich. Sie zu sehen. Kommen Sie doch herein, und sehen Sie sich unser Haus an!«

»Gerne«, erwiderte er. »Wo ist übrigens Cyrus?«

»Er ist vor drei Tagen nach Vermont gefahren.«

»Uh - oh«, machte Bishop.

Mrs. Pollifax bedachte ihn mit einem schnellen wachsamen Blick. Also, kein Höflichkeitsbesuch, dachte sie und fühlte einen Anflug von Erregung und Vorfreude. »Eine ungewöhnliche Antwort«, stellte sie fest.

Er ignorierte ihre Bemerkung. »Stellen Sie den Kaffee auf, und zeigen Sie mir das Haus - es sei denn. Sie veranstalten nur bezahlte Führungen. Ich habe nicht viel Zeit«, fügte er beiläufig hinzu und plazierte seinen schwarzen Diplomatenkoffer auf die rosa und rot geblümte Couch.

Mrs. Pollifax rührte ihn durch die Zimmer des Hauses: Die drei Schlafzimmer im Obergeschoß - zwei davon mit mächtigen Kaminen ausgestattet -, durch die Küche im Erdgeschoß ins Eßzimmer, von dem aus sie über die Steinterrasse zum Gewächshaus gingen, dem noch immer einige Glasscheiben fehlten. Sie führte ihn in das Untergeschoß und stellte ihn Mr. Lupalak vor, der Bishops karierten Anzug mit einem fast ehrfurchtsvollen Blick streifte. Gewöhnlich hatte Bishop auf alles die richtige Antwort, doch Mrs. Pollifax fühlte, daß er heute mit seinen Gedanken nicht bei der Sache war - und ihre Neugier wuchs.

Als sie ins Eßzimmer zurückkehrten, schenkte Mrs. Pollifax Kaffee ein, stellte Zucker auf den Tisch und brachte einen Teller mit Makronen aus der Küche. Dann ließ sie sich Bishop gegenüber auf der anderen Seite des blankpolierten Tisches nieder. Hinter Bishop schlug der Wind den Regen gegen die Glasscheibe der Schiebetür. Die Steine der Terrasse schimmerten feucht, und nur ein Forsythienbusch mühte sich tapfer, ein bißchen Farbe in das Bild zu bringen.

»Wie geht es Carstairs?« erkundigte sich Mrs. Pollifax und knabberte an einem Makronenhörnchen.

»Gut geht es ihm«, antwortete Bischop. »Wenn man bedenkt, daß er den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt und ständig Streß und Aufregung ausgesetzt ist, ist er für mich ein medizinisches Phänomen. Er weigert sich beharrlich, zu laufen, zu joggen oder auch nur spazierenzugehen. Seine ganze Lebensweise spricht jeder ärztlichen Erfahrung Hohn. Ihm geht es gut - allen Regeln der Gesundheit zum Trotz. Und wie geht es Cyrus?« erkundigte er sich gleichermaßen höflich.

»Ornithologische Exkursion.«

Bishop nickte verstehend. »Und Sie sind noch immer Mrs. Reed-Pollifax?«

»Allen Regeln der Konvention zum Trotz - ja«, entgegnete sie. »Cyrus bestand darauf.«

Ein vielsagendes Schweigen entstand, als Bishop sie in Gedanken versunken betrachtete. »Also schön, Bishop«, lächelte sie schließlich. »Sie werden von mir nicht erwarten, daß ich annehme. Sie seien aus purem Zufall hier in der Gegend und nur schnell auf einen kurzen Besuch vorbeigekommen.«

»Nein«, sagte er und ließ sich sein drittes Makronenhörnchen schmecken.

»Nein was?«

Er schluckte. »Nein, ich bin nicht aus purem Zufall in der Gegend«, erklärte er grinsend. »Um hierherzukommen, brauchte ich ein Flugzeug, ein Taxi und einen Mietwagen. Mit anderen Worten, ich scheute weder Mühen noch Kosten, um Cyrus auf dem schnellsten Wege zu erreichen.«

»Doch der ist nicht hier.«

»Nein... Wir hatten ohnehin schon Bedenken, da Sie jetzt verheiratet sind und alles... Doch es läßt sich nicht ändern: Wir brauchen Sie. Wir brauchen Sie dringendst und sofort.«

»Wofür?« fragte sie. »Und was heißt sofort?«

Er setzte seine Kaffeetasse ab. »Wenn Sie uns helfen wollen, dann jetzt sofort. Keine Zeit, Cyrus zu kontaktieren oder irgend etwas anderes zu erledigen. Sie müßten sofort mit mir aufbrechen - binnen einer Stunde.« Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Uhr. »Bis um zwölf müßten wir unterwegs sein.«

Mrs. Pollifax sah auf ihre Uhr. Es war fünf nach elf. »Und Sie haben sich fünf Minuten Zeit genommen, das Haus anzusehen!«

Bishop grinste verlegen. »Ich brauchte Zeit, um nachzudenken - um mich mit der neuen Situation abzufinden. Außerdem bin ich nun mal zur Höflichkeit erzogen worden und all das. Wir haben fest mit Cyrus gerechnet, doch das ändert nichts daran, daß wir auch Ihre Hilfe brauchen - und zwar verdammt dringend.«

Natürlich war dies völlig unmöglich, dachte sie. Sie war viel zu beschäftigt - und das Rundfenster mußte eintesetzt werden, und Cyrus wußte von nichts... »Weshalb ich?« fragte sie. »Und wohin soll ich?« Hongkong«, sagte Bishop.

Hongkong... In Hongkong schien die Sonne, erinnerte sie sich. Eine strahlende Sonne...

»Erinnern Sie sich an Sheng Ti?« fragte Bishop.

Natürlich erinnerte sie sich an Sheng Ti. Es war erst ein paar Monate her, daß sie mit ihm unter einem Lüftungsschacht in einer chinesischen Stadt mit dem Namen Turfan gesessen und von ihm erfahren hatte, daß er hai fen war; eine Person, die ohne Papiere und Identität und ohne ein Zuhause in China lebte, und sie hatte ihren Co-Agenten überredet, ihn zusammen mit Wang Shen, der eigentlichen Hauptperson ihrer damaligen Mission, außer Landes zu schmuggeln.

Sie nickte. »Natürlich erinnere ich mich an Sheng Ti... Ein sehr intelligenter junger Mann, dessen Talente als Ausgestoßener oder Gassenlümmel, wie sie diese Jungens in China nennen, absolut vergeudet waren.«

»Sie wissen, daß er sich jetzt in Hongkong aufhält?«

»Sie haben es bei unserer Hochzeit erwähnt. Ich hatte den Eindruck«, fügte sie spitz hinzu, »daß Sie ihn in Hongkong einfach sitzenließen, weil Sie nicht wußten, was Sie sonst mit ihm anfangen sollten.«

»Niemand konnte schließlich mit Ihrer Großzügigkeit rechnen«, erwiderte Bishop ungerührt. »Wir hatten zwei Männer erwartet, die über die Berge nach Kaschmir kommen würden - und nicht drei. Außerdem haben wir ihn in Hongkong nicht einfach sitzenlassen, wie Sie es ausdrücken; wir haben ihn ganz bewußt dorthin placiert. Bei einem unserer Agenten.«

»Oh!« machte sie.

»So ist es. Und um es kurz zu machen, meine liebe Mrs. Pollifax - denn die Zeiger der Uhr hinter Ihnen rücken unaufhaltsam weiter -, wir sind in großer, in sehr großer Sorge wegen dieses Agenten. Und Ihr Freund Sheng Ti ist der einzige, der in der Lage ist, uns einige Informationen zu liefern.«

»Was könnte er schon wissen?« fragte sie skeptisch.

»Er arbeitet für unseren Mann. Er ist an Ort und Stelle und -wie wir von unseren Leuten in Hongkong wissen -ständig anwesend. Der Name unseres Agenten ist Detwiler. Er ist Eurasier. Als Deckadresse benutzt er eine Export-Import-Firma für Diaman-ten und andere Edelsteine. Der alte Feng leitet den Laden. Detwiler ist für den Import zuständig, und Sheng Ti ist einer der beiden Angestellten.«

»Und Detwiler bereitet Ihnen Kopfzerbrechen?«

»Mehr als ich zu sagen imstande bin«, erwiderte Bishop. »Der Mann weiß zu viel; er hat eine Menge anzubieten. In seinem letzten Bericht ist er zu weit gegangen: Die Informationen, die er ans Ministerium sandte, waren in einer derart eklatanten Weise gefälscht, daß wir uns veranlaßt sahen, auch seine früheren Berichte zu überprüfen. Wir stellten fest, daß er uns seit etwa zwei Monaten getürkte Informationen liefert. Kurz gesagt: irgend etwas läuft eindeutig schief in Hongkong. Er hintergeht uns, und der Verdacht liegt nahe, daß es sich dabei um eine eigennützige und überaus suspekte Aktion Detwilers handelt, die unseren Interessen nur schaden kann. Mit Sicherheit ist er für uns nicht mehr zu gebrauchen, und wir sind entschlossen herauszufinden aus welchem Grund. Wir müssen wissen, für wen er nun arbeitet, welche Art von Informationen er anderweitig verkauft und, was zum Teufel, überhaupt vor sich geht in Hongkong. Überdies«, fügte er hinzu, »hat jemand Ihrem Freund Sheng Ti eine höllische Angst eingejagt.«

»Wie kommen Sie darauf?« fragte sie erschrocken.

»Weshalb, glauben Sie, brauchen wir gerade Sie so dringend?« entgegnete er. »Weil wir nämlich bereits zwei unserer Leute zu Feng-Imports geschickt haben, die versuchen sollten, sich Sheng Ti zu nähern - nettes Gespräch, Einladung zu einem Bier, ins Kino, Mädchen... Keine Chance! Die Einschätzung der Situation lautet immer gleich: >Dem Jungen sitzt die Angst im Nacken. Er befindet sich in Panik. < Was -wie ich betonen möchte - unseren Verdacht, daß bei Feng-Imports etwas nicht in Ordnung ist, nur bestätigt.«

»Und Sie glauben, Sheng Ti würde mit mir reden?«

Bishop nickte. »Er kennt Sie. Schließlich hat er es nur Ihnen zu verdanken, daß er aus Turfan und aus China herausgeschmuggelt wurde. Er vertraut Ihnen. Sie sind für ihn ein bekanntes Gesicht.« Erneut warf er einen schnellen Blick auf seine Uhr. »Das ist natürlich nicht alles, doch so sieht im großen und ganzen die Situation aus. Sie sind der einzige Mensch, der an Sheng Ti herankommen kann, und wir brauchen die Informationen, die er uns geben kann. Wir müssen wissen, was bei Feng-Imports vor sich geht.«

»Ich verstehe«, nickte Mrs. Pollifax.

Bishop bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. Schließlich sagte er: »Es kann natürlich auch gefährlich werden. Das ist nicht auszuschließen, vor allem wenn Sie nicht sogleich mit Sheng Ti Kontakt aufnehmen können und zu auffällig bei Feng-Imports herumschnüffeln.«

Mrs. Pollifax nickte und überdachte seine Worte noch einmal. Dann erhob sie sich und trug die Kaffeekanne in die Küche. » Es ist jetzt fünfundzwanzig nach elf«, rief sie durch die offene Tür. »Wenn Sie inzwischen die Tassen und die Kanne ausspülen... «

»Sie nehmen also an?« rief Bishop erfreut.

Sie kam lächelnd ins Zimmer zurück. »In Hongkong regnet es wenigstens nicht - oder? Ja, ich komme mit. Wenn Sie mich jetzt für einen Augenblick entschuldigen...« Sie eilte die Treppe empor, holte ihren Koffer vom Schrank und warf ein paar leichte Hosen, Rock und Blusen, ihre Zahnbürste, ein Paar bequeme Schuhe und ihren Pyjama hinein. Den Paß steckte sie in ihre Handtasche und schlüpfte in einen purpurroten wollenen Anzug, wählte eine rosarote Hemdbluse und entschied sich schließlich für einen Hut, der einem Garten mit roten und rosaroten Rosen nicht unähnlich war. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch und griff nach einem Stift, um Cyrus ein paar hastige Zeilen zu schreiben. Alles kam so unerwartet. Bishop ist hier und hoffte, auch Dich anzutreffen. In fünfzehn Minuten bin ich unterwegs nach Hongkong.

Ich rufe Dich an oder Du mich. Bin zu erreichen... »Bishop!« rief sie. »Wo werde ich wohnen und wie lange?«

»Ungefähr eine Woche«, rief Bishop zurück. »Wir haben für Sie im Hongkong-Hilton reserviert.«

...im Hongkong-Hilton. Zurück in einer Woche. Vergiß nicht, wie lieb Du mir bist! Love, love, love, Emily.

Sie überflog es noch einmal und setzte ein PS darunter: Laß es ja nicht zu, daß Mr. Lupalak das Rundfenster in die Mitte setzt! Dann hielt sie einen Augenblick inne und stellte sich vor, wie Cyrus wohl reagieren würde, wenn er die Nachricht las und feststellen mußte, daß sie ausgeflogen war. Sie hatte Cyrus versprochen, ohne ihn nie mehr für Carstairs zu arbeiten; andererseits hatte Cyrus darauf bestanden, daß sie - allein um ihm einen Gefallen zu tun - keinen Auftrag ablehnen würde.

»Ich möchte dich nicht einsperren. Liebes«, hatte er gesagt. »Zu viele Jahre habe ich auf jemanden wie dich gewartet, der voller Überraschungen steckt und mit dem das Zusammenleben nie langweilig wird. Es gibt nichts an dir, das ich verändern möchte.«

Lieber Cyrus, dachte sie zärtlich. Welch großes Glück sie gehabt hatte, ihm damals in Sambia zu begegnen. Er war mit seiner Tochter Lisa unterwegs gewesen, und sie selbst hatte einen flüchtenden Mörder verfolgt. Cyrus hatte ihr das Leben gerettet, und kurz darauf sie ihm ebenfalls - eine Basis, auf der sich eine herzliche Freundschaft entwickelte. Doch Cyrus ließ von Beginn an keinen Zweifel aufkommen, daß er mehr wollte als nur ihre Freundschart.

In ihre Gedanken an Cyrus drängte sich Bischops Bemerkung, daß der Auftrag auch gefährlich werden könne. Natürlich war dies niemals ganz auszuschließen, dessen war sie sich bewußt. Der Auftrag, Sheng Ti zu finden und mit ihm zu sprechen, schien auf den ersten Blick alles andere als ein gefährliches Unterfangen, doch dasselbe war im Jahr zuvor, bei ihrer Reise nach China der Fall gewesen - denn niemand hatte voraussehen können, daß auch der KGB in die Angelegenheit verwickelt war, und Carstairs hatte weder mit Mord, einem durchgehenden Gaul, einem gebrochenen Handgelenk, noch mit den langwierigen Verhören, die sie vor der chinesischen Geheimpolizei bestehen mußte, gerechnet. Es war jedoch alles gut ausgegangen damals: Ihr Handgelenk war sehr gut verheilt, Wang Sheng war sicher über die Berge gebracht worden, und sie war mit dem Bewußtsein aus dem Abenteuer hervorgegangen, daß Cyrus Reed für ihre Zukunft von absolut zentraler Bedeutung war und nicht länger auf die lange Bank geschoben werden durfte.

Seit zehn Monaten war sie nun mit Cyrus verheiratet. Mit einem Lächeln sah sie sich in dem Raum um, in dem Cyrus' Gegenwart fast körperlich zu fühlen war. Sie konnte nur hoffen, daß er Verständnis dafür aufbringen würde, daß man sie brauchte.

»Ich werde gebraucht!« wiederholte sie laut und faltete entschlossen den Zettel mit der Nachricht für Cyrus zusammen. Sie erhob sich und klappte den Koffer zu.

Es war genau zehn Minuten vor zwölf, als sie mit dem Koffer in der einen und der Notiz in der anderen Hand die Treppe hinunterging. Bishop stieß einen Pfiff aus, als er sie sah.

»Gießen Sie diese Rosen jeden Abend? Was für ein Hut!« rief er verzückt. »Was für ein Hut!«

»Danke sehr!« erwiderte sie geziert und ging - nachdem sie den Koffer abgestellt hatte - ins Kellergeschoß hinab, um den erstaunten Mr. Lupalak davon in Kenntnis zu setzen, daß sie für einige Tage verreisen müsse, daß er Mr. Reed ausrichten solle, er würde eine erklärende Nachricht am gewohnten Platz finden und daß er das Rundfenster unter allen Umständen leicht asymmetrisch anbringen solle. Sie kehrte ins Eßzimmer zurück. »Ganz sicher glaubt er, ich verlasse Cyrus«, seufzte sie. »Wahrscheinlich nimmt uns ohnehin kein Mensch in der Nachbarschaft ab, daß Cyrus und ich verheiratet sind. Namensschilder wie Reed-Pollifax geben immer Anlaß zu Spekulationen.«

»Ich könnte ja kurz in den Keller gehen und vor Mr. Lupalak bezeugen, daß ich Ihre Hochzeit miterlebt habe«, schlug Bishop mit einem anzüglichen Grinsen vor.

»Nein, nein - lassen Sie ihn ruhig«, entgegnete Mrs. Pollifax mit schnippischem Unterton. »Jeder braucht in seinem Leben etwas, das ihm Rätsel aufgibt - glauben Sie nicht auch? Soll Mr. Lupalak denken, was er will.« Sie legte die Notiz für Cyrus in den Eisschrank, nahm ihren Regenmantel von der Garderobe, und Punkt zwölf Uhr mittags verließ sie gemeinsam mit Bishop das Haus. Sie fühlte sich gerüstet für Hongkong und war gespannt, welche Abenteuer sie dort wohl erwarten würden.

MONTAG 

2

In San Francisco stieg Mrs. Pollifax in das Flugzeug, das sie über die zweite Etappe ihrer Reise bringen würde, und erneut wunderte sie sich über die Massen von Menschen, die so zielstrebig von einem Punkt A nach dem Punkt B hasteten - oder nach C oder D - und dabei völlig von einer Welt vereinnahmt waren, die man wieder vergaß, sobald man am Ziel der Reise angelangt war. Sie überlegte, ob andere vergleichbare, der normalen Existenz enthobene Lebensbereiche existierten, die wir in ähnlicher Weise vom Alltagsleben losgelöst und einem übergeordneten Plan folgend erleben und wieder abstreifen, sobald wir diese Ausnahmesituation überwunden haben. Vergleichbar ist vielleicht ein Krankenhausaufenthalt, überlegte sie, der einer ähnlichen übergeordneten Planmäßigkeit unterliegt, auf die wir selbst nur wenig Einfluß besitzen...

»Oh - entschuldigen Sie!« sagte sie, als sie einem Mann, der vor ihr in der Schlange stand, auf die Ferse trat. Er drehte den Kopf und bedachte sie mit einem eisigen Blick. Entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen, sagte sie spitz: »Warum bleiben Sie auch so plötzlich stehen?«

Der Blick des Mannes kam einer tätlichen Beleidigung gleich; er starrte sie an, als sei sie ein lebloser Gegenstand, der ihm im Wege stand. Er war groß, schlank, makellos gekleidet; ein hageres, pockennarbiges Gesicht mit kalten Augen. Nicht gerade ein netter junger Mann, überlegte sie, als dieser sich in Sitz 21-A fallen ließ. Sie ging weiter den Gang hinab zu Sitz 48-B und stellte erleichtert fest, daß 48-A bereits von einem weitaus freundlicheren Gentleman besetzt war.

Das Flugzeug startete und stieg über dem saphirblauen Hafen von San Francisco in den Himmel - der untergehenden Sonne entgegen. Mrs. Pollifax' Sitznachbar räusperte sich. »Würden Sie vielleicht gerne einen Blick in die >Newsweek< werfen?« fragte er und bot ihr seine Zeitschrift an.

Zwei Stunden später hatten sie sich vorgestellt - er hieß Albert Hitchens -, und nach dem Abendessen entwickelte sich zwischen ihnen ein langes Gespräch über psychische Phänomene, denn Mr. Hitchens war, wie sich herausstellte, Psychologe.

»Es ist mein Dharma«, sagte er schlicht.

Mr. Hitchens war nicht unbedingt eine überwältigende Erscheinung: Er war nur wenig größer als Mrs. Pollifax selbst, hatte eine relativ dunkle Hautfarbe, und seine Gesichtszüge konnte man nicht gerade als markant oder gar edel bezeichnen. Für einen Mann um Mitte Vierzig war seine Kleidung auffallend salopp - er trug ausgewaschene Jeans, ein wollenes Hemd und bequeme Halbschuhe -, doch seine Augen waren auffallend und durchdringend; aufgrund seines dunklen Teints erschienen sie beinahe durchsichtig und von einer faszinierenden silbrig-blauen Klarheit.

Mrs. Pollifax, die eine eifrige Karateschülerin war, seit Jahren Yoga betrieb und auch in der Zen-Philoso-phie bewandert war, nickte verstehend, als er das Wort Dharma erwähnte. »Ich muß zugeben«, räumte sie ein, »daß ich mir nicht gänzlich im klaren bin, was den Unterschied zwischen Karma und Dharma betrifft.«

Er nickte verständnisvoll. »Dharma ist das Wesentliche in der Existenz des Individuums - seine Arbeit, seine Berufung, könnte man sagen -, während Karma die Kraft oder den Einfluß früherer Leben bezeichnet, der unser Schicksal in der jetzigen Existenz bestimmt.«

Der leicht belehrende Tonfall, mit dem er sprach, war offenbar auf die zahlreichen Vorlesungen zurückzuführen, die er zu diesem Thema gehalten hatte, denn zu Mrs. Pollifax' Überraschung war Mr. Hitchens ein erfolgreicher Psychologe, der bereits mehrere Bücher über östliche Philosophie verfaßt hatte, der an den Hochschulen in New England kein Unbekannter war und der sich für die Polizeibehörden von Boston als ein wertvoller Mitarbeiter erwiesen hatte - insbesondere beim Aufspüren vermißter Personen.

»Dies«, so erklärte er nach etwa drei Stunden Flugzeit, »ist übrigens auch der Grund, weshalb ich nach Hongkong fliege. Einer meiner ehemaligen Studenten an der Universität von Boston, ein erfrischend kluger junger Mann chinesischer Abstammung, telegrafierte mir vor einigen Tagen aus Hongkong und bat mich, ihm bei der Suche nach einem vermißten Verwandten behilflich zu sein.«

»Glauben Sie, Sie können ihm helfen?« fragte Mrs. Pollifax interessiert.

»Etwas bekomme ich ganz sicher heraus«, erwiderte er überzeugt.

Mrs. Pollifax musterte ihn aufmerksam und kam zu dem Schluß, daß er wahrscheinlich recht hatte; denn in den Augen dieses Mannes lag unbestreitbar etwas äußerst Ungewöhnliches, fast Übersinnliches. »Wie machen Sie das eigentlich?« fragte sie. »Bisher bin ich erst ein einziges Mal einem Menschen mit einer derartigen Begabung begegnet - einer Zigeunerin übrigens - und es war keine Zeit, sie nach ihrem Geheimnis zu fragen. Wie gehen Sie an einen solchen Fall heran? Was geschieht dabei?«

»Es ist grob gesagt eine Frage der Vorstellungskraft«, erklärte Mr. Hitchens. »Ich konzentriere mich zum Beispiel auf einen Gegenstand, der der vermißten Person gehört, und er sagt mir, ob die betreffende Person noch am Leben ist... Oder manchmal versetze ich mich in einen tranceähnlichen Zustand und erhalte Eindrücke - genauer gesagt Bilder -, die mir Hinweise auf den Aufenthaltsort der betreffenden Person geben.«

»Eindrücke«, sinnierte Mrs. Pollifax, und als eine Bewegung einige Sitzreihen vor ihr ihre Aufmerksamkeit erregte, fragte sie: »Welchen Eindruck macht zum Beispiel dieser Mann dort vorne, der eben von der Toilette zurückkommt, auf Sie?« Es war derselbe junge Mann, dem sie zuvor in die Hacken getreten war.

Mr. Hitchens folgte ihrem Blick. Seine Augen wurden schmal. »Die schwärzeste Aura, die ich seit langem gesehen habe«, erklärte er unangenehm berührt und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Dieser Mann hat eine eindeutige Ausstrahlung von Gewalttätigkeit.«

»Innerlich oder äußerlich?« fragte Mrs. Pollifax interessiert.

»Wenn jemand ein Mörder ist«, erwiderte Mr. Hitchens voller Abscheu, »ist es dann wichtig, ob ein innerer Zwang besteht oder ein äußerer Anreiz?«

»Nein, wahrscheinlich nicht«, antwortete Mrs. Pollifax. »Zufällig betrat ich die Maschine in der Schlange direkt hinter diesem Mann und trat ihm aus Versehen auf die Ferse. Er bedachte mich mit einem Blick, als wollte er mich... nihilieren.«

Mr. Hitchens nickte. »Ein sehr zutreffendes Wort, dessen Stamm >nihil< soviel bedeutet wie >in Nichts auflösen< -zerstören. Doch erzählen Sie mir mehr von dieser Zigeunerin, die Sie vorhin erwähnt haben. Das interssiert mich.«

Mrs. Pollifax erzählte ihm ihre Erlebnisse mit der Zigeunerkönigin Anyeta Inglescu, und ehe sie sich versah, befanden sie sich mitten in einem überaus faszinierenden Gespräch über übersinnliche Erfahrungen, über Heilung durch Glauben, Vorahnungen, Energiezustände und Vorherbestimmung. Außerdem erfuhr sie, daß Mr. Hitchens ebenfalls im Hongkong-Hilton wohnen würde.

»Was halten Sie davon, wenn wir nach unserer Ankunft zusammen frühstückten?« schlug er vor.

»Werden Sie nicht von Ihrem Freund abgeholt?« fragte sie überrascht.

»Nein. Ich bestand darauf«, erzählte er, »denn ich möchte zunächst meine eigenen Eindrücke gewinnnen... « »Schon wieder dieses Wort«, lächelte Mrs. Pollifax. »...und mich dann für ein paar Stunden ausruhen, meditieren und meinen Kopf freibekommen. Mein junger Freund wird mich gegen Mittag anrufen: wir werden zusammen essen und dann mit der Arbeit beginnen. Doch ich muß sagen, ich finde Ihre Gesellschaft sehr anregend und nicht im geringsten störend, sodaß Sie mir eine große Freude bereiten würden.« Er lächelte zum ersten Mal seit sie ihn kennengelernt hatte. »Es sei denn, Sie haben andere Pläne?«

Mrs. Pollifax versicherte ihm, daß sie keine anderen Pläne habe und sehr gerne mit ihm frühstücken würde. Dann fielen sie beide in einen unruhigen Schlaf, während sie in fortwährender Morgendämmerung und durch mehrere Zeitzonen ihrem Ziel entgegenflogen. Als die Maschine schließlich Stunden später auf dem Kai-Tak-Airport von Hongkong landete, betraten sie mit weichen Knien und, aufgrund der Zeitverschiebung, mit ungutem Gefühl in der Magengegend asiatischen Boden.

An der Paßkontrolle stand der Hagere mit dem pok-kennarbigen Gesicht erneut vor Mrs. Pollifax in der  Schlange der Wartenden. Wie sie feststellte, war es ein kanadischer Paß, den er dem Uniformierten zuschob, und später, am Gepäckkarussell, griff er nach einem sehr teuer aussehenden und offenbar sehr schweren Schweinslederkoffer und verschwand in der Menge. Sie verlor ihn aus den Augen und nach einer schier endlosen Wartezeit an der Zollabfertigung trat Mrs. Pollifax schließlich - in Begleitung von Mr. Hitchens - in die klare, noch immer etwas kühle Morgenluft von Hongkong.

»Die Sonne scheint!« seufzte sie glücklich und sog die würzige Seeluft tief in ihre Lungen. Noch besaß die Sonne nicht die Kraft, alles mit dem goldenen Schein des tropischen Mittags zu überziehen, doch das silberne Morgenlicht, das sie über den blauen Hafen warf, tauchte die Felsen in der Bucht und die Fassaden der Häuser in einen zauberhaften Glanz. »Dort drüben liegt Hongkong«, erklärte Mrs. Pollifax und deutete auf die Reihen weißer Gebäude, die sich jenseits der Bucht, entlang der steilen Bergflanken, erstreckten.

Im hellen Licht der Morgensonne hatten Mr. Hitchens Augen beinahe die Farbe von Quecksilber angenommen. Sein Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm. »Wunderschön«, murmelte er. »Fast wie die weißen Klippen von Dover.«

Sie stiegen in ein Taxi und verließen Kowloon, tauchten in einen schier endlosen Tunnel, und als sie wieder ans Tageslicht kamen, befanden sie sich bereits in Hongkong. »Das ist der Rest der britischen Kronkolonie, der den Engländern bleibt, wenn sie 1997 Kowloon und die anderen Neuen Territorien an Rotchina zurückgeben müssen«, wandte sich Mrs. Pollifax an ihren Begleiter.

»Zurückgeben?« wunderte sich Mr. Hitchens. »Sie müssen entschuldigen, aber ich verstehe nicht ganz...«

»Diese Gebiete«, erklärte Mrs. Pollifax, »sind an Großbritannien lediglich verpachtet worden. Wenn ich mich nicht irre, wurde Hongkong Anfang des 19. Jahrhunderts gegründet -das hatte alles irgendwas mit dem Opiumhandel zu tun - und da die Stadt auf einer sehr kleinen Insel von weniger als einhundert Quadratkilometern errichtet wurde und mit den Jahren einen wahren Boom erlebte, breitete sie sich nach Kowloon hinüber aus. Deshalb war Großbritannien gezwungen, mit China einen Pachtvertrag für die Neuen Territorien abzuschließen. Angeblich fällt der Kurs des Hongkong-Dollars jedesmal bis in den Keller, wenn zwischen China und Großbritannien die Bedingungen der Übergabe im Jahr 1997 verhandelt werden. China ist nicht bereit, auf die Erfüllung des Abkommens zu verzichten.«

»Alles ist hier also vergänglich«, bemerkte Mr. Hitchens. »Wie das Leben selbst, könnte man sagen.« '

Sie lächelte und stellte erneut fest, daß sie seine Gegenwart als äußerst angenehm empfand; sie half ihr, sich daran zu gewöhnen, ohne Cyrus unterwegs zu sein. Wie verwöhnt sie doch mit der Zeit geworden war, dachte sie, ohne daß es ihr bisher aufgefallen wäre.

»Man könnte fast glauben, in Manhattan zu sein«, stellte Mr. Hitchens später verdrießlich fest. »Meine weißen Klippen sind zu Banken, Hochhäusern und Hotels verkommen! Nur die Gesichter in den Straßen sind anders. .. «

»Ja«, nickte sie. »Sie sind anders. Schließlich sind 98 Prozent der Bevölkerung Hongkongs Chinesen. Aber die Diplomatenkoffer sind die gleichen, nicht wahr?«

»Sie sind offensichtlich sehr gut informiert«, bemerkte :Mr. Hitchens.

Sie verschwieg, daß Bishop ihr auf der langen Fahrt zum Flughafen einiges über Hongkong sowie eine Reihe interessanter historischer Anekdoten erzählt hatte, die Mr. Hitchens zweifellos in Erstaunen versetzt hätten.

»Viel mehr weiß ich auch nicht, muß ich zugeben - und außerdem ist der Tag viel zu schön für Fakten und Daten. Ich war letztes Jahr schon mal hier, für eine Nacht...«

»Ich war in meinem ganzen Leben noch nie außerhalb der Vereinigten Staaten«, platzte Mr. Hitchens heraus.

Dieses rührende Eingeständnis überraschte sie. Sie erinnerte sich nur zu gut, wie verunsichert sie auf ihrer ersten Auslandsreise gewesen war, wie verwirrt und ausgeliefert sie sich während der ersten Tage gefühlt hatte. Mit einem Male freute sie sich, daß sie gemeinsam frühstücken würden.

Ihr Taxi hielt mit quietschenden Bremsen vor dem Eingang des Hongkong-Hilton. Man half ihnen aus dem Wagen, und die Pagen des Hotels bemächtigten sich ihres Gepäcks. Sie stiegen die Stufen zur riesigen Hotelhalle empor, wo Mr. Hitchens, nachdem er sich eingetragen hatte, Zimmer 601 bekam, während man Mrs. Pollifax den Schlüssel zu Zimmer 614 überreichte.

»Dasselbe Stockwerk«, murmelte Mr. Hitchens.

»Wir sind praktisch Nachbarn«, bestätigte sie und wandte sich erneut an den Angestellten an der Rezeption. »Und wo gibt es Frühstück?« erkundigte sie sich.

»Im Goldenen-Lotus-Saal«, erwiderte der Angestellte, beugte sich über den Schalter und deutete in die Richtung.

»Ich würde mich sehr gerne vorher rasieren«, sagte Mr. Hitchens. »Ist es Ihnen recht, wenn wir uns in einer halben Stunde dort treffen?«

»Schön... Wenn ich mich recht erinnere, gibt es ein Frühstücksbuffet mit Papayas, Melonen und allem, was das Herz begehrt.«

»Ich kann's kaum erwarten«, strahlte Mr. Hitchens.

Zimmer 614 war beeindruckend. Die Sonne strömte durch die breite Fensterfront, und in Gedanken dankte Mrs. Pollifax Bishop, der alles arrangiert hatte. Sie warf einen Blick in den kleinen, doch bis obenhin gefüllten Kühlschrank in der Ecke, nahm ihren Hut ab und ließ sich dann auf das Bett sinken, um den Stadtplan, den Bishop ihr - zusammen mit einem Bündel Hongkong-Dollars - gegeben hatte, eingehend zu studieren. Feng-Imports lag laut Bishop im Stadtteil West Point - unweit des buddhistischen Man Mo Tempels - und versteckt als das unscheinbare Haus Nummer 31 in der Dragon Alley. Die Lage des Hauses war auf dem Stadtplan ganz leicht mit Bleistift markiert, und Mrs. Pollifax schätzte die ungefähre Entfernung vom Hotel. Sie würde ein Taxi nehmen müssen, stellte sie fest, als ihr Finger über exotische Namen wie Ice House Street, Cotton Tree Drive, Jardine's Bazaar und Yee Wo Street fuhr. Ganz sicher nicht New Jersey, dachte sie erfreut und überlegte, daß es wohl am besten wäre, in der Dragon Alley zu sein, noch ehe der Laden öffnete, um Sheng Ti abzufangen, bevor er das Haus betrat.

Wenige Minuten später saß Mrs. Pollifax erwartungsvoll im Goldenen-Lotus-Saal, in dem sie bereits im Juni des letzten Jahres opulent gespeist hatte. Ein weiß livrierter Ober goß ihr gewandt dampfenden Kaffee ein. Sie nippte an der Tasse, wartete auf Mr. Hitchens und beobachtete die fremdartigen Gesichter an den Tischen um sie herum. Geschäftsleute gestikulierten heftig über irgendwelchen Kostenrechnungen. Die jungen Pärchen mit ihren Kameras waren offensichtlich Touristen. Als Mr. Hitchens endlich auf dem Stuhl neben ihr Platz nahm, trug er Hosen mit Bügelfalten und ein Jackett. Er sah jetzt älter, weniger exzentrisch und eine Spur weniger interessant aus, doch in seinen Augen und auf seinem Gesicht spiegelten sich Erregung und Unternehmungslust.

»Sie werden nicht glauben, wen ich gerade in der Halle gesehen habe«, platzte er mit jungenhafter Begeisterung heraus. »Den drittreichsten Mann der Welt! Den drittreichsten Mann der westlichen Welt, um genauer zu sein... Hier im Hotel!«

»Nun sind Sie es, der sehr gut informiert ist«, erwiderte sie. »Wer um alles in der Welt ist dieser drittreichste Mann der

Welt?«

»Er heißt... eh... « Er legte die Stirn angestrengt in Falten. »Ach ja: Lars... Lars Petterson.« Er strahlte. »Als ich auf mein Zimmer kam, machte ich den TV an, und HongkongTelevision brachte gerade ein Interview mit ihm... «

»Ich habe sicherlich auch einen TV im Zimmer, aber er ist mir gar nicht aufgefallen«, erwiderte Mrs. Pollifax zerstreut.

Er lachte. »Ich bin femsehsüchtig, müssen Sie wissen; besonders nach Serien wie die >I-Love-Lucy-Show< oder die >Mary-Tyler-Moore-Show< - und nach grünen Bananen«, fügte er hinzu. »Wahrscheinlich ein Schock für meine bisherigen drei verflossenen Ehefrauen, die wohl erwartet hatten, ein Psychologe müsse ein aufregendes Leben rühren.«

»Und mit Fernsehserien und grünen Bananen hatten sie nicht gerechnet«, stellte Mrs. Pollifax amüsiert fest.

»Anscheinend nicht... Oh, danke sehr«, sagte Mr. Hitchens, als der Ober ihm den Kaffee eingoß. »Dort ist er!« flüsterte er aufgeregt und nickte mit dem Kopf in Richtung des Eingangs.

»Wer?« fragte Mrs. Pollifax.

»Mr. Petterson - der Mann, von dem ich Ihnen eben erzählt habe.«

Mrs. Pollifax schielte unauffällig über den Rand ihrer Kaffeetasse, um einen verstohlenen Blick auf den drittreichsten Mann der Welt zu werfen.

»Der Mann an der Tür«, erklärte Mr. Hitchens, »der, der gerade mit dem Ober spricht.«

Mrs. Pollifax' Blick fiel auf einen außerordentlich attraktiven jungen Mann, blond und braungebrannt. Allein seine leicht gebogene Nase bewahrte ihn davor, geradezu unverschämt gut auszusehen. Er trug einen orangefarbenen Blazer, silbergraue Hosen, ein gestreiftes blaues Hemd und ein orangefarbenes Halstuch. Mrs. Pollifax blinzelte verblüfft. »Wer ist das, sagten Sie?«

»Lars Petterson. Ein Däne, glaube ich - obwohl er einen englischen Akzent hat.« Sein Blick kehrte zu Mrs. Pollifax zurück. »Ist etwas?« fragte er.

Mrs. Pollifax, noch immer leicht verwirrt, lächelte: »Nein, nein, alles in Ordnung.«

Es war jedoch nichts in Ordnung. Gegenwart und Vergangenheit gerieten durcheinander. Denn der angeblich drittreichste Mann der Welt, der eben gerade den Saal betrat, war für Mrs. Pollifax kein Unbekannter. Sie hatte ihn als Robin Burke-Jones in der Schweiz kennengelernt. Er war ein überaus erfolgreicher Dieb und Fassadenkletterer gewesen, der Scheichs und andere reiche Leute diskret um ihren Schmuck und ihre Juwelen erleichterte. Einen kurzen Augenblick wirbelte eine Flut von Bildern durch Mrs. Pollifax' Kopf: Unter anderem das Bild, als sie Robin mit ihrer Schmuckschatulle in der Hand überraschte und er dann verwundert fragte: »Sie werden mich also nicht anzeigen? Sie werden der Polizei nichts erzählen?« Oder das Bild, als er ihr mit einem Seil die Flucht über den Balkon ermöglichte - die Flucht vor einem Killer, der in der Hotelhalle auf sie wartete. Die Bilder von einer schier endlosen Nacht, die sie gemeinsam mit einem kleinen Jungen im Castle Chillon verbrachten, von dem Fluchtweg, den sie schließlich doch entdeckten, von Robin, der in einem winzigen Ruderboot saß und heiser flüsterte: »Hier bin ich! Warum haben Sie denn solange gebraucht?«

Der liebe Robin! Sie freute sich irrsinnig, ihn hier zu sehen. Das letzte Mal hatte sie ihn anläßlich seiner Hochzeit gesehen, bei der sie Trauzeugin gewesen war. Und zu Weihnachten hatte sie von ihm und seiner Frau Court die übliche Karte erhalten.

Als Robin heiratete, hatte er für immer den Gefahren der Fassadenkletterei und des Einbrecherhandwerks abgeschworen und war ein anständiger Bürger geworden, erinnerte sich Mrs. Pollifax. Das war es! Sie hätte gleich darauf kommen können! Robin war bei der Interpol, die seine beachtlichen Talente erkannt und ihm einen Job auf der anderen Seite des Gesetzes angeboten hatte.

»Allerdings«, so überlegte sie weiter, und ihre Neugier regte sich, »würde mich brennend interessieren, was er hier in Hongkong zu suchen hat - als Lars Petterson, der drittreichste Mann der Welt!«

3

»Ich denke, ich werde noch eine Tasse Kaffee trinken«, erklärte Mrs. Pollifax eine halbe Stunde später, als sich Mr. Hitchens anschickte zu gehen.

»Oh«, machte Mr. Hitchens und fügte dann eilig hinzu: »Natürlich - ja.« Einen Augenblick lang schien er betroffen, doch dann nickte er und lächelte. »Nun denn«, sagte er. »Da wir beide nur eine Woche bleiben, sehen wir uns vielleicht beim Rückflug wieder.« Er steckte ihr die Hand entgegen. »Es war mir eine echte Freude, Sie kennengelernt zu haben.«

Sie erhob sich, um ihm die Hand zu reichen. »Lassen Sie doch von sich hören, wenn Sie Ihren Vermißten gefunden haben«, sagte sie. »Oder rufen Sie mich an, wenn Sie wollen... Zimmer 614.«

Sein Lächeln wirkte etwas hilflos und erinnerte sie daran, daß er noch nie in einem fremden Land gewesen war. Wahrscheinlich würde er sie völlig vergessen haben, sobald er mit seinem chinesischen Freund unterwegs war. Doch sie verstand sehr gut, daß er im Augenblick den Wunsch hatte, mit dem einzigen Menschen, den er hier kannte, zusammen zu sein. »Viel Glück bei der Jagd!« wünschte sie ihm lächelnd und sah ihm nach, als er in Richtung Hotelhalle davonging.

Als ihr Blick ihm nicht mehr folgen konnte, setzte sie die Tasse ab, griff nach ihrer Handtasche und ging zum Früh-stücksbuffet, das in der Mitte des Goldenen-Lotus-Saals aufgebaut war und hinter dem Robin verschwunden war. Robin hatte sie vermutlich nicht gesehen, und sie kam zu dem Schluß, es sei ein Gebot der Fairneß, sich ihm bemerkbar zu machen -denn wer konnte wissen, in welch ungünstige und für ihn möglicherweise peinliche Situation ihn ein überraschendes Zusammentreffen mit ihr bringen konnte. Sie schlenderte -anscheinend an den ausgebreiteten Köstlichkeiten interessiert -um das Büffet herum, während ihr Blick Robin suchte. Er saß mit dem Gesicht in ihre Richtung und unterhielt sich angeregt mit einem kleinen und ziemlich korpulenten chinesischen Gentleman, der an seinem Tisch saß. Als Mrs. Pollifax bis zu den köstlich duftenden aufgeschnittenen Ananasscheiben vorgedrungen war, machte sie eine plötzliche, unvermittelte Bewegung, die Robins Aufmerksamkeit erregen mußte. Er sah zu ihr herüber.

Ihre Blicke trafen sich, und für den Bruchteil einer Sekunde verschlug es ihm die Sprache. Sie ließ ihren Blick wie zufällig über sein Gesicht wandern und sah dann mit der Gleichgültigkeit eines Fremden an ihm vorbei. Er hatte sich wieder gefaßt und wandte sich erneut seinem Begleiter zu. Er hatte sie erkannt. »Sehr gut«, dachte sie zufrieden, ließ den Schinken, die Eier und die Wärmeplatten mit den Omelettes links liegen, betrachtete interessiert eine prachtvolle, leuchtendrote tropische Blume, die als exotischer Farbtupfer das Büffet zierte und verließ den Goldenen-Lotus-Saal.

Ihre Gedanken weilten bereits bei Sheng Ti. Sie durchquerte zielstrebig die Hotelhalle und sah sich, auf der Straße angelangt, nach einem Taxi um.

Während Mrs. Pollifax im Taxi durch die Straßen von Hongkong fuhr, kehrten ihre Gedanken zu Sheng Ti zurück, mit dem sie das Schicksal nun schon mehrere Male zusammengeführt hatte: Einmal im Bazar von Turfan, zum zweiten Mal in jener Nacht, als sie feststellte, daß auch der KGB in den Fall verwickelt war, und dann noch einmal in Urumtschi, als er am Straßenrand kauerte und mit der stoischen Geduld des Asiaten auf sie wartete. Sie würde nie vergessen, wie seine Augen aufleuchteten, als er sie endlich sah. Unbestreitbar hatte das kommunistische Regime wahre Wunder im Interesse der Mehrheit der nahezu einer Milliarde Einwohner Chinas bewirkt, doch Mrs. Pollifax hatte das Schicksal Sheng Tis immer als ein Beispiel für den Preis betrachtet, der für diese Wunder bezahlt werden mußte, denn Sheng Ti war... - sie versuchte sich den Eindruck, den der Junge auf sie gemacht hatte, wieder zu vergegenwärtigen -... Sheng Ti war anders gewesen, war von der Norm abgewichen: nicht nur weil seine Eltern reiche Bauern gewesen waren, sondern vor allem wegen der Folgen, die dieser Umstand für das Leben von Sheng Ti gehabt hatte: Im China Maos war ihm nie die Möglichkeit geboten worden, seine überdurchschnittliche Intelligenz nutzbringend und sinnvoll einzusetzen; vielmehr hatte man ihn im Alter von sechzehn Jahren in eine der ländlichen und fast mittelalterlich-primitiven Kommunen in Zentralchina verschickt, von der er nach drei Jahren geflohen war. Dafür war er in ein Arbeitslager, das noch weiter im Westen des riesigen Reiches lag, verbannt worden. Sechs Jahre lang arbeitete er in einer Straßenbaukolonne in der Nähe von Urumtschi, doch auch dort fiel es ihm schwer, sich einzuordnen, und seine Strafakte war über die Jahre hinweg immer dicker geworden, bis er schließlich zu einem >hai fen<, einem Außenseiter - ohne jegliche Hoffnung und Aussicht auf eine bessere Zukunft - gestempelt war, als den sie ihn kennengelernt hatte. Diese ungeheure Vergeudung menschlicher Kreativität, und die verzweifelte Auflehnung, mit der sich sein gesamtes Wesen gegen die Vernichtung seiner Talente und die Mißachtung seiner Intelligenz zur Wehr setzte, hatte sie tief betroffen gemacht.

In Amerika wäre Sheng Ti sicherlich Anwalt oder Lehrer geworden - davon war Mrs. Pollifax überzeugt -, .denn er besaß eine stark ausgeprägte Neugierde, und Mrs. Pollifax betrachtete Neugierde als einen untrüglichen Ausdruck von Intelligenz. Für Leute, die nie Fragen stellten, die niemals nach dem Warum oder Wie fragten, empfand sie Bedauern. In Maos China stellteman keine Fragen - man paßte sich entweder an, oder man wurde zum Außenseiter, zum Staatsfeind, deklariert.

Sie selbst hatte damals darauf gedrängt, Sheng Ti gemeinsam mit Wang Shen aus China herauszuschmuggeln, und sie fragte sich nun, ob sie ihm damit einen guten Dienst erwiesen hatte -falls er, wie Bishop angedeutet hatte, in Hongkong tatsächlich nicht glücklich war.

Das Taxi hielt vor der Einmündung eines engen Seiten-gäßchens, und der Fahrer erklärte ihr, sie würde, wenn sie dem Gäßchen folgte, nach ein paar hundert Metern rechter Hand auf den Beginn der Dragon Alley stoßen. Mrs. Pollifax zahlte das Taxi, und als sie vom Trottoir zurücktrat und dem davonfahrenden Wagen nachblickte, fühlte sie eine Welle der Erregung, die ihr Herz bis zum Hals schlagen ließ. Das lärmende und hektische Leben um sie, das farbenfrohe Menschengewimmel in den schmalen gewundenen Gäßchen ließen keinen Zweifel zu: Sie war nach China zurückgekehrt; sie hatte es wiedergefunden, das Land, das sie so sehr liebte - hier, an einer Straßenecke der Altstadt von Hongkong, weit entfernt in Zeit und Lebensstil von dem prachtvollen und imposanten Handelszentrum der Stadt, wo sie eben noch gefrühstückt hatte.

»Das ist das China, das ich gesucht habe«, dachte Mrs. Pollifax, und fast schwelgerisch sog sie die aromatischen Düfte, die aus den kleinen Läden auf die Straße strömten, in die Lungen. Das schmale Gäßchen, das sie hinaufblickte, war gesäumt von eng aneinander geduckten Häusern, von deren Fassaden ein Wald von Schildern und Reklametafeln in schreienden Farben bis weit in die Straße hinein reichte. Die Bambusstangen, die von den Balkons der Häuser fast bis zur Mitte des Gäßchens ragten, taten ein übriges, das bunte Bild zu vervollkommnen: An ihnen flatterten knallbunte Wäschestücke, vorwiegend in grellem Rot, die in der leichten Brise, die vom Meer heraufwehte, zum Trocknen ausgehängt waren. Obwohl es noch früh am Tage war, pulsierte die enge Straße bereits von Leben und Geschäftigkeit. Auf den Gehsteigen reihten sich Verkaufsstände, die Plastikblumen, frische Schnittblumen, Sandalen, Gewürze und Kräuter, getrockneten Fisch und frisches Obst feilboten. Der Duft von Räucherstäbchen, Ingwer und gebratenen Nudeln hing in der Luft. Das Stimmgewirr der Passanten, die schrillen Rufe der Verkäufer und das Plärren von Transistorradios vermischten sich zu einem exotisch-bunten Klangteppich, der sich vor Mrs. Pollifax ausbreitete.

»Wie wunderschön«, seufzte sie und setzte sich in Bewegung, um das enge Gäßchen hinaufzuschlendern. Hin und wieder blieb sie an einer der Straßenbuden stehen, um einen Blick auf die Gläser mit eingelegtem Schlangenfleisch, aufgehäuften Gingsengwurzeln oder Reiseandenken von Hongkong zu werfen. Genau wie der Taxifahrer es ihr beschrieben hatte, stieß sie nach wenigen Minuten auf die Einmündung der Dragon Alley, die - kaum breiter als eine ausgetretene Steintreppe - zu einer oberhalb gelegenen Parallelstraße führte. Ohne zu zögern, begann Mrs. Pollifax die flachen und schiefgetretenen Steinstufen emporzusteigen.

Das Haus mit der Nummer 31 lag auf der rechten Straßenseite. Es beherbergte einen schäbigen kleinen Laden, dessen Schaufenster blind vor Staub war. Über der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift >Feng-Imports< - in englischen und in chinesischen Lettern. Die Ladentür war noch verschlossen, wie Mrs. Pollifax mit einem schnellen Blick aus den Augenwinkeln feststellte. Wie eine neugierige Touristin ließ sie ihre Blicke über die malerischen Fassaden wandern, und scheinbar ganz zufällig blieb sie an dem Schaufenster von Feng-Imports hängen. Offensichtlich unentschlossen - und wie sie hoffte gänzlich unauffällig - blieb sie stehen, um die ausgestellten Elfenbein- und Jadeschnitzereien zu betrachten.

Die Stücke waren von erlesener Qualität und schienen irgendwie gar nicht in das verstaubte Fenster zu passen. Mrs. Pollifax versuchte in das Innere des Ladens zu spähen; soweit sie jedoch feststellen konnte, war er leer. Sie trat einen Schritt zurück und entdeckte an der Innenseite der Glastür eine handgeschriebene Notiz mit den Öfnungszeiten des Ladens. Er war erst ab 10 Uhr geöffnet, Jetzt war es 9 Uhr 40.

Mrs. Pollifax wandte sich ab und schlenderte weiter. Haus Nummer 33 war ebenfalls ein Laden - ein Laden für Plastikblumen. Auch er hatte noch nicht geöffnet. Haus Nummer 35 war besonders schmal und zum Teil hinter einer Steinmauer versteckt. In Nummer 37 befand sich die Werkstatt eines Schneiders, eines schmächtigen Alten, der über seine Nähmaschine gebeugt saß. Dann folgte die kahle Wand des Eckhauses der Dragon Alley, dessen Fenster und Eingang auf die oberhalb liegende Straße blickten. Auf der linken Seite der Dragon Alley lagen - von einem kleinen Elektroladen abgesehen, der billige Transistorradios feilbot -windschiefe, winzige Holzhäuschen mit Balkons und Gartentürchen, die in Hinterhöfe führten. Neben der Eingangstür eines dieser Häuser hing ein Schild mit der Aufschrift >ZIMMER<. Vor diesem Haus, dem Haus Nummer 40, stand eine kleine Bank, auf die sich Mrs. Pollifax sinken ließ, um auf Sheng Ti zu warten.

Fünfzehn Minuten vor zehn Uhr kam ein junges Mädchen die Stufen der Dragon Alley emporgeeilt und strebte auf die Eingangstür von Feng-Imports zu. Es war eine auffallend hübsche Chinesin in einem dunkelblauen Baumwoll-Cheongsam, mit rabenschwarzem Haar und einer Haut so weiß wie Porzellan. Sie schloß die Tür auf und verschwand im Laden. »Angestellte Nummer eins«, entschied Mrs. Pollifax.

Punkt zehn Uhr trat ein Mann mit einem schweinsledernen Koffer in der Hand aus Feng-Imports, was Mrs. Pollifax in Erstaunen versetzte, denn sie hatte niemanden gesehen, der den Laden betreten hatte. Mit großen Schritten eilte er das Gäßchen herauf. Er war großgewachsen und hager und ganz bestimmt kein Chinese. Sein Gesicht war pockennarbig und seine Augen... Mrs. Pollifax brauchte gar nicht hinzusehen, denn sie kannte diese Augen. Es war der Mann, dem sie im Flugzeug auf die Füße getreten hatte - der Mann mit der schwarzen Aura.

Ohne den Blick zu heben, eilte er an ihr vorbei und verschwand dann in der Straße oberhalb der Dragon Alley. »Was hatte dieser Mann bei Feng-Imports zu suchen?« fragte sich Mrs. Pollifax beunruhigt. Aus welchem Grund war er hierhergekommen - offenbar noch ehe er Zeit gefunden hatte, sein Gepäck in einem Hotel zu lassen? So brennend sie diese Fragen auch interessierten, vorläufig mußten sie unbeantwortet bleiben, denn noch wußte sie zu wenig. Und von Sheng Ti war weit und breit nichts zu sehen.

Fünfzehn Minuten nach zehn Uhr - niemand hatte Feng-Imports betreten oder war auch nur in die Nähe des Ladens gekommen - erhob sich Mrs. Pollifax von der Bank und schlenderte die Dragon Alley abwärts, wobei sie ihr Bestes versuchte, um wie eine unternehmungslustige Touristin zu wirken. Erneut blieb sie vor dem Schaufenster von Feng-Imports stehen, damit sie einen Blick in das Innere des Ladens werfen konnte. Es war jedoch nur das Mädchen zu sehen, das mit einem Staubwedel aus Federn irgendwelche Figürchen in einer Vitrine abstaubte. Mrs. Pollifax seufzte tief und versuchte vergeblich, ein Gähnen zu unterdrücken, das sie jedoch übermannte.

Sie beschloß, gegen Mittag noch einmal zurückzukehren und lenkte ihre Schritte in Richtung der Straße, in der sie das Taxi abgesetzt hatte. Sie kehrte ins Hotel zurück, packte ihren Koffer aus und genehmigte sich dann ein kurzes Mittagsschläfchen, um ihren Körper an die Zeitverschiebung zu gewöhnen.

Gegen Mittag war sie bereits wieder auf den Beinen und verließ zum zweiten Mal an diesem Tag das Hotel. Diesmal saß ihr Hut nicht ganz so verwegen, und eine der Rosen - offenbar von der langen Reise und der Zeitverschiebung ebenso angeschlagen wie Mrs. Pollifax selbst - ließ erschöpft den Kopf über die Hutkrempe hängen. Wieder stieg sie die Dragon Alley hinauf, doch nichts hatte sich dort verändert. Nur die Schatten waren schmaler geworden. Mrs. Pollifax blieb erneut vor dem Schaufenster stehen, um interessiert die Jade- und Elfenbeinschnitzereien zu betrachten - und einen unauffälligen

Blick in das Ladeninnere zu werfen. Diesmal waren zwei Personen im Laden: Das Mädchen, das über den Ladentisch gebeugt kleine Elfenbeinfigürchen auf einem Schachbrett anordnete, und ein älterer Chinese mit gekrümmtem Rücken, der auf einem Stuhl hinter dem Ladentisch saß.

Von Sheng Ti keine Spur.

Wieder einmal mußte Mrs. Pollifax feststellen, daß ihr die Geduld, die professionelle Agenten in der Regel auszeichnet, gänzlich abging. Sie war von Natur aus sehr direkt, und bereits der Gedanke, die ganze Woche möglicherweise vergebens vor dem Laden in der Dragon Alley rumzulungern, war ihr ein Greuel. Außerdem würde man früher oder später auf sie aufmerksam werden; selbst wenn sie in irgendwelchen kunstvollen Verkleidungen vor Feng-Imports wartete. Bisher war Sheng Ti zweimal kontaktiert worden - wie Bishop ihr erzählt hatte -, und jedesmal war er im Laden gewesen.

Sie würde ebenfalls hineingehen, denn schließlich lautete ihr Auftrag in Hongkong, Sheng Ti zu finden und mit ihm zu sprechen. Carstairs würden sich zwar entsetzt die Haare sträuben, wenn er davon erführe, doch sie war entschlossen, die Höhle des Drachens zu betreten.

Gelassen und völlig ruhig drückte Mrs. Pollifax die Klinke der Ladentür nach unten und betrat Feng-Imports.

Der Mann, der hinter dem Ladentisch saß, hatte das Gesicht eines ehrwürdigen chinesischen Weisen. Seine Haut erinnerte Mrs. Pollifax an zerknittertes Pergament, und der dünne graue Bart, der sich am Kinn des Alten verlor, tat ein übriges, diesen Eindruck zu verstärken. Sein Blick blieb einen Augenblick lang an den Rosen auf Mrs. Pollifax' Hut hängen, ehe er ihr ins Gesicht sah. In seinen Augen lag eine tiefe Müdigkeit, fand sie, die Müdigkeit eines Mannes, der sein ganzes Leben in einem schäbigen Laden wie diesem verbracht, der jedoch mehr als dies vom Leben erwartet hatte und dem es schwerfiel, sich damit abzufinden.

»Guten Tag«, grüßte Mrs. Pollifax aufgeräumt.

»Guten Tag«, erwiderte der Alte, schob seine Hände in die weiten Ärmel seines Gewands und verbeugte sich leicht.

»Ich möchte Sheng Ti sprechen, bitte«, erklärte Mrs. Pollifax ohne Umschweife.

Das Mädchen sah für einen Augenblick von ihrer Beschäftigung auf und beugte sich dann hastig wieder über die Figürchen. Der Mann - Mr. Feng, wie Mrs. Pollifax annahm -schien zu erstarren, doch sein Gesicht verriet keinerlei Regung. »Wen möchten Sie sprechen?« erkundigte er sich, als hätte er sie nicht verstanden. »Shang-chi?«

»Sheng Ti«, wiederholte Mrs. Pollifax ungerührt.

Fengs Augen ließen Mrs. Pollifax keinen Moment lang los, als er halb zu dem Mädchen gewandt mit leiser Stimme sagte: »Du kannst gehen, Lotus.« Das Mädchen gab Mrs. Pollifax erneut einen neugierigen Blick, ging jedoch wortlos auf eine mit Perlschnüren verhangene Tür zu und verschwand in einem hinter dem Geschäft liegenden Raum. Der Perlvorhang klirrte leise und schloß sich hinter der zierlichen Gestalt des Mädchens. »Aber hier arbeitet niemand, der Sheng Ti heißt«, erklärte der Alte höflich.

»Herrje!« dachte Mrs. Pollifax. »Das wird schwieriger, als ich angenommen habe.« - »Erzählen Sie mir keinen Blödsinn!« fuhr sie Feng an und schickte ein verbindliches Lächeln nach. »Natürlich arbeitet er hier! Ich weiß das aus zuverlässiger Quelle. Und sollte er tatsächlich nicht mehr hier arbeiten, können Sie mir vielleicht sagen, wo ich ihn finden kann? Sie müssen wissen...«, fügte sie etwas atemlos hinzu, »...ich bin nur für eine Woche in Hongkong, und ich möchte ihn unbedingt treffen, ehe ich wieder nach Hause fliege. Sie sind Mr. Feng?«

»Wer sagt, daß er hier arbeitet?« fragte der Alte und blinzelte nervös.

Mrs. Pollifax zog die Notiz, die Bishop ihr gegeben hatte, aus der Tasche und las mit lauter Stimme vor:

»Sheng Ti, Feng-Imports, Dragon Alley 31... Sie sind doch Mr. Feng?«

Feng starrte auf das Stück Papier in ihren Händen. »Darf ich das mal sehen, bitte?« Mit verblüffender Schnelligkeit griff er nach der Notiz und entriß sie ihr, ehe sie reagieren oder protestieren konnte.

»Von wem haben Sie das?« fragte er scharf.

»Von einem Freund Sheng Tis.«

»Einem Freund? Einem Freund Sheng Tis?«

Mit einem Mal hatte Mrs. Pollifax den Eindruck, als sei es sehr wichtig, zu betonen, daß Sheng Ti durchaus ein paar Freunde hatte. »Wundert Sie das?« fragte sie herausfordernd.

»Mich wundert nur, daß jemand wie Sie Sheng Ti kennt«, erwiderte Feng gelassen.

»Ich verstehe zwar nicht, was Sie das angeht«, entgegnete Mrs. Pollifax ebenso gelassen, »doch wenn es Sie beruhigt, kann ich Ihnen das gerne erklären: Ich habe ihn in Rotchina kennengelernt. In der Nähe von Turfan, in der Provinz Xinjiang. Unter äußerst dramatischen und für eine amerikanische Touristin sehr aufregenden Umständen übrigens... «

»Sie sprechen Chinesisch?« fragte er interessiert.

»Mein Begleiter sprach ein paar Brocken«, erklärte sie ungeduldig. »Sheng Ti schilderte uns seine verzweifelte Situation und deutete an, er hätte eine Möglichkeit in Aussicht, das Land zu verlassen. Dies war natürlich gegen das Gesetz und für alle Beteiligten überaus gefährlich.. .« Es gelang ihr, ein dramatisches Zittern in ihre Stimme zu legen. »Ich habe natürlich alles - alles - unternommen, um herauszufinden, was aus ihm geworden ist.« Sie schüttelte erschöpft den Kopf und fügte betrübt hinzu: »Mit anderen Worten: Ich habe unzählige Briefe geschrieben, an sehr viele Türen geklopft und mich nicht abweisen lassen. Und dies gedenke ich auch jetzt nicht zu tun!«

Er reichte ihr die Notiz Bishops. »Es tut mir leid, aber man hat Sie falsch informiert, Mrs. - äh -«

»Pollifax.«

»Mrs. Pollifax. Wir betreiben hier eine Importfirma, und einen Sheng Ti gibt es hier nicht.«

Sie sah ihm geradewegs in die Augen, doch er wich ihrem Blick aus. »Wieso haben Sie dann so viele Fragen gestellt? Ganz offen gesagt, Sir, ich glaube Ihnen nicht.« A

Hinter dem Perlvorhang war ein leises Lachen zu hören, und eine Stimme rief belustigt: »Bringen Sie unsere hartnäckige Freundin herein, Feng.«

Fengs Lippen wurden noch schmaler. »Aber ich glaube nicht, daß...«

»Bringen Sie sie herein!« Die unverkennbare Schärfe, die nun in der Stimme mitschwang, schüchterte Feng offenbar ein, denn er erhob sich hastig und winkte Mrs. Pollifax, ihm zu dem Perlvorhang zu folgen.

Die bunten Glasperlen klirrten erneut leise, und Mrs. Pollifax trat in ein winziges Büro, in dessen Ecke das Mädchen, das Feng Lotus genannt hatte, an einem Tisch saß und Perlen auf einen Faden reihte. Der Mann, der ihr Gespräch mit Feng belauscht hatte, ging voran und öffnete eine Tür an der Rückwand des kleinen Büros. Er trug einen gutgeschnittenen Anzug aus schwarzer Seide. Von hinten wirkte er ziemlich großgewachsen, und Mrs. Pollifax stellte fest, daß er leicht hinkte.

Als Mrs. Pollifax durch die Tür trat, mußte sie unwillkürlich die Augen schließen. Nach der dumpfen Dunkelheit des Ladens konnte sie nur vorsichtig in das helle Licht blinzeln, das durch ein riesiges, schräggestelltes und ziemlich hoch eingesetztes Fenster in den Raum fiel. Zwei der Wände wurden von Regalen eingenommen, auf welchen Hunderte von erlesenen und zum Teil wohl antiken Jade- und Elfenbeinfiguren und -Schnitzereien standen. In dem Regal an der Wand hinter ihr erkannte Mrs. Pollifax Stapel von Holzkisten und anderes Verpackungsmaterial. An der Stirnwand, unterhalb des mächtigen Fensters, stand ein großer Arbeitstisch, auf dem Mrs. Pollifax ein ansehnliches Häufchen kleiner, glitzernder Steine entdeckte.

Doch der Unbekannte interessierte sie im Augenblick wesentlich mehr, und entschlossen wandte sie sich ihm zu.

Er verneigte sich förmlich. »Nehmen Sie doch bitte Platz«, sagte er und über die Schulter gewandt fügte er hinzu: »Danke, Mr. Feng. Das ist vorläufig alles.« Er ging zu einem kleinen Sekretär in der Ecke des Raums und lud sie ein, auf einem der Stühle daneben Platz zu nehmen.

Der Mann war offensichtlich Eurasier, und Mrs. Pollifax nahm an, daß es sich um Mr. Detwiler handelte, obwohl lediglich der Schnitt seiner Augen auf asiatische Vorfahren schließen ließ. Sein Gesicht war breit und ziemlich fleischig, die Nase flach und der Mund auffallend groß. Seine nach oben verlaufenden Mundwinkel verliehen ihm ein freundliches Aussehen und erweckten den Eindruck, als läge das stete und weise Lächeln einer Buddhastatue in seinen Zügen. Zu dem schwarzen Anzug trug er ein blütenweißes Hemd, eine schwarze Krawatte, die eine goldene Nadel zierte, und goldene Manschettenknöpfe; der Duft von Moschus umgab ihn.

»Ich suche Sheng Ti, wie Sie wahrscheinlich gehört haben«, erklärte Mrs. Pollifax energisch.

»Ja - das habe ich gehört«, erwiderte er, und sein Lächeln schien eine Nuance breiter zu werden. »Was wollen Sie von ihm?«

»Ich möchte mich nur vergewissern, daß es ihm gutgeht«, antwortete sie. »Aber... Darf ich offen sein?«

»Ich bitte Sie darum«, sagte er und nickte ihr ermutigend zu.

Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken und ohne die geringsten Gewissensbisse erzählte Mrs. Pollifax das Lügenmärchen, das sie sich ausgedacht hatte, während sie Feng vom Laden in das Hinterzimmer gefolgt war. »Sie müssen wissen«, begann sie und beugte sich vertraulich näher zu Detwiler, »daß mir das Schicksal Sheng Tis sehr auf der Seele lastet. Ich habe bisher eine Menge Unannehmlichkeiten auf mich genommen, um ihn wiederzufinden. Als ich damals in die Staaten zurückkehrte, erzählte ich in meinem Gartenbauverein - gegenwärtig bin ich Präsidentin des Clubs - von meinen Erlebnissen mit Sheng Ti. Und Sie werden es nicht glauben...«, ihre Augen leuchteten vor Begeisterung, »... aber die Damen unseres Gartenbauvereins haben sich einmütig dafür ausgesprochen, die Patenschaft für den jungen Mann zu übernehmen und sich für seine Einreise in die USA einzusetzen!«

»Ich muß zugeben. Sie waren sehr rührig«, lächelte er und musterte sie aufmerksam. »Darf ich bitte mal einen Blick auf den Zettel werfen, den Sie Feng gezeigt halben?«

»Selbstverständlich.« Sie reichte ihm Bishops Notiz. »Ist Sheng Ti bei Ihnen?«

Der Mann studierte das Stück Papier eingehend. »Wie sind Sie eigentlich zu dieser Adresse gekommen?« fragte er.

Mrs. Pollifax holte tief Atem und plapperte munter drauflos. »Ich lernte damals auch den Mann kennen, der Sheng Ti zur Flucht verholten hatte. Ich versuchte also zunächst, diesen Mann ausfindig zu machen, und er erklärte mir, man habe Sheng Ti damals nach Hongkong gebracht. Er gab mir auch eine Adresse, wo man mir eventuell weiterhelfen würde... Eine Adresse in Washington übrigens«, fügte sie treuherzig hinzu. »Nach endlosen Telefongesprächen und zahllosen, hartnäckigen Briefen gab man mir schließlich diese Adresse.«

Der Mann sah von dem Zettel auf und nickte. »Sie haben tatsächlich die einzige Informationsquelle ausfindig gemacht, die über Sheng Tis Aufenthaltsort Bescheid weiß. Niemand sonst hat eine Ahnung, daß sich Sheng Ti hier aufhält.«

»Er ist also tatsächlich hier?«

»Ja«, erwiderte er und reiche ihr lächelnd die Notiz über den Schreibtisch. »Sie müssen verstehen, daß uns Ihre Kenntnis von Sheng Tis Aufenthaltsort äußerst merkwürdig erscheinen mußte. Wie lange werden Sie in Hongkong bleiben?« erkundigte er sich freundlich.

»Eine Woche. Ich werde mir natürlich vor allem die Parks und die Blumenpracht hier ansehen. Ich habe für meine Geranien eine Reihe von Preisen gewonnen und...«

»Ich verstehe«, unterbrach er sie, »aber leider müssen Sie sich den Gedanken, Sheng Ti zu treffen, aus dem Kopf schlagen. Ich hoffe. Sie verstehen... Es geht ihm wirklich gut. Er arbeitet sehr viel, und ich muß Ihnen leider sagen, daß ein Zusammentreffen mit Ihnen für ihn gar nicht von Vorteil wäre.«

»Aber weshalb denn nicht?« rief Mrs. Pollifax enttäuscht aus. »Ich habe eine so weite Reise auf mich genommen, und ich dachte... der gesamte Gartenbauverein dachte...«

»Aber es geht ihm wirklich gut«, versicherte Detwiler. »Vielleicht können Sie ihn später einmal besuchen. In ein paar Jahren vielleicht... Im Augenblick ist er für mich einfach unabkömmlich. Und wenn er seine Englischkenntnisse vervollkommnet hat, brauche ich ihn erst recht. Sie müssen verstehen«, erklärte er freundlich, doch energisch, »ich kann Ihnen diesen Gefallen leider nicht tun. Zumindest nicht im Augenblick...«, fügte er etwas versöhnlicher hinzu.

»Er wollte so gerne auf eine Schule gehen«, seufzte Mrs. Pollifax deprimiert. »Sie schicken ihn doch auf eine Schule? Außerdem wollte er einen Beruf erlernen und...«

»Was diesen Punkt betrifft, können Sie ganz beruhigt sein«, entgegnete Detwiler jovial. »Er lernt fleißig Englisch und auch eine Menge über Jade- und Diamantenverarbeitung. Überzeugen Sie sich selbst«, lächelte er, erhob sich und deutete auf den Arbeitstisch unterhalb des Fensters. »Diese Diamanten entsprechen einem Wert von etwa einhunderttausend Dollar; ein Anblick, der Ihnen vielleicht nie mehr geboten wird.«

Mrs. Pollifax unterdrückte den Wunsch zu widersprechen, denn sie bemerkte Detwilers Ablenkungsmanöver sehr wohl, doch dann besann sie sich eines Besseren, denn schließlich hatte sie ihr Ziel, bis zu Detwiler vorzudringen, erreicht. »Wie heißen Sie übrigens?« erkundigte sie sich mit honigsüßem Lächeln. »Ich nehme an, meinen Namen kennen Sie bereits. Ich heiße Pollifax.«

»Detwiler«, stellte er sich etwas gedankenabwesend vor. »Sehen Sie nur diesen Stein! Fünf Karat, und wie herrlich geschnitten und geschliffen er ist!«

»Verkaufen Sie die Steine in Ihrem Laden?«

»Nein, nein. Wir versenden sie in alle Welt.Diese Steine hier wurden in Antwerpen geschnitten und werden hier in Hongkong geschliffen... In Hongkong werden Diamanten im Wert von Millionen und Abermillionen bearbeitet. Wo diese Steine im einzelnen hingehen, kann ich Ihnen gar nicht genau sagen. Lotus führt bei uns die Bücher und weiß Genaueres... Wir haben Kunden in Ägypten, Saudi-Arabien, Japan...« Er zuckte mit den Schultern und lächelte gewinnend. »Aber erlauben Sie mir, daß ich Ihnen ein kleines Andenken an Hongkong mitgebe. Keinen Diamanten natürlich, aber doch etwas Besonderes. Damit Sie nicht so ganz enttäuscht nach Hause zurückkehren.«

»Oh!«

»Keine Widerrede! Ich bestehe darauf.« Er ging zu den Regalen mit Jade- und Elfenbeinschnitzereien und griff nach einer Jadefigur. Er schüttelte den Kopf, stellte das Figürchen wieder zurück und wählte ein anderes. Er reichte es Mrs. Pollifax. »Das ist Elfenbein«, erklärte er. »Ist es nicht wunderschön?«

»Ein Buddha!« rief Mrs. Pollifax. »Wie hübsch!« Die Figur war etwa 30 Zentimeter groß und - soweit Mrs. Pollifax sehen konnte - ein Meisterwerk der Schnitzereikunst. Der Buddha saß im traditionellen Lotussitz, und vor allem seine Hände waren überaus kunstvoll herausgearbeitet. Auf dem Kopf trug er einen ungewöhnlichen Kopfschmuck, dessen hauchzarte Schnitzereien sich zu einer kunstvollen Haube türmten. Die Falten des Gewandes fielen in schlichten Linien, während das Gesicht eine heitere, friedliche Ruhe ausstrahlte.

»Er gehört Ihnen«, erklärte Detwiler. »Er bedeutet mir beinahe ebensoviel wie Sheng Ti. Betrachten Sie ihn als lein Zeichen der Dankbarkeit für Ihre Besorgnis um .Sheng Ti.«

»Wie reizend! Sie sind geradezu entwaffnend, Mr. Detwiler«, rief Mrs. Pollifax, ohne allerdings auch nur im geringsten entwaffnet zu sein, denn sie überlegte bereits, was sie als nächstes unternehmen würde, um Sheng Ti zu finden.

»Lotus!« rief Mr. Detwiler. »Würden Sie das bitte Mr. Feng bringen. Er soll es für die Dame einpacken.«

Wortlos nahm das Mädchen die Statue entgegen, warf Mrs. Pollifax erneut einen neugierigen Blick zu und verschwand mit dem Buddha.

»Nun ja«, seufzte Mrs. Follifax, »ich sollte Ihre kostbare Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen, Mr. Detwiler. Außerdem gibt es in Hongkong noch so viele Sehenswürdigkeiten, die ich mir keinesfalls entgehen lassen möchte.« Sie seufzte erneut und schüttelte betrübt den Kopf. »Die Damen unseres Gartenbauvereins werden furchtbar enttäuscht sein... , auch wenn er einen Beruf erlernt und sich bei Ihnen wohl fühlt... Sind Sie auch ganz sicher, daß er hier glücklich ist?«

»Aber ganz bestimmt, Mrs. Pollifax; dessen dürfen Sie sicher sein«, erwiderte Detwiler verbindlich.

»Da fällt mir etwas Wichtiges ein, Mr. Detwiler«, sagte Mrs. Pollifax zögernd, denn sie wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, sie sei zu leicht abzuweisen. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn die Damen unseres Clubs an Sheng Ti schrieben? Er könnte ja... « - sie überwand ihre Abneigung gegen diesen Ausdruck- »... eine Brieffreundschaft aufbauen.«

»Dagegen läßt sich absolut nichts sagen«, lächelte Detwiler erleichtert. »Eine gute Idee. Auf diese Weise kann er sein Englisch verbessern, und ich bin sicher, daß er sich sehr darüber freuen wird.«

Mrs. Pollifax bemühte sich, einen Ausdruck von Befriedigung in ihre Miene zu zaubern, schüttelte Detwiler überschwenglich die Hand, murmelte, sie sei entzückt, ihn kennengelernt zu haben, entschuldigte sich für die Störung, vergaß auch nicht, sich für das Geschenk zu bedanken und segelte aus dem Zimmer. Sie durchquerte das winzige Büro und schlüpfte durch den Perlvorhang in den dunklen Laden. Beinahe wäre sie mit einem jungen Mann, einem Chinesen in dunklem Anzug und einem Diplomaten-köfferchen in der Hand, zusammengestoßen. Als er hinter Mrs. Pollifax Detwiler erkannte, hellte sich sein Gesicht auf. Er verbeugte sich und eilte dann an Mrs. Pollifax vorbei in das innerste Heiligtum, das Mrs. Pollifax soeben verlassen hatte.

Mr. Feng reichte ihr ein Päckchen, das in weißes Papier gehüllt war. »Ihr Geschenk«, sagte er mit bewegungsloser Miene, und Mrs. Pollifax versuchte vergeblich, hinter seiner Maske eine emotionale Bewegung - Unmut, Ärger oder Mißtrauen - zu erkennen.

»Oh, vielen Dank«, sagte sie und verließ den Laden. Sie war erleichtert, endlich ihre eigene zur Schau getragene Maske fallenlassen zu können, hinter der sie ihren Ärger und ihre Frustration verborgen hatte.

Obwohl sie notgedrungen das Feld vorläufig geräumt hatte, fühlte sie sich keineswegs geschlagen. Ihre ursprüngliche Strategie war zwar gescheitert, doch sie würde eine andere Möglichkeit finden, mit Sheng Ti in Kontakt zu treten. Selbst die Tatsache, daß sie absolut keine Vorstellung hatte, wie sie das bewerkstelligen könnte, konnte sie nicht entmutigen; allenfalls würde sie Sheng Ti vorerst einmal vergessen und einen Bummel durch Hongkong machen.

Während sie in Richtung der Queen's Road Central spazierte, mußte sie feststellen, daß es gar nicht so leicht war, Mr. Feng und Mr. Detwiler zu vergessen. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu Feng-Imports zurück. Zum Beispiel war es äußerst merkwürdig gewesen, daß sich Mr. Detwiler eingemischt hatte, nachdem Feng bestritten hatte, Sheng Ti zu kennen. Die Frage, weshalb Detwiler dies getan hatte, weshalb er sie in das Hinterzimmer gebeten und zugegeben hatte, daß er Sheng Ti kannte und Feng damit als einen Lügner entlarvt hatte, erschien ihr sehr interessant und wert, genauer darüber nachzudenken. Welchen Grund mochte Detwiler dafür gehabt haben? Schließlich hatte sich dadurch an der Tatsache, daß man jeden Kontakt mit Sheng Ti verhindern wollte, nichts geändert. Eines war klar: dies alles deutete auf interne Differenzen und Spannungen bei Feng-Imports hin. Da diese Differenzen, welcher Art sie auch sein mochten, nicht ihr Problem waren, kam Mrs. Pollifax zu dem Schluß, daß auch diese Frage vorläufig beiseite geschoben werden konnte.

Dies erschien ihr die beste Lösung - bis sie feststellte, daß ihr jemand folgte...

Zunächst waren die Straßen viel zu belebt gewesen, als daß ihr in der Menschenmenge ein bestimmtes Gesicht aufgefallen wäre, doch dann - nachdem sie in etwas ruhigere Straßen abgebogen und hin und wieder vor einem Schaufenster stehengeblieben war, um chinesische Handwerkskunst und Antiquitäten zu bewundem - fiel ihr auf, daß jedes Mal, wenn sie stehenblieb, auch ein Mann etwa zwanzig Schritte hinter ihr stehenblieb und scheinbar interessiert die Schaufenster betrachtete. Aus purem Zufall war ihr eine abrupte Bewegung hinter ihr aufgefallen, als sie fast an einem Schaufenster vorbeigegangen wäre, dann aber doch stehenblieb und ein paar Schritte zurückging. Als sie dann zum vierten Mal ziemlich abrupt vor einer Auslage haltmachte, um einen verstohlenen Blick auf ihren Verfolger zu werfen, erkannte sie ihn: Es war der junge Chinese mit dem Diplomatenköfferchen, der im Laden auf Detwiler gewartet hatte.

Die Tatsache, daß Detwiler einen Schatten auf sie angesetzt hatte, erfüllte sie mit Genugtuung und Zufriedenheit. »Sehr gut«, dachte sie. >Sie sind beunruhigt und wollen absolut sichergehen, daß ich tatsächlich die arglose Touristin bin, die etwas überspannte Präsidentin eines Blumenzüchtervereins, die sich mit dem Versprechen einer Brieffreundschaft nach Hause schicken läßt.« Sie konnte sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen. Natürlich dachte Detwiler nicht im Traum daran, sein Versprechen einzulösen -das war ihr von Anfang an klargewesen... Und mit einem Male wurde ihr auch noch etwas anderes klar: Sheng Ti wurde gefangengehalten, und sein Gefängnis hieß >Feng-Imports<.

Als Mrs. Pollifax schließlich die Queen's Road Central erreichte, hatte sie sich geschworen, Feng-Imports nicht aus den Augen zu lassen - und wenn sie sich als chinesische Bäuerin verkleiden mußte, wie sie es in Turfan schon einmal getan hatte... Sie lächelte bei der Erinnerung an dieses Bravourstück. Zunächst jedoch durfte sie ihre Rolle als Touristin nicht vernachlässigen. Sie blieb stehen, zog den Stadtplan von Hongkong zu Rate und schlenderte dann die Queen's Road hinunter - entschlossen, ihren Verfolger so gründlich und so schnell wie möglich zu erschöpfen.

Stunden später war sie selbst am Rande der völligen Erschöpfung. Kilometer um Kilometer war sie zäh und verbissen kreuz und quer durch Hongkong marschiert, hatte für Cyrus eine seidene Krawatte gekauft, die sie genausogut zu Hause hätte kaufen können, hatte den Botanischen Garten und schließlich den Zoo von Hongkong bis in ihre letzten verschwiegenen Winkel durchstreift- alles um ihren Schatten abzuschütteln, doch der schien förmlich an ihren Fersen zu kleben. Am Ende ihres ausgedehnten Rundgangs durch den Zoo hatte sie im Vogelhaus einige Details über die Lebensgewohnheiten von Seetauchern, Reihern, Schwätzern und Gabelweihen, von denen sie annahm, sie würden Cyrus interessieren, in ihr Notizbuch gekritzelt. Dann war sie zur Peak Tramway gewankt, war glücklich, doch mit schmerzenden Füßen in die Gipfelbahn geklettert und hatte sich ganz dem Schauspiel hingegeben, das sich ihr bot, als die Bahn sie immer höher und höher über die Stadt emportrug, bis sie schließlich den Gipfel des Victoria Peak erreicht hatte.

Es war mittlerweile kurz vor sechs Uhr, und Mrs. Pollifax ließ sich auf einer Parkbank, 600 Meter über der Stadt, nieder und genoß den Blick auf Hongkong. Von hier oben erkannte man erst, wie unglaublich schmal der Streifen Land zwischen dem Berg und dem Meer war, auf dem sich die Häuser der Stadt drängten. Fast bis zum Horizont spannten sich die leuchtendblauen Wasser des Hafenbeckens, und die Fähren, die die schimmernde Wasserfläche durchkreuzten, sahen aus wie Wasserläufer auf einem kleinen Tümpel. Mrs. Pollifax befreite ihre schmerzenden Füße von den engen Schuhen und bewegte mit einem genüßlichen Seufzen ihre Zehen. Sie lehnte sich zurück, nahm ihren Hut ab und bot ihr erhitztes Gesicht der kühlen Brise dar, die vom Meer her wehte. Verstohlen blickte sie nach rechts und erkannte den Mann mit dem Diplomaten-köfferchen, der sich ebenfalls auf eine Bank sinken ließ. Nicht ohne Groll gestand sie sich, daß er sie offenbar besiegt hatte, doch ein zweiter flüchtiger Blick belehrte sie eines Besseren: Auch er beugte sich nach vorn, zog seine Schuhe aus und lehnte sich erschöpft wieder zurück. Mit einem Mal erschienen ihr ihre schmerzenden Füße nur mehr als ein kleines Opfer, das zu bringen sich gelohnt hatte, und der Hunger, den sie seit Stunden verspürte, war plötzlich gar nicht mehr so quälend. Zufrieden schloß sie die Augen, und widmete sich genießerisch der Vorstellung von einem köstlichen Dinner und einem langen, heißen Bad. Dann würde sie ihre Jogaübungen machen und konzentriert und in Ruhe über ihre nächsten Schritte nachdenken.

Sie öffnete träge die Augen, und ihr Blick fiel auf die Pakete, die sie den ganzen Nachmittag durch Hongkong geschleppt hatte: Cyrus' Krawatte und der Buddha aus Elfenbein. Einer plötzlichen Laune folgend öffnete sie das kleinere der Päckchen und hielt die Krawatte in das Licht der Sonne. Ob Cyrus dieser Blauton gefallen würde? Sie hegte mittlerweile ihre Zweifel. Sie legte die seidene Krawatte beiseite und griff nach dem Buddha, um die kunstvollen Elfenbeinschnitzerei noch einmal in Ruhe zu bewundern.

Sie streifte das Packpapier von der Statue und entdeckte zu ihrer Verblüffung ein kleines Stück Reispapier, das über eine Hand des Buddhas geklebt war. Sie riß das Papier ab, und in dem Augenblick, als sie es achtlos in den Wind werfen wollte, fiel ihr auf, daß das Papier mit winzigen Buchstaben beschrieben war. Sie hielt das Stück Reispapier näher an ihre Augen und las:

»Wenn Sie Sheng Ti sehen wollen, finden Sie ihn in einer Hütte im Hinterhof von Nummer 40, Dragon Alley... Nach zehn Uhr...«

4

Etwas verunsichert und ziemlich verwirrt schlüpfte Mrs. Pollifax in ihre Schuhe, und ohne einen weiteren Blick an die Schönheit der Landschaft zu verschwenden, strebte sie der Station der Gipfelbahn zu und nahm den nächsten Waggon zurück in die Stadt.

»Wie?« fragte sie sich ratlos. Und dann: »Wer?« Und schließlich: »Bei welcher Gelegenheit?«

Während der schwindelerregend steilen Fahrt zurück in die Stadt schweifte ihr Blick ziellos über die grünen Wipfel der Bäume und die Dächer der Villen, die sich unter ihr an die Flanken des Berges schmiegten. Ihre Gedanken waren bei Feng-Imports und versuchten, den Schauplatz und die Geschehnisse dort zu rekonstruieren. Mr. Detwiler hatte ihr den Buddha wieder aus der Hand genommen und ihn direkt vor ihren Augen Lotus gegeben. Es erschien ihr äußerst unwahrscheinlich, daß die Nachricht von ihm stammte; vor allem weil er sich geweigert hatte, ihr ein Treffen mit Sheng Ti zu ermöglichen. »Würden Sie das bitte Mr. Feng bringen. Er soll es für die Dame einpacken«, hatte Detwiler zu dem Mädchen gesagt, doch Mr. Feng hatte wohl kaum den Zettel auf die Hand des Buddhas geklebt, denn er hatte ihr gegenüber nicht einmal die Existenz Sheng Tis zugegeben.

Die Bahn fuhr in die Station ein, und Mrs. Pollifax überquerte die Garden Road und strebte hinkend dem Hong-kong-Hilton zu. Sie war zu dem Schluß gekommen, daß allein das Mädchen den Zettel aus Reispapier an den Buddha geklebt haben konnte. Dies setzte jedoch voraus, daß sie die Unterhaltung mit Detwiler belauscht und jedes Wort, das im Hinterzimmer gesagt wurde, verstanden hatte.

An verschlossenen Türen zu lauschen schien bei Feng-Imports eine allgemein verbreitete Unart zu sein. Zuerst Detwiler und dann auch das Mädchen... Ob wohl Mr. Feng bei ihrem Gespräch mit Detwiler in irgendeiner Form ebenfalls mitgehört hatte?

Als Mrs. Pollifax endlich den in den Garden Road gelegenen Eingang zum Hilton erreicht hatte, drehte sie sich noch einmal nach ihrem Verfolger um. Der Mann mit dem Diplomatenkoffer war noch immer hinter ihr, und nur mit Mühe unterdrückte sie den Wunsch, ihm zum Abschied zuzuwinken und ihm zu sagen, er könne sich jetzt in Ruhe seinem Abendessen widmen. Wie unendlich schade, daß sie sich diese freundschaftliche und verbindende Geste nicht erlauben durfte - schließlich hatten sie ja gemeinsam den ganzen Nachmittag verbracht, und seine Füße taten ihm sicherlich ebenso weh, wie ihr die ihren -, denn dies würde ihn sicherlich zutiefst frustrieren und möglicherweise auf den Gedanken bringen, daß sie doch nicht die arglose Touristin war, als die sie sich ausgegeben hatte. Sie nahm sich vor, um zehn Uhr, wenn sie das Hotel erneut verlassen würde, um Sheng Ti zu treffen, besonders vorsichtig zu sein. Er folgte ihr bis ins Untergeschoß des Hotels, durch die unterirdischen Ladenstraßen, in denen sich eine Boutique an die andere reihte und wo alles zu finden war, was der Tourist in Hongkong zu kaufen begehrt: Kameras, Uhren, Schmuck, Edelsteine, Teppiche und Kunstgegenstände. Obwohl Mrs. Pollifax nun ein beachtliches Tempo vorlegte, um endlich in ihr Zimmer zu kommen und ihre schmerzenden Füße zu pflegen, bemerkte sie im Vorbeigehen im Schaufenster einer Boutique eine Reihe von Buddhastatuen. Eine dieser Buddhafiguren war der, die Detwiler ihr geschenkt hatte, ziemlich ähnlich, und Mrs. Pollifax blieb stehen, um einen Blick auf die Statue und das Preisschild zu werfen. Sie war zwar ebenfalls aus Elfenbein, doch die Schnitzereien waren bei weitem nicht so kunstvoll und perfekt wie bei ihrem Buddha. Und der Preis - ungläubig trat sie noch einen Schritt näher und rechnete in Gedanken ein zweites Mal nach... Ihr stockte der Atem, denn umgerechnet kostete der Buddha im Fenster beinahe siebenhundert Dollar.

»Ich brauche schleunigst ein heißes Bad«, dachte sie voller Unbehagen, »denn allmählich geht mir der Fall an die Nieren. Detwiler, den Carstairs im Verdacht hat, ein Überläufer zu sein, schenkt mir einen Buddha, der ein paar hundert Dollar wert ist... Jedermann bei Feng-Imports versucht, ein Treffen mit Sheng Ti zu verhindern, und doch wird mir seine Adresse auf mysteriöse Weise zugespielt... Ich werde beschattet und weiß nicht weshalb... Das Geschenk kann ebensogut als Bestechung gedacht sein, und die Nachricht auf dem Reispapier könnte eine Falle sein...«

Mit ihrem Verfolger im Schlepptau stieg Mrs. Pollifax in den Aufzug, der sie nach oben, in die Hotelhalle beförderte. An der Rezeption holte sie ihren Zimmerschlüssel und wankte zurück zum Fahrstuhl. Ehe sich die Aufzugtür schloß, galt ihr letzter Blick ihrem ständigen Begleiter, der sich soeben erschöpft in einen der weichen und bequemen Sessel in der Lobby fallen ließ und dankbar die Beine von sich streckte.

Mrs. Pollifax genügten zweieinhalb Stunden, um wieder völlig auf dem Damm zu sein. Sie hatte sich - wie es einer Touristin zustand, die trotz eines anstrengenden Flugs den ganzen Tag durch Hongkong gebummelt war - das Essen auf das Zimmer bringen lassen, und nach einem erfrischenden Bad war sie bereit, sich in ihr nächtliches Abenteuer zu stürzen. Für den Abend verzichtete sie auf ihren Rosengarten und nahm mit einem dunklen Kopftuch vorlieb, das zu ihrer schwarzen Hose und der ausgeschnittenen Bluse paßte, die sie für den Ausflug angezogen hatte. Sie steckte den Stadtplan und eine Taschenlampe in ihre Handtasche, dann fuhr sie mit dem Aufzug bis in den zweiten Stock. Von dort nahm sie die Treppe, die in die Hotelhalle hinabführte. Da das Untergeschoß nur mit dem Aufzug zu erreichen war, blieb ihr nichts anderes übrig, als ein Stück durch die Halle zu gehen. Sie erreichte das Untergeschoß und schlenderte durch die Boutiquen, die noch immer geöffnet waren. Eine Weile blieb sie stehen und sah amüsiert zwei kichernden jungen Chinesinnen zu, die an einem elektronischen Meßgerät versuchten, ihren Blutdruck zu messen. Als sie schließlich sicher war, daß sie nicht verfolgt wurde, ging sie hinaus auf die Garden Road. Sie ging einige Blocks zu Fuß, ehe sie ein Taxi heranwinkte, das sie durch die von roten, goldenen und grellweißen Neonreklamen erhellten Straßen von Hongkong chauffierte.

Es war bereits zehn nach zehn, als sie über die Bank stolperte, auf der sie am Morgen gesessen hatte. Die Dragon Alley war beklemmend dunkel; nicht einmal der kleinste Streifen Licht fiel durch die verriegelten Fenster. Am Tor zum Hinterhof der Hausnummer 40 ließ sie kurz ihre Taschenlampe aufblitzen. Behutsam öffnete sie das Tor und schob sich durch den schmalen Spalt. Im Hof war es heller als auf der Straße. Aus dem Rückgebäude des angrenzenden Hauses, offenbar ein Nachtclub oder ähnliches, strömten Licht und laute Musik in den Hof.

Mrs. Pollifax konnte die Umrisse einer kleinen und niedrigen Hütte erkennen, die gegen die Seitenwand des Nachbargebäudes gebaut war. Auf einer Bank vor der Hütte entdeckte sie die schemenhafte, zierliche Gestalt eines Menschen. Mrs. Pollifax schlich sich vorsichtig näher.

»Oh!« Mit einem erstickten Schrei sprang die Gestalt auf. Es war Lotus. In dem matten diffusen Licht leuchtete ihr Gesicht wie durchscheinendes Porzellan.

»Also doch Sie!« flüsterte Mrs. Pollifax.

»Kommen Sie!« flüsterte Lotus zurück. »Hier sind wir nicht sicher! Scht... ganz leise, bitte.«

Sie folgte der zierlichen Gestalt, die in den dunklen Schatten der Mauer tauchte und auf die Rückfront des Gebäudes zustrebte, aus dem die Musik drang. Mrs. Pollifax hörte, wie vor ihr eine Tür geöffnet wurde, dann zog das Mädchen sie durch einen schmalen Korridor und öffnete eine Tür auf der linken Seite des Gangs. Sie traten in einen winzigen Raum, der nur von einer müde dahinglimmenden Öllampe auf einem windschiefen Tisch erleuchtet wurde. Am Tisch saß ein junger Mann, der nervös aufsprang, als er bemerkte, daß Lotus nicht alleine gekommen war. Es war Sheng Ti.

»Xiansbeng!« rief er aus. »Ich wollte es nicht glauben!«

Lachend ergriff Mrs. Pollifax seine ausgestreckte Hand. »Doch, doch - ich bin es, Sheng Ti! Eine gelungene Überraschung, nicht wahr? Wie schön, dich wiederzusehen!« Doch noch während sie ihn begrüßte, stellte sie bestürzt fest, wie sehr er sich verändert hatte. Sein hübsches, in ihrer Erinnerung so lebhaftes und strahlendes Gesicht war eingefallen und hager, und in seinen Augen lagen Trauer und Verzweiflung. »Und nun sag mir, Sheng Ti, weshalb will man verhindern, daß wir uns treffen?«

Sheng Ti antwortete mit einem unverständlichen Schwall chinesischer Worte. Hilfesuchend wandte sich Mrs. Pollifax an Lotus.

Das Mädchen legte ihre Hand beruhigend auf Sheng Tis Arm. »Setzen wir uns doch«, sagte sie mit einem Blick auf die drei Stühle, die um den kleinen Tisch gruppiert waren.

Mrs. Pollifax sah sich in dem winzigen Raum um. Das einzige Fenster war mit einer Decke verhangen, und das trübe Licht der Öllampe warf gespenstische Schatten an die Wände. Mrs. Pollifax konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, an einer verschwörerischen Zusammenkunft in einer Höhle in den Bergen Chinas teilzunehmen. Sie ließ sich auf einen der Stühle sinken und wiederholte die Frage: »Weshalb will man verhindern, daß wir uns treffen?«

Sheng Ti hielt erschreckt den Atem an. »Wenn die wüßten, daß wir uns hier treffen, dann... «

»Dann?«

»Dann würden sie uns umbringen!«

Mrs. Pollifax wandte sich erstaunt an Lotus. »Glauben Sie das auch?«

»Ja«, erwiderte das Mädchen, ohne zu zögern. »In der Dragon Alley 31 stimmt etwas nicht. Zunächst waren es nur Kleinigkeiten... nichts Ernsthaftes, bis ich mich öfters mit Sheng Ti unterhielt und wir Freunde wurden...«

»Wir lieben uns«, erklärte Sheng Ti.

Lotus wurde rot und lächelte schüchtern. »Ja - wir lieben uns. Es ist wunderschön, aber... Aber wir müssen uns heimlich treffen. Und jetzt weiß ich, was sie von ihm verlangen.« Sie schüttelte verwirrt den Kopf.

»Was verlangen sie von ihm?« fragte Mrs. Pollifax. »Sagen Sie es mir, bitte. Es ist sehr wichtig!«

»Zuerst alles gut«, begann Sheng Ti stockend! »Ich kam hierher... vor Lampionfest...«

»Im September«, erklärte Lotus.

»Ja. Und alles sehr gut! Arbeit in Laden. Aber dann kurz vor Neujahr...« Er schüttelte erregt den Kopf. »Alles anders. Mr. Feng und Mr. Detwiler viel Streit. Ich höre sie - durch Tür. Und dann neue Arbeit für mich.« Offensichtlich frustriert von seinem Englisch wandte sich Sheng Ti an Lotus und sprach in Chinesisch auf sie ein.

»Er sagt, daß es ihm in Turfan nichts ausgemacht hat, zu stehlen«, übersetzte das Mädchen, »denn in China war das für ihn die einzige Möglichkeit, nicht zu verhungern. Aber er hatte geglaubt, hier in Hongkong könnte er zur Schule gehen und einen Beruf erlernen.«

Mrs. Pollifax nickte. »Ja - sicherlich. Aber was ist das für eine Arbeit, die sie von ihm verlangen?«

»Stehlen!« erwiderte Lotus. »Zwei Monate lang hat ihm ein Mann namens Hoong beigebracht, wie man als Taschendieb arbeitet. Sie schicken ihn als Taschendieb zum Arbeiten.«

»Was?!« rief Mrs. Pollifax entsetzt.

Sheng Ti nickte bekräftigend. »Alles schlimm jetzt. Sehr schlimm. Mr. Detwiler schlägt mich. Ist sehr böse. Mr. Feng macht Laden jetzt - aber auch sehr böse. Mr. Detwiler nimmt Heroin«, berichtet Sheng Ti aufgeregt. »Ich einmal gesehen - lange Nadel und weißes Pulver. Dann schlägt mich wieder, wenn ich gesehen.«

»Mein Gott!« flüsterte Mrs. Pollifax voller Anteilnahme.

»Ja.«

»Und was mußt du stehlen?« erkundigte sie sich.

»Pässe«, antwortete Sheng Ti.

Dies war eine Überraschung. »Pässe?« fragte sie erstaunt. »Kein Geld?« Sheng Ti schüttelte den Kopf. »Welche Pässe?« erkundigte sich Mrs. Pollifax und versuchte, eine Erklärung für das, was sie soeben gehört hatte, zu finden. »Wie viele? Und von wem?«

Lotus antwortete für Sheng Ti. »Er hat mir nicht alles erzählt, aber soweit ich weiß, schicken sie ihn in einem sehr eleganten Anzug in das Regierungsviertel oder manchmal auch zum Flughafen. Zwei der Pässe, die er gestohlen hat, habe ich gesehen. Einer war bulgarisch und einer kanadisch.« Sheng Ti sagte etwas auf chinesisch zu ihr, und sie nickte. »Er sagt, bisher habe er elf Pässe für Mr. Detwiler gestohlen.«

»Elf«, wiederholte Mrs. Pollifax und legte ratlos die Stirn in Falten.

»Wenn Sheng Ti und ich nicht Freunde geworden wären, und er mir nicht alles erzählt hätte, hätte ich gar nichts bemerkt«, sagte Lotus. »Bei Feng-Imports ist alles sehr undurchsichtig, und man hält alles von mir fern. Ich schreibe nur die Rechnungen, erledige die Geschäftspost und wische im Laden Staub. Aber ich habe den Streit, die Auseinandersetzungen zwischen Mr. Feng und Mr. Detwiler gehört; ihre Stimmen zumindest und...« Sie schüttelte den Kopf. »Etwas ist nicht in Ordnung bei Feng-Imports. Sheng Ti würde am liebsten weglaufen, aber sie haben ihm alle seine Papiere abgenommen. Und ohne Papiere kommt er nicht weit.«

Mrs. Pollifax beugte sich über den Tisch, und ihre Stimme klang heiser. »Er soll nicht weglaufen. Sagen Sie ihm, er soll bitte bleiben und uns helfen. Die Leute, die ihn zu Feng-Imports geschickt haben, wissen, daß dort etwas nicht in Ordnung ist. Deshalb binich hier.«

»Diese Leute werden dir helfen«, sagte sie zu Sheng Ti gewandt. »Wenn du ihnen hilfst, werden sie auch dir helfen.« Die Worte Bishops fielen ihr wieder ein, der gesagt hatte: »Wir sind bereit, ihm die Einreise in die Vereinigten Staaten anzubieten; allerdings nur, wenn er eine angemessene Gegenleistung bringt. Er muß es sich verdienen. Seine Informationen müssen ausreichen, um...« Sie wagte im Augenblick nicht, davon zu sprechen, dennnoch genügten seine Aussagen nicht, das Problem >Feng-Imports< zu lösen. »Könntest du mehr herausfinden, Sheng Ti? Könntest du Mr. Detwiler beschatten? Feststellen, wohin er geht und wen er trifft? Wenn du das herausfindest, verspreche ich dir, daß du deine Papiere zurückbekommst - und eine andere Arbeit und eine Ausbildung... Man hat mir gesagt, das kann ich dir versprechen. Aber zunächst müssen wir herausbekommen, was bei Feng-Imports los ist. Und das kannst nur du allein herausfinden.«

Sheng Ti runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Seine Augen suchten Lotus' Blick. »Ich kann schon nicht mehr klar denken«, sagte er und lachte bitter. »Ich alles tun, alles - will weg von dort! Sie mir geben neue Hoffnung.« Er wechselte mit Lotus ein paar Worte in Chinesisch.

»Er ist dazu bereit«, sagte das Mädchen. »Und ich ebenfalls.«

»Sehr gut. Ich glaube nicht, daß sie gegen mich einen Verdacht hegen - obwohl oder gerade weil sie mich heute morgen beschatten ließen.« :

Noch im selben Augenblick bereute sie, daß sie davon gesprochen hatte, denn Sheng Ti sprang erregt auf. Panik stand in seinen Augen. »Sie wurden verfolgt? Hierher?!«

»Nein, nein«, beruhigte ihn Mrs. Pollifax. »Heute morgen, als ich den Laden verließ. Hierher ist mir niemand gefolgt -dessen bin ich mir ganz sicher.«

»Aber sie haben vielleicht... Ich muß weg!« Er versuchte, der Angst Herr zu werden, die ihn ergriffen hatte. »Oh, bitte! Was machen wir jetzt?« rief er verstört.

»Setz dich bitte wieder hin, Sheng Ti«, versuchte Mrs. Pollifax ihn zu beruhigen.

»Nein! Lassen Sie ihn gehen«, mischte sich Lotus ein. »Geh' wieder in die Nummer 40 zurück, Sheng. Du hast jetzt zwei Nächte nicht mehr geschlafen. Ich erzähle dir später, was sie gesagt hat.«

Sheng Ti gelang es, ein mattes Lächeln zustande zu bringen, doch er stand auf, um zu gehen. Unter der Tür drehte er sich noch einmal um und warf Mrs. Pollifax einen flehenden Blick zu, dann war er verschwunden.

»Sie haben keine Angst vor ihnen?« wandte sich Mrs. Pollifax nach einer Weile wieder an Lotus.

»Nein. Aber ich habe Angst um Sheng Ti«, antwortete das Mädchen. »Er fürchtet, man könnte ihn wieder nach Rotchina zurückschicken. Dort wird er früher oder später wieder in einem Arbeitslager landen. Ohne Papiere hat er keine Chance!«

Jemand klopfte an der Tür, und Mrs. Pollifax - deren Nerven von der bedrückenden Atmosphäre in dem engen Zimmerchen offenbar ebenso überreizt waren, wie die der beiden jungen Leute - sprang erschreckt auf und starrte gebannt zur Tür. Das Mädchen erhob sich, öffnete die Tür einen winzigen Spalt und redete in Chinesisch auf den späten Gast, oder wer immer dort draußen im Korridor stehen mochte, ein. Lotus schloß die Tür und kehrte an den Tisch zurück. »Ich teile das Zimmer mit zwei Mädchen, und ich mußte sie bestechen, damit sie heute abend ausgingen. Sie sind zurück und wollen nun schlafen gehen. Sie müssen jetzt gehen.« Besorgt und unruhig ging sie auf und ab. »Aber was soll ich nur Sheng Ti sagen?«

Mrs. Pollifax kramte ihren Notizblock aus der Handtasche, riß ein Blatt heraus und schrieb etwas darauf. »Hier ist mein Name und die Adresse des Hotels, in dem ich zu erreichen bin. Das hier ist meine Zimmernummer. Am besten. Sie merken es sich - Sheng Ti ebenfalls - und verbrennen den Zettel dann.« Sie erhob sich und blieb zögernd stehen. »Wir müssen eine andere Möglichkeit finden, uns zu treffen. Könnten Sie mich morgen abend um zehn Uhr im Hotel anrufen?«

Lotus nickte. »Morgen abend um zehn.« Sie schien etwas beruhigt. Die Angst war aus ihren Augen gewichen, Und ihr Gesicht war nun wieder gefaßt und anmutig wie am Vormittag. »Ich bin so froh, daß Sie hier sind«, sagte sie schüchtern. »Wir waren so furchtbar alleine. Doch, Gott sei Dank, ist das nun vorbei.« Die Hand bereits auf der Türklinke, wandte sie sich noch einmal um und fügte hinzu: »Sie werden sehen, er wird alles tun, was in seiner Macht steht.« Sie schob den Zettel in ihren Ärmel, ehe sie die Tür einen Spalt öffnete und vorsichtig in den Korridor hinausspähte. »Kommen Sie«, flüsterte sie. »Sie können durch die Küche nach draußen gelangen. Ich zeige Ihnen den Weg.«

Als Mrs. Pollifax endlich wieder in der dunklen Straße stand, erlaubte sie sich zunächst einmal einen tiefen Seufzer der Erleichterung. Sie war froh, diesem winzigen Raum, der bis zum letzten Winkel von Sheng Tis Angst und Lotus' Sorge um ihren Liebsten erfüllt war, entronnen zu sein. Die beiden jungen Leute taten ihr aufrichtig leid, und ihr war klar, daß auf Sheng Ti noch mehr Gefahren warteten, ehe er dem Einfluß von Feng-Imports für immer entkommen würde. Am liebsten hätte sie Sheng Ti bei der Hand genommen und ihn in die nächste Maschine nach San Francisco gesetzt, doch dem stand - wie sie sehr wohl wußte - die Bürokratie der amerikanischen Behörden im Wege: Ein Flüchtling ohne gültige Einreisepapiere hatte keine Chance, in das Land gelassen zu werden.

Ihr Gartenbauclub würde Sheng Ti - und Lotus ebenfalls, sollte ihre Beziehung weiter bestehen - massiv zur Seite stehen müssen, überlegte sie entschlossen, während sie die engen Gassen hinabeilte. Bis dahin mußte ihre ganze Sorge der physischen Unversehrtheit Sheng Tis gelten... Es schien ihr durchaus möglich, daß Mr. Detwilers Sucht nach Heroin die Erklärung für seine nachlässigen Berichte an Carstairs' Ministerium war, doch die Sache mit den elf gestohlenen Pässen wollte ihr gar nicht gefallen. Sie schüttelte mißbilligend den Kopf. Nein - diese Geschichte gefiel ihr ganz und gar nicht.

Sie winkte ein Taxi heran und ließ sich zum Hotel zurückfahren. Diesmal nahm sie den Haupteingang und ohne sich von etwaigen Beschattern beeindrucken zu lassen, strebte sie direkt auf den Lift zu und fuhr nach oben. In Zimmer 614 angelangt, warf sie ihre Handtasche auf das Bett und griff nach dem Telefon. Über eine Deckadresse in Baltimore schickte sie ein Telegramm an Carstairs: >FREUNDSCHAFT ERNEUERT, WETTER REGNERISCH, EMILY POLLIFAX.< Sie legte den Hörer auf die Gabel und warf einen Blick auf ihren Reisewek-ker. Es war kurz nach halb zwölf. Es war ein langer Tag gewesen. Sie erhob sich müde, ging zu ihrem Koffer und öffnete ihn.

Sie nahm ihren Schlafanzug heraus und suchte unter der Wäsche nach ihrer Nachtcreme, als ein lautes Poltern an der Tür sie zusammenschrecken ließ.

Sie legte den Pyjama beiseite und ging an die Tür. »Wer ist da?« rief sie.

Keine Antwort.

Behutsam schob Mrs. Pollifax den Riegel zurück und drückte die Klinke nach unten. Die Tür flog auf, und der Mann, der Mrs. Pollifax in die Arme fiel, hätte sie beinahe umgerissen. Sein Gesicht war blutüberströmt. Mrs. Pollifax riß sich instinktiv los und sprang einen Schritt zurück. Der Mann stürzte zu Boden und blieb regungslos liegen.

Entsetzt starrte Mrs. Pollifax auf den Mann zu ihren Füßen. Er war Mr. Hitchens.

5

Mrs. Pollifax' erste Reaktion war schiere Verwunderung, denn normalerweise rechnet man nicht damit, eine flüchtige Flugzeugbekanntschaft, mit der man nichts weiter als ein angenehmes Gespräch und ein gemeinsames Frühstück verbracht hatte, wiederzusehen -und schon gar nicht so spät in der Nacht und blutüberströmt wie Mr. Hitchens. Doch die konkreten Tatsachen waren nicht zu übersehen - es war Mr. Hitchens, der zu ihren Füßen lag -, und Mrs. Pollifax schob die Tür zu, kniete neben ihm nieder und untersuchte behutsam Mr. Hitchens' Schädel unter dem blutverklebten Haar.

Sie zuckte zusammen, als sie die breite Platzwunde entdeckte, aus der das Blut sickerte. Sie rannte ins Badezimmer und kehrte mit einem trockenen und einem nassen Handtuch zurück. Während sie das trockene Handtuch gegen die Wunde preßte, wischte sie mit dem feuchten Mr. Hitchens das Blut aus dem Gesicht.

Seine Augen waren geschlossen, doch seine Lippen begannen, sich zu bewegen. »Etwas...«, flüsterte er undeutlich.

Sie beugte sich näher über ihn.

»Etwas stimmt nicht. Nicht in Ordnung...«, murmelte er. »Wie... wie...?«

»Sprechen Sie jetzt nicht«, sagte Mrs. Pollifax leise. »Ich hole einen Arzt.«

»Nein!« keuchte er. »Keinen Arzt!« Er versuchte sich aufzurichten und öffnete dabei die Augen. »Zu gefährlich...«, flüsterte er. »Sind hinter mir her. Wie... wie...? Muß... wie... finden... «

Erschöpft schloß er die Augen und sackte erneut ohnmächtig in ihre Arme zurück. Unschlüssig blickte Mrs. Pollifax in das Gesicht des Bewußtlosen und versuchte abzuwägen, was im Augenblick wichtiger war: Die ärztliehe Versorgung der Wunde oder seine Angst vor Verfolgern. Die Platzwunde an sich war sicherlich nicht lebensgefährlich, doch es bestand die Gefahr einer Infektion, wenn die Wunde nicht fachmännisch versorgt wurde. Andererseits bewies allein schon sein Zustand und seine Gegenwart, daß seine Panik nicht unbegründet war; denn weshalb sonst hätte er bei ihr Zuflucht gesucht - im Hongkong-Hilton, wo für die Touristen jede nur erdenkliche Annehmlichkeit und natürlich auch ärztliche Hilfe zur Verfügung stand.

Offenbar war er in seinem Zimmer niedergeschlagen worden, denn sehr viel weiter wäre er in seinem Zustand sicherlich nicht gekommen, ohne einen mittleren Volksauflauf zu verursachen. »Zu gefährlich... Sind hinter mir her!« hatte er gesagt! Konnte dies bedeuten, daß...?

Sie hatte die Tür zwar geschlossen, aber sie hatte sie nicht zugesperrt! Sie sprang auf und warf den Riegel vor. Im selben Augenblick, als der Riegel mit einem metallischen Klicken ins Schloß sprang, hörte Mrs. Pollifax, daß sich draußen vor der Tür jemand bewegte. Sie wich erschreckt einen Schritt zurück, und ihr Blick fiel auf die Türklinke, die sich langsam nach unten bewegte. Starr vor Schreck hörte sie, wie Metall leise Metall berührte.

Mrs. Pollifax unterdrückte einen Angstschrei. »Gleich muß ich schreien!« flüsterte sie lautlos und starrte mit aufgerissenen Augen auf die Klinke, die sich auf und ab bewegte. >Schreien... schreien... schreien...<

Das Schloß schnappte, und die Tür ging langsam auf. Herein trat Robin Burke-Jones. »Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte er grinsend und schloß die Tür hinter sich. »Ich habe dich vorhin in der Halle gesehen und dachte...« Sein Blick fiel auf den Mann zu seinen Füßen. »Großer Gott!« rief er und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Hast du wieder Karate trainiert? Wer zum Henker... «

Noch immer um Fassung ringend stotterte Mrs. Pollifax: »K-K-kein Karate. D-d-das ist Mr. Hi-Hi-Hitchens. Er fiel mir soeben mit der Tür ins Haus, die Angst vor irgendwelchen Verfolgern im Nacken. Und dann kamst du durch die Tür!«

Robin pfiff leise durch die Zähne. »Und du dachtest... Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe, aber - ob du's glaubst oder nicht - hinter mir war ebenfalls jemand her, und es blieb mir einfach nicht genügend Zeit, in aler Form anzuklopfen und zu warten.« Interessiert betrachtete er Mr. Hitchens und brummte: »Ich denke, der Bursche braucht einen Arzt.«

»Aber er hat mich inständig gebeten, keinen Arzt zu holen.«

»Du kennst ihn natürlich?«

»Nur flüchtig«, erwiderte sie. »Wir saßen im Flugzeug nebeneinander und hatten ein sehr interessantes Gespräch über parapsychologische Phänomene. Er ist übrigens Psychologe und kam nach Hongkong mit dem Auftrag, eine vermißte Person aufzuspüren. Wir frühstückten zusammen - das war heute morgen, obwohl es mir bereits wie eine Ewigkeit vorkommt -, aber ich habe nicht im Traum damit gerechnet, ihn wiederzusehen.«

»Und nun liegt er hier in deinem Zimmer.«

»Das läßt sich wohl kaum abstreiten - ja.«

Robin beugte sich über Mr. Hitchens. »Eine scheußliche Wunde... Da hat jemand ganze Arbeit geleistet. Aber wenn er noch gesprochen hat, dann kann es nicht so schlimm sein. Was hat er gesagt, weshalb er so...äh... Knall auf Fall bei dir auftauchte?«

Mrs. Pollifax schloß die Augen und dachte angestrengt nach. »Zunächst murmelte er: >Etwas stimmt nicht... Nicht in Ordnung... Wie... wie?< und dann, als ich sagte, ich werde einen Arzt rufen, flüsterte er: >Nein! Keinen Arzt! Zu gefährlich... Sind hinter mir her... Wie... wie... ? Muß... wie... finden.<«

Robin richtete sich abrupt auf und starrte sie verblüfft an. »Würdest du das noch mal wiederholen? Wort für Wort.«

Sie wiederholte die Worte Mr. Hitchens'. »Was hast du?« fragte sie verständnislos.

Robins Augen waren schmal geworden. »Du sagtest, er ist in Hongkong, um eine vermißte Person zu finden?«

Sie nickte. »Ja. Weshalb fragst du?«

Ohne auf ihre Frage einzugehen, sagte er: »Ich kenne einen Arzt, der keine überflüssigen Fragen stellt. Außerdem würde ich ganz gerne hören, was dieser Mr. Hitchens noch zu erzählen hat, wenn er wieder bei Bewußtsein ist.« Er ging zum Telefon, wählte eine Nummer und wartete. »Es ist schon verrückt«, brummte er kopfschüttelnd und warf ihr ein jungenhaftes Lächeln zu, »denn eigentlich wollte ich dir nur mal schnell hallo sagen und ein bißchen über alte Zeiten plaudern. Erinnerst du dich, wie du damals diesem Hafez das Leben gerettet und die Männer des Scheichs mit deinen Karatekünsten auf die Bretter geschickt hast? Und... Hallo? Chiang?« rief er in den Hörer. »Hier ist Drei-null-eins. Ich bin im Hotel. Können Sie unbemerkt in Zimmer 614 kommen? Zimmer 614 - ja. Ein Mann -vermutlich mit einer Gehirnerschütterung. Im Augenblick bewußtlos... Platzwunde am Kopf. Muß wahrscheinlich genäht werden. Richtig - ja. In Ordnung.« Er legte auf. »Er ist in fünf Minuten hier. Als ich deinen Mr. Hitchens liegen sah, dachte ich zuerst, es sei Cyrus. Aber du hast uns geschrieben, daß Cyrus einsneunzig groß ist, und der gute Mann hier kann sich so lang machen, wie er will - einsneunzig wird der nie.«

»Cyrus ist in Vermont«, erklärte sie. »Eine seiner or-nithologischen Exkursionen... Ich mußte etwas übereilt aufbrechen und... «

»Du bist also doch im Auftrag von Carstairs hier!«

Sie lächelte. »Nur ein ganz unbedeutender Auftrag«, gab sie zu. »Eine alte Bekanntschaft auffrischen, könnte man sagen. Robin, was hat dich eigentlich so aufhorchen lassen, als ich vorhin Mr. Hitchens' Worte wiederholt habe? Und weshalb interessiert dich so, was er zu erzählen hat, wenn er wieder bei Bewußtsein ist?«

Robin ließ sich auf die Armlehne eines der Sessel sinken. »Eigentlich darf ich nicht darüber reden«, begann er. »Aber da ich dir schließlich meine prächtige Braut und nicht zuletzt auch meinen Job zu verdanken habe... Was mich aufhorchen ließ, meine liebe Mrs. Pollifax, ist die Tatsache, daß er so oft >wie< sagte. Du mußt wissen, seit zwei Tagen bin ich auf der Suche nach einem Vermißten, der auf den schönen Namen Wi hört.«

Nun war es an Mrs. Pollifax, verblüfft zu sein. »Du meinst...? Du meinst, er könnte gemeint haben: >Muß Wi finden<? Robin nickte lächelnd. »In Hongkong wäre das durchaus möglich. Hier gibt es Tausende, die Hu, Hao, Yu, Li oder Wi heißen... Natürlich kann es auch nur ein Zufall sein... «

»So wie du dich rein zufällig Mr. Lars Petterson nennst?«

»Hätte ich mir denken können, daß du das bereits weißt«, lachte er belustigt.

»Mr. Hitchens erzählte es mir, als du heute morgen in den Goldenen-Lotus-Saal kamst. Er hatte dein Interview im Fernsehen gesehen.« Sie schüttelte tadelnd den Kopf. »Also weißt du. Robin! Der drittreichste Mann der Welt!«

»Na ja«, griente er. »Wir dachten, das würde mich in das richtige Licht setzen: Ein junger Schnösel mit den Taschen voller Geld, ziemlich naiv und ganz offensichtlich ein Playboy.«

»Und jetzt beklagst du dich, daß man hinter dir her ist?«

»Aber erst, seit ich mich für den vermißten Mr. Wi interessiere ... Ziemlich aufschlußreich - findest du nicht auch?«

Nachdenklich betrachtete Mrs. Pollifax das Gesicht des jungen Mannes. »Also schön, Robin. Weshalb bist du wirklich in Hongkong?«

Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Um es mal ganz pauschal auszudrücken: Etwas ist nicht in Ordnung in Hongkong... Irgend etwas ist hier oberfaul - es stinkt geradezu zum Himmel. Und ich bin hier, um herauszufinden, was es ist.«

»Du bist heute bereits der dritte, der mir erzählt, daß hier irgend etwas nicht in Ordnung ist. Mr. Hitchens und jemand, mit dem ich mich vorhin unterhalten habe, sind derselben Meinung wie du. Was deinen Fall betrifft...«

»Das ist Chiang«, unterbrach sie Robin, als es dreimal kurz an der Tür klopfte. »Laß mich die Tür aufmachen - er kennt mich.«

Dr. Chiang stürmte ins Zimmer. Er war sehr klein und sehr dünn, und sein Anzug war bestenfalls schäbig zu nennen. Neugierig schielte er nach Mrs. Pollifax, ehe er seine Tasche öffnete und sich über Mr. Hitchens beugte. Mr. Hitchens bewegte sich unruhig,, stöhnte kurz auf und öffnete die Augen - dann schüttelte ihn ein Brechreiz.

»Eine Schüssel!« rief Dr. Chiang, und Mrs. Pollifax, die nicht wußte, wie sie eine Schüssel herbeizaubern sollte, lief zum Papierkorb und nahm die Plastiktüte.

Nachdem Mr. Hitchens seinen Magen gründlich entleert hatte, trugen sie ihn auf die Couch, und Dr. Chiang versorgte mit kundigen Händen die Wunde. Er reinigte und sterilisierte den Riß in der Kopfhaut, spritzte ein lokales Anästhetikum und vernähte die Platzwunde mit acht Stichen. »Der kommt wieder auf die Beine«, stellte er fest, als er fertig war und trat einen Schritt zurück. »Keine Gehirnerschütterung... Er hatte Glück, denn obwohl der Schlag ziemlich kräftig war, traf er ihn nicht an einer gefährlichen Stelle. Er wird zwar höllische Kopfschmerzen haben, aber sonst ist er in Ordnung. Ich habe ihm eine Tetanusspritze gegeben, ein Antibiotikum und etwas, das ihn ruhigstellt. Sollte er in einer Stunde nicht schlafen, geben Sie ihm etwas Brandy... Aber sonst nichts - bis morgen früh.«

»Danke, Chiang«, sagte Robin.

Der Arzt bedachte Mrs. Pollifax mit einem zweiten, nicht minder neugierigen Blick. »Ihr Mann?« erkundigte er sich.

»Nein, nein«, erwiderte sie und schüttelte heftig den Kopf.

»Ich verstehe...«, brummte Dr. Chiang und schien sich ein Grinsen zu verkneifen. »Na schön... Also dann alles Gute. Und rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen.«

»Nett«, murmelte Mrs. Pollifax, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, »aber ich kann mir nicht helfen: Irgendwie sieht er für mich nicht wie ein Arzt aus... «

»Verstehe«, grinste Robin. »Vielleicht kommt er sogar in diesem Jahr noch einmal dazu, sich einen neuen Anzug zu kaufen. Wahrscheinlich jedoch nicht. Chiang ist ein sehr guter Arzt... Er hat übrigens in Harvard studiert, und er kümmert sich wie kein zweiter um die >Boatpeople< drüben in Aberdeen... Hat der gute Doc nicht irgend etwas von Brandy erzählt? Offen gestanden, könnte ich jetzt einen Schluck zur Stärkung vertragen; allmählich merke ich, daß es ein verdammt langer Tag war.«

Mrs. Pollifax ging zu dem kleinen Kühlschrank und inspizierte den Inhalt. »Sag mal, war dein Kühlschrank auch bis oben hin voll, als du eingezogen bist?«

»Das schon«, antwortete er. »Aber ich muß dich warnen: Die passen ganz genau auf, was du rausnimmst.«

»Wie profan!« sagte sie. »Ich sehe hier nur Sekt, eine Flasche Weißwein - ah ja, hier ist ja der Brandy.« Sie kam mit der Flasche und einem Glas für Robin zurück, und sie setzten sich zu Mr. Hitchens an die Couch, der sie reichlich verwirrt anstarrte.

»Ich bin Mrs. Pollifax«, erinnerte sie ihn und bemühte sich, langsam und deutlich zu sprechen. »Wir haben uns an Bord des Flugzeugs kennengelernt. Erinnern Sie sich, Mr. Hitchens? Das hier ist... äh... Mr. Petterson, der... äh... ganz zufällig vorbeikam und der wie Sie auf der Suche nach einem Mister Wi ist.«

Mr. Hitchens richtete den Blick aus seinen fast beängstigend blauen Augen auf Robin und betrachtete ihn eingehend. Wenn er ihn als den drittreichsten Mann der Welt wiedererkannte, so ließ er sich dies nicht anmerken. »Damien Wi?« fragte er.

Mrs. Pollifax glaubte zu hören, wie Robin der Atem stockte, doch als er antwortete, war seine Stimme völlig ruhig. »Damien Wi - ja. Wie ich höre, suchen Sie ebenfalls nach ihm?«

Mr. Hitchens beging den Fehler zu nicken. Er stöhnte gequält, und seine Hände fuhren an seinen Kopf. »Man hat mich niedergeschlagen - in meinem Zimmer«, erklärte er, und plötzlich war Panik in seiner Stimme:

»Alec! Wo ist Alec?«

»Sie meinen Inspektor Wis Sohn?« fragte Robin.

»Ja... Er bat mich, seinen Vater zu suchen. Wir waren den ganzen Tag zusammen.«

»Mr. Hitchens erzählte mir, daß ihn einer seiner ehemaligen Studenten in Boston gebeten hat, nach Hongkong zu kommen, um ihm bei der Suche nach einem vermißten Verwandten behilflich zu sein«, erklärte Mrs. Pollifax. »Aber würdest du mir bitte erklären, wer dieser Damien Wi ist. Robin?«

»Er war der Leiter des Sonderdezernats Hongkong für Drogen- und Bestechungskriminalität«, erwiderte Robin. »Ich sage >er war<, denn vor etwa drei Wochen reichte er sein Rücktrittsgesuch ein - aufgrund von hartnäckigen Gerüchten, er sei in einer für ihn sehr kompromittierenden Situation überrascht worden. Er sei zurückgetreten, so behauptet er, um beweisen zu können, daß die Anschuldigungen gegen ihn haltlos sind und um private Nachforschungen anzustellen. Die Geschichte machte damals Schlagzeilen, da Inspektor Wi stets als absolut integer gegolten hatte. Der Gouverneur, mit dem ich über den Fall gesprochen habe, ist übrigens überzeugt, daß Wi einem Komplott zum Opfer gefallen ist. Und dann - vor zehn Tagen - verschwand er spurlos.«

Mrs. Pollifax wandte sich an Mr. Hitchens: »Haben Sie ihn heute gefunden?«

Mr. Hitchens hatte die Augen geschlossen, doch er antwortete. »Nein«, sagte er. »Ich habe es mit einem Stadtplan versucht... « »Und?«

»Ich sah... ich erkannte... den Ort, an dem er war... Eine Hütte inmitten von grünen Feldern... Ein Wasserrad nicht weit... Wir fuhren - Alec und ich.... Neue Territorien.« »Weiter«, drängte Robin. »Was war dann?« »... wurde dunkel... Ich erkannte die Hütte... « »Sie haben das Wasserrad und die Hütte gefunden?« forschte Mrs. Pollifax weiter,

Mr. Hitchens öffnete die Augen. »Ja. Wir gingen hin... , suchten... Winzig klein. Lehmfußboden... und dann... und dann... « Sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzhaften Grimasse. »Ein Mann... ein Bauer, der nachsehen will, wer sich in den Feldern rumtreibt - dachten wir. Aber... als ich wieder zu mir kam, war Alec verschwunden.« Er seufzte tief. »Ich lief und lief... war zu benebelt, um Alecs Auto zu nehmen. Ich fand schließlich ein Taxi. Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich an mein Zimmer... Es war dunkel... Jemand war im Raum. Und... Peng!«

Etwas verwirrt fragte Mrs. Pollifax: »Wie war das mit diesem Bauern? Sie schliefen ein oder wurden ohnmächtig?«

»Etwas war - ja... Chloroform wahrscheinlich«, sagte Hitchens. »Aber sie haben Alec! Wenn ich daran denke, daß... daß sie zurückkamen, um auch mich... Ein Alptraum! Ein furchtbarer Alptraum... «

»Noch eine Frage, Mr. Hitchens«, insistierte Mrs. Pollifax. »Als Sie mit Hilfe des Stadtplans versuchten, ein visionäres Bild von Inspektor Wi zu erhalten, hatten Sie da den Eindruck, daß er noch am Leben ist?«

»Ja«, erwiderte Hitchens undeutlich. »Das Ganze war ein Alptraum, ein furchtbarer Alptraum!«

»Das kann ich mir vorstellen«, mischte sich Robin ein. »Aber vergessen Sie das jetzt, mein Freund. Wir werden sie beide wiederfinden.«

Mr. Hitchens blinzelte überrascht. »Wir?« fragte er verständnislos.

Robin nickte. »Gleich morgen früh - wenn Sie sich danach fühlen.«

»Ich möchte... ich muß jetzt schlafen«, murmelte Hitchens, schloß die Augen und schlief ein.

»Sieht so aus, als hättest du für heute nacht einen Gast«, sagte Robin. »Glaubst du, du kommst zurecht?«

»Ich käme wesentlich besser zurecht, wenn du mir endlich verraten würdest, was in Hongkong nicht in Ordnung ist - aus welchem Grund wir hierhergeschickt wurden.«

Robin warf einen kurzen Blick auf Mr. Hitchens und nickte dann. »Gehen wir ins Bad. Es ist besser, vorsichtig zu sein; wer weiß, ob er tatsächlich schläft.« An der Badezimmertür ließ er ihr den Vortritt und bot ihr den Rand der Badewanne an. »Mach's dir bequem«, grinste er.

Sie lachte und ließ sich vorsichtig nieder.

»In Kurzform?« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Es ist schon Mitternacht vorbei, und ich werde mich auf das Wesentliche beschränken. Stell dir eine Weltkarte vor - mit Pfeilen, die in Hongkong zusammenlaufen. Pfeile aus Europa, dem Mittleren Osten und Amerika, die alle nach Hongkong zeigen, auf diese winzige Insel im Chinesischen Meer.«

»Und was bedeuten diese Pfeile?« fragte Mrs. Pollifax.

»Zunächst einmal Gerüchte, Zufälle, übereinstimmende Hinweise von V-Leuten, mögliche Schmuggelrouten von Waffenschiebern. Und dann verschwindet ein Mann wie Inspektor Wi auf mysteriöse Weise.«

»Ausgerechnet Hongkong?« Mrs. Pollifax wiegte ungläubig den Kopf.

»Ich weiß, was du meinst«, nickte Robin. »Schließlich steht Hongkong unter dem Schutz der britischen Armee und Marine. Es ist ein relativ sicherer Ort, wie der Zustrom des internationalen Kapitals und seine führende Stellung als Handelsmetropole des Ostens beweisen. Hinter den Kulissen jedoch existiert eine sehr lukrative kriminelle Aktivität, die sich vor allem auf Drogenhandel spezialisiert hat und - wenn man den Gerüchten Glauben schenken kann - durch Korruption in höchsten Kreisen der Polizei und des Verwaltungsapparats immer fester im Sattel sitzt. Es ist durchaus möglich, daß Inspektor Wi mehr über die Zusammenhänge in Erfahrung gebracht hat, als für ihn gut war, denn sowohl sein Rücktritt bzw. sein Ausscheiden aus dem Sonderdezernat, wie auch sein plötzliches Verschwinden können nur als äußerst mysteriös bezeichnet werden. Das einzige, das wir wirklich sicher wissen, ist die Tatsache, daß hier in Hongkong die Fäden einer ganzen Reihe von kriminellen Unternehmungen, die auf den ersten Blick gar nichts gemein haben, zusammenlaufen; eine Konstellation, die vermuten läßt, daß hier in Hongkong eine ganz große Sache am Laufen ist.«

»Das klingt allerdings alles sehr vage«, warf Mrs. Pollifax ein. »Eine recht unsichere Basis für konkrete Aktionen.«

Robin lachte. »Wenn wir tatsächlich konkrete Beweise in Händen hätten, hätte Interpol hier eine ganze Armee von Agenten zusammengezogen und nicht nur Marko und meine Wenigkeit abkommandiert.«

»Marko?«

Er grinste. »Du wirst doch wohl nicht annehmen, der drittreichste Mann der Welt reise ohne einen persönlichen Sekretär! Du wirst ihn sicherlich noch kennenlernen: Marko Constantine, einer der Topagenten der Interpol, der im Augenblick allerdings vollauf damit beschäftigt ist, unsere Einmann-Nachrichten- und Telefonzentrale in Betrieb zu halten.«

»Noch eine Frage, Robin, zu diesen Pfeilen. Ich kann mir nicht denken, wie...?«

»Diamanten.«

»Diamanten?«

Er nickte. »Die Hauptaufgabe von Interpol ist vor allem die Kontrolle des internationalen Drogenhandels, aber da die großen Rauschgiftringe seit einiger Zeit Diamanten als Zahlungsmittel benutzen, beobachteten wir auch den Transfer von Diamanten. Sie sind relativ leicht durch den Zoll zu schmuggeln, weil sie nicht viel Platz in Anspruch nehmen und deshalb ein ideales Zahlungsmittel sind, wie du dir vorstellen kannst. Vor drei Monaten etwa, im Januar und Februar, hatten wir massiert Mordfälle in Verbindung mit Diamantenraub zu verzeichnen: zwei in New York, drei in Antwerpen und vier in London. Äußerst ungewöhnlich - das Ganze.«

»Wieso ungewöhnlich?«

»Weil der gesamte Diamantenhandel einer ständigen und sehr strikten Kontrolle unterliegt; dafür sorgen De-Beers und die übrigen großen Handelsgesellschaften«, erklärte Robin. »Diamanten sind nämlich gar nicht so rar, und wenn zu viele davon auf den Markt geworfen werden, dann fallen die Preise -und sie verlieren ihren exquisiten Zauber und die Attraktivität, die sie für die Menschen nun mal besitzen. Deshalb war das plötzliche Verschwinden einer relativ großen Menge von Steinen ein Schock für den gesamten Diamantenhandel.

Kennt man die Modalitäten des Diamantengeschäfts etwas besser, ist es nicht weiter verwunderlich, weshalb diese Diebstähle soviel Aufsehen erregt haben«, fuhr er fort. »Hast du zum Beispiel eine Vorstellung davon, auf welchen Wegen Diamanten von den Minen in die Handelszentren gelangen?«

»Nein«, gab Mrs. Pollifax zu. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

»Dies wird mit einer geradezu provozierenden Nachlässigkeit gehandhabt«, erklärte Robin. »Das ist nie anders gewesen, doch es funktioniert. Die Steine werden einfach mit der Post verschickt, per Schiff oder per Flugzeug, oder sie werden von Kurieren und Agenten transportiert. Von diesen Männern könnte so mancher Geheimagent lernen, wie man ohne Aufsehen zu erregen; um den ganzen Erdball reist und unterwegs immer wieder seine Spuren verwischt. Sie transportieren die Diamanten in hohlen Absätzen oder in Geldgürteln, in Diplomatenkoffern oder in Plastiktüten. Sie lassen sich in den großen Hotels der Metropolen Zimmer reservieren, um dann im letzten Augenblick in irgendwelchen Absteigen oder kleinen Pensionen unterzutauchen. Diese Kuriere sind extrem vorsichtig und sehr clever. Raubüberfälle hat es bisher praktisch nicht gegeben; zumindest bis vor kurzem, als innerhalb von sechs Wochen acht dieser Kuriere ermordet wurden - auf Flughäfen, in ihren Hotelzimmern, auf der Straße oder in ihren Wagen. Als dann alles vorbei war - und die Serie von Raubüberfällen endete so abrupt, wie sie begonnen hatte -, waren Diamanten im Wert von acht Millionen Dollar verschwunden.«

»Irgend jemand hat sich da eine Menge steuerfreies Geld unter den Nagel gerissen«, sagte Mrs. Pollifax.

»Und du bist überzeugt, daß ein Zusammenhang zwischen diesen Raubüberfällen besteht?«

Robin nickte. »Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Morden von New York ist nicht zu übersehen. Außerdem scheint es eine Verbindung zwischen den Überfällen und Hongkong zu geben, denn im März wurden drei der geraubten Päckchen mit Diamanten in Hongkong sichergestellt — zusammen mit einer Ladung Rauschgift, die auf einer der kleinen Inseln hier aufgebracht wurde. Die Diamanten waren noch genauso verpackt, wie sie den Kurieren geraubt wurden; was darauf hinweist, daß irgend jemand sehr unvorsichtig war.«

»Und wieviel waren die drei Päckchen wert?«

»Fast zwei Millionen. Eines stammte von dem Mord in Antwerpen und die anderen beiden aus New York. Ein weiterer ernst zu nehmender Hinweis auf eine Verbindung zwischen allen Überfällen.«

Mrs. Pollifax erlaubte sich ein sparsames Lächeln. »Das gibt euren Vermutungen natürlich wesentlich mehr Gewicht.«

Robin nickte. »Das ist auch der Grund, weshalb wir unsere Aufmerksamkeit auf Südostasien konzentrierten. Wir streckten hier unsere Fühler aus und hielten die Ohren offen für das Gerede und die Gerüchte in den einschlägigen Kreisen dieser Region. Unter anderem habe ich von einem zuverlässigen V-Mann erfahren, daß eine Ladung Waffen über Sri Lanka nach Macao gebracht wurde - oder gebracht werden soll. Macao!« wiederholte er mit Nachdruck. »Das ist kaum vierzig Meilen von Hongkong entfernt!«

»Waffen?« fragte Mrs. Pollifax überrascht. »Das ändert die Situation allerdings beträchtlich.«

»Vor allem, wenn man bedenkt, daß angeblich ein Raketenwerfer des Typs >Stalinorgel< dabeisein soll. Diese Dinger sind leicht zu transportieren. Sie finden ohne weiteres auf dem Dach eines Minibusses oder auf einem Boot Platz und können ohne viel Schwierigkeiten auch von dort abgeschossen werden.«

»Kennst du ihren Bestimmungsort?« fragte Mrs. Pollifax gespannt.

Er schüttelte den Kopf. »Sie sind sehr vorsichtig und geben sich keine Blöße. Nichts sickert durch. Und das ist äußerst ungewöhnlich. Auch von unseren V-Leuten kommen keine Informationen.«

Mrs. Pollifax nickte. »Ein Schweigen, wie es nur acht Millionen Dollar erkaufen können. Ist es das, was du damit sagen willst?«

Er warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »So ist es - ja«, sagte er. »Verschwiegenheit kann man auch kaufen, und mit einer kleinen Bestechung hier und einer größeren Bestechung da läßt sich viel vertuschen. Was mir jedoch schlaflose Nächte bereitet, ist das unbestimmte Gefühl, daß diese ganze verdammte Angelegenheit - worum es sich auch immer handeln mag -schon viel weiter gediehen ist, als ich meinen Vorgesetzten klarmachen kann. Dies ist auch der Grund, weshalb ich unbedingt Inspektor Wi finden muß, der möglicherweise über die Lösung des Rätsels gestolpert ist und genau weiß, worum es geht.« Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Uhr und schüttelte den Kopf. »Es ist schon fast zwei Uhr, und ich denke, wir sollten uns morgen weiterunterhalten - wenn dein Mr. Hitchens sich hoffentlich wieder besser fühlt und zu einem neuerlichen Ausflug in die Neuen Territorien bereit ist... Was mich im Augenblick allerdings mehr interessiert...«, er unterbrach sich, und ein verschmitztes Grinsen trat in sein Gesicht, »...sind deine Pläne für morgen. Könntest du nicht vielleicht...?« Er sah sie erwartungsvoll an.

»Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr fragen«, erwiderte Mrs. Pollifax strahlend. »Bis zehn Uhr abends habe ich nichts Dringendes vor.«

»Gott sei Dank!« seufzte er erleichtert, beugte sich zu ihr und küßte sie. »Ich weiß auch nicht, woran das liegt, aber wenn ich mich recht erinnere, kam endlich Schwung in die ganze Sache, als wir damals in der Schweiz zusammenarbeiteten. Interpol kann so verdammt langweilig und tödlich ernst sein.«

Sie lachte. »Bist du sicher. Robin, daß du die Zeit als Fassadenkletterer nicht vermißt?«

»Hin und wieder schon«, grinste er. »Aber es gibt immer wieder verschlossene Türen - wie deine heute abend zum Beispiel -, die mir ein Trostpflaster für entgangenen Nervenkitzel sind. Sollten wir nicht diesen harten Sitz hier mit unseren weichen Betten tauschen? Ich bin allmählich hundemüde.«

»Nichts lieber als das«, stimmte sie zu und erhob sich vom harten Rand der Badewanne.

Er öffnete die Tür, und ehe er das Badezimmer verließ, wandte er sich noch einmal zu ihr um. »Tut mir leid, daß ich Mr. Hitchens nicht mitnehmen kann, aber ich fürchte, es würde mir schwerfallen, die Situation zu erklären, sollte ich auf dem Korridor jemandem begegnen.«

»Ich komme schon zurecht mit ihm - solange er nicht schnarcht.«

»Wenn doch, schicke ihn wieder in das Land der Träume«, lachte Robin. »Aber möglichst nicht mit einem Schlag auf den Kopf! Ich melde mich morgen bei dir; zwar nicht in aller Herrgottsfrühe, aber wir dürfen auf keinen Fall die Spur kalt werden lassen.«

Behutsam öffnete er die Tür zum Korridor und spähte vorsichtig hinaus. »Alles klar«, flüsterte er und hob die Hand zum Abschied. Dann schlüpfte er durch den Spalt nach draußen und zog die Tür hinter sich ins Schloß.

DIENSTAG 

6

Sollte Mr. Hitchens während der Nacht tatsächlich geschnarcht haben, dann blieb dies Mrs. Pollifax, Gott sei Dank, verborgen, denn der lange Flug und ihr erster Tag in Hongkong hatten sie derart erschöpft, daß sie wie eine Tote schlief. Als sie um acht Uhr erwachte und sich schlaftrunken in ihrem Bett aufsetzte, sah sie, wie sich Mr. Hitchens auf der Couch ebenfalls aufrichtete und verständnislos um sich blickte.

Er brachte ein verlegenes Lächeln zustande, räusperte sich umständlich und erklärte dann würdevoll: »Sie müssen verstehen, aber ich bin es nicht gewohnt niedergeschlagen und mit Chloroform betäubt zu werden.«

»Wer kann das schon von sich behaupten«, erwiderte Sie und lächelte mitfühlend.

»Außerdem habe ich in meinem ganzen Leben noch nie solche Kopfschmerzen gehabt«, fuhr er fort, und seine Stimme zitterte leicht. »Ich habe das schreckliche Gefühl, daß ich jeden Augenblick losheulen werde.«

Mrs. Pollifax nickte verständnisvoll. »Wenn dem so ist, würde ich Ihnen vorschlagen, daß Sie aufstehen - sehr langsam allerdings -, ins Bad gehen, sich unter die heiße Dusche stellen und erst dann losheulen. In der Zwischenzeit werde ich mich anziehen, den Zimmerservice anrufen und eine Kanne sehr starken Kaffee bestellen.«

»Vielen Dank«, sagte er kläglich und ließ sich bereitwillig von ihr aufhelfen. Sie setzte ihm ihre Bademütze auf den bandagierten Kopf und öffnete ihm die Tür zum Badezimmer.

Als Robin unvermittelt in der Tür auftauchte, saßen Mrs. Pollifax und Mr. Hitchens bereits beim Frühstück an dem Tisch vor dem Fenster. Mrs. Pollifax empfing Robin mit einer erfreulichen Botschaft: »Mr. Hitchens fühlt sich schon viel besser. Er hat mir erzählt, daß seine übersinnlichen Fähigkeiten für sein eigenes Leben leider gar keine Hilfe sind.« Sie wandte sich wieder Mr. Hitchens zu. »Für andere aber sehr wohl, Mr. Hitchens, wie Ihr Auftrag hier in Hongkong beweist.«

»Wir sind auf jeden Fall heilfroh, daß Sie hier sind, Mr. Hitchens«, sagte Robin. »Fühlen Sie sich in der Lage, Mrs. Pollifax und mir das Wasserrad und die Hütte zu zeigen, wo Alec Wi gestern verschwunden ist?«

Offenbar hatte Mr. Hitchens seine Niedergeschlagenheit überwunden, denn er bemerkte trocken: »Ich habe zwar keine Ahnung, wie Sie ohne Schlüssel, und ohne zu klopfen, durch die Tür gekommen sind und was der drittreichste Mann der Welt... «

»Ich bin nicht Lars Petterson«, unterbrach ihn Robin belustigt. »Tatsächlich bin ich ein ehemaliger Fassadenkletterer und Hoteldieb, der jetzt bei Interpol arbeitet.«

Mr. Hitchens nickte schicksalsergeben. »Ich wundere mich über gar nichts mehr, denn allmählich wird mir klar, daß ich die gesamte Reise in erster Linie als Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln, betrachten muß. Absolut nichts scheint bisher zusammenzupassen, und aller Voraussicht nach wird sich daran auch nichts ändern. Nun ist nicht nur Inspektor Wi, sondern auch Alec spurlos verschwunden und... ja - natürlich bin ich bereit. Sie zu der Hütte zu führen.«

Mrs. Pollifax ließ einen Seufzer der Erleichterung vernehmen und lächelte Mr. Hitchens aufmunternd zu.

»Das nenne ich tapfer!« lobte Robin. »Worauf warten wir also? Marko steht in voller Chauffeursuniform in einer Mietlimousine vor dem Haupteingang des Hotels.

Wir werden also den Lieferantenaufzug zum Hintereingang nehmen und in einen kleinen, unauffälligen Renault steigen. Dann liegt es an Ihnen, den richtigen Weg zu finden.«

Mr. Hitchens deutete auf sein Jackett. »In der Innentasche finden Sie eine Karte, auf der die ungefähre Lage der Hütte eingezeichnet ist. Es ist dieselbe Karte, die ich zusammen mit Alec benutzt habe.«

»Wollen Sie damit sagen, Sie haben einfach die Karte studiert und mit dem Finger auf einen Punkt gezeigt und gesagt: >Hier ist es!<?«

Mr. Hitchens lächelte. »Ein bißchen wie Wünschelrutengehen ist es schon«, sagte er. »Sie wissen, wie das gemacht wird?«

Robin brachte die Karte an den Frühstückstisch und nickte. »Ja. Zu unserem Nachbarn, damals in Frankreich, kam ein Wünschelrutengänger, der auf dem Grundstück nach Wasser suchte.«

»So in etwa müssen sie sich meine Arbeit vorstellen«, sagte Mr. Hitchens und erhob sich behutsam von seinem Stuhl. Einen Augenblick lang hielt er sich an der Tischkante fest, dann trat er einen Schritt zur Seite, und ein Lächeln trat in sein Gesicht. »Erstaunlich!« grinste er. »Mir geht es viel besser. Wollen wir gehen?«

Nicht ohne Belustigung stellte Mrs. Pollifax fest, daß Mr. Hitchens über Reserven verfügte, die ihn offenbar selbst in Erstaunen versetzten. Die pedantische Art, hinter der er sich versteckt hatte, als sie sich im Flugzeug kennenlernten, fiel immer mehr von ihm ab, und zum Vorschein kam ein Mr. Hitchens, dessen Augen unternehmungslustig blitzten, als sie mit dem Lieferantenaufzug in das Untergeschoß fuhren und über den Hintereingang des Hotels den von Robin bereitgestellten Renault erreichten. »Welch aufregendes Abenteuer!« flüsterte Mr. Hitchens begeistert. »Ich fühle mich schon ganz wie ein Geheimagent.«

Robin warf Mrs. Pollifax einen amüsierten Blick zu, ließ sich in den Fahrersitz sinken und zog eine Schirmmütze und eine dunkle Sonnenbrille aus dem Handschuhfach. Über den Beifahrersitz hinweg reichte er Mrs. Pollifax durch die offene Wagentür die Karte. »Ich würde vorschlagen, Mr. Hitchens, Sie machen sich auf dem Rücksitz so klein wie möglich, denn Mrs. Pollifax ist die einzige von uns, die nicht damit rechnen muß, beschattet zu werden. Sie kann es sich sogar leisten, einen Rosengarten auf dem Hut zu tragen.«

»Ganz im Gegenteil, mein Lieber!« widersprach sie und nahm hastig ihren Hut ab. »Ich bin gestern den ganzen Nachmittag über verfolgt worden; von dem Augenblick an, als ich aus einem Andenkenladen mit dem Namen Feng-Imports herauskam.«

Robin warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Darüber würde ich gerne mehr hören, wenn wir etwas Ruhe haben... «

»Großer Gott! Sie auch?« rief Mr. Hitchens atemlos. »Was gäbe ich dafür, wenn das meine drei Frauen wüßten!«

»Drei?!« wiederholte Robin verblüfft und sah Mrs. Pollifax fragend an.

»Die alle drei davon überzeugt waren, Parapsychologen führen ein aufregendes Leben, und bitter enttäuscht wurden...«, erklärte sie.

»Außer Ruthie«, widersprach Mr. Hitchens, der sich flach auf dem Rücksitz ausgestreckt hatte. »Ihr machte es nichts aus, einen Langweiler geheiratet zu haben.«

»Sie müssen uns mehr von Ruthie erzählen«, sagte Robin, »aber bitte nicht jetzt. Der Verkehr in Hongkong ist gemeingefährlich, und ich brauche meine ganze Konzentration.«

Auch Mrs. Pollifax hätte gerne mehr über Ruthie erfahren, doch auf dem Stadtplan die richtige Route zu finden, erforderte nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Wie Robin vorausgesagt hatte, war der Verkehr gemeingefährlich; in halsbrecherischem Tempo jagten Wagen an ihnen vorbei, wechselten rücksichtslos die Spur, zwängten sich unter Zuhilfenahme ihrer penetranten und nervtötenden Hupen in die Lücken zwischen den Wagen der etwas bedächtigeren Fahrer. Soweit sie feststellen konnte, wurden sie nicht verfolgt. Sie teilte Robin ihre Beobachtung mit. »Glaubst du, daß dein Freund Marko noch immer in der Limousine vor dem Hotel wartet?« fragte sie.

Robin schüttelte den Kopf. »Nein. Inzwischen hat er sicherlich in unserer Suite angerufen - oh ja, wir sind sehr anspruchsvoll, wir leisten uns eine Suite - und läuft nun ungeduldig vor dem Hotel auf und ab, vernehmliche Flüche über die launenhaften und unzuverlässigen Reichen ausstoßend. Und nach einem ausgiebigen Schwätzchen mit den anderen Chauffeuren über das Woher und Wohin und den sozialen Status ihrer Brötchengeber wird er zum Wagen zurückkehren und mürrisch in die Garage fahren.«

»Der arme Marko«, murmelte Mrs. Pollifax mitfühlend. »Er wird's verkraften«, grinste Robin und knipste das Licht an, denn der Renault tauchte soeben in den Tunnel, der nach Kowloon hinüberführte. »Vor kurzem war ich es, der das Bootsdeck schrubbte und sich an Fischernetzen die Finger wundriß, während Marko den ganzen Tag im Liegestuhl auf Deck saß, durch das Fernglas guckte und versuchte, den Drogenschmugglern an der Mittelmeerküste auf die Spur zu kommen. Ich hatte Blasen, so groß wie Spiegeleier.« Als sie wieder aus dem Tunnel auftauchten, rief er über die Schulter gewandt:

»Sie können jetzt wieder hochkommen, Mr. Hitchens; gerade zur rechten Zeit, um Hongkongs jüngsten Triumph zu bewundern: Tsim Sha Tsui East, das zum größten Teil auf Land, das dem Hafenbecken abgetrotzt wurde, errichtet ist.«

Mr. Hitchens' Kopf tauchte aus der Versenkung auf, und er und Mrs. Pollifax bestaunten den riesigen Betonkomplex mit Hotels, Einkaufszentren, Bürohochhäusern und Restaurants. Dann bogen sie in die Chong Wan Road ein und erreichten über die Austin Road schließlich die Nathan Road, Kowloons wohl berühmteste Straße, in der die westliche Zivilisation den traditionellen chinesischen Lebensstil noch nicht verdrängt hatte.

»Nun, da Sie wieder sichtbar und ansprechbar sind«, sagte Robin zu Mr. Hitchens, »würde ich gerne hören, was genau Alec Wi Ihnen gestern über seinen Vater erzählt hat. Sie sind mir da einen Schritt voraus, denn bis vor ein paar Tagen wußte ich nicht einmal, daß Alec wieder in Hongkong ist, und alle meine bisherigen Versuche, ihn zu kontaktieren, schlugen fehl: Er ging weder ans Telefon, noch war er zu Hause, wenn ich bei ihm vorbeisah.«

»Wahrscheinlich war er unterwegs, um seinen Vater zu finden«, meinte Mr. Hitchens. »Er konnte mir leider auch nur sehr wenig sagen; nur, daß sein Vater Inspektor bei der Polizei von Hongkong sei, daß er vor ein paar Wochen besonders aufgebracht und wütend gewesen sei - ein Umstand, der offenbar etwas mit seiner Arbeit zu tun hatte - und daß er ganz überraschend seinen Abschied aus dem Polizeidienst genommen habe, um wegen einer wichtigen Sache zu recherchieren. Worum es dabei ging, sagte er Alec allerdings nicht. Und eines Morgens war dann sein Bett leer gewesen. Er hatte auch die Nacht nicht darin geschlafen. Er war spurlos verschwunden, und drei Tage später schickte mir Alec ein Telegramm und rief mich zu Hause in Massachusetts an, denn die Polizei tappte nach wie vor im dunkeln.«

»Würdest du mir bitte Bescheid sagen, wenn wir die Boundary Street erreicht haben«, wandte sich Robin an Mrs. Pollifax, und über die Schulter fragte er: »Weiß die Polizei, daß Sie in Hongkong sind, Mr. Hitchens?«

»Keine Ahnung. Ich habe mit Alec nicht darüber gesprochen«, erwiderte Mr. Hitchens, und erneut in seine pedantische Art zurückfallend, fuhr er fort: »Die Zeit, die Alec und ich zusammen verbracht haben, könnte man in vier Phasen teilen. Erstens: Begrüßung. Zweitens: Die ersten Versuche, uns auf außersinnliche Ansätze zur Lösung des Falls zu konzentrieren, was etliche Stunden in Anspruch nahm. Drittens: Die Fahrt im Auto. Und schließlich viertens: Die Suche nach der Hütte, als wir die vorher bestimmte Gegend erreicht hatten.«

»Eine exakte und erschöpfende Auskunft«, bemerkte Robin matt.

»Hier ist die Boundary Street«, meldete sich Mrs. Pollifax zu Wort und schenkte Robin ein mitfühlendes Lächeln. »Heißt das, wir verlassen nun Kowloon?«

Robin nickte. »Mit Kurs auf die Neuen Territorien -und zwar nach Yuen Long. Hast du's auf der Karte?«

»Ja«, bestätigte Mrs. Pollifax.

Sie folgten der Küstenstraße, die sich zwischen steilen Bergflanken zur Rechten und blauen, mit Felseninseln übersäten Buchten zur Linken nach Süden wand. Bei Castle Peak Bay bogen sie nach Norden ab und befanden sich nach wenigen Kilometern inmitten der Reiskammer Hongkongs. »Wie schön es hier ist!« dachte Mrs. Pollifax begeistert, und ihre Augen konnten sich nicht satt sehen an dem üppigen, kräftigen Grün der Felder; ein Grün, das im Kontrast zu dem schwarzen Vulkangestein der Berghänge sanft und samten wirkte. Jeder Quadratmeter des fruchtbaren Landes war bebaut, und so weit das Auge reichte, erstreckte sich das Grün der gepflegten, in Quadraten oder Rechtecken angelegten Felder - nur hie und da unterbrochen von den niedrigen, weißgetünchten Häusern der Bauern. Zwischen den Feldern entdeckte Mrs. Pollifax immer wieder Ententeiche mit Scharen von leuchtendweißen Enten, die aussahen, als wären sie in einer Wäscherei gereinigt worden, ehe man sie in den Teichen aussetzte. Mrs. Pollifax fiel es schwer, sich vorzustellen, daß in einer derart bezaubernden Landschaft ein Gewaltverbrechen begangen worden war. Auch Mr. Hitchens schien seine Erlebnisse vom Tag zuvor vergessen zu haben, denn verzückt drehte er sich nach zwei Frauen am Straßenrand um, deren Gesichter unter mächtigen schwarzen, wie riesige Lampenschirme wirkenden Hüten verborgen waren.

»Haakafrauen«, erklärte Robin. »Sie leben seit Urzeiten im Gebiet von Hongkong.«

»Warum hab' ich nur meine Kamera nicht dabei!« klagte Mr. Hitchens, und völlig unvermittelt rief er: »Dort ist es! Dort drüben! Das Wasserrad.«

Robin trat auf die Bremse.

Nun entdeckte auch Mrs. Pollifax das hölzerne Wasserrad, das im Schatten eines kleinen Gehölzes inmitten der Felder, etwa vierhundert Meter von der Straße entfernt, Wasser aus einem Flüßchen schöpfte.

»Die Hütte liegt unter den Bäumen«, erklärte Mr. Hitchens. »Es gibt keine Straße durch die Felder. Wir müssen zu Fuß gehen.«

»Worauf warten wir also?« brummte Robin und stellte den Motor ab.

Sie stiegen aus dem Wagen, und Mrs. Pollifax musterte Mr. Hitchens mit besorgtem Blick. »Kopfschmerzen?« fragte sie besorgt, denn er war kreidebleich geworden.

»Nein, nein«, erwiderte er, »Ich bin nur etwas beunruhigt. Das ist alles.« Seine Lippen wurden schmal, »Ich bin schon in Ordnung.«

Im Gänsemarsch folgten sie einem schmalen Pfad, der in die Felder führte. Ohne die kühlende Brise vom Meer brannte die Sonne nun heiß vom Himmel. Sie sprachen nicht. Etwas von Mr. Hitchens' Unruhe hatte sich auch auf Mrs. Pollifax und Robin übertragen, und sie beschleunigten ihre Schritte. An dem Wasserrad angelangt, entdeckten sie eine roh gezimmerte Brücke aus Holzbohlen, die sich über das Flüßchen spannte. Mrs. Pollifax ging als erste hinüber und strebte, ohne zu zögern, auf das kleine Gehölz zu, in dessen Schatten sie jetzt die Umrisse der Hütte erkennen konnte.

»Ja«, sagte Mr. Hitchens unbehaglich, »hier war es.«

Die Hütte machte einen seltsam verlassenen Eindruck und schien irgendwie nicht hierher, zwischen all die gepflegten Felder zu passen. Die windschief in den Angeln hängende, schäbige Tür knarrte und ächzte, als Mrs. Pollifax sie auf stieß. In der Hütte herrschte zwielichtiges Dunkel. Sie war leer, so schien es auf den ersten Blick; doch als sich ihre Augen etwas an das Halbdunkel gewöhnt hatten, entdeckte sie in einer Ecke die dunklen Umrisse einer zusammengesunkenen Gestalt.

Zögernd trat sie näher. »Oh, mein Gott!« flüsterte sie mit erstickter Stimme, als ihr klarwurde, daß dort ein Mensch lag.

»Schau nicht hin!« sagte Robin heiser, dicht hinter ihr. Er griff in sein Jackett und brachte eine Taschenlampe zum Vorschein.

Natürlich sah sie trotzdem hin, und in ihrem Kopf formten sich vage Gedanken über die Unfaßbarkeit des Todes. Man sollte ihm mit Ehrfurcht begegnen und nicht mit Entsetzen, wie es die Menschen gemeinhin tun; nur weil der Tod für den Menschen ein tiefes Geheimnis ist, das sich mit dem Verstand nicht fassen läßt. Der Lichtstrahl der Taschenlampe fiel auf das Gesicht eines Chinesen mittleren Alters, dessen verwunderter Blick starr auf etwas gerichtet schien, das sie - als gewöhnliche Sterbliche - nicht zu erkennen vermochten. Er trug einen grauen Anzug und ein weißes Hemd, beides über und über mit Schmutz beschmiert. Oberhalb der linken Augenbraue war ein häßliches Einschußloch, an dessen Rändern graue Pulverspuren zu erkennen waren. In seiner rechten Hand lag ein Revolver.

»Es ist Inspektor Wi«, knurrte Robin erbittert und erhob sich. »Er ist tot.«

»Seit wann?« fragte Mr. Hitchens mit belegter Stimme.

Robin kniete sich neben den Toten und befühlte dessen Gesicht und Handgelenke. »Noch nicht allzu lange. Gestern war er noch am Leben. Sie hatten recht damit...«

»Leuchte doch mal auf seine Hand, Robin«, sagte Mrs. Pollifax. »Da ist etwas... Ein Stück Papier...« Sie beugte sich über die leblose Gestalt von Inspektor Wi und entwand aus den Fingern seiner linken Hand ein weißes Stück Papier. Sie hielt es in das Licht der Taschenlampe und las: »Ich bin verzweifelt. Man hält mich für schuldig.. .« Nachdenklich starrte Mrs. Pollifax auf den Zettel. »Klingt wie die Erklärung für einen Selbstmord«, stellte sie skeptisch fest. »Und das, nachdem er seit zwei Wochen vermißt wird!« Sie reichte den Zettel Robin.

Er betrachtete ihn mit einem Stirnrunzeln, und Mr. Hitchens warf über Robins Schulter hinweg ebenfalls ein Blick auf das unregelmäßig abgerissene Stück Papier. »Sehr unglaubwürdig«, murmelte er schließlich. »Ein Fetzen Papier mit einem angefangenen Satz, der an keine bestimmte Person gerichtet ist... Und ohne Unterschrift ... Sieht so aus, als hätte man ihm den Revolver in die Hand gedrückt, um es wie einen Selbstmord erscheinen zu lassen.«

»Also Mord«, sagte Mrs. Pollifax und zuckte, erschreckt vom Klang ihrer eigenen Stimme, zusammen.

»Aber wenn es tatsächlich seine eigene Handschrift ist...«, gab Mr. Hitchens zu denken.

»Der Zettel könnte auch von einem Brief stammen oder aus einem Tagebuch herausgerissen worden sein«, erklärte Robin.

»Möglicherweise wurde er gar nicht hier umgebracht«, sagte Mrs. Pollifax und sah sich in der Hütte um. »Hier in der Hütte regt sich absolut kein Lüftchen. Wenn er erst vor ein paar Stunden erschossen wurde, müßte doch noch der Geruch von verbranntem Pulver zu riechen sein. Und schau dir mal den Boden an. Robin.«

Robin stieß einen leisen Pfiff aus. »Du hast recht. Die einzigen Fußspuren hier stammten von uns.«

Im Licht von Robins Taschenlampe untersuchten sie den Lehmboden der Hütte genauer. »Hier ist ihnen ein Fehler unterlaufen«, sagte Robin. »Entweder hat jemand nicht mitgedacht, oder die Mörder mußten überstürzt von hier verschwinden. Diese feinen Spuren hier stammen offensichtlich von einem Besen. Inspektor Wi muß an einem anderen Ort erschossen und dann hierhergebracht worden sein.«

Mr. Hitchens fröstelte. »Scheußliche Geschichte!« murmelte er leise.

»Ich frage mich nur, wie, um alles in der Welt, sie die Leiche unbemerkt hierherschaffen konnten«, dachte Mrs. Pollifax laut. »Aber im Schutze der Nacht ist wahrscheinlich alles möglich.« Sie wandte sich um und sah noch einmal auf die Leiche des Inspektors hinab. »Auch der Polizei wird auffallen, daß es keine Fußspuren gibt. Sollte es tatsächlich Selbstmord gewesen sein, hätte Inspektor Wi durch das Dach steigen müssen, um sich dann hier umzubringen. So etwas zu glauben ist einfach lächerlich.«

Robin zuckte skeptisch mit den Schultern. »Kommt ganz darauf an, wer die Untersuchung leitet. Inspektor Wi mißtraute vielleicht nicht umsonst einigen Leuten bei der Polizei. Will sagen: Es hängt wahrscheinlich davon ab, wem daran gelegen ist, Wis Tod als Selbstmord darzustellen.«

Mrs. Pollifax nickte entschlossen. »Da du für Interpol arbeitest, muß ich es wohl tun.« Sie kniete sich neben der Leiche nieder und löste mit einiger Anstrengung den Revolver aus den bereits starr werdenden Fingern. »Eine Beretta, neun Millimeter, Luger«, erklärte sie und ließ die Waffe in ihre Handtasche gleiten. Dann griff sie nach dem Stück Papier, das Robin noch immer zwischen zwei Fingern hielt, und ließ es ebenfalls in ihrer Handtasche verschwinden. »So«, sagte sie resolut. »Nun wird keiner mehr behaupten können, daß es sich hier um etwas anderes als kaltblütigen Mord handelt.«

»Braves Mädchen«, sagte Robin, und die Genugtuung in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Fassungslos hatte Mr. Hitchens Mrs. Pollifax' Tun beobachtet. »Sie... Sie...«, krächzte er verblüfft. »Sie verändern einfach alles!? Aber Sie haben richtig daran getan! Ich fühle das. Ich hatte Angst... ich war ganz krank vor Angst, sobald ich die Hütte wieder erkannte... Aber wo nur Alec sein könnte...?« Seine Stimme klang erstickt vor Sorge.

»Was mir Sorgen bereitet«, sagte Robin, »ist die Tatsache, daß uns irgend jemand anscheinend immer einen Schritt voraus ist. Irgend jemand wußte, daß Sie heute morgen hierher zurückkommen würden, Mr. Hitchens, und er nutzte die Gelegenheit, Inspektor Wis Leiche herzubringen und seinen Tod wie einen Selbstmord erscheinen zu lassen.«

»Was schlagen Sie also vor?« fragte Mr. Hitchens verunsichert.

»Daß Sie - wie erwartet - die Leiche finden und es der Polizei melden.« Robin nickte zufrieden. »Ja. Ich glaube, das ist der Zeitpunkt, an dem Sie an die Öffentlichkeit treten, Mr. Hitchens. >AMERIKANI SCHER PSYCHOLOGE ENTDECKT VERMISSTEN POLIZEIINSPEKTOR< - oder etwas in dieser Art. Sie sollten nur Mrs. Pollifax und mich aus dem Spiel lassen. Erzählen Sie einfach, daß Sie in ihrem Hotelzimmer erwachten - nachdem Sie gestern abend niedergeschlagen wurden. Sie kehrten heute morgen wieder hierher zurück, um nach Alec zu suchen... Mich haben Sie noch nie gesehen.«

Mr. Hitchens nickte, und der Ausdruck jungenhafter Abenteuerlust trat wieder in sein Gesicht. »Ja - gut. Das werde ich tun.«

Mrs. Pollifax bedachte Robin mit einem nachdenklichen Blick. »Wie ich dich kenne«, sagte sie, »hast du dir für uns etwas ganz Besonderes ausgedacht - könnte ich mir vorstellen.«

»Darauf kannst du wetten«, grinste er. »Aber zunächst werde ich unsere Fußspuren verwischen. Ich denke, es müßte genügen, wenn ich meine Jacke dafür hernehme - obwohl mich mein Schneider steinigen würde, wenn er das wüßte. Nachdem Mr. Hitchens seine Fußabdrücke hinterlassen hat, gehen wir gemeinsam zum Wagen zurück und bringen Mr. Hitchens zu einem Telefon. Dann ist er ganz alleine auf sich gestellt.«

»Und wie ist er hierhergekommen?« warf Mrs. Pollifax ein.

»Mit dem Taxi«, erwiderte Robin, drängte Mr. Hitchens und Mrs. Pollifax aus der Hütte und zog seine Jacke aus.

»Mit dem Taxi«, murmelte Mr. Hitchens. »Ich habe Sie noch nie gesehen... Ich bin ganz alleine mit dem Taxi zurückgekommen...«

»Jetzt sind Sie an der Reihe, Mr. Hitchens«, sagte Robin, als er in der Tür auftauchte und seine Jacke ausschüttelte. »Gehen Sie einfach hinein, tun Sie, als würden Sie die Leiche entdecken, laufen Sie etwas hin und her, und kommen Sie wieder heraus.«

Folgsam betrat Mr. Hitchens die Hütte und kam nach einer Weile wieder ins Sonnenlicht heraus - noch immer »Taxi... Habe Sie noch nie gesehen...« vor sich hinmurmelnd. Sie machten sich auf den Weg zurück zum Wagen, doch Mrs. Pollifax blieb noch einen Augenblick an der Schwelle der Hütte stehen und warf einen letzten Blick auf den zusammengesunkenen Körper von Inspektor Wi.

»Gott gebe seiner Seele Frieden«, flüsterte sie und versprach im stillen, alles zu tun, um den Mörder des Inspektors zu entlarven und seinen Sohn wiederzufinden.

Sie setzten Mr. Hitchens in Yuen Long ab, und sogleich benutzte dieser die Gelegenheit, seine neue Rolle zu üben: Laut und vernehmlich bedankte er sich für ihre Freundlichkeit, ihn unterwegs mitgenommen zu haben, und mit leiserer Stimme fügte er hinzu: »Aber Sie werden sich doch ganz bestimmt um Alec kümmern?«

»Natürlich«, versprach Robin. »Sie können sich darauf verlassen, Mr. Hitchens. Nur ist es besser, wenn Sie nicht wissen, wie und wo, denn Sie könnten sonst unter Umständen zuviel erzählen.«

Robin legte bereits den Gang ein, doch Mrs. Pollifax steckte den Kopf durch das offene Wagenfenster und rief: »Melden Sie sich, Mr. Hitchens! Zimmer 614!« Und während sie das Fenster hochdrehte, sah sie noch einmal zurück. Mr. Hitchens stand verloren am Straßenrand neben einem Stand, auf dem frisches Gemüse aufgetürmt war, und sah nicht gerade glücklich drein. »Mein Gott!« seufzte Mrs. Pollifax. »Er sieht wirklich ratlos und verlassen aus - wie er so da steht.«

»Mach dir keine Sorgen um ihn«, sagte Robin. »Bald wird er von Polizei und Reportern umlagert sein. Er wird für die Schlagzeilen in der Kronkolonie sorgen.«

»Und was werden wir jetzt tun?«

»Wir?« fragte Robin und grinste breit. »Wir werden in Wis Haus einsteigen.«

Sie lachte. »So einfach klingt das, wenn man mit einem Einbrecher zusammenarbeitet. Aber besteht nicht die Gefahr, daß Leute im Haus sind?«

»Inspektor Wi und Alec lebten allein«, erwiderte Robin. »Seine Frau ist schon gestorben, die ältere Tochter ist verheiratet und lebt jetzt in Bangkok. Die jüngere Tochter ist in einem Internat irgendwo in England. Alec wohnte im Haus seines Vaters, weil er gerade das College abgeschlossen hat und sich nach einem Job umsieht. Das Haus liegt ziemlich einsam, am Ende der Lion Road in Kowloon. Es ist wichtig, noch vor der Polizei dort zu sein.« Mrs. Pollifax nickte. »Hoffentlich gehen wir das Risiko nicht völlig umsonst ein. Hoffentlich finden wir irgendeinen Hinweis auf den Fall, den Alec übersehen hat... Warst du schon einmal dort?«

»Nur an der Haustür«, antwortete Robin. »Zweimal bereits -aber niemand war zu Hause. Wenn ich mich nicht irre, ist das Haus von dichten Büschen und Hecken umgeben, die neugierigen Leuten, wie wir es sind, Deckung gewähren. Du solltest übrigens deinen prachtvollen Hut wieder aufsetzen, meine liebe Mrs. Pollifax. Er wird uns einen Hauch von Biederkeit und Ehrbarkeit verleihen, denn kein Einbrecher der Welt würde es wagen, mit einem derartigen Hut irgendwo einzusteigen - das kannst du mir glauben.«

Als sie fast das Ende der Lion Rock Road erreicht hatten, und Robin ihr im Vorbeifahren das Ziel ihrer Unternehmung zeigte, mußte Mrs. Pollifax zugeben, daß er recht behalten hatte: Das Haus lag hinter üppig wuchernden Büschen und Bäumen und einer zwei Meter hohen Mauer versteckt. Von der Straße war lediglich ein Teil des roten Ziegeldachs zu erkennen, das zwischen Baumkronen - unter anderem einer in voller Blüte stehenden Mimose - hervorlugte. Robin parkte den Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Mit der Selbstverständlichkeit von Leuten, die jedes Recht auf einen Besuch in dem Haus von Inspektor Wi hatten, steuerten sie geradewegs auf das Eingangstor in der Mauer zu. Vier Minuten später - unter Zuhilfenahme von Robins vorher sorgfältig ausgewählten Einbruchswerkzeugen - standen sie in der Diele des Hauses.

Im Haus herrschte ein schattiges Halbdunkel. Durch die herabgelassenen Bambusrollos vor den Fenstern sickerten nur schmale Streifen des Sonnenlichts auf die Fliesen des Fußbodens. Im Erdgeschoß des Hauses lag das Wohnzimmer, ein Eßzimmer, eine kleine Küche und eine überdachte Veranda, die in den Garten hinausführte. Für Mrs. Pollifax sah das Haus nicht anders aus, als ein typisches Vorstadthaus in irgendeiner Stadt Amerikas - mit einer Ausnahme allerdings: In einer Nische im Wohnzimmer entdeckten sie eine mächtige, vergoldete Buddhastatue, die mit einer heiteren Gelassenheit auf sie und ihre profanen Bemühungen, gegen Egoismus, Habgier und Verblendung anzukämpfen, herablächelte. »Ich weiß« dachte Mrs. Pollifax lächelnd: »Es ist der Heilige Achtgliedrige Weg.«

»Laß uns nach oben gehen«, drängte Robin ungeduldig. »Wir suchen das Arbeitszimmer, einen Schreibtisch oder einen Safe.«

Sie fanden Inspektor Wis Arbeitszimmer im ersten Stock des Hauses und blieben wie erstarrt vor dem Chaos stehen, das sich ihren Blicken bot: Der metallene Aktenschrank in der Ecke war offenbar mit einem Vorschlaghammer aufgebrochen worden, und der Inhalt des Schreibtischs lag über das ganze Zimmer verstreut.

»Das habe ich befürchtet«, knurrte Robin. »Nachdem Alec aus dem Weg geräumt war, hatten sie hier leichtes Spiel.«

»Sie?« wiederholte Mrs. Pollifax gedankenverloren, und es schien ihr, als fühlte sie körperlich die Gegenwart der Männer, die dieses Zimmer verwüstet hatten. »Wer immer das hier getan hat«, sagte sie leise, »hatte es offenbar sehr eilig. Wahrscheinlich haben sie bei dieser Gelegenheit auch das Stück Papier gefunden, das als Inspektor Wis Abschiedsbrief dienen sollte. Wonach suchen wir eigentlich?«

»Irgendeine handschriftliche oder mit der Maschine getippte Notiz, die uns weiterhelfen könnte. Und wir haben auch nicht viel mehr Zeit als unsere Vorgänger«, brummte Robin. »Übernimm du den Schreibtisch; ich werde mich um den Fußboden und um die beiden Aktenschränke kümmern.«

»Also auf zur Schatzsuche!« sagte Mrs. Pollifax und setzte sich an den Schreibtisch. Methodisch durchsuchte sie die Schubladen. Viel war nicht mehr in ihnen, denn das meiste lag auf dem Boden verstreut. Außer einem Tintenfaß, einem Abakus, einem Fotoalbum, ein paar Bleistiften, losen Fotos und einem dicken Stapel Schreibmaschinenpapier war der Schreibtisch leer.

»Nichts!« knurrte Robin ärgerlich und warf die letzte Schublade des intakten Aktenschranks zu. »Sie haben bereits alles, das von Interesse sein könnte, verschwin|den lassen, verdammt noch mal! Und hier auf dem Boden liegen nur Rechnungen rum.«

Mrs. Pollifax hatte inzwischen den Stoß Schreibmaschinenpapier aus der Schublade genommen. Sie faßte ihn an einer Ecke und schüttelte den Stapel heftig hin und her, um zu sehen, ob nicht irgend etwas dazwischen steckte. Ein Stück abgerissenes Zeitungspapier flatterte zu Boden. Sie ließ den Stapel auf den Schreibtisch fallen und beugte sich nach dem Fetzen Papier.

»Ach du mein Schreck!« rief sie überrascht.

Mit einem Satz war Robin neben ihr. »Was ist?« fragte er atemlos. »Ach du meine Fresse!« brummte er, als er ihren Fund besah.

Es war das Foto eines Mannes, das aus einer Zeitung herausgerissen worden war. Dies mußte schon vor längerer Zeit geschehen sein, denn das Papier war bereits stark angegilbt. Am oberen Rand des Ausschnitts hatte jemand - zweifellos Damien Wi - ärgerlich das Wort >WANN?< hingekritzelt. Der Mann auf dem Foto blickte direkt in die Kamera, wie das bei Gefängnisfotos immer der Fall ist, und quer über seine Brust trug er ein Schild mit einer Gefangenennummer. Ein Name war nirgends zu entdecken. Das Gesicht des Mannes wirkte wie versteinert, und jede Linie in ihm war durch die grellen Scheinwerfer deutlich hervorgehoben. Nur das Foto war aus der Zeitung gerissen worden - ohne einen erklärenden Text oder einen Hinweis auf die Identität des Mannes. Doch Mrs. Pollifax hatte ihn sofort wiedererkannt. »Robin«, sagte sie. »Ich kenne diesen Mann. Aber wie, zum Kuckuck, kommt er in Inspektor Wis Schreibtisch?«

Robin bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick. »Du willst sagen, du weißt, wer das ist?!«

Mrs. Pollifax schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Das heißt, ich weiß nicht, wie er heißt, aber er läuft mir ständig über den Weg.«

»Was?!« zischte Robin und packte sie am Arm. Seine Stimme klang heiser und eindringlich. »Was heißt das:

>Er läuft mir ständig über den Weg?< Wo? Verdammt noch mal... Wo?!«

Sie starrte ihn verwirrt an. »Na ja - er war in derselben Maschine, mit der ich von San Francisco nach Hongkong geflogen bin. Und gestern bin ich ihm in der Dragon Alley begegnet, als ich vor Feng-Imports auf den jungen Mann gewartet habe, mit dem ich Kontakt aufnehmen soll.«

»Maschine...? Feng-Imports...?« fragte Robin mit erstickter Stimme. »Mrs. Pollifax, ich denke, es ist allmählich an der Zeit, daß du mir anvertraust, welchen Auftrag du hier in Hongkong hast. Das Foto hier... Der auf dem Foto ist Eric der Rote!«

Ein eiskalter Schauer lief Mrs. Pollifax über den Rücken. »Der Terrorist? Der Kopf der Gruppe >Befreiungsfront 8o<? Der Mordanschlag in Kairo? Die Geiselnahme in Frankreich?« Mrs. Pollifax' Schreck wandelte sich in Entsetzen, als sie sich die näheren Umstände dieser Geiselaffäre wieder ins Gedächtnis rief: Die endlos-quälenden Tage der Ungewißheit, die Fehleinschätzungen der Situation durch die Behörden, die die Flucht der Kommandoeinheit der >Befreiungsfront 8o< ermöglichte und das blutige Massaker, das die Terroristen anrichteten...

»Laß uns von hier verschwinden!« drängte Robin nervös. »Wir müssen in Ruhe reden! Wenn Eric der Rote in Hongkong ist, dann... «

Er brauchte gar nicht zu Ende zu reden, denn Mrs. Pollifax warf bereits in fliegender Hast die Schubladen des Schreib-tischs zu und griff nach ihrer Handtasche. Wortlos stürmten sie die Treppe hinab und aus dem Haus. Sie erreichten den Wagen gerade noch rechtzeitig, denn kaum war Robin losgefahren, bog aus einer Seitenstraße ein Streifenwagen der Polizei in die Lion Rock Road.

Sie passierten den Polizeiwagen, und als sie ein Stück die Straße hinabgefahren waren, sah sich Mrs. Pollifax vorsichtig um. Der Streifenwagen war vor dem Haus Damien Wis stehengeblieben; was nur bedeuten konnte, daß der Tod des Inspektors nun offiziell bekannt war.

7

Robin fuhr schnell und in Richtung des Tunnels: den einzigen Weg zurück nach Hongkong. Er schien in Gedanken weit weg zu sein, und auf seinem Gesicht lag grimmige Entschlossenheit. Offenbar zerbrach er sich den Kopf darüber, was Eric der Rote in Hongkong vorhaben mochte. Mrs. Pollifax war dankbar für das Schweigen, denn sie versuchte ihrerseits zu verstehen, aus welchem Grund ein international bekannter und gefährlicher Terrorist - kaum in Hongkong angekommen - sofort Feng-Imports aufgesucht hatte... Feng-Imports, dessen Geschäftsführer Mr. Detwiler unter Verdacht stand, Carstairs gefälschte Informationen zu schicken, wo man ihr verwehrt hatte, Sheng Ti zu sehen, wo man ihr als Trostpflaster eine wertvolle Buddhastatue geschenkt und sie anschließend beschattet hatte.

Es war durchaus denkbar, daß Robins Auftrag und ihr Auftrag wesentlich mehr miteinander zu tun hatten, als sie beide glaubten, und daß bei Feng-Imports mehr Fäden zusammenliefen als vermutet.

Robin räusperte sich umständlich, dann sagte er: »Wir gehen am besten in meine Suite. Es wird Zeit, daß du Marko kennenlernst.« Er tastete nach dem Knopf des Autoradios und drehte ihn an. Eine unpersönliche Männerstimme berichtete über den Tod Inspektor Wis:

».. .heute morgen von Albert Hitchens entdeckt, einem amerikanischen Parapsychologen, den Inspektor Wis Sohn Alec nach Hongkong gebeten hatte, um bei der Suche nach seinem vermißten Vater behilflich zu sein. Mr. Hitchens war bereits im Laufe des gestrigen Nachmittags -gemeinsam mit Alec Wi - in der besagten Hütte gewesen. Gegenüber der Polizei erklärte Mr. Hitchens, er und Alec Wi seien dort überfallen worden. Während Alec Wi offenbar entführt worden sei, sei er - Mr. Hitchens -, nachdem er am späten Abend wieder zu sich gekommen war, in sein Hotel zurückgekehrt.«

»Eine völlig neue Erfahrung für ihn«, kommentierte Mrs. Pollifax trocken.

»Heute morgen«, fuhr die Stimme des Nachrichtensprechers fort, »so berichtete Mr. Hitchens weiter, sei er mit einem Taxi erneut zu der Hütte gefahren, um nach Alec Wi zu sehen, doch anstatt des jungen Mannes habe er dort die Leiche Inspektor Wis entdeckt. Nach Schätzung der Polizei wurde Inspektor Wi in den frühen Morgenstunden, zwischen 5 und 7 Uhr erschossen. Die Kugel von Kaliber 9 mm wurde aus kürzester Entfernung abgefeuert. Wie die Polizei mitteilt, ist ein Selbstmord auszuschließen.«

»Sehr gut«, knurrte Robin zufrieden. »Das wird seinen Mördern einen gehörigen Schrecken einjagen.«

»Inspektor Damien Wi war fünfundfünfzig Jahre alt und ein verdientes Mitglied der... «

Robin drehte das Radio ab. »Und noch immer keine Spur von Alec! Sollte tatsächlich die >Befreiungsfront 8o< ihre Hände im Spiel haben, dann...«

»Wir dürfen jetzt auf keinen Fall die Hoffnung aufgeben. Robin, und uns von Befürchtungen lahmen lassen«, unterbrach ihn Mrs. Pollifax. »Das würde uns nur demoralisieren.«

Robin brachte ein mattes Lächeln zustande. »Aus dir spricht die Erfahrung, wenn ich mich nicht irre?«

»Mehr oder weniger - ja«, erwiderte Mrs. Pollifax. »Auf jeden Fall ist es besser, jetzt unsere ganze positive Energie zu mobilisieren, denn, egal durch welche Hölle der Junge gerade geht, es ist seine Hölle, und wir können im Augenblick daran nichts ändern.«

»Problem klar erkannt«, konstatierte Robin, während er den Renault in eine Parklücke hinter dem Hotel manövrierte. »Also gut. Wir nehmen den Frachtaufzug zu meiner Suite und stürzen uns mit frischem Mut in die Krisensitzung - wenn es dir recht ist...«

»Gemeinsam mit Marko«, fügte sie hinzu.;

»Gemeinsam mit Marko«, nickte Robin.

Zehn Minuten später, nachdem sie unbemerkt die prunkvolle Suite erreicht hatten, die Robin unter dem Namen Lars Petter-son im Hilton gemietet hatte, machte Mrs. Pollifax die Bekanntschaft von Marko Constantine.

»Sie sind also die sagenhafte Mrs. Pollifax, von der mir Robin so viel erzählt hat«, lächelte Marko und musterte sie aufmerksam. Dann reichte er ihr die Hand. »Die unschuldige Schönheit und die große Erdmutter in einer Person - die mit Begeisterung über Mauern klettert und Meisterin in der Kunst des Karate ist. Salute!« murmelte er und küßte ihr die Hand.

»Und die überrascht ist von ihrem Charme«, lachte Mrs. Pollifax. »Freut mich. Sie kennenzulernen, Marko.«

»Was kann ich dagegen tun?« grinste Marko selbstironisch. »Der Charme wurde mir in die Wiege gelegt, denn ich bin zur Hälfte Franzose und zur Hälfte Grieche, müssen Sie wissen. Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Mrs. Pollifax, dessen dürfen Sie sicher sein.« Er verbannte das freundliche Lächeln aus seinem Gesicht, und seine Stimme wurde plötzlich hart. »Nun sollten wir uns aber ernsthafteren Dingen zuwenden, denke ich«, fuhr er fort. »Ich habe die Nachrichten gehört. Robin, und ich nehme an, daß ihr beide bei diesem Mr. Hitchens wart, als er die Leiche entdeckte.«

»So ist es«, bestätigte Robin, »doch das ist nicht alles.«

»Heraus mit der Sprache«, sagte Marko und bot Mrs. Pollifax mit einer Handbewegung einen Sessel an. »Wollen wir uns nicht setzen?«

Sie ließ sich in den Sessel sinken und stellte fest, daß sie Markos Art zugleich amüsant und beeindruckend fand, denn sie fühlte, daß sich hinter seiner charmanten Fassade ein Mann aus Stahl verbarg. Er war nicht sehr groß, aber seine Bewegungen waren kraftvoll und geschmeidig; ein harter Mann, Mitte Dreißig, mit einem strahlenden Lächeln und einer tiefen Narbe, die sich vom linken Jochbein bis hinab zum Kinn zog. Seine Haut war dunkel, sein Haar schwarz und der Blick seiner dunkelbraunen Augen überraschend sanft. Sie fand, daß er ein wenig wie ein Affe aussah - ein sehr netter Affe allerdings ... Doch auf seine Art war er durchaus attraktiv - sehr attraktiv sogar, wenn sie es genau bedachte. Er trug offenbar noch immer die Chauffeursuniform; eine schwarze Hose und einen schwarzen Rollkragenpullover, doch als er sich ebenfalls in einen Sessel warf und die Füße unter die Beine zog, sah sie, daß er barfuß war.

Robin ließ sich auf der Couch nieder. »Zunächst solltest du wissen, was wir beide in Inspektor Wis Haus entdeckt haben, dem wir, nachdem wir die Leiche entdeckt hatten, einen kurzen und sehr unauffälligen Besuch abstatteten. Dann wird uns Mrs. Pollifax einiges über Feng-Imports erzählen.«

»Feng - was?«

Robin nickte in Richtung Mrs. Pollifax. »Ihr Auftrag, Marko. Der allerdings immer mehr Berührungspunkte mit unserem eigenen Auftrag aufweist, denn Eric der Rote...«

»Eric der Rote!« unterbrach ihn Marko bestürzt. »Mon Dieu...! Nein, ich will ganz offen sein: verdammte Scheiße!«

»So ist es«, stimmte Robin zu. Er angelte seine Brieftasche aus dem Jackett, zog das aus der Zeitung gerissene Bild hervor und reichte es Marko. Er berichtete, wie Mrs. Pollifax das Bild gefunden hatte und daß sie den Mann auf dem Foto an Bord derselben Maschine gesehen hatte, mit der sie nach Hongkong gekommen war. »Und gestern morgen, als sie vor Feng-Imports auf ihren Kontaktmann wartete, sah sie ihn aus dem Laden kommen«, fügte er triumphierend hinzu.

Marko stieß einen leisen Pfiff aus und wandte sich an Mrs. Pollifax. »Sie müssen verstehen, daß dies für uns äußerst verwirrend ist. Sie wissen, weshalb wir in Hongkong sind? Wahrscheinlich hat es Ihnen Robin erzählt. Sind Sie absolut sicher, daß dies derselbe Mann ist?«

»Ja«, erwiderte sie bestimmt. »Ich bin mir absolut sicher, denn ich hatte das Pech, ihm im Flugzeug in die Fersen zu treten. Mr. Hitchens wird dies bestätigen können, denn ich machte ihn später auf den Mann aufmerksam. Zeigen Sie ihm das Foto, wenn er zurück ist. Übrigens hatte der Mann einen kanadischen Paß.«

»Ihnen bleibt nichts verborgen!«

Mrs. Pollifax lächelte geschmeichelt. »Er beging den Fehler, ungewöhnlich barsch und feindselig auf meine Entschuldigung zu reagieren. Das erweckte meine Aufmerksamkeit. Jemand, der inkognito reisen will, darf sich solch gravierende Fehler nicht leisten, würde ich meinen. Seine Kleidung war nebenbei bemerkt auffallend elegant und stammte sicherlich von einem kanadischen Schneider. Als ich ihm auf die Füße trat, war seine Reaktion jedoch weniger elegant.«

»Bisher haben wir angenommen, daß er in Ostdeutschland untergetaucht ist; doch in letzter Zeit ging das Gerücht um, er habe sich nach Italien abgesetzt.«

»Und wann war er im Gefängnis?« fragte Mrs. Pollifax.

»Das ist mindestens zehn Jahre her, glaube ich«, antwortete Marko und wandte sich fragend an Robin. »In Westdeutschland - wenn ich mich nicht irre. Er konnte damals mit Hilfe einer Freundin entkommen und dann...« Er zuckte die Schultern. »Sie kennen die Geschichte: Wo er auftauchte, hinterließ er eine Spur von Gewalt und Terror... Aber noch einmal zu dem, was Sie sagten: Er ging nach seiner Ankunft direkt zu diesem.. » Feng-Imports?«

»Anscheinend - denn als ich ihn sah, hatte er noch sein Gepäck bei sich.«

»Wenn das stimmt«, murmelte Marko nachdenklich, »dann ändert das alles - alles! Wir wissen jetzt, was... Aber erzählen Sie doch bitte von diesem Feng-Imports. Weshalb haben Sie diesen Laden beobachtet?«

Mrs. Pollifax holte tief Atem und berichtete, aus welchem Grund und mit welchem Auftrag sie nach Hongkong gekommen war. Sie erwähnte Carstairs' Beunruhigung in bezug auf Detwiler, erzählte die Geschichte, wie sie Sheng Ti kennengelernt hatte, und weshalb er wichtig war. Sie beschrieb ihren Besuch bei Feng-Imports, das Gespräch mit Detwiler und erwähnte, daß sie danach beschattet wurde. Schließlich verschwieg sie auch nicht ihr Treffen mit Lotus und dem völlig verängstigten Sheng Ti.

»Elf Pässe!« brummte Robin. »Und einer davon war ganz sicher ein kanadischer?« Mrs. Pollifax nickte. »Und Sheng Ti und Lotus werden heute abend mit dir Kontakt aufnehmen?«

»Ja - zumindest nehme ich das an. Falls nichts dazwischenkommt.«

Robin und Marko wechselten einen bedeutungsvollen Blick. »Ich denke, wir sollten uns diesen Laden unbedingt mal ansehen - und zwar sofort«, sagte Marko. »Sie müssen uns dorthin führen, Mrs. Pollifax; selbst sollten Sie allerdings nicht m Erscheinung treten. Ich denke, wir brauchen - wie viele Männer werden wir benötigen, diesen Laden zu überwachen, falls Eric der Rote wieder auftaucht? Bis wir genügend Leute haben, wirst du wohl oder übel auf deinen Sekretär verzichten müssen. Robin.« Er zwinkerte Robin zu. »Soll ich anrufen oder erledigst du das?«

»Ich geh' schon«, erwiderte Robin. Er erhob sich, ging in das Nebenzimmer und schloß die Tür hinter sich.

Geschmeidig wie eine Katze kam Marko aus seinem Sessel hoch. »Sind Sie bereit, in unser Spiel einzusteigen, Mrs. Pollifax?« fragte er ernst. »Sie wissen selbst, daß dabei auch der Tod mitmischt!«

»Worauf es meiner Meinung nach jetzt ankommt«, erwiderte sie, ohne auf ihre eigene Person näher einzugehen, »ist, zu verhindern, daß es noch mehr Tote gibt. Wir wissen nicht, was mit Alec geschehen ist, und wenn Sie dasselbe befürchten wie ich... « Sie beendete den Satz nicht, doch Marko warf ihr einen verstehenden Blick zu und nickte bekümmert.

»Ja«, murmelte er und ließ sich wieder in den Sessel sinken.

Robin kam zurück und berichtete: »Heute abend um neun können wir mit zwei Männern rechnen: Krugg und Upshot. Und ein dritter, Witkowski, wird im Laufe der, Nacht zu uns stoßen. Mehr Leute können sie uns im Moment nicht geben, aber zumindest scheinen sie allmählich zu begreifen, daß sich hier etwas zusammenbraut.«

Marko nickte. »Gut. Ich übernehme bis neun. Ich muß nur noch schnell meine Sachen packen.«

»Interpol - aber noch immer keine einheimische Polizei?« bemerkte Mrs. Pollifax, während sie vor dem Spiegel ihren Hut aufsetzte und mit einer mächtigen Hutnadel befestigte.

»Vergiß nicht, daß auch Damien Wi im Alleingang arbeitete«, entgegnete Robin. »Und wenn die geraubten Diamanten tatsächlich für Bestechungsgelder verwendet wurden, dann wurde damit das halbe Polizeipräsidium von Hongkong gekauft. Eine gesunde Paranoia ist in unserem Job oft ganz nützlich. Ich bin zwar überzeugt, daß die meisten Kollegen hier ebenso vertrauenswürdig sind wie du und ich, aber falls Inspektor Wi tatsächlich das Opfer einer Verleumdungskampagne war und dann umgelegt wurde, weil er die Finger nicht von der Sache ließ, müssen wir verdammt vorsichtig operieren. Wir wissen nicht, wem wir vertrauen können. Es ist einfach zu riskant, mit offenen Karten zu spielen. Die Männer, die uns zur Unterstützung zugeteilt wurden, kommen aus Tokio und Bangkok.«

»Was packt denn Marko eigentlich zusammen?« fragte Mrs. Pollifax ungeduldig.

»Was zum Essen, Funkgeräte, Batterien, Kamera, Filme und wahrscheinlich seine Kanone - schätze ich. Ich hoffe nur, wir finden in der Dragon Alley ein geeignetes Versteck für ihn.«

Mrs. Pollifax fühlte, wie allmählich Erregung von ihr Besitz ergriff. Nervös sah sie auf ihre Uhr. Es war kurz vor zwei, und wie es aussah, würde sie wieder nicht zum Essen kommen. Doch für den Vorzug, zwei Profis bei der Arbeit beobachten zu können, war sie gerne bereit, auf ihren Lunch zu verzichten. »Ich bin soweit«, erklärte sie aufgeräumt, als Marko mit einer Tasche in der Hand aus dem anderen Zimmer kam. »Wir nehmen wieder den Frachtaufzug - oder?«

Die erste Lektion, die Mrs. Pollifax in der Kunst der Überwachung erhielt, war das absolute Verbot, auch nur einen Fuß in die Dragon Alley zu setzen. Stattdessen umgingen sie die Dragon Alley in weitem Bogen und näherten sich ihr über die Straße oberhalb des schmalen Gäßchens. Sie schlüpften in Hinterhöfe und stolperten über Berge von Schutt, bis Mrs. Pollifax endlich das hohe, schräggestellte Fenster von Detwilers Hinterzimmer entdeckte. Robin skizzierte in seinem Notizblock die Lage von Feng-Imports und wandte seine Aufmerksamkeit dann sogleich einem ziemlich heruntergekommenen Gebäude in der Nähe zu, dessen oberes Stockwerk offenbar leerstand.

Sie kehrten auf die Straße oberhalb der Dragon Alley zurück, gingen bis zur Parallelstraße zur Dragon Alley und versuchten von dort, sich durch die Hinterhöfe Feng-Imports zu nähern. Sie zwängten sich durch enge Zaunlücken, spähten unter dem Schutz von Bäumen über die Dächer der Schuppen und Häuser, bis sie endlich das Haus, das Feng-Imports gegenüberlag, entdeckten. Wie sich herausstellte, war dies die kleine Pension, die Mrs. Pollifax bereits am ersten Tag aufgefallen war; eine windschiefe Bude, die sich mit beängstigender Schlagseite zur Dragon Alley neigte. Der Besitzer dieser stolzen Herberge war nirgends zu entdecken, und Mrs. Pollifax beobachtete mit Staunen, mit welcher Unverfrorenheit Marko und Robin dieses Problem lösten: Sie schlüpften einfach durch die Hintertür, gingen im Haus von Tür zu Tür und klopften so lange, bis sie jemanden fanden, der zu Hause war.

Der Mann nannte sich Pi und war von ihnen offenbar aus dem Schlaf gerissen worden. Er habe vor einer Woche seinen Job verloren, erklärte er seinen Nachmittagsschlaf, und wollte dann wissen, wer sie seien. Mrs. Pollifax spähte über die Schulter des Mannes in den winzigen Verschlag, den er bewohnte, und stellte fest, daß das Zimmerchen ein Fenster besaß, das direkt auf die Ladentür von Feng-Imports hinabsah. Zwanzig Minuten später hatte Pi seine wenigen Habseligkeiten gepackt - ein Bündel, nicht viel größer als Markos Tasche -, und er strahlte über das ganze Gesicht wegen der Summe, für die er sein Zimmer eine Woche lang weitervermietet hatte. Für das Geld, das sie ihm für sein Schweigen und für das Zimmer bezahlt hatten, konnte er es sich ohne weiteres leisten, in das Hongkong-Hilton umzuziehen, fand Mrs. Pollifax. Robin und Marko hatten inzwischen im Zimmer den idealen Platz für die Beobachtung von Feng-Imports gefunden. Nachdem Pi verschwunden war, waren Mrs. Pollifax und Robin Marko dabei behilflich, die wenigen Möbel in dem winzigen Raum umzustellen und das Funkgerät aufzubauen, dann gingen auch sie und ließen Marko alleine zurück.

»Was machen wir jetzt?« fragte Mrs. Pollifax, als sie die Parallelstraße zur Dragon Alley erreicht hatten - bereit zu neuen Taten und begierig, mehr über die Arbeit von Interpolagenten zu erfahren.

»Jetzt werde ich dich zunächst mal im Hotel absetzen«, lautete Robins ernüchternde Antwort. »Und ich werde versuchen, das obere Stockwerk in dem Haus hinter Feng-Imports zu mieten. Dafür brauche ich jedoch ein paar Geschäftskarten, die ich erst drucken lassen muß, und einen seriösen Businessanzug. Dann werde ich das Funkgerät im Hotel aufbauen und den Kontakt mit Marko herstellen. Du könntest inzwischen versuchen, Mr. Hitchens für mich aufzutreiben und ihn bitten, sich mit mir zu treffen. Ich würde ihm gerne das Foto von Eric dem Roten vorlegen und ihn... « Robin grinste Mrs. Pollifax verlegen an. »Ihn...«

Sie lächelte mitfühlend. »Du möchtest seine parapsychologischen Fähigkeiten in Anspruch nehmen? Mit all der Publicity, die im Augenblick um seine Person gemacht wird, müssen wir uns möglicherweise auf die Warteliste setzen lassen.«

Robin stoppte den Renault in der Straße hinter dem Hilton. »Quatsch!« knurrte er, zog die Handbremse und ließ den Motor laufen. »Erinnere ihn daran, wer ihm gestern nacht Unterschlupf gewährt hat. Laß ruhig eine Bemerkung über internationalen Terrorismus fallen. Erzähle ihm was von Gerechtigkeit, Gesetz und Ordnung und so weiter... Und dann bete zu Gott, daß er eine Antwort auf das >WANN?< von Inspektor Wi findet. Wir brauchen unbedingt das Datum - am besten den genauen Tag - zumindest aber die Woche oder den Monat.«

»Was du verlangst, ist nicht gerade bescheiden«, murrte Mrs. Pollifax.

»Kein Wunder«, konterte Robin, »denn was wir bisher in Händen haben, ist nun mal etwas dürftig.« Er beugte sich zu ihr und öffnete ihre Wagentür. »Es ist schon recht spät, und da der Himmel weiß, wann Mr. Hitchens wieder im Hotel auftaucht, und ich noch eine Menge zu erledigen habe, würde ich vorschlagen, wir treffen uns mit Mr. Hitchens morgen früh. Lade ihn doch zu einem opulenten Frühstück in unserer Suite ein. Sagen wir um acht? Schließlich ist sein Auftraggeber verschwunden, und möglicherweise fragt sich der arme Mr. Hitchens verzweifelt, wo er seine nächste warme Mahlzeit herbekommt.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte Mrs. Pollifax überrascht. »Robin, du bist wirklich ein netter Kerl.«

»Klar«, grinste er. »Hast du das nicht gewußt? Sollte irgend etwas Unvorhergesehenes passieren - ich sitze bis etwa acht, halb neun am Funkgerät, dann muß ich zum Flughafen, um unsere Leute abzuholen. Also bis bald!« Er winkte ihr zu und fuhr dann weiter, um einen Parkplatz zu finden. Mrs. Pollifax schlenderte in Gedanken versunken zum Hintereingang des Hilton.

Als sie durch die Ladenstraße im Untergeschoß des Hotels ging, überlegte sie, daß sie keinerlei positive Neuigkeiten über Alecs Verbleib hatte, die sie Mr. Hitchens erzählen konnte. Und Mr. Hitchens erste Frage würde Alec gelten, denn schließlich war er wegen Alec nach Hongkong gekommen. Siedend heiß fiel ihr ein, daß der eigentliche Grund ihres Aufenthalts in Hongkong Detwiler war. Sie war hier, um Detwiler auf den Zahn zu fühlen, doch während des ganzen Tages hatte sie kaum einen Gedanken an ihn verschwendet. Sie war mit Mr. Hitchens' Problemen beschäftigt gewesen, mit Alecs Verschwinden, mit der Ermordung Inspektor Wis und der Identität des Mannes mit der schwarzen, gewalttätigen Aura. Zwar hatte es ihr großen Spaß gemacht. Robin und Marko bei der Arbeit zu beobachten, doch sie hatte kein einziges Mal konzentriert über ihren eigenen Auftrag, über Detwiler und Sheng Ti nachgedacht.

Sie blieb stehen und betrachtete in einer der Auslagen müßig die Titelseiten von Zeitschriften. Doch die Titel klangen alle irgendwie ähnlich: Blick, Fokus, Spion oder Horizont. Sie versuchte, ihre Gedanken auf den Fall zu konzentrieren. Wenn eine Verbindung zwischen Detwiler, Eric dem Roten und dem Verschwinden von Alec existierte, war es dann nicht denkbar, daß Detwiler Alec in seiner Wohnung festhielt? Wo und wie wohnte Detwiler eigentlich? Entschlossen, das nächste verfügbare Telefonbuch von Hongkong zu Rate zu ziehen, ließ sie Zeitschriften Zeitschriften sein und steuerte auf den Aufzug zu, um in die Halle des Hotels emporzufahren.

Sie hatte Detwilers Adresse gefunden und war soeben damit beschäftigt, sie in ihr Notizbuch zu schreiben, als ihr jemand auf die Schulter klopfte und sagte: »Seit Stunden versuche ich. Sie zu finden!«

Sie fuhr herum und starrte in zwei verblüffend helle Augen. Sie erkannte ihn nicht sogleich, denn Mr. Hitchens' Kopf und Schultern verschwanden fast ganz unter einem riesigen, breitkrempigen Schlapphut. Mrs. Pollifax unterdrückte den fast unwiderstehlichen Impuls, loszulachen und fragte statt dessen: »Sind Sie inkognito, Mr. Hitchens?«

»Nein, nein«, brummte er unglücklich. »Ich habe nur einen Eisbeutel auf dem Kopf, und da ich dachte, es könnte vielleicht Aufsehen erregen, wenn ich mit einem Eisbeutel auf dem Kopf in der Halle sitze, habe ich mir vom Manager des Hotels einen Hut geliehen. Können wir uns dort drüben hinsetzen?«

»Ja, natürlich«, erwiderte sie, und sie gingen zu der nächstgelegenen Sitzgruppe.

»Die Leute hier waren so furchtbar nett zu mir, daß ich gar nicht weiß, wo ich zu erzählen beginnen soll«, berichtete er begeistert. »Man hat mir ein anderes Zimmer gegeben, offenbar weil ich mich gestern nacht doch recht heftig gegen diesen... diesen Schläger gewehrt habe. Das Zimmermädchen stand heute morgen in meinem Zimmer vor einem Chaos. Ich bin jetzt in Zimmer 302 und...« - er machte eine Pause, um Luft zu holen, und strahlte dann über das ganze Gesicht -»...und heute abend können Sie mich in den Nachrichten sehen. Das Fernsehen hat mich interviewt! Und sehen Sie!« Er hielt ihr eine Zeitung hin. »Ganz frisch aus dem Druck!«

Mrs. Pollifax ließ sich auf die Couch sinken und schlug die Zeitung auf. Die Titelseite zierte ein Foto von Mr. Hitchens, der - eingerahmt von zwei Polizisten - in die Sonne blinzelte. Weiter unten auf der Seite war ein zweites Bild von Mr. Hitchens zu sehen; ein Porträt vor einem dunklen Hintergrund, der den weiß leuchtenden und verwegen um die Stirn geschlungenen Kopfverband besonders vorteilhaft betonte. Die Schlagzeile lautete: BERÜHMTER AMERIKANISCHER PARAPSYCHOLOGE IN HONGKONG.

»Ich bin berühmt!« strahlte Mr. Hitchens glücklich.

»Wie schön für Sie«, sagte Mrs. Pollifax. »Ihre Story nimmt fast die ganze Titelseite ein. Das freut mich für Sie, aber sagen Sie mir: Wie fühlen Sie sich, Mr. Hitchens? Ich meine, wie geht es Ihrer Verletzung?«

Seine Hände tasteten nach seinem Kopf. »Das Eis ist anscheinend geschmolzen, denn mein Kopf dröhnt wie ein chinesischer Gong. Aber das ist wahrscheinlich nur die Müdigkeit.« Er nahm den Hut ab, und der Eisbeutel fiel in seinen Schoß. Mit zwei Fingern hob er ihn hoch und sagte: »Sie haben keinen Platz dafür in Ihrer Handtasche?«

»Nein«, erwiderte sie ungerührt. »Da ist bereits 'ne Beretta und der Abschiedsbrief eines angeblichen Selbstmörders drin. Für einen Eisbeutel ist da kein Platz.«

Er nickte schicksalsergeben und stopfte den Eisbeutel in seine Jackentasche. »Sie haben Alec nicht gefunden?«

»Noch nicht - leider«, antwortete sie und verstummte, als ein Mann in prächtig wallendem Gewand und über und über mit Schmuck behängt in die Halle des Hotels segelte - in seinem Kielwasser ein Gefolge von nicht minder exotisch anmutenden Personen. Sie durchquerten die Lobby und verschwanden im Aufzug.

»In Squantum gibt's so etwas nicht«, bemerkte Mr. Hitchens kopfschüttelnd.

»Squantum?«

»Der Ort, wo ich lebe. In der Nähe von Boston. Aber wir sprachen über Alec.«

»Keine Spur von ihm. Aber wir haben etwas anderes gefunden«, sagte Mrs. Pollifax. »Robin hat uns beide für morgen früh um acht in seine Suite zum Frühstück eingeladen. Er möchte mit Ihnen sprechen.«

Mr. Hitchens war hocherfreut.

»Er möchte Ihnen ein Foto zeigen und ...« Sie verstummte, als sie bemerkte, daß Mr. Hitchens ihr offenbar gar nicht zuhörte. Sie folgte seinem Blick zu einer Gruppe müde und erschöpft aussehender amerikanischer Touristen, die von einer chinesischen Reiseführerin in das Hongkong-Hilton begleitet wurden. Mr. Hitchens stieß einen unterdrückten Laut aus, sein Kinn klappte nach unten, und seine Augen weiteten sich vor Staunen.

»Was ist denn?« fragte Mrs. Pollifax verwirrt.

Mr. Hitchens schloß den Mund und schluckte vernehmbar. »Das ist doch...!« murmelte er - und dann: »Das ist doch...!« Ein verklärtes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Das ist doch Ruthie!« rief er aus. Er sprang auf und rief laut ihren Namen.

Eine der Frauen in der Gruppe drehte sich um und sah herüber. Sie entdeckte Mr. Hitchens, und ihr Gesichtsausdruck war nicht weniger verblüfft, als der von Mr. Hitchens vor einem Augenblick. Sie löste sich aus der Gruppe, machte ein paar zögernde Schritte, blieb zaudernd stehen und eilte dann auf Mr. Hitchens zu. Sie trafen sich in der Mitte der Halle, und Mr. Hitchens umarmte sie schüchtern. Die Art, wie sich die beiden begrüßten, ließ auf eine schwierige und komplizierte Trennung vor langer Zeit schließen.

Mrs. Pollifax beobachtete das Paar lächelnd. Ruthie war die einzige seiner Frauen gewesen, die von Mr. Hitchens kein aufregendes Leben erwartet hatte - wenn sich Mrs. Pollifax recht erinnerte. Vorausgesetzt, sie brachte nichts durcheinander, dann war seine erste Frau Kindergärtnerin gewesen, seine zweite eine ehrgeizige junge Schauspielerin und seine dritte Frau eine ehrgeizige junge Zauberkünstlerin. Ruthie mußte seine erste Frau gewesen sein, denn wohl keine Frau, deren Ehrgeiz im Showbusineß Befriedigung suchte, würde ihr Äußeres so charakterfest ihren wahren, tieferen Eigenschaften unterordnen. Ruthie war klein und auf den ersten Blick unscheinbar, doch beim näheren Hinsehen mußte Mrs. Pollifax diesen Eindruck revidieren: Sie hatte große, empfindsame braune Augen, eine ganz reizende Stupsnase, die im interessanten Kontrast zu ihrem kleinen Kinn stand, das eine gehörige Portion Selbstbewußtsein und Stand-haftigkeit verriet. Sie trug ein braunes Kleid, bequeme Schuhe und ging - nach Mrs. Pollifax' Schätzung - auf die Vierzig zu. Eine sensible, kleine Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht, entschied Mrs. Pollifax. Nur die leichte Röte, die in Ruthies Gesicht gestiegen war, verriet, wie sehr sie sich freute, ihn wiederzusehen.

»Aber ich verstehe nicht...«, hörte Mrs. Pollifax sie sagen. »Was in aller Welt machst du in Hongkong?«

Mr. Hitchens wandte sich zu Mrs. Pollifax um. »Was für eine Überraschung!« rief er. »Das ist Ruthie!«

Ruthies Augen folgten Mr. Hitchens' Blick, und Mrs. Pollifax sah in ihnen eine plötzliche Angst aufkeimem, als sie die Person suchten, zu der ihr Ex-Mann gesprochen hatte. »Sie liebt ihn noch immer«, dachte Mrs. Pollifax, »und fürchtet wahr-scheinlich, wieder eine dieser jungen Schauspielerinnen zu sehen.«

Aus Ruthies Blick wich die Angst, als sie Mrs. Pollifax entdeckte. »Oh!«, machte sie. »Oh!«

Lächelnd erhob sich Mrs. Pollifax von der Couch und gesellte sich zu den beiden. »Die Gründe für Mr. Hitchens' Aufenthalt hier sind ziemlich kompliziert und - übrigens, ich bin Mrs. Pollifax -, und er steckt bis über beide Ohren... Weshalb zeigen Sie ihr nicht einfach die Zeitung, Mr. Hitchens?«

Die Röte auf Ruthies Gesicht wurde noch eine Nuance tiefer, als Mr. Hitchens die Zeitung auseinanderfaltete und ihr stolz die Fotos auf der Titelseite zeigte. »Verzwickte Geschichte«, erklärte er vage, »aber im Augenblick nicht so wichtig. Du siehst prächtig aus, Ruthie!«

»Leider müssen Sie mich nun entschuldigen«, erklärte Mrs. Pollifax. »Ich habe noch etwas Dringendes zu erledigen.«

»Oh, nein, bitte«, widersprach Ruthie verwirrt. »Sie dürfen nicht glauben... Ich bin mit einer Reisegruppe hier, und wir haben ein sehr gedrängtes Programm. Heute abend stehen einige Nachtclubs auf der Liste, und ich... «

»Großartig«, strahlte Mr. Hitchens. »Warum stürzen wir beide uns nicht gemeinsam in das Nachtleben, Ruthie?«

Mrs. Pollifax ergriff die Gelegenheit, sich zurückzuziehen, und überließ die beiden den Gefahren und Freuden ihres Wiedersehens. Sie fuhr in ihr Zimmer hoch, um eine betont unauffällige Garderobe für den Abend auszuwählen, denn sie hatte keineswegs die Absicht, den Abend in den Nachtclubs von Hongkong zu verbringen.

8

In ihrem Zimmer angekommen, zog sich Mrs. Pollifax sogleich um. Sie entschied sich für einen einfachen Baumwollrock, eine gestreifte Bluse, bequeme Sandalen und ein blaugestreiftes Halstuch, das sie sich um den Kopf band. Dann kramte sie in ihrem Koffer nach dem Notizbuch, das sie auf Reisen stets bei sich hatte. Sie riß die erste Seite heraus, auf die sie im Vogelhaus des Zoologischen Gartens die Notizen für Cyrus gekritzelt hatte, und betrachtete kritisch die restlichen unbeschriebenen Seiten des Blocks. Schließlich nickte sie zufrieden, riß etwa zwanzig Blätter heraus und steckte sie in ihre Handtasche. Sie verließ das Zimmer. Auf ihrem Weg zum Haupteingang nahm sie einen Umweg durch das Untergeschoß in Kauf, um in einem der Läden eine sehr professionell aussehende Klemmappe zu erstehen. Auf der Straße angelangt, winkte sie ein Taxi heran und nannte dem Fahrer die Straße, in der Detwiler wohnte, ohne allerdings die Hausnummer zu nennen. Sie sollte eine Überraschung erleben: Mr. Detwiler wohnte auf einer Insel zu Füßen des Victoria-Peak, auf der Grundstücke sicherlich sündhaft teuer waren, doch in der von schattenspendenden Bäumen gesäumten Straße, in der Detwilers Haus lag, schien dies absolut kein Problem zu sein, denn zwischen den Häusern erstreckten sich großzügige und sorgfältig gepflegte Rasenflächen. Mrs. Pollifax zahlte das Taxi, dankte dem Fahrer und blieb, unentschlossen um sich blickend, am Bordstein stehen. Sie wünschte, sie hätte ihr Kleid und den Hut anbehalten, doch dann gab sie sich einen Ruck und schlenderte die Straße hinauf. Vor dem Haus mit der Nummer 3216 blieb sie stehen und entdeckte ein diskret zwischen den Büschen am Eingang des Gartens angebrachtes Schild: DETWILER - HAUS JASMIN.

»Klein, aber fein«, murmelte sie und verglich das Anwesen ganz unwillkürlich mit dem mehr als bescheidenen, winzigen Laden, den Detwiler in einer der entlegensten und schäbigsten Geschäftsgegenden der Stadt betrieb. Doch dann erinnerte sie sich, daß Detwiler ja schließlich mit Diamanten handelte. Sie seufzte tief. »Mut, Emily! Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, flüsterte sie fast beschwörend und schlenderte weiter — zum Haus mit der Nummer 3218 - FINCH-BERTRAMS - HAUS ZU DEN BUCHEN.

Mrs. Pollifax ging zielstrebig zur Haustür und klingelte. Ein Dienstmädchen, eine zierliche Chinesin in einer voluminösen Schürze, erschien in der Tür. »Guten Tag«, grüßte Mrs. Pollifax freundlich. »Ich führe eine Umfrage im Auftrag unserer Wirtschaftsredaktion durch und interessiere mich dafür, wie viele Stunden Sie täglich fernsehen.«

Die Chinesin betrachtete sie mit verständnislosem Blick. »Wer ist das, Ming?« rief eine Stimme in strengem, eindeutig englischen Tonfall, und eine sehr gepflegte und elegant gekleidete junge Frau trat neben das Dienstmädchen. Sie musterte Mrs. Pollifax eingehend, zuckte mit den Schultern und bat sie einzutreten.

»Weshalb nicht?« sagte sie. »Mein Mann kommt erst in ein paar Stunden nach Hause, und da Ming kein Englisch spricht, ist es oft recht langweilig, alleine in dem großen Haus zu sein.«

Fünfunddreißig Minuten später - nachdem sie mehr, als ihr lieb war, über Mrs. Finch-Bertrams, deren Bridge-Partien und Lieblingsboutiquen erfahren hatte und darüber, wie wenig sie von ihrem Gatten sah, der die paar Stunden, die er nicht im Büro war, am Telefon oder im Club in der Gesellschaft von Geschäftsfreunden verbrachte - mußte sich Mrs. Pollifax förmlich losreißen, wollte sie nicht unter den Belanglosigkeiten begraben werden, die Mrs. Finch-Bertrams interessant fand. Leider gehörten die Nachbarn in Haus Nummer 3216 nicht zu den Dingen, die Mrs. Finch-Bertrams' Interesse erweckten. Ja, natürlich sehe sie fern, und Mrs. Pollifax notierte sorgfältig, was Mrs. Finch-Bertrams zu diesem Thema zu sagen hatte: Vor allem Familienserien sehe sie sich oft an, wenn sie alleine zu Hause sei, die sie allerdings »zum Sterben langweilig« fände, und »alles, was spannend ist - wo man sehen kann, was die Dame heutzutage trägt«. Das Problem bei solchen Interviews, fand Mrs. Pollifax, als sie wieder die Straße erreicht hatte, lag darin, daß man ungebeten in irgendwelche Ehegeheimnisse und Klatschgeschichten eingeweiht wurde - und meist in solche, die einem nicht weiterhalfen...

Gegenüber, bei den Wongs in Haus Nummer 3217 hatte sie mehr Glück. Eine erstaunlich junge Mutter, eine Chinesin in Bluejeans, öffnete die Tür, während sie ihre drei kichernden Kinder in Schach zu halten versuchte.

»Vom Fernsehen? Oh, das ist mein Babysitter«, erklärte Mrs. Wong lachend. »Sie haben das richtige Haus gefunden. Er ist bei uns ständig an, und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht ein stilles Dankgebet an das RTV spreche.«

Gott sei Dank, wurde Mrs. Pollifax diesmal nicht hereingebeten, und nachdem sie Mrs. Wongs Antworten bezüglich der fiktiven Umfrage notiert hatte, erkundigte sie sich interessiert: »Und die Familie, die gegenüber wohnt - haben die Kinder?«

Mrs. Wong schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Da wohnt Tom Detwiler. Er ist Junggeselle. Ich habe ihn schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen. Aber seine Haushälterin sieht sicherlich fern... «

Ein Junggeselle... eine Haushälterin... Mrs. Pollifax bedankte sich überschwenglich, winkte den Kindern fröhlich zum Abschied und entschied kurzentschlossen, daß es das beste sei, Mr. Detwilers Haus direkt anzusteuern, ehe sie möglicherweise einer zweiten Mrs. Finch-Bertrams in die Hände fiel. Während sie die Straße überquerte, betrachtete sie erneut das Haus -diesmal mit besonderem Augenmerk für diskrete Winkel und Verstecke, die geeignet wären, den lästigen Sohn eines ermordeten Polizeiinspektors vor unbefugten Blicken zu verbergen. Am Ende der Auffahrt zum Beispiel entdeckte sie eine recht geräumige Garage, über der offenbar auch einige Wohnräume lagen. Das Haus selbst schien auf den ersten Blick gar nicht so groß, doch bei näherem Hinsehen entdeckte Mrs. Pollifax einen angebauten Seitenflügel, der wegen der dichten Büsche und Bäume von der Straße her nicht zu sehen war. Das Haus konnte mit Recht als eine gekünstelte - je nach Geschmack mehr oder weniger gelungene - Mischung aus 118 europäischen und asiatischen Stilelementen bezeichnet werden: Über der glatten, modernen Frontfassade, in die dezent Teakholz- und Natursteinelemente integriert waren, türmte sich ein an den vier Ecken nach oben geschwungenes chinesisches Pagodendach. Die Haustür zierte ein schwerer Knauf aus massivem Messing, der die Form eines Delphins hatte. Mrs. Pollifax klingelte und wartete. Sie hoffte inständig, Mr. Detwiler war nicht ausgerechnet an diesem Nachmittag, einem unwiderstehlichen Bedürfnis folgend, in sein Haus zurückgeeilt, und sie wünschte sich, seine Haushälterin würde ebensoviel Anlaß zum Klagen haben wie Mrs. Finch-Bertrams und würde einer geduldigen Zuhörerin nicht widerstehen können.

Wie sich herausstellte, hatte Mr. Detwilers Haushälterin nur einen einzigen Grund zu klagen - einen sehr unerwarteten zwar, doch ihr Bedürfnis nach einem geduldigen Ohr und einer verständnisvollen Stimme war nichtsdestoweniger sehr ausgeprägt: Kaum hatte Mrs. Pollifax erwähnt, daß sie eine Umfrage durchführe, wurde sie in die Küche gebeten, um die weiteren Einzelheiten bei einer guten Tasse Tee zu erörtern.

»Manchmal fühle ich mich schon sehr einsam«, vertraute sie Mrs. Pollifax an und nickte dabei - ihre Einsamkeit bekräftigend - heftig mit dem Kopf. »Übrigens -ich heiße O'Malley... Jane O'Malley. Offen gestanden, wenn ich den Fernseher nicht hätte, ich wüßte nicht... Ich glaube, ich würde verrückt werden. Mr. Detwiler bezahlt mich zwar sehr großzügig - nichts gegen ihn -, aber wenn er nicht bald nach Hause kommt...« Sie führte Mrs. Pollifax in die Küche, setzte ihr in einer wunderhübschen Havilandtasse Tee vor und nahm ihr gegenüber am Küchentisch Platz.

Etwas verwirrt von Mrs. O'Malleys Klagelied schüttelte Mrs. Pollifax mitfühlend den Kopf. »Sie sind den ganzen Tag allein?« erkundigte sie sich teilnahmsvoll. »Vermutlich müssen Sie das Essen für jeden der Familie immer wieder aufwärmen, anstatt es - wie es sich gehört - für die ganze Familie zu servieren?«

»Familie!« rief Mrs. O'Malley frustriert. »Er lebt alleine! Und essen tut er auch nicht zu Hause! Er ist schon seit zwei Monaten nicht mehr hier gewesen.«

»Er ist seit zwei...«, Mrs. Pollifax unterbrach sich. »Jaja -natürlich. Dann verstehe ich, daß Sie sich einsam fühlen.« Konnte es sein, daß sie die Wahrheit sagte? überlegte Mrs. Pollifax. Seit zwei Monaten war er nicht mehr zu Hause gewesen... ?

Mrs. O'Malley nickte bekräftigend. »So ist es. Und wenn man vierundzwanzig Stunden am Tag ganz alleine ist - Sie müssen wissen, ich wohne auch hier: in dem Apartment über der Garage -, dann... Manche würden natürlich sagen: >Was für ein bequemer Job<, aber für wen soll ich denn kochen? Eine Frau braucht nun mal einen Mann, den sie bekochen kann.«

»Und Sie sind sicherlich eine gute Köchin«, warf Mrs. Pollifax ein.

»Das bin ich - ja. Die beste, hat mein Mann immer gesagt., . Gott habe ihn selig. Er war in der Britischen Armee, und wir waren so lange hier, daß ich einfach nicht mehr nach England zurück konnte. Ich fühlte mich dort nicht mehr zu Hause... Und Mr. Detwiler war immer so zufrieden mit meinen Dinnerpartys - als er noch welche gab... Ich habe nämlich einen GourmetKochkurs besucht, müssen Sie wissen.«

Nur mit Mühe konnte Mrs. Pollifax verbergen, wie sehr sie die monatelange Abwesenheit Mr. Detwilers von zu Hause überraschte, doch es gelang ihr, ganz beiläufig zu fragen: »Er ist wohl auf einer längeren Geschäftsreise?«

Ein seltsamer Ausdruck stahl sich in Mrs, O'Malleys rundes, biederes Gesicht; eine Mischung von Verwirrtheit und Verlegenheit, entschied Mrs. Pollifax, die versuchte, den Ausdruck genauer zu definieren. »Irgendwelche geschäftlichen Angelegenheiten - ja«, sagte Mrs. O'Malley. »Einmal in der Woche schickt er mir mit einem Botenjungen seine Wäsche; ohne ein Wort der Erklärung, wo er ist. Und ich gebe dem Jungen immer die sauberen und frisch gestärkten Hemden mit... Es ist schon deprimierend, das dürfen Sie mir glauben: Früher, da hatten wir Dinnerpartys - oft zwei oder drei in der Woche. Und er hatte auch seine Freundinnen - doch ja... Überhaupt war das Haus voller Leben - bis vor zwei Monaten. Und jetzt kommt nur noch der Botenjunge einmal in der Woche. Was soll ich anderes tun als fernsehen? Bei Ihrer Umfrage können Sie mich zu den Leuten zählen, die ihre meiste Zeit vor der Kiste verbringen. Ich glaube, ich würde sonst anfangen, mit mir selbst zu sprechen.«

Zwei Monate! Wie benommen wiederholte Mrs. Pollifax in Gedanken diese Information. Das war äußerst bemerkenswert! Hatte Bishop nicht gesagt, daß Detwilers Berichte an das Ministerium seit zwei Monaten irreführend und offenbar gefälscht seien? Laut sagte sie: »Das kann ich sehr gut verstehen, Mrs. O'Malley.« Sie legte die Klemmappe auf den Tisch und zückte ihren Kugelschreiber. »Mrs. Wong von gegenüber geht es auch nicht viel anders. Bei ihr ist die... eh... Kiste auch den ganzen Tag an.«

Mrs. O'Malleys Miene hellte sich auf. »Sie ist ja ein so liebes Ding. Und seit ihr Schwiegervater gestorben ist, geht es ihr auch viel besser.« Mrs. O'Malley schüttelte mißbilligend den Kopf. »Er war ein fanatischer Nationalist, wissen Sie. Er redete und redete und redete - den ganzen Tag. Und sie war so geduldig, das kleine Ding.«

»Ein Nationalist?«

»Ja... Das, was China war, ehe die Roten die Macht übernahmen. Dieser General Soundso... Tschiang Kaischek, oder so ähnlich, der die Regierung nach Taiwan verlegte und immer davon redete, aufs Festland zurückzukehren.« Mrs. O'Malley, der Mrs. Pollifax' Erstaunen nicht entgangen war, fügte erklärend hinzu: »Für Sie liegt das alles bestimmt lange zurück - das, was damals geschah -, aber nicht hier in Hongkong. Sie dürfen nicht vergessen, daß die meisten der Flüchtlinge damals nach Hongkong flohen, und viele können das alles nicht vergessen - wie der alte Mr. Wong von gegenüber, der die Flagge der Nationalisten jeden Tag in seinem Garten hißte. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß das nun vorbei ist. Also, was wollten Sie mich fragen?«

Mrs. Pollifax begann mit ihrer Umfrage, und Mrs. O'Malley kommentierte, ohne lange überlegen zu müssen, die Sendungen, die sie sich täglich ansah. Als sie fertig waren, hatte Mrs. Pollifax das vollständige TV-Programm von morgens bis Mitternacht auf ihrem Block stehen.

Als sie endlich Stift und Klemmappe beiseite schob, fragte Mrs. O'Malley: »Sind Sie auch Witwe?«

Mrs. Pollifax verbannte Cyrus vorübergehend aus ihren Gedanken und bejahte die neugierige Frage. »Schon seit vielen Jahren«, fügte sie hinzu.

Mrs. O'Malley nickte verständnisinnig. »Und dann noch diese Inflation hier, und was das für die Witwenrenten bedeutet - ich weiß Bescheid!... Wo wohnen Sie eigentlich, meine Liebe?«

»In der Nähe der Lion Rock Road«, erwiderte Mrs. Pollifax, der im Moment außer der Adresse von Inspektor Wi keine andere einfiel, und mit einem Blick auf ihre Uhr fügte sie hinzu: »Aber ich muß jetzt wirklich gehen. Ich habe noch eine Menge Leute zu befragen, und es ist schon fast fünf... «

»Die holen das Letzte aus einem heraus, nicht wahr?« seufzte Mrs. O'Malley mit einem Nicken. »Suchen Sie sich doch auch einen Platz als Haushälterin, meine Liebe. Es ist beinahe so, als hätte man ein eigenes Heim, sage ich immer.«

Mrs. Pollifax erhob sich lachend. »Sicherlich - vorausgesetzt, der Hausherr verschwindet nicht wochenlang.«

»Kommen Sie doch morgen wieder vorbei, wenn Sie noch in der Gegend zu tun haben«, sagte Mrs. O'Malley, als sie ihr die Haustür öffnete. »Wie sagten Sie noch mal, ist Ihr Name?«

Mrs. Pollifax versuchte verzweifelt, einen Gedanken zu fassen, doch in ihrem Kopf herrschte plötzliche Leere. »Leer -Irma Leer«, stammelte sie und floh.

Der Besuch in Detwilers Haus hatte Mrs. Pollifax einen Schock versetzt, dessen sie auf dem Weg zum Hotel und später in ihrem Zimmer verzweifelt Herr zu werden versuchte. Das Gespräch mit Mrs. O'Malley hatte sie verwirrt, denn Detwiler war ganz sicher nicht auf einer Geschäftsreise außerhalb Hongkongs - dessen war sie sich sicher. Schließlich hatte sie erst gestern mit ihm in Feng-Imports gesprochen. Und doch war er seit zwei Monaten nicht mehr zu Hause gewesen! Die quälende Frage, auf die sie noch keine Antwort wußte, war: weshalb?

Sie versuchte sich zu erinnern, was sie in seinem Haus zu finden erwartet hatte: etwas Unheilvolles, natürlich - denn warum sonst hätte sie die Beretta in ihrer Handtasche gelassen, als sie das Hotel verließ? Inzwischen fand sie die Vorstellung, Detwiler könnte Alec in einem Mansardenzimmerchen oder einem ähnlich entlegenen Winkel des Hauses gefangenhalten, gar nicht mehr so überzeugend. Statt dessen hatte sie eine elegante Vorstadtvilla und eine ergebene Haushälterin vorgefunden; und was Mrs. O'Malley betraf, war Mrs. Pollifax überzeugt, sie hätte Alec - würde er tatsächlich im Hause festgehalten - in die Küche geschleppt, um mit ihm bei einer Tasse Tee ein Schwätzchen zu halten.

»Irgend etwas muß ich übersehen haben«, dachte sie. »Ich muß endlich aufhören, irgendwelchen Hirngespinsten und vorgefaßten Meinungen nachzujagen ...Ich muß meine Gedanken davon freimachen, um klarsehen zu können, was mir bisher entgangen ist... «

Um zehn Uhr desselben Abends fuhr Mrs. Pollifax erneut durch die Straßen von Hongkong, um zum zweiten Mal heimlich Sheng Ti zu treffen: diesmal jedoch war sie in Begleitung von Robin.

Sie hatten sich im Lastenaufzug getroffen, als sie gerade das Hotel verlassen wollte. »Hier trifft man das erlesenste Publikum«, hatte Robin gespöttelt, als im Untergeschoß sich die Tür des Aufzugs langsam öffnete und sie verblüfft in Robins Gesicht gestarrt hatte. »Wohin des Wegs, meine liebe Mrs. P.?«

»Lotus hat angerufen«, erwiderte sie hastig. »Ich bin unterwegs zur Dragon Alley, und hab's eilig, denn sie konnte sich ihrer Zimmergenossinnen nur für eine halbe Stunde entledigen.«

»Ich begleite dich«, sagte er kurzentschlossen und nahm sie beim Arm. »Der Renault steht vor dem Eingang, und ich würde diesen jungen Mann sehr gerne kennenlernen.«

»Warst du am Flughafen?«

Er hielt ihr die Wagentür auf. »Ja. Die beiden Männer von Interpol habe ich bereits mit Marko zusammengebracht. Krugg löst Marko in der Dragon Alley ab, der dann Upshot zu unserem Beobachtungspunkt in der Seitenstraße bringt und anschließend ins Hotel zurückkehrt, um was zu essen und sich aufs Ohr zu hauen. Bisher habe sich nichts Besonderes getan, meinte Marko; außer daß Sheng Ti gegen halb sechs den Laden verlassen hat, mit zwei in braunem Papier verpackten Päckchen unter dem Arm. Um sieben kam er dann zurück - ohne die beiden Päckchen. Ich würde verdammt gerne wissen, was er da weggebracht hat.«

»Und ich«, sagte Mrs. Pollifax, »werde ihn fragen, wo sich Mr. Detwiler aufhält.« Sie berichtete ihm von der Umfrage und schilderte kurz, was sie dabei in Erfahrung gebracht hatte.

»Du warst fleißig, Mrs. Pollifax«, bemerkte Robin und warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »Wie bist du nur auf diese Idee gekommen?«

»Ich habe die ganze Geschichte noch einmal durchgedacht und mich erinnert, daß ich schließlich seinetwegen in Hongkong bin«, erwiderte sie.

»Natürlich - ja«, gab er etwas verwundert zu.

Sie lächelte. »Außerdem habe ich Cyrus geschrieben, meine Yogaübungen nicht vergessen und Mr. Hitchens in den Abendnachrichten bewundert. Ich fand, er hat seine Sache sehr professionell gemacht - wie er mit den Fragen der Journalisten umging und dabei niemals der Eindruck entstand, er könnte außer Alec Wi irgend jemanden in Hongkong kennen.«

»Um so besser für ihn. Mir fällt ein Stein vom Herzen.«

»Übrigens«, fügte sie hinzu, »bringt die Abendausgabe der Zeitung auf der Titelseite ein Bild von Alec Wi mit der Überschrift: >WER HAT DIESEN MANN GESEHEN?< Ich hab' sie dabei, um das Bild Lotus und Sheng Ti zu zeigen.«

»Allmählich finde ich es unheimlich, daß dir anscheinend nichts entgeht«, bemerkte Robin mit einem Augenzwinkern.

»Ich erzähle das nur, damit du Alec nicht vergißt. Ich könnte es mir zumindest vorstellen - jetzt, wo auch noch Eric der Rote aufgetaucht ist. Aber Mr. Hitchens ist sehr besorgt wegen Alec. Ich habe Mr. Hitchens übrigens getroffen. Er wird morgen um acht mit uns frühstücken. Er war entzückt... Und von den Terroristen hat er natürlich keine Ahnung; seine Gedanken kreisen noch immer um gestern und um Alec.«

»Gestern... als wir alle noch eine Spur unschuldiger waren und... Weshalb fühle ich mich bloß ständig in der Defensive und schuldig? Zum Beispiel, daß ich Mr. Hitchens todunglücklich machen könnte... «

Sie lachte. »So unglücklich nun auch wieder nicht!« Sie berichtete von Ruthie, und ein erleichtertes Schmunzeln trat in sein Gesicht.

»Die Wege des Schicksals!« rief er theatralisch. »Und sie ist auf einer dieser furchtbaren Pauschalreisen, die einen bei jeder Jahreszeit durch ihr Programm jagen? Ich würde sie gerne kennenlernen; ich bin nämlich neugierig.«

Mrs. Pollifax nickte. »Ich denke, sie würde dir gefallen. Natürlich ist sie keine Schönheit wie etwa Court...«

»Court ist unvergleichlich«, stellte Robin apodiktisch fest.

Amüsiert erwiderte Mrs. Pollifax: »Natürlich - zumindest für dich... Aber Mr. Hitchens sieht das möglicherweise anders. Ich bin gespannt, was sich zwischen ihm und Ruthie anbahnt. Ich finde, er ist ein sehr sensibler und verständnisvoller Mann, und er hat reagiert, als würde er Zeuge eines mittleren Wunders... Da vorne rechts ist ein Parkplatz«, fügte sie schnell hinzu.

Gekonnt manövrierte Robin den Renault in die Parklücke. »Ein gewöhnliches oder ein göttliches Wunder?«

»Kein Wunder ist gewöhnlich«, lächelte sie. »Aber jede Frau, die wie Mr. Hitchens grüne Bananen und Wiederholungen von alten Fernsehserien liebt, kann mit Fug und Recht als ein göttliches Wunder bezeichnet werden. Wir müssen von hier noch zwei Blocks laufen.

An der Ecke mit der Neonschrift >JEDEN ABEND JAZZ, GIRLS< müssen wir abbiegen.«

Als sie die knarrende Holztür zu dem winzigen Hinterhof der Dragon Alley 40 vorsichtig hinter sich zuschob, entdeckte Mrs. Pollifax sogleich Lotus, die auch diesmal im Schatten der Hütte wartete. Als das Mädchen sah, daß Mrs. Pollifax nicht alleine gekommen war, sprang sie auf, um wegzulaufen. Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Er ist ein Freund«, flüsterte Mrs. Pollifax. »Ein guter Freund, glauben Sie mir. Es ist alles in Ordnung.«

Lotus bedachte Robin mit einem mißtrauischen Blick, doch dann führte sie die beiden durch die schmale Hintertür in das düstere, winzige Zimmer, in dem Mrs. Pollifax schon einmal gewesen war.

»O Gott - sieht aus wie eine Opiumhöhle«, murmelte Robin, der hinter ihr ins Zimmer trat.

Zu Mrs. Pollifax' Verwunderung schien Sheng Ti Robins Gegenwart in keiner Weise zu beunruhigen; was sie überaus rührend fand. Doch dann begriff sie, daß dies ein Ausdruck von Sheng Tis bedingungslosem und blindem Vertrauen in sie war - ein Umstand, der sie mit Sorge erfüllte. »Freund!« sagte Sheng Ti und schüttelte Robin strahlend die Hand. »Neuer Freund. Bitte - setzen.«

Sie setzten sich um die blakende Lampe, deren gespenstischer Schein ihren Gesichtern eine seltsam unnatürliche Röte verlieh, und Mrs. Pollifax eröffnete die Zusammenkunft, indem sie eine Serviette auf den Tisch legte, in die sie einige Süßigkeiten eingeschlagen hatte. Daneben legte sie 20 Hongkong-Dollar. »Als Zuschuß zur Miete - weil wir das Zimmer eine halbe Stunde benützen können«, erklärte sie Lotus. »Und nun zu den wichtigeren Dingen. Sheng Ti, hast du heute für Mr. Detwiler Botengänge erledigt?«

Sheng Ti nickte. »Ja. Und ich habe mir alles gemerkt.« Er schloß die Augen und schnarrte drauflos:

»Zwei Päckchen mit Diamanten: eines für Donald Chang, Nga Tsin Wai Road, in der Nähe des Flughafens in Kowloon, und das andere auf die Post, versichert, an Gern Märt, Bombay, Indien.« Er öffnete die Augen und lächelte stolz.

»Mich interessiert vor allem die Adresse in Hongkong«, sagte Robin. »Können Sie mir die genaue Adresse von Donald Chang geben, Sheng Ti?«

Sheng Ti nickte, brachte ein Stück Papier zum Vorschein und las die Adresse noch einmal vor, diesmal mit der Hausnummer und der Nummer des Apartments. »Ich arbeite gut?« fragte er Mrs. Pollifax eifrig.

Sie lächelte. »Du arbeitest gut - ja.« Sie zog die Zeitung aus ihrer Handtasche und hielt Sheng Ti das Bild von Alec Wi hin. »Hast du diesen Mann schon einmal bei Feng-Imports gesehen?«

»Nein. Nicht dort«, antwortete er kopfschüttelnd.

»Du meinst, du hast ihn anderswo gesehen?« fragte Mrs. Pollifax atemlos.

Sheng Ti zeigte auf das Bild. »In der Zeitung, heute abend... Ich lese jeden Abend die Zeitung, um Englisch zu lernen.«

»Verstehe«, sagte Mrs. Pollifax enttäuscht. »Und Sie, Lotus?«

»Nein, noch nie«, erwiderte Lotus.

»Und diesen Mann?« fragte Mrs. Pollifax und zog das zerknitterte Zeitungsfoto von Eric dem Roten aus ihrer Tasche. »Habt ihr ihn schon einmal im Laden gesehen?«

»Nein«, sagte Lotus, und Mrs. Pollifax erinnerte sich, daß das Mädchen erst zur Arbeit gekommen war, nachdem der Mann mit der gewalttätigen Aura Feng-Imports bereits verlassen hatte.

Sheng Ti jedoch studierte das Bild mit zusammengekniffenen Augen. Er nickte heftig. »Ja. Er kam sehr früh -gestern, glaube ich. Ja, gestern. Er brachte Yudee...«

»Jade«, erklärte Lotus.

»Shi, Jade... Und als er kam... sie schickten mich weg, um Qishui zu kaufen.«

»Limonade«, warf Lotus ein.

Sheng Ti nickte ungeduldig. »Aber ich habe ihn trotzdem gesehen - als ich ging. Er hat... komische Narben in... « Er tupfte mit dem Finger auf seine Wangen. »Das ist der Mann.«

»Ja«, sagte Mrs. Pollifax und nickte.

Robin beugte sich über den Tisch. Mit heiserer Stimme fragte er: »Haben Sie ihn ein zweites Mal gesehen? Wissen Sie, wo er hinging? Haben Sie seinen Namen gehört?«

Sheng Ti schüttelte traurig den Kopf.

»Noch eine Frage«, sagte Mrs. Pollifax und schob Sheng Ti die Serviette mit den Süßigkeiten hin. »Nimm doch eins. Sie sind köstlich.«

»Köstlich?«

»Ja... Wo schläft Mr. Detwiler? Bleibt er am Abend im Laden? Wohnt er jetzt dort?«

Sheng Ti sah sie hilflos an. »Ich gehe um acht, neun, zehn... Er noch da -Xiänsbeng - ich weiß nicht.«

»Na so was!« knurrte Robin. »Und wann fangen Sie zu arbeiten an?«

»Sechs Uhr - manchmal acht Uhr«, erwiderte Sheng Ti.

»Sklavenarbeit!«

»Und Sie, Lotus, wissen Sie etwas?« wandte sich Mrs. Pollifax an das Mädchen.

Lotus runzelte verwirrt die Stirn. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht, aber seit Wochen ist Mr. Detwiler noch im Laden, wenn ich um sechs gehe. Das ist eigentlich ungewöhnlich, denn sonst ging er immer um fünf oder halb sechs. Er hat nämlich ein Haus...«

»Ich weiß«, warf Mrs. Pollifax ein. »Und wo wohnt Mr. Feng?«

Die Miene des Mädchens hellte sich auf. »Er hat eine Wohnung über dem Laden.«

Mrs. Pollifax begegnete Robins fragendem Blick mit einem triumphierenden Lächeln. Eine Wohnung über dem Laden! Detwiler konnte also ohne weiteres bei Feng wohnen, um jederzeit verfügbar zu sein - zum Beispiel. Mrs. O'Malley würde Detwiler so lange nicht zu Gesicht bekommen, bis das, was sie planten - was immer es sein , mochte - über die Bühne gegangen war.

Was immer er auch vorhaben mochte... Mrs. Pollifax seufzte. Die Information, daß Detwiler nachts in der Stadt blieb, war keine umwerfende Sache, aber sie war trotzdem froh zu wissen, wo er seine Nächte verbrachte.

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Sheng Ti besorgt.

»Ist einem von Ihnen jemals ein Funkgerät bei Feng-Imports aufgefallen?« erkundigte sich Robin.

»Es gibt ein Radio - für Musik...«, antwortete Lotus. »Shouyinji«, erklärte sie Sheng Ti. »Ich weiß nicht, was über dem Laden ist. Ich glaube, es sind zwei Räume. Weshalb fragen Sie?«

Mrs. Pollifax warf Robin einen kurzen Blick zu. Unmerklich schüttelte er den Kopf. »Es ist besser, wenn ihr das nicht wißt -noch nicht«, entgegnete sie. »Aber es ist sehr wichtig. Und dieser Mann...«, sie deutete auf das Bild von Eric dem Roten, »... dieser Mann ist sehr gefährlich. Ein übler Bursche. Sollte er wieder bei Feng-Im-ports auftauchen oder wenn ihr sonst etwas über ihn, hört, sagt uns sofort Bescheid!« ;

»Ihm auch?« fragte Lotus und warf einen Blick auf Robin.

»Ihm auch«, erwiderte Mrs. Pollifax.

Robin war bereits dabei, seine Telefonnummer aufzuschreiben. »Sollten Sie Mrs. Pollifax nicht erreichen können, an diesem Telefon ist immer jemand.« ;

»Oder Sie kommen zum Hotel, wenn es sehr wichtig ist«, sagte Mrs. Pollifax und zog weitere zwanzig Dollar aus ihrer Handtasche. Zehn gab sie Lotus und zehn Sheng Ti. »Für das Taxi.«

»So viel Geld!« murmelte Sheng Ti beeindruckt. »Wir rufen morgen wieder an?«

»Ja, bitte«, sagte Mrs. Pollifax, und als sich Robin erhob, stand auch sie auf und gab Sheng Ti und Lotus zum Abschied die Hand. »Vielen Dank, ihr beiden«, lächelte sie.

»Dein junger Mann gefällt mir«, sagte Robin, als sie wieder im Auto saßen und durch die von Neonreklamen hell erleuchteten Straßen Hongkongs fuhren. »Allerdings hat er vor irgend etwas furchtbare Angst.»

»Ja«, stimmte Mrs. Pollifax zu und fügte dann hinzu:

»Ich auch übrigens... Du etwa nicht?«

Im Hotel angekommen, fuhr dieses Mal nur Robin mit dem Lastenaufzug nach oben. Mrs. Pollifax machte den Umweg durch die Halle, um zu fragen, ob ein Telegramm für sie da sei. Möglicherweise versuchte Car-stairs, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Es lag tatsächlich ein Telegramm für Mrs. Reed-Pollifax am Empfangsschalter. Ungeöffnet nahm sie es mit in ihr Zimmer, und während sie nach oben fuhr, ließ sie in Gedanken den Tag noch einmal Revue passieren. Er hatte damit begonnen, daß sie beim Erwachen Mr. Hitchens auf ihrer Couch vorgefunden hatte. Dann hatten sie die Leiche Inspektor Wis entdeckt. Sie hatte von Robin die wahre Identität des Mannes mit der schwarzen Aura erfahren, und es war ihnen gelungen, um Feng-Imports vielversprechende Beobachtungsposten einzurichten. Anschließend hatte sie ihre Umfrage durchgeführt, und am Abend war sie auch noch mit Sheng Ti und Lotus zusammengetroffen. Was für ein Tag! Kein Wunder, daß sie sich ausgepumpt und hundemüde fühlte.

Sie trat in ihr Zimmer und legte die Handtasche auf den Schreibtisch neben die Buddhastatue. Nachdenklich betrachtete sie die Figur, und der Ausdruck heiterer Gelassenheit, der auf dem glatten Jadegesicht lag, erfüllte sie mit Neid. Mit einem tiefen Seufzer öffnete sie das Telegramm. Es war nicht von Carstairs - es war von Cyrus! Sie las: DAUERREGEN STOP KAM FRÜHER ZURÜCK STOP KOMME MIT DER ERSTEN MASCHINE STOP DONNERSTAG ABEND HONGKONG' STOP DU FEHLST MIR STOP BIS BALD IN LIEBE CY-RUS.

Sie las es noch einmal und fühlte, wie die Müdigkeit wie ein abgetragener Mantel von ihr abfiel. Cyrus war auf dem Weg zu ihr! Cyrus!

Sie jauchzte vor Freude hell auf, und einen Augenblick schien es ihr, als lächelte ihr der Buddha gütig zu. Einer spontanen Eingebung folgend verneigte sie sich leicht vor der Statue. Dann löschte sie das Licht.

MITTWOCH 

9

Unruhig wälzte sich Mrs. Pollifax im Schlaf hin und her. Ein Angsttraum verfolgte sie, bis sie schließlich erwachte und die Augen aufschlug. Es war noch immer Nacht, und sie schloß die Augen wieder, doch das beklemmende Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung sei, schnürte ihr die Kehle zu. Die Augen noch immer geschlossen, versuchte sie zu erfühlen, was sie beunruhigte. Cyrus war es nicht, der jetzt bereits unterwegs nach Hongkong war; ebensowenig konnte... Sie erstarrte, als sie ganz nah eine raschelnde Bewegung wahrnahm. Was sie beunruhigte, war ganz dicht bei ihr! Es war hier in diesem Zimmer.

Sie war nicht alleine!

Mrs. Pollifax öffnete die Augen und drehte vorsichtig den Kopf, um das Zimmer besser überblicken zu können. Sie hatte die schweren Vorhänge am Abend anscheinend nicht ganz zugezogen, denn ein fahles, gespenstisches Licht sickerte von draußen durch einen Spalt in das Zimmer. In der Mitte des Raums stand ein Mann! Deutlich konnte sie seine Silhouette vor dem hellen Rechteck des Fensters erkennen. Er war zur Bewegungslosigkeit erstarrt; denn offenbar hatte sie sich im Schlaf unruhig herumgeworfen oder sogar gesprochen, und er wartete nun, daß sie wieder fest einschlief.

Mrs. Pollifax war allerdings weit entfernt davon, wieder einzuschlafen. Sie war hellwach und beobachtete die Gestalt durch halbgeschlossene Lider. Das Laken und eine leichte Decke behinderten sie, und als sich der Eindringling wieder bewegte, schob sie behutsam ein Bein unter der Decke hervor. Ihr Fuß berührte den Teppich, und ohne das geringste Geräusch zu verursachen, glitt sie aus dem Bett und richtete sich auf.

Der Eindringling stand nun dicht vor dem Lattengerüst der Gepäckablage, auf der ihr Koffer lag. Plötzlich zuckte ein bleistiftdünner Lichtstrahl auf und schnitt einen hellen Kreis aus der Dunkelheit. Einen Augenblick klebte er an der Wand und fiel dann auf den geöffneten Koffer. Als sich die Gestalt über den Koffer beugte, näherte sich Mrs. Pollifax lautlos. Fast schon eine unfair leichte Übung, beileibe keine echte Herausforderung, dachte sie. Sie hatte die vornüber gebeugte Gestalt des Eindringlings bereits erreicht, als er erstarrte. Möglicherweise hatte ihn ein Rascheln ihres Schlafanzugs oder eine undeutliche Bewegung im Spiegel an der Wand vor ihm gewarnt, doch es war zu spät, denn Mrs. Pollifax stand bereits dicht hinter ihm. Ihre Hand zuckte wie eine gespannte Feder nach unten und traf ihn an der Basis seines Hinterkopfs. Er gab einen keuchenden Laut von sich, schwankte und wollte sich herumwerfen, doch ein zweiter, etwas stärker geführter Karateschlag von Mrs. Pollifax gegen den Hals schickte ihn bewußtlos zu Boden.

Mrs. Pollifax knipste das Licht an, und zu ihrer grenzenlosen Überraschung stellte sie fest, daß es der junge Mann mit dem Diplomatenköfferchen war, der zu ihren Füßen lag. Sie hatte erwartet, einem Hoteldieb das Handwerk gelegt zu haben, und als ihr bewußt wurde, was dies bedeutete, fuhr ihr der Schreck in die Glieder. Sie kniete neben dem Mann nieder und fühlte seinen Puls. Sie nickte zufrieden und ging zum Telefon, um Robin anzurufen.

»Robin, in meinem Zimmer ist ein Mann!« rief sie in den Hörer.

»Einen Augenblick lang dachte ich jetzt, du hättest gesagt, ein Mann sei in deinem Zimmer«, erwiderte Robin glucksend.

»Das habe ich auch«, erklärte sie. »Er liegt hier auf meinem Teppich.«

»Schon wieder?« staunte Robin ungläubig. »Doch nicht etwa derselbe?«

»Nein. Es ist der Mann, der mich am Montag nachmittag verfolgt hat - von Feng-Imports.«

Das Schweigen am anderen Ende der Leitung bewies, daß Robin ebenfalls seine Zeit brauchte, bis er begriff, was dies bedeutete.

»Er ist bewußtlos«, fuhr Mrs. Pollifax fort. »Das wird sich aller Voraussicht nach in den nächsten ein, zwei Stunden auch nicht ändern, aber dann... «

»Ich bin sofort unten«, sagte Robin und legte auf.

Sie wartete in der Tür, bis sich endlich die Aufzugstür öffnete, und Robin den Korridor herabeilte.

»Wo... ah ja«, brummte er und trat beiseite, damit sie die Tür schließen konnte. »Diesmal ist es aber hundertprozentig Karate gewesen.«

Sie nickte. »Ich bin aufgewacht, und er war... er war einfach da. Vielmehr dort... Er darf auf keinen Fall in meinem Zimmer wieder zu sich kommen. Robin.«

»Das kann ich sehr gut verstehen«, stimmte Robin zu. »Eine entspannte Unterhaltung würde sich unter diesen Umständen wohl schwerlich entwickeln, und womöglich würde er es dir sehr übelnehmen, daß du derart rüde mit ihm umgesprungen bist.«

Sie überging seine Bemerkung und schnitt statt dessen ein anderes Problem an: »Das Schlimme dabei ist nur, daß er bestimmt nicht vergessen wird, wer ihn niedergeschlagen hat -egal, was wir mit ihm machen. Er wird es Detwiler erzählen, und mein Image als harmlose Touristin löst sich in nichts auf.«

»Ein für allemal.«

»Es sei denn...«, überlegte sie weiter,»... es sei denn, wir könnten ihn irgendwie derart stümperhaft aussehen lassen, daß... Er hat mich ganz sicher nicht gesehen... Ich hab' mich ihm von hinten genähert, und erkannt hat er mich bestimmt nicht.«

In Robins Augen tanzte ein schelmischer Funken. »Das eröffnet uns natürlich zahllose und wundersame Möglichkeiten. Er drang in ein dunkles Hotelzimmer ein und... « »Warum nicht in das falsche?« rief sie erregt. »Genau! Wir müssen ihn nur an den richtigen Ort schaffen, und am Ende wird er selbst noch glauben, er habe sich im Zimmer geirrt. Und wer wird Mrs. Pollifax, der Präsidentin eines Gartenbauvereins schon zutrauen, daß sie des Nachts Männer mit Karateschlägen ins Land der Träume schickt?«

Sie lächelte zufrieden und freute sich im stillen, wie überaus produktiv und anregend es doch ist, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der sich auf derselben Wellenlänge befindet. »Wir sollten überlegen, aus welchem Grund ihn Detwiler hergeschickt hat und warum... «

»Später«, unterbrach Robin sie. »Zuerst sollten wir ihn von hier wegschaffen, und vor allem sollten wir überlegen, wohin... Das Wie ist kein Problem: Wir nehmen ihn zwischen uns und bringen ihn zum Lastenaufzug... Für uns inzwischen ja ein Routinegang..., und sollte uns jemand begegnen, wird er annehmen, der Mann sei betrunken. Aber wohin mit ihm? Wohin?«

Robin lehnte sich gegen den Schreibtisch und versuchte offenbar, seine grauen Zellen zu aktivieren. Mrs. Pollifax sah ihm interessiert zu. Mit einem bedauernden Grinsen sagte er: »Der Tiger Balm Garden wäre der ideale Platz, ihn loszuwerden. Er würde zwischen all den grotesken Gestalten zu sich kommen und hätte wahrscheinlich noch wochenlang Alpträume. Aber leider ist 136 der Tiger Balm Garden jetzt geschlossen. Schade - aber ich denke, wir müssen uns solch kreative Möglichkeiten abschminken und ihn irgendwo hier im Hotel loswerden.«

»Im Hotel...«, wiederholte Mrs. Pollifax gedankenverloren. »Vielleicht in einer der Bars?«

»Wir setzen ihn auf einen Barhocker«, grinste Robin genüßlich, »und lehnen ihn an einen Bloody Mary. «

»Oder wir könnten ihn ins Untergeschoß bringen oder in die Hotelküche. Oder... Warte mal - das ist vielleicht gar nicht schlecht!« rief sie. »Die Läden im Untergeschoß sind doch jetzt geschlossen?«

»Ja«, bestätigte er. »Aber der Durchgang zur Straße ist offen. Sicherlich haben sie einen Wachmann, der hin und wieder seine Runde macht.«

»Perfekt!« konstatierte sie zufrieden. »Ich werde mich nur schnell anziehen... «

Als Mrs. Pollifax in einem Straßenkostüm und den Hut verwegen in die Stirn gedrückt aus dem Badezimmer zurückkam, war Robin soeben damit beschäftigt, dem Bewußtlosen die Brieftasche in das Jackett zurückzuschieben. »Er hat auch einen Namen. Nennt sich Allan Chen.«

»Ich persönlich nenne ihn lieber den Mann mit dem Diplo-matenköfferchen«, erklärte sie. »Obwohl er heute ohne sein Köfferchen zum Festhalten gekommen ist. Also was ist? Wollen wir Mr. Chen nach draußen begleiten?«

Mühsam schleppten sie den Bewußtlosen den Korridor entlang. Glücklicherweise begegneten sie niemandem, dessen Mißtrauen durch die schlaff zwischen ihnen hängende Gestalt Mr. Chens geweckt worden wäre. Der Lastenaufzug schwebte nahezu geräuschlos in das Untergeschoß hinab, und als die Tür endlich zur Seite glitt, stellte Mrs. Pollifax mit einem vorsichtigen Blick nach draußen fest, daß die Ladenstraße zwischen dem Zeitschriftenkiosk und dem Shop, der die chinesischen Buddhas verkaufte, leer war.

»Was ist?« keuchte Robin, der sich mit der Brust gegen Mr. Chen stemmte und ihn gegen die Wand des Aufzugs preßte, damit er nicht zusammensackte. »Ist alles okay? Er wird mir allmählich zu schwer.«

»Ich muß das Terrain erst genauer sondieren«, entgegnete sie. Sie huschte ein Stück die Ladenstraße hinab und spähte vorsichtig um die Ecke. Sie signalisierte ihm zu kommen. »Nur ein Stückchen nach rechts«, rief sie mit unterdrückter Stimme. »Aber mach schnell!«

»Nichts lieber als das«, ächzte Robin und ließ Mr. Chen in seine Arme gleiten. »Und wohin jetzt mit ihm?«

»Wart's ab... Mein Gott, ist der schwer geworden!« stöhnte sie. »Hier sind wir schon.«

Robin machte große Augen. »Was in aller Welt ist das?« fragte er verblüfft.

»Hast du noch nie so was gesehen? Ein Apparat, der den Blutdruck mißt. Bei uns zu Hause stehen diese Dinger überall herum - in Kinos, Supermärkten, an den merkwürdigsten Orten... Man setzt sich hier auf dieses Bänkchen, schnallt dieses Band um das Handgelenk und wirft eine Münze ein. Auf dem Bildschirm kannst du dann deinen Blutdruck ablesen - wie bei einem Flipper.«

»Erstaunlich«, murmelte Robin beeindruckt. »Und wesentlich einfallsreicher und fantasievoller als ein simpler Barhocker.« Behutsam ließ er Mr. Chen auf das Bänkchen gleiten, und Mrs. Pollifax legte das Band um den Arm des Bewußtlosen. Damit er nicht von der Bank rutschen konnte, kippten sie Mr. Chens Oberkörper nach vorn und lehnten ihn mit der Stirn gegen die Glasscheibe des Apparats. Robin studierte die Betriebsanleitung, und ehe Mrs. Pollifax protestieren konnte, warf er vier Münzen in den Schlitz.

138 »Laß das, Robin!« lachte sie.

»Sein Blutdruck ist etwas zu hoch«, brummte er und trat einen Schritt zurück, um die aufscheinenden Zahlen besser lesen zu können.

»Ich habe den Verdacht, meiner ist im Augenblick auch nicht normal«, vermutete Mrs. Pollifax. »Hör mal! Sind das nicht Schritte? Schnell jetzt. Robin!«

»Jaja«, sagte Robin, und gemeinsam zogen sie sich bis zu der Ecke, um die sie zuvor gebogen waren, zurück. »Aber wenigstens haben wir Mr. Chen aus deinem Zimmer geschafft. Und sieh dir unser Werk an!«

Mrs. Pollifax warf einen letzten Blick zurück auf Mr. Chen. Er lehnte noch immer gegen die Sichtscheibe und erweckte ganz den Eindruck eines kurzsichtigen Mannes, der verzweifelt versucht, seinen Blutdruck abzulesen. Mrs. Pollifax konnte ihn von dort, wo sie stand, erkennen: 150/72 flimmerte über die Scheibe... 150/72 in großen, leuchtendroten Ziffern.

»Das war eine überaus lehrreiche Aktion für mich«, bemerkte Robin, als sich die Aufzugstür hinter ihnen geschlossen hatte. »Und ich denke, das sollten wir mit einem Glas begießen. Haben sie den Brandy in deinem Kühlschrank aufgefüllt?«

»Sicher. Und sie schreiben alles genau in kleine schwarze Notizbücher«, erwiderte sie.

»Sehr gut. Ich nehme an, du kannst ebenfalls einen vertragen. Ich bin jetzt zwar restlos überzeugt, daß dich Männer, die nachts in dein Zimmer stolpern, nicht schrecken können, doch allmählich muß es auch dir zuviel werden.«

»Ich finde es eher zum Lachen - um nicht zu sagen, amüsant«, entgegnete sie.

»Eindeutige Anzeichen von Hysterie«, bemerkte er trocken. Er brachte sie in ihr Zimmer und goß ihnen beiden einen Brandy ein. »Allright. Laß uns die Gelegenheit zu einer kurzen Lagebesprechung nutzen. Nur kurz, denn wir treffen uns ja so und so in ein paar Stunden beim Frühstück. Was glaubst du, hat eigentlich Detwilers Mißtrauen erweckt?«

Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Die Frage wäre leichter zu beantworten, wenn man wüßte, wonach Mr. Chen in meinem Zimmer gesucht hat. Heute bin ich ganz sicher nicht verfolgt worden, und ich könnte schwören, daß ich Detwiler von meiner Harmlosigkeit überzeugt habe. Die einzige Möglichkeit, die ich mir vorstellen kann, ist die, daß Detwiler heute abend Mrs. O'Malley angerufen hat, und sie ihm von einem Besuch berichtet und mich beschrieben hat.«

»Wie wahrscheinlich, denkst du, ist diese Möglichkeit?« »Eins zu zehn vielleicht - würde ich sagen«, erwiderte sie. »Mrs. O'Malley hat schließlich schon seit zwei Monaten nichts mehr von ihm gehört.«

»Was könnte er in deinem Koffer gesucht haben? Oder in deiner Handtasche oder in... «

Er verstummte, und sie starrten einander ratlos an. »Die Pistole, die Beretta?« vermutete sie. »Die hatte ich ganz vergessen. Glaubst du, das wäre denkbar?«

Robin runzelte die Stirn. »Die Pistole könnte unter Umständen natürlich ein Indiz dafür sein, daß Detwiler bei dem Mord an Inspektor Wi die Finger im Spiel hatte. Doch das würde bedeuten, daß uns heute morgen - vielmehr gestern morgen - jemand beobachtet hat, als wir aus der Hütte kamen. Das wäre durchaus denkbar; und dann wüßten sie auch, daß einer von uns die Mordwaffe haben muß.«

»Aber weshalb suchen sie dann die Waffe ausgerechnet bei mir?« wandte Mrs. Pollifax ein. »Genausogut könntest du oder Mr. Hitchens die Pistole genommen haben. Sie können unmöglich gesehen haben, daß ich sie eingesteckt habe. Und aus welchem Grund sollten sie die Beretta ausgerechnet jetzt zurückhaben wollen - wo doch inzwischen ausschließlich meine Fingerabdrücke auf der Waffe sind? Das paßt nicht. Robin.«

»Das finde ich auch«, erwiderte er. »Aber trotzdem solltest du das verdammte Ding so schnell wie möglich loswerden.« Er seufzte tief. »Ich denke, wir sollten jetzt schlafen gehen, meinst du nicht auch? Eine von Court gern und oft zitierte Weisheit aus dem Zen-Buddhismus besagt >Tue dein Bestes - dann gehe weiter<. Ich denke, wir haben unser Bestes getan heute nacht. Wir sollten uns jetzt hinlegen. Glaubst du, du kannst schlafen?«

Sie unterdrückte ein Gähnen und brachte ein müdes Lächeln zustande. »Irgendwann mußt du mir mehr von Courts Interesse für den Zen-Buddhismus erzählen... Ja sicher, ich kann schlafen - nachdem ich einen Stuhl unter die Klinke geklemmt, den Tisch davorgeschoben und ähnliche Sicherheitsmaßnahmen getroffen habe.«

Er nickte und küßte sie im Vorbeigehen auf die Stirn;;

»Also laß dich nicht aufhalten. Wir sehen uns dann um acht.«

Als die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, begann Mrs. Pollifax Möbelstücke durch das Zimmer zu schieben, während sie sich den Kopf zerbrach, wodurch sie Mr. Detwilers Mißtrauen erregt haben konnte.

10

Als Mrs. Pollifax am nächsten Morgen um acht in Robins Suite trat, war Mr. Hitchens bereits da. »Schscht...«, machte Robin, der ihr die Tür öffnete, und deutete auf Mr. Hitchens, der kerzengerade und mit geschlossenen Augen auf der Couch saß.

Mrs. Pollifax ging auf Zehenspitzen zu einem der Stühle und setzte sich. Erst jetzt sah sie, daß Mr. Hitchens das aus einer Zeitung gerissene Foto Eric des Roten in der Hand hielt.

Er räusperte sich, und mit noch immer geschlossenen Augen sagte er: »Das Stück Papier, das Sie mir in die Hand gegeben haben, ohne es mir vorher zu zeigen... , ich habe ganz stark das Gefühl, daß es das Bild eines Mannes ist, und... es ist merkwürdig, aber ich glaube, ich habe den Mann schon einmal gesehen. Irgendwer hat das Bild sehr oft in den Händen gehabt... Er hat ein Wort auf das Bild gekritzelt; welches Wort, kann ich leider nicht sagen, aber er hat es in einer wütenden, frustrierten Stimmung getan - das fühle ich.« Er öffnete die Augen. »Sie haben sicherlich gehofft, ich könnte Ihnen einen genauen Zeitpunkt nennen, aber es tut mir leid... « Erst jetzt sah er Mrs. Pollifax. »Guten Morgen«, begrüßte er sie mit einem Lächeln.

»Guten Morgen«, erwiderte sie aufgeräumt.

»Sie können sich das Bild jetzt ruhig ansehen«, sagte Robin. »Das Wort heißt >WANN<, wie Sie sehen. Sie können uns also nichts Genaueres über dieses WANN sagen?«

Mr. Hitchens schüttelte den Kopf. »Nein. Denn wer immer dieses Wort geschrieben hat, er kannte die Antwort nicht. Und ich kann lediglich das erkennen, wai, der oder die Betreffende zu dem gegebenen Augenblick selbst wußte.« Sein Blick fiel auf das Bild in seinen Händen. »Aber das ist doch der Mann, den wir im Flugzeug gesehen haben!« sagte er verblüfft. »Erinnern Sie sich, Mrs. Pollifax? Sie haben mich auf ihn aufmerksam gemacht. Sie waren ihm auf den Fuß getreten.«

»Sie haben ihn also ebenfalls erkannt!« rief Mrs. Pollifax zufrieden. »Wir haben dieses Foto gestern in Inspektor Wis Haus gefunden. Offen gestanden, wir stiegen in das Haus ein, nachdem wir Sie abgesetzt hatten. Es war Inspektor Wi, der dieses >WANN< auf das Bild gekritzelt hat -Alecs Vater.«

»Mein Gott!« rief Mr. Hitchens bestürzt.

Robin nickte bekräftigend. »So ist es. Da ich aufgrund von Mrs. Pollifax' Identifizierung des Mannes auf dem Foto drei Männer einfliegen ließ und damit meinen Job aufs Spiel gesetzt habe, kann ich Ihnen gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, daß auch Sie den Mann wiedererkannt haben.«

»Aber... Wer ist das überhaupt?« fragte Mr. Hitchens verwirrt. »Sie haben Alec nicht gefunden, aber irgendwas haben Sie entdeckt! Was ist es? Und weshalb haben Sie drei Männer einfliegen lassen?«

Robin wandte sich an Mrs. Pollifax. »Könntest du das bitte erklären? Ich würde es gerne noch einmal laut hören; vielleicht kann ich dann beurteilen, ob ich verrückt geworden bin oder leider nur allzu recht habe... «

Mrs. Pollifax nickte. »Bei dem Fall geht es inzwischen um mehr als um Entführung und einen Mord, Mr. Hitchens. Wir glauben jetzt zu wissen, was Alecs Vater entdeckt hat und weshalb er entführt und schließlich erschossen wurde. Der Mann, den Sie und ich an Bord des Flugzeugs gesehen haben, ist der in der ganzen Welt gesuchte Terrorist, der die Morde von Kairo und die Geiselnahme in Frankreich organisiert hat. Und jetzt hält er sich in Hongkong auf.«

»Der Mann, hinter dem jeder Polizist und alle Geheimdienste der Welt her sind?« fragte Mr. Hitchens. »Er nennt sich.... warten Sie, Eric der Rote - nicht? Der Führer der Gruppe >Befreiungsfront 8o<!«

Mrs. Pollifax nickte. »Ja. Und Montag morgen, nachdem wir beide, Sie und ich, zusammen gefrühstückt hatten, sah ich den Mann aus Feng-Imports kommen - einem zwielichtigen Laden in einer zwielichtigen Straße der Altstadt, wo ich einen jungen Mann anzutreffen hoffte, den ich letztes Jahr in China kennengelernt habe. Dann habe ich, wie Sie wissen. Robin getroffen, der aufgrund von beunruhigenden Gerüchten in ganz Südostasien nach Hongkong gekommen war und zufällig... «

Mr. Hitchens schüttelte heftig den Kopf. »Nichts geschieht zufällig«, berichtigte er. »Gar nichts.«

Etwas verunsichert ging Robin über diese Bemerkung hinweg und sagte: »Wie auch immer, auf jeden Fall haben Mrs. Pollifax und ich uns getroffen, und wie es aussieht, decken sich unser beider Aufgaben mehr und mehr. Wir beobachten Feng-Imports rund um die Uhr in der Hoffnung, daß Eric der Rote dorthin zurückkehrt. Dahingestellt, ob er uns diesen Gefallen tut oder nicht; er hält sich auf jeden Fall hier in Hongkong auf. Vielleicht sehen wir alle Gespenster, doch setzt man die konkreten Tatsachen und Informationen, die wir haben, zu einem Bild zusammen, dann ist der Gedanke, daß sich hier irgend etwas zusammenbraut, gar nicht mehr so abwegig.«

Mr. Hitchens stieß einen Pfiff aus. »Nur wissen Sie nicht, was geschehen soll.«

»Oder wann«, fügte Robin hinzu. »Oder wo und auf welche Weise. Wir brauchen Ihre Hilfe, Mr. Hitchens.«

»Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht«, erwiderte Mr. Hitchens voller Eifer. »Ich versichere Ihnen...« Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn.

»Das wird das Frühstück sein. Ich habe es für Punkt acht bestellt«, sagte Robin und warf einen Blick zur Uhr. Er erhob sich und ging zur Tür. »Ich schlage vor, wir sehen uns die AchtUhr-Nachrichten an, während der Kellner das Frühstück serviert, und warten mit unserer Beratung bis nach dem Frühstück. Vielleicht gibt's was Neues im Fall Inspektor Wi... Aber leise bitte - Marko schläft noch.«

Den Nachrichten zufolge hatte die Polizei Alec Wi noch immer nicht gefunden. In der Stadt wurden Flugblätter mit Alecs Bild verteilt - eines wurde eingeblendet -, und man suchte fieberhaft nach der Mordwaffe. An dieser Stelle flogen Mr. Hitchens' und Robins Blicke zum Sofa hinüber, wo Mrs. Pollifax' Handtasche lag. Sie verzog das Gesicht und nickte bekümmert. Sonst gab es im Fall Wi nichts Neues; die Polizei verfolgte noch immer eine Anzahl von Spuren. Um den Bericht abzurunden, erschien Mr. Hitchens' Konterfei noch einmal auf dem Bildschirm, und das Interview, das er tags zuvor gegeben hatte, wurde wiederholt.

»Gut gemacht!« sagte Robin und schaltete das Gerät ab. »Und jetzt kein Wort mehr über das Thema, bitte. Laßt uns über was anderes reden... «

Mrs. Pollifax lächelte. »Na schön. - Cyrus kommt!« berichtete sie freudestrahlend. »Ich habe gestern abend ein Telegramm erhalten.«

»Wie wunderbar«, lachte Robin. »Dann kann ich Court aus erster Hand über ihn berichten. - Wie war übrigens Ihr Abend, Mr. Hitchens?«

»Wundervoll«, erwiderte er fast verlegen. »Ruthie und ich redeten und redeten - fast die ganze Nacht -, hin und wieder haben wir auch getanzt. Ruthie bleibt bis Samstag.« Er wandte sich an Mrs. Pollifax. »Wir treffen uns nachher und machen eine kleine Hafenrundfahrt. Haben Sie Lust, uns zu begleiten? Ruthie würde Sie gerne wiedersehen, hat sie gesagt.«

Mrs. Pollifax unterbrach kurz ihre intensive Beschäftigung mit dem opulenten Frühstück aus Eiern mit Speck, Papaya, Wassermelone, Schinken, Wurst und Orangensaft, Toast und Kaffee und erklärte, sie wäre entzückt, sie zu begleiten.

»Wird ja auch Zeit, daß Mrs. Pollifax endlich was von der Stadt sieht«, warf Robin ein. »Immer nur die Arbeit und kein Vergnügen und all das. Erzählen Sie doch mehr von Ruthie, Mr. Hitchens, der Frau, der es nichts ausmachte, daß Sie ein stiller und langweiliger Typ sind - wie Sie sich selbst genannt haben.«

Zögernd und etwas befangen begann Mr. Hitchens von Ruthie zu erzählen, und Mrs. Pollifax konnte feststellen, daß ihre Vermutungen verblüffend nahe bei der Wahrheit lagen: Die beiden waren bereits in der Highschool ein Liebespaar gewesen und hatten jung geheiratet. Zehn Jahre lang war sie die einzige Frau in seinem Leben gewesen.

»Doch dann - ich weiß auch nicht mehr, wie das alles passieren konnte...«, sagte Mr. Hitchens grimmig und dachte mit einem düsteren starren Blick an seine Vergangenheit. Sie warteten auf Mr. Hitchens' Erklärung, wie das alles passieren konnte. Robins Gabel verharrte unentschlossen über dem Teller, und Mrs. Pollifax spähte gespannt über den Rand ihrer Tasse in Mr. Hitchens von Erinnerungen gequältes Gesicht.

»Es war damals, als mein erstes Buch über parapsychologische Phänomene veröffentlicht wurde«, erinnerte sich Mr. Hitchens unbehaglich. »Ich wurde zu einer Talkshow nach Boston eingeladen, und dort traf ich Sophie Simms.«

»Aha«, brummte Robin, und seine Gabel setzte sich wieder in Bewegung.

»Sophie war Schauspielerin?« bohrte Mrs. Pollifax weiter.

Mr. Hitchens nickte unglücklich. »Sie wäre es gern gewesen ... ja. Sie hatte die längsten Wimpern, die ich je gesehen habe... Sie trat in einem kleinen Nachtclub auf und... Ich glaube, ich habe Ihnen ja schon erzählt, daß mir mein Beruf als Psychologe bei privaten Problemen absolut nichts nützt.«

»Und wie lange hat es gedauert?« erkundigte sich Robin mitfühlend.

»Für Ruthie war es furchtbar, einfach furchtbar«, fuhr Mr. Hitchens fort und starrte trübsinnig auf seinen Teller. »Deshalb hat es mich auch maßlos überrascht, daß sie bereit war, den gestrigen Abend mit mir zu verbringen - das dürfen Sie mir glauben. Ich war wie von Sinnen damals - richtig hypnotisiert... Sophie war so... so atemberaubend schön.« Er hob den Blick von seinem Teller und fixierte nun die rosarote Rose, die in der Mitte des Tisches stand. »Ich fühlte... es ist schwierig zu erklären, aber ich fühlte, als hätte ich plötzlich einen ganz anderen Zugang zur Welt der Frau.« Er schüttelte selbstironisch den Kopf. »Allein Sophie am Morgen zuzusehen, wie sie sich schminkte, war... war... als würde ich Cezanne dabei beobachten, wie er seine Farben mischt. Es war ein so vertrautes, intimes Ritual... Und dann ihre Kleider! Ich half ihr immer, sie auszuwählen; sie mußten besonders extravagant sein, müssen Sie wissen, und...« Er unterbrach sich und seufzte tief. »Um Ihre Frage zu beantworten: Wir hatten ein sehr schönes Jahr - wohl vor allem, weil ich so verknallt in sie war - und dann zwei weitere Jahre, ehe sie mit einem drittklassigen Produzenten durchbrannte, von dem sie annahm, er könnte für ihre Karriere von größerem Nutzen sein als ich... Er war es übrigens nicht«, fügte er traurig hinzu.

»Das sind sie wohl nie«, sagte Robin. »War da nicht noch eine dritte... eh...?«

»Gescheiterte Beziehung? Enttäuschung?« Mr. Hitchens' Lachen klang bitter. »Oh, ja... Sophie hatte eine Freundin... Sie hieß Rosalie und war ebenfalls im Showbusineß . Sie hatte bei mir einige Sitzungen - umsonst natürlich ... Und sie war so verständnisvoll, was meine Probleme mit Sophie betraf. Natürlich hat sie ebenfalls nicht bedacht, daß die Ehe mit einem Psychologen nicht besonders nützlich für ihre Karriere sein würde.« Erneut schüttelte er den Kopf. »Ich war - aber das brauche ich wohl gar nicht zu betonen - äußerst naiv und sicher auch sehr unerfahren.«

»Das kann man wohl sagen«, bestätigte Mrs. Pollifax gelassen. Er warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. »Seien Sie doch bitte nicht so direkt; keiner hört gerne die ungeschminkte Wahrheit.«

»Ich hatte keine Ahnung, daß das Leben eines Psychologen von so vielen gefährlichen Fallen gepflastert ist«, bemerkte Robin. »Aber ich verstehe sehr gut, daß man der Faszination der Schönheit verfallen kann. Ich war ihr lange genug erlegen und hatte nichts anderes im Kopf, als zu den Schönen und Reichen zu gehören - egal, wie dumm sie waren«, fügte er hinzu und warf Mrs. Pollifax einen selbstironischen Blick zu. »Irgendwie verständlich, denn ich war der Sohn eines Londoner Schlossers und gab keine Ruhe, bis ich mit den Scheichs und Prinzessinnen auf du und du stand.«

»Tatsächlich?« Mr. Hitchens sah ihn überrascht an.

»Ja. Aber keine von ihnen hatte lange Wimpern«, erwiderte Robin ernst.

»Ich weiß Ihr Verständnis zu würdigen«, sagte Mr. Hitchens und schüttelte traurig den Kopf. »Aber ich... Seit meiner dritten Scheidung vor einem Jahr fühle ich so etwas wie Scham - ja, wirklich. Ich wollte immer... ich hatte stets vor, ein Leben des Geistes zu führen - ich hoffe, das klingt nicht zu hochgestochen -, doch alles, was ich über mich gelernt habe, ist, daß ich ein schwacher und oberflächlicher Mensch bin.«

»Quatsch!« sagte Mrs. Pollifax schroff. »Wir alle verrennen uns von Zeit zu Zeit - wie sonst sollten wir herausfinden, wer wir sind? Ich persönlich finde, das härene Hemd steht Ihnen gar nicht, Mr. Hitchens. Worauf es ankommt ist, wer und was Sie jetzt sind.«

Er runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«

»Nun - schämen Sie sich, wenn Sie glauben, es sei angebracht«, erwiderte sie, »aber sehen Sie sich zum Beispiel Robin an. Er hat sich auch aus eigener Kraft aus einer frustrierenden Situation befreit und kann seine beträchtlichen Talente und Fähigkeiten - wie gesetzwidrig sie auch gewesen waren - nun in einem weit attraktiveren Arbeitsfeld einsetzen«, erklärte Mrs. Pollifax und warf Robin einen maliziösen Blick zu. »Hätte er das damals nicht getan - in der für ihn damals einzig praktikablen Art und Weise -, er wäre nie bei Interpol gelandet, wo er wirklich gute und nützliche Arbeit leistet.«

»Hört, hört!« brummte Robin.

»Und ganz sicher hätte er seine Frau Court nicht kennengelernt, die er heiß und innig liebt. Und Sie, Mr. Hitchens, Sie wären jetzt ganz sicher nicht hier in Hongkong und versuchten einen Mord aufzuklären, machten Schlagzeilen und hätten auch Ruthie nicht wieder getroffen, wenn Ihnen diese beiden Frauen nicht den Kopf verdreht und Sie damit soweit gebracht hätten, diesen Job zu übernehmen - oder? Wenn das Leben ständige Entwicklung ist, wie sonst als durch solch schmerzhafte Erfahrungen können wir dazulernen und uns weiterentwickeln?«

Mr. Hitchens sah sie interessiert an. »Sie etwa auch...?«

Mrs. Pollifax lachte. »Natürlich! Es ist noch gar nicht allzulange her, daß für mich das Leben völlig sinnlos geworden war, und ich mich fragte, ob es überhaupt einen Sinn habe, weiterzumachen. Ein Arzt riet mir damals, der beste Weg, meinen Depressionen zu entfliehen, sei, einen Job anzunehmen, der mich schon immer fasziniert hat. Und ehe ich mich versah, war ich eine Agentin. Und das hat mein Leben von Grund auf verändert«, fügte sie vergnügt hinzu. »Aber genug davon - so finden wir Alec nie, und Mr. Hitchens' erstaunliche Talente liegen ebenfalls brach.«

»Umwerfend«, sagte Mr. Hitchens und starrte Mrs. Pollifax bewundernd an.

»So ist es«, konstatierte Robin und bedachte ihn mit einem warmen Lächeln.

»Apropos, gestern nacht hatte ich ganz stark das Gefühl, daß Alec noch am Leben ist«, bemerkte Mr. Hitchens. Er versuchte sich auf dieses Thema zu konzentrieren, doch unwillkürlich wanderte sein Blick mit dem Ausdruck unverhohlener Neugierde immer wieder zu Mrs. Pollifax hinüber.

»Besteht eine Möglichkeit, Mr. Hitchens«, warf Robin ein, »mit Hilfe Ihrer parapsychologischen Fähigkeiten herauszufinden, wo Eric der Rote das Drama inszenieren will - ob in Hongkong, in Kowloon, in den Neuen Territorien oder in Macao?«

»Welches Drama?« fragte Mr. Hitchens.

Robin zuckte mit den Schultern. »Darum geht es den Terroristen doch im Grunde genommen - reines Theater. Mit diesen Anschlägen wird nie etwas Konkretes erreicht, außer daß sich eine kleine Gruppe von Leuten in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit rückt, indem sie all das zu zerstören droht, was die Zivilisation zusammenhält.«

»Der absolute Terror«, warf Mrs. Pollifax ein. »Wie ungezogene, monströse Kinder, die den Erwachsenen, die sich von Regeln, Gesetzen und Skrupeln leiten lassen, eine Nase drehen.«

»Ich habe in meinem Leben schon eine Menge mit Verbrechern - zum Beispiel mit Drogenhändlern und Waffenschmugglern - zu tun gehabt«, knurrte Robin heiser, »das bringt so mein Job mit sich. Und ich muß eines sagen: Diese Leute halten sich zumindest an die Spielregeln und wissen, worauf sie sich einlassen. Wenn auch viele Menschen an den Drogen sterben, die sie verkaufen, so helfen ihre Opfer doch freiwillig bei ihrer eigenen Zerstörung mit; und wenn die Drogenhändler auch bereit sind, jedes Gesetz mit Füßen zu treten, so erkennen sie doch zumindest an, daß es Gesetze gibt.

Aber Terroristen...!« Er schüttelte den Kopf. »Sie sind die wahren Parasiten unseres Jahrhunderts. Wenn die ein Statement abgeben wollen, dann werfen sie ganz einfach eine Bombe oder nehmen irgendwelche unschuldigen Menschen als Geiseln. Sie töten ohne Gewissensbisse, ohne Mitleid und ohne Leidenschaft. Und wenn sie Geld brauchen, dann überfallen sie einfach eine Bank. Ich empfinde für sie nicht nur Verachtung, ich habe auch Angst vor ihnen, denn wenn man es mit Leuten zu tun hat, die für nichts Leidenschaft empfinden als für Zerstörung und Gewalt, dann ist das beängstigend.«

»Die totale Lebensverachtung«, murmelte Mrs. Pollifax, und die Erinnerung an den Blick Eric des Roten sandte ihr einen kalten Schauer über den Rücken.

»Geben Sie mir eine Karte!« rief Mr. Hitchens unvermittelt. »So viele Karten, wie Sie haben.«

Robin sprang auf und brachte ihm alle Karten, die er hatte: die Stadtpläne von Hongkong, von Kowloon, von den Neuen Territorien und von Macao. Mr. Hitchens breitete sie auf dem langen Tisch aus und bat um Stille.

»Die können Sie haben!« versicherte ihm Robin.

Mr. Hitchens schloß die Augen und saß reglos da, bis das Ticken der Uhr an der Wand das Zimmer anzufüllen schien. Schließlich hob er eine Hand und bewegte sie langsam über die Stadtpläne hinweg - manchmal in einer kreisenden Bewegung, dann wieder hin und her oder auf und ab. Von Zeit zu Zeit verharrte seine Hand zögernd an einer Stelle, um dann suchend weiterzuschweben. Etwa fünf Minuten vergingen, dann ließ er sie klatschend auf einen der Pläne fallen. Er öffnete die Augen. »Dieses Gebiet«, sagte er und zeichnete mit einem Kugelschreiber, den er aus seiner Jackentasche zog, einen Kreis. »Dieses Gebiet verursacht bei mir unangenehme Gefühle, eine Ahnung von Gewalt und äußerst beunruhigende Schwingungen.«

»Das Zentrum von Hongkong«, murmelte Mrs. Pollifax und beugte sich näher über den Stadtplan. »Mitten in der Stadt?«

»Der Kreis umfaßt ein Riesengebiet«, stellte Robin bekümmert fest, »und Feng-Imports liegt sogar außerhalb.«

Mr. Hitchens zuckte mit den Schultern. »Aber irgendwo in diesem Gebiet sind Waffen; unter anderem auch ein Ding, das so aussieht... Ein Stück Papier, bitte.«

Mrs. Pollifax reichte ihm eine Papierserviette und beobachtete gespannt, wie der Stift über das Papier flog. »So ungefähr«, sagte Mr. Hitchens.

Robin starrte schockiert auf die Zeichnung. »Wissen Sie, was Sie da gezeichnet haben? Das ist ein Raketenwerfer!«

»Oh!« sagte Mr. Hitchens. »Das wußte ich nicht. Ich habe nur das gezeichnet, was ich vor meinem geistigen Auge gesehen habe.«

Robin ließ sich verblüfft auf seinen Stuhl sinken und starrte Mr. Hitchens in grenzenloser Verwunderung an. Er blinzelte konsterniert und schloß mühsam den Mund. Offenbar hatte er bis zu diesem Augenblick Mr. Hitchens' Fähigkeiten gewaltig unterschätzt, stellte Mrs. Pollifax fest. »Die Geheimdienste arbeiten seit langem mit Parapsychologen und übersinnlich veranlagten Personen«, sagte sie leise. »Der CIA, die Russen... «

»Aber...aber Mr. Hitchens hat noch nie zuvor einen Raketenwerfer gesehen!« protestierte Robin. »Es ist einfach ... unheimlich!«

»Sicherlich«, erwiderte Mrs. Pollifax und entsann sich ihrer eigenen Sprachlosigkeit und Verblüffung, als ihr vor nicht allzulanger Zeit in der Türkei aufgrund solcher Fähigkeiten das Leben gerettet wurde.

»Das bedeutet, daß sie ein Funkgerät haben müssen«, stellte Robin fest, der sich wieder gefangen hatte. »Feng-Imports liegt außerhalb des Kreises, und wenn sich tatsächlich elf Mitglieder der >Befreiungsfront 8o< innerhalb dieses Areals aufhalten, und Detwiler der Kopf des ganzen Unternehmens ist, muß es eine Kommunikationsmöglichkeit geben... vermutlich ein Funkgerät mit großer Reichweite, würde ich sagen.« Er nickte. »Ich finde, es ist an der Zeit, daß ich dem Gouverneur einen Besuch abstatte. Wir müssen das Risiko eingehen, zumindest einen Teil der Polizei von Hongkong einzuweihen, denn wir brauchen Fahrzeuge mit Funkortung, wenn wir eine Chance haben wollen, die Terroristen aufzuspüren. Wir brauchen Unterstützung; die Verantwortung ist einfach zu groß für eine Handvoll Leute.« Er griff nach der Serviette. »Ich hoffe. Sie haben nichts dagegen, wenn ich das als Beweis mitnehme. Wer weiß, wie Seine Exzellenz reagiert, wenn... «

Mr. Hitchens lächelte verständnisvoll. Aber selbstverständlich! Nehmen Sie sie nur.« ;

Robin faltete die Serviette zusammen und schob sie in sein Jackett, das über dem Stuhl hing, als das Telefon klingelte. Er ging zum Schreibtisch und hob ab. »Ja?«

Er hörte zu und notierte etwas auf dem Block, der vor ihm lag. »Tausend Dank.« Er legte auf und wandte sich an Mrs. Pollifax: »Es ging um diesen Donald Chang, bei dem Sheng Ti das Päckchen mit Diamanten abgegeben hat... Gestern abend habe ich meine Dienststelle in Paris angerufen, weil ich dachte, es sei besser, wenn sie sich bei der hiesigen Polizei offiziell nach diesem Burschen erkundigt. Das war eben der Rückruf aus Paris.

Donald Chang arbeitet in der Gepäckaufbewahrung am Kai Tak Flughafen.«

»Aha!« machte Mrs. Pollifax.

Robin schlüpfte in sein makelloses schwarzes Leinenjackett und nickte. »Du sagst es. Der ideale Arbeitsplatz für jemanden, der für einen Schmugglerring arbeitet! Und das Päckchen mit Diamanten von Feng-Imports war sein Anteil... Ein weiterer kleiner Leckerbissen, an dem Seine Exzellenz zu knabbern haben wird.«

Er hob lächelnd die Hand zum Abschied. »Ich bin schon weg... Wünsche eine angenehme Hafenrundfahrt. Bis später!«

11

An diesem Morgen war der Himmel über Hongkong bewölkt. Ein Dunstschleier lag über dem Hafen und ließ die Flanken der umliegenden Berge in einem weichen, undeutlichen Licht erscheinen. Ein kühler, böiger Wind fegte über das Wasser, und Mrs. Pollifax fröstelte leicht, als sie an Deck der Barkasse Platz genommen hatte. Die Lampen wurden ausgeschaltet, und ohne ihren strahlenden Glanz wirkte das sonst so leuchtende tropische Grün stumpf und kraftlos. Erdfarbene Brauntöne, die ihr bisher nicht aufgefallen waren, herrschten vor und erdrückten das Grün und verliehen der Landschaft eine düstere Melancholie, die nur hie und da von dem Orange eines Ziegeldachs an den bewaldeten Berghängen oder von der schneeweißen Fassade eines neu errichteten Hochhauses aufgehellt wurde.

Mrs. Pollifax hatte sich Ruthie und Mr. Hitchens nicht allein aus purem Interesse für die Sehenswürdigkeiten der Stadt angeschlossen, sie hatte auch rein praktische Gründe dafür: Eine Hafenrundfahrt war die beste Gelegenheit, die Beretta für immer verschwinden zu lassen. Sie empfand keinerlei Gewissensbisse bei ihrem illegalen Vorhaben; schon vor allem deshalb nicht, weil sie im Augenblick keine, auch für die Polizei befriedigende Erklärung parat hatte, wie sie in den Besitz der Mordwaffe gekommen war. Sie mußte das Ding einfach loswerden. Natürlich interessierte sie auch, wie Ruthie und Mr. Hitchens miteinander zurechtkamen, denn etwas derart Ungewöhnliches, wie das zufällige Sichwiederfinden zweier Menschen - Tausende Kilometer von zu Hause - erregte ihre Neugierde. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Zusammentreffens nach Jahren der Trennung, in einer Hotelhalle auf der anderen Seite der Welt, war nach ihrem Dafürhalten bestenfalls eins zu fünf Millionen, und Mrs. Pollifax war schlichtweg entzückt, Zeuge einer solch rührenden Schicksalsfügung zu sein.

Offenbar erging es Ruthie nicht anders, denn sie sah an diesem Morgen wesentlich jünger aus, als Mrs. Pollifax sie in Erinnerung hatte - ein Umstand, der sicherlich nicht allein auf die rote Leinenhose, die leuchtend rote Bluse und das rote Halstuch zurückzuführen war, die sie trug. Sie schien gänzlich verwandelt, wie es oft bei Frauen der Fall ist, wenn sie fühlen, daß sie umworben werden. Sie nannte Mr. Hitchens »Hitch«, was Mrs. Pollifax belustigte und wohl auch etwas verwirrte, denn sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, ihn anders als Mr. Hitchens zu nennen. Sie versuchte sich auszumalen, wie er wohl gewesen war, als sich die beiden in der Highschool begegneten, und ein Lächeln umspielte ihren Mund: Mr. Hitchens ohne sein pedantisches Gehabe, dafür jedoch um einige Nuancen schüchterner und mit einem Schuß mehr jungenhafter Abenteuerlust - wie sie bei ihrem gemeinsamen Ausflug in die Neuen Territorien wieder aufgeblitzt war -, fünf Kilo leichter und ohne die grauen Schläfen, war damals sicher ein attraktiver Junge gewesen... »Worüber lächeln Sie?« fragte Ruthie und versuchte, den Wind und die Motoren der Barkasse zu überschreien.

Sie hatten auf dem Achterschiff Platz genommen, um vor der Gischt geschützt zu sein, die über den Bug sprühte, als sie zwischen Fischkuttern, Sampans, Vergnügungsbooten, Frachtschiffen und malerischen Dschunken hindurch in den offenen Hafen hinaustuckerten. Ehe Mrs. Pollifax antworten konnte, rief Mr. Hitchens: »Kaffee? Sie haben soeben die Bar geöffnet.«

»O ja - gern«, erwiderte Mrs. Pollifax, und als er leicht schwankend über das Deck balancierte, sagte sie zu Ruthie gewandt: »Ich habe eben überlegt, wie er wohl damals war, als Sie zusammen in der Highschool waren.«-

Ruthie lachte. »Er war ein Bücherwurm und sehr ernst - und er war wohl überzeugt, daß es unmöglich sei, Football und das Interesse für Psychologie unter einen Hut zu bringen...«

»Und Sie haben ihn geliebt.«

Verlegen sah Ruthie sie an und blickte dann schnell zur Seite. »Ja.« Sie zögerte befangen und sagte dann mit gespielter Leichtigkeit: »Glauben Sie, daß... naja, daß man ein erloschenes Feuer wieder entfachen kann?«

Mrs. Pollifax lächelte. »Ich sehe nicht ein, wozu das nötig sein sollte«, erwiderte sie. »Es ist doch interessanter und sehr viel amüsanter, von Neuem zu beginnen.«

»Sie meinen...« Ruthie war betroffen. »Sie meinen, es habe keinen Sinn, alte Geschichten aufzuwärmen, und es sei besser, mit einem anderen von Neuem zu beginnen?«

Mrs. Pollifax berührte ihre Hand. »Ganz und gar nicht. Vorausgesetzt, wir reden von Mrs. Hitchens und Ihnen - und ich wüßte nicht, über wen wir sonst sprächen -, dann glaube ich, daß das, wodurch Sie sich damals zueinander hingezogen fühlten. Sie auch heute noch verbinden kann. Ich wollte nur sagen, daß es ein großer Fehler ist zu glauben, man könnte dort weitermachen, wo man aufgehört hat. Schließlich haben Sie sich beide verändert und sind nicht mehr dieselben wie damals.«

»Was ihn damals zu mir hinzog«, seufzte Ruthie trübsinnig, »war seine Suche nach einer Mutterfigur, meint mein Psychiater. Dieser Phase ist er entwachsen und versuchte dann mit Sophie und Rosalie seine verlorene Jugend nachzuholen.«

Mrs. Pollifax lachte hell auf. »Die typische Lehrbuchinterpretation! Ich glaube eher, daß er bei den beiden zuviel des Guten an jugendhafter Unbekümmertheit gefunden hat und schließlich selbst die Mutter spielen mußte. Die Art, wie er darüber erzählte, erweckte bei mir den Eindruck, daß ihn dies nicht erfüllt und sehr schnell gelangweilt hat. Mit solch jungen Dingern gemeinsame Interessen oder auch nur ein Gesprächsthema zu finden, ist oft sehr schwer, finde ich. Ich zum Beispiel könnte mir absolut nicht vorstellen, mit jemandem zusammenzuleben, der nichts von den Schrecken des Kennedy-Mords mitbekommen hat oder nicht einmal weiß, wer Clark Gable war.«

»Sie machen mir Mut«, lachte Ruthie. »Meine Bedenken schmelzen wie Schnee in der Sonne.«

Mit einem verschmitzten Funkeln in den Augen sah Mrs. Pollifax sie an. »Bedenken - Ängste?« fragte sie, griff nach Ruthies Hand und drückte sie kurz. »Wissen Sie, was ich denke? Ich bin überzeugt, er sieht Sie mit völlig neuen Augen, und offenbar ist er selbst am meisten davon überrascht... Es liegt also ganz bei Ihnen. Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie damals aus der neuen Situation machten? Oh, danke«, sagte sie zu Mr. Hitchens, der mit drei Plastikbechern Kaffee zurückkehrte.

»O ja«, erwiderte Ruthie voller Stolz. »Ich habe in Boston eine wunderschöne Wohnung - in einem sehr alten Haus. Ich unterrichte jetzt in der fünften Klasse, nicht mehr die Kleinsten wie früher, und ich reise sehr viel.«

»Und wie sie reist!« mischte sich Mr. Hitchens ein und lehnte sich nach vorne, um von ihrer Unterhaltung nicht ausgeschlossen zu sein. »Am Samstag fliegt sie nach Bangkok!«

Mrs. Pollifax nippte gedankenverloren an ihrem Kaffee und hörte nur mit einem Ohr auf das Gespräch der beiden über Reisen und über Boston. Sie fand, zwischen Ruthie und Mr. Hitchens war alles in Ordnung. Als der geeignete Augenblick gekommen war, erhob sie sich und schlenderte zur Reling. Sie öffnete ihre Handtasche und ließ die Pistole, mit der Inspektor Wi getötet worden war, ins Wasser fallen. Sie kehrte zu den beiden zurück und genoß den Rest der Hafenrundfahrt: die weiß schimmernden Strände der Repulse Bay, die schwimmende Wohnstadt der Sampans in Aberdeen... Doch immer wieder kehrten ihre Gedanken zu Feng-Imports und zu Mr. Detwiler zurück und allmählich begann sie, beides von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus zu betrachten; vor allem eine Frage tauchte immer wieder aufs Neue in ihren Gedanken auf: Weshalb war Detwiler seit zwei Monaten nicht mehr zu Hause gewesen?

»Oh, Mrs. Irma Leer! «rief Mrs. O'Malley überrascht und strahlte über das ganze Gesicht. »Wie schön, daß Sie wieder einmal vorbeischauen!«

»Guten Tag«, grüßte Mrs. Pollifax mit einem Lächeln. »Ich hatte ein paar Straßen weiter zu tun und dachte, ich seh' mal auf einen kurzen Blick bei Ihnen vorbei und... «

»Sie kommen gerade rechtzeitig, um eine Tasse Tee mit mir zu trinken«, erklärte Mrs. O'Malley, keinen Widerspruch duldend. »Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Ich war gerade dabei, mir eine Tasse einzugießen. Ihnen tun sicher die Füße weh, meine Liebe.«

>Kein schöner Zug, diese überaus nette Frau hinters Licht zu führen<, dachte Mrs. Pollifax und trat ein. »Ja - furchtbar«, bestätigte sie und registrierte im stillen beschämt, daß sie außer einem kurzen Spaziergang zum Hotel, um sich nach der Hafenrundfahrt umzuziehen, und einem opulenten Mittagsmahl, das sie mit großem Appetit verspeist hatte, an diesem Tag noch überhaupt keine Bewegung gehabt hatte. »Ich muß mir wirklich Ihren Vorschlag, einen Job als Haushälterin anzunehmen, noch einmal durch den Kopf gehen lassen«, seufzte sie, »obwohl ich mit meiner Umfrage heute recht erfolgreich war.« Sie folgte Mrs. O'Malley in die Küche und legte, als sie Platz nahm, die Zeitung mit Alecs Bild nach oben auf den Tisch.

»Dieser arme Junge«, sagte Mrs. O'Malley, als sie den Tee eingoß und ihr Blick auf das Bild fiel. »Und er ist auch noch der einzige Sohn.«

«Oh?« machte Mrs. Pollifax. »Haben Sie...« Sie unterbrach sich, denn sie durfte jetzt keinen Fehler machen; die Angelegenheit erforderte ihr ganzes Fingerspitzengefühl. Andererseits mußte sie ein für allemal herausfinden, ob Alec nach seiner Entführung in diesem Haus gewesen war. »Sind Sie ihm etwa schon einmal begegnet?« fragte sie rundheraus.

»Nein, meine Liebe, das nicht«, antwortete Mrs. O'Malley und setzte sich ebenfalls an den Tisch. »Er war doch lange auf dem College in den USA und hat dort sein Studium sehr erfolgreich abgeschlossen. Er hat jetzt eine ganze Reihe lateinischer Worte vor seinem Namen.«

Mrs. Pollifax sah überrascht auf. »Aber das ist... Ich erinnere mich gar nicht, darüber in der Zeitung gelesen zu haben.«

»Es stand auch nicht in der Zeitung«, erklärte Mrs. O'Malley beschwichtigend. »Ich weiß das von seinem Vater -Gott sei seiner Seele gnädig. Er war sehr stolz auf seinen Sohn.«

»Sein Vater?« fragte Mrs. Pollifax entgeistert. »Sie kannten seinen Vater? Den Mann, dessen Leiche man gestern gefunden hat?«

Mrs. O'Malley nickte. »Er war sehr oft hier. Er und Mr. Detwiler waren Freunde. Er war ein furchtbar netter Mann, der Inspektor, und mein gefülltes Huhn liebte er über alles. Ich lasse es acht Stunden lang im Topf schmoren und...«

Mrs. Pollifax war wie betäubt. Mr. Detwiler und Inspektor Wi - Freunde? Die beiden Männer hatten sich nicht nur gekannt, sie waren Freunde gewesen! Ihr wurde beinahe schwindlig, während sie bewegungslos am Tisch saß und Mrs. O'Malleys Redefluß über sich ergehen ließ.

»... eine Füllung aus Kastanien, Kräutern und gehacktem Kohl, das ganze in Lotusblätter gewickelt...«

Mrs. Pollifax befeuchtete ihre Lippen, die sich mit einem Male spröde und trocken anfühlten, und murmelte mechanisch: »Klingt ja köstlich.«

»O ja, es ist wirklich etwas Besonderes«, stimmte Mrs. O'Malley zu.

»Sie könnten eigentlich ein Restaurant eröffnen«, schlug Mrs. Pollifax vor. »Das heißt, wenn Ihnen die Arbeit als Haushälterin bei Mr. Detwiler irgendwann langweilig werden sollte.« >Der Kreis schließt sich allmählich<, dachte sie und war bemüht, angesichts dieser von Mrs. O'Malley so beiläufig erwähnten verblüffenden Neuigkeit ihre Fassung zu wahren. Zwischen zwei der in diesen undurchsichtigen Fall verwickelten Männer hatte eine Verbindung bestanden! Sie waren sogar Freunde gewesen! Bei diesem Gedanken stieg erneut Erregung in Mrs. Pollifax auf... Die Frage war allerdings: Hatte der Inspektor seinem Freund gegenüber seinen Verdacht bezüglich der Korruption in den Reihen der Polizei und seine Sorge um die gestohlenen Pässe erwähnt, ohne zu ahnen, daß Detwiler selbst in diese Geschichte verwickelt war, und mußte deshalb sterben? - Oder hatte Detwiler selbst Inspektor Wi mit einer unbeabsichtigten Bemerkung auf die Spur gebracht, deren Verfolgung ihm schließlich das Leben gekostet hatte? Wie dem auch sein mochte, jetzt wußte sie zumindest - und das war der eigentliche Grund ihres Kommens gewesen -, daß Alec Wi nach seiner Entführung nicht in diesem Haus gewesen war. Doch die Tatsache, daß Detwiler und der ermordete Inspektor Freunde gewesen waren, verwirrte sie noch immer.

»Und Mr. Feng - war er auch bei Ihnen zu Gast?« fragte sie.

Mrs. O'Malley schüttelte den Kopf. »O nein. Er war nie eingeladen.« Ihr geringschätziger Ton ließ den Schluß zu, daß Mr. Feng nicht als potentieller Partygast betrachtet wurde.

Ihr Schwätzchen zog sich noch eine weitere halbe Stunde hin, und Mrs. Pollifax war krampfhaft bemüht, ihre Rolle als Irma Leer bis zum Ende durchzuhalten. Es war keine leichte Aufgabe, und als sie sich - Entschuldigungen murmelnd - zum Gehen anschickte, fühlte sie sich ausgelaugt und zum Umfallen müde. Unter der Tür verabschiedete sie sich und sagte: »Morgen werde ich wohl nicht mehr in dieser Gegend sein... Es war mir ein Vergnügen, Mrs. O'Malley. Ich nehme an. Sie wissen immer noch nicht, wann Ihr Arbeitgeber zurückkommt?«

Mrs. O'Malleys Miene hellte sich auf. »Sie werden es nicht glauben, aber er hat mir heute morgen durch den Botenjungen ausrichten lassen - der Junge, der immer seine Wäsche bringt -, daß dies die letzte Wäschesendung sei, die er benötige, und daß er hoffe, Ende nächster Woche nach Hause zu kommen.«

»Ende nächster Woche...«, wiederholte Mrs. Pollifax und schluckte kräftig. Dies war die zweite überraschende Neuigkeit. »Oh, wie schön für Sie...« Sie bedankte sich noch einmal für den Tee und strebte zufrieden der Straße zu. Sie war hergekommen in der Hoffnung, kleine Fische zu fangen. Statt dessen waren ihr zwei dicke Wale ins Netz gegangen.

Mrs. Pollifax traf Marko alleine in der Suite an, und als sie ihm ihre Neuigkeiten mitgeteilt hatte, nickte er nachdenklich. »Dann...«, überlegte er, »dann ist also möglicherweise Ende nächster Woche alles vorbei, und Robin hatte die richtige Nase mit seiner Vermutung, daß wir zum Finish, und nicht zu Beginn der Ereignisse hier auftauchten.« Er schüttelte den Kopf. »Wir kamen also - wie sagt man so schön - noch gerade rechtzeitig, ehe diese Suppe hier anbrennt...«

»Ja - hoffentlich. Wo steckt Robin eigentlich?«

»Davon habe ich nicht einmal den blassesten...«, erwiderte Marko und warf einen Blick auf seine Uhr. »Es ist bereits vier vorbei... Er war am Morgen beim Gouverneur, und zweifellos trifft er sich gerade mit dem Leiter des Sonderdezernats der Polizei, um ihn kurz zu informieren und den Einsatz von Fahrzeugen zur Funkortung zu besprechen.«

»Haben Sie eine Ahnung, wie diese Funkortung eigentlich funktioniert?« fragte Mrs. Pollifax.

»Sicher«, erwiderte Marko, der sich auf die Lehne der Couch gesetzt hatte. »Aber ich muß es kurz machen, denn ich habe die Schicht von halb fünf bis Mitternacht in der Dragon AUley; Sie müssen Robin also eine Nachricht hinterlassen, wenn Sie ihm Ihre sensationellen Neuigkeiten heute noch mitteilen wollen... Diese Fahrzeuge zur Funkortung sind Lieferwagen; außer dem Fahrer gehören noch zwei Männer zur Besatzung; letztere sitzen im geschlossenen Laderaum an den zahlreichen Antennen. Sie drehen die Antennen vorsichtig und können so die Richtung feststellen, aus der die Funksignale kommen. Durch das Peilen mit ihren Antennen ermitteln sie den Schnittpunkt der von verschiedenen Antennen aufgefangenen Signale, und schon haben sie den Standort des illegalen Senders.«

»Verstehe«, murmelte Mrs. Pollifax. »Und auf diese Weise machen wir ihr Versteck ausfindig.«

»Manchmal - ja«, bemerkte Marko trocken. »Aber nur wenn wir Glück haben und sehr schnell sind, denn illegale Sender funken in der Regel nie länger als zweieinhalb Minuten. Und meistens genügt das nicht, ihren Standpunkt zu orten.«

»Das sind natürlich nicht die besten Voraussetzungen«, stellte Mrs. Pollifax enttäuscht fest.

»So ist es«, bestätigte Marko. »Aber wenn sie länger als zweieinhalb Minuten senden, sind sie verwundbar; vor allem wenn wir überall in der Stadt Ortungsfahrzeuge im Einsatz haben. Bei diesem Spiel ist nichts einfach, und ein Fehler...« Er hob die Hand und fuhr sich mit einem Finger von links nach rechts über die Kehle. »Finis!«

»Ja«, antwortete Mrs. Pollifax bedrückt. »Gibt's was Neues von Ihren Leuten, die Feng-Imports beobachten?«

»Nichts. Ich persönlich glaube nicht, daß Eric der Rote noch einmal dort auftaucht, und ich würde meinen rechten Arm dafür hergeben, wenn ich wüßte, wo er sich aufhält.«

»Doch sicherlich nicht Ihren rechten Arm!« wandte Mrs. Pollifax ein. »Ist das nicht ein bißchen übertrieben?«

»Finden Sie?« erwiderte er und legte eine rhetorische Pause ein. »Dann werde ich Ihnen die Geschichte meiner Cousine Gena erzählen: Sie war achtzehn damals, vor drei Jahren, ein sehr aufgewecktes, frisches und sehr hübsches Mädchen. Nicht alle Frauen in meiner Familie sind hübsch, müssen Sie wissen; meist sind sie fett und haben einen Schnurrbart. Aber Gena war wunderschön - sie war etwas Besonderes.« In seiner Stimme lag plötzlich schneidende Kälte, als er fortfuhr: »Und dann ging sie eines Tages in eine Bank in Paris. Eine Bombe geht hoch, und es ist nicht mehr viel übrig von meiner Cousine Gena; zumindest nichts, das wir hätten begraben können.«

»Oh, Marko!« rief Mrs. Pollifax bestürzt.

»Ich mag Terroristen also nicht besonders«, erklärte er und griff nach einem Buch - >Die Bestimmung des Menschen< von Lecomte du Noüy, wie Mrs. Pollifax mit einem schnellen Blick feststellte -, um es in seine Tasche zustecken. »Ich bin soweit«, sagte er. »Sie werden wahrscheinlich ziemlich aufgeregt sein - jetzt, wo Cyrus nach Hongkong unterwegs ist?«

Sie nickte.

»Also viel Spaß dabei!« Er warf ihr einen Kuß zu, und die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.

Nachdem Mrs. Pollifax Robin eine Nachricht geschrieben und ihm die Ergebnisse ihres Besuchs bei Mrs. O'Malley mitgeteilt hatte, blieb ihr nur mehr eine Entscheidung zu treffen: nämlich was sie zu Abendessen wollte und darüber hinaus die Vorfreude auf eine willkommen frühe Bettruhe. Doch ihr Tag war noch nicht zu Ende, nachdem sie es sich im Bett bequem gemacht hatte. Nun endlich fand sie Zeit und Muße, die Geschehnisse der vergangenen drei Tage zu überdenken und die Teile des Puzzles zusammenzufügen. Es gab eine ganze Reihe von Unstimmigkeiten, die dringend einer Erklärung bedurften - von den Fakten ganz zu schweigen, die überhaupt nicht ins Bild passen wollten.

Wollten. Sollten. Sie war schon wieder damit beschäftigt, Drehbücher zu verfassen, stellte sie ärgerlich fest. Dies war genau die Art und Weise, in der das menschliche Gehirn gemeinhin arbeitet: Es verbindet objektive Tatsachen mit letztlich in der Vergangenheit entstandenen Annahmen und gelangt zu Schlußfolgerungen, die oft genug falsch sind.

Was sie jetzt brauchte, überlegte sie, war ein klarer Verstand; frei von Vorurteilen und vorgefaßten Meinungen.

Sie ließ sich jedoch Zeit mit diesem Vorhaben, und ihre Gedanken beschäftigten sich mit dem, was sie in den Tagen, die sie in Hongkong war, erlebt und in Erfahrung gebracht hatte: Mit ihrem Besuch bei Feng-Imports, mit Mr. Detwiler, charmant und ölig, in seinem schwarzen Seidenanzug und seinen goldenen Manschettenknöpfen - den Buddha, den er ihr geschenkt hatte, nicht zu vergessen -, mit Mr. Feng, der selbst wie eine aus Elfenbein geschnitzte Figur aussah, mit Sheng Ti und Lotus, mit Alec Wi, der spurlos verschwunden war, mit Mrs. O'Malley und mit ihrem geflüsterten Versprechen, das sie dem toten Inspektor beim Verlassen der Hütte gegeben hatte... Und dann verbannte sie alle Eindrücke aus ihren Gedanken und wartete.

Als sie eine geraume Zeit später die Augen wieder öffnete, flüsterte sie erregt: >Natürlich! Ich war ja mit Blindheit geschlagen!«

Mit einem Mal verstand sie, weshalb Detwiler zwei Monate nicht zu Hause gewesen war, und sie glaubte auch zu wissen, weshalb er ihr den Buddha geschenkt hatte. Sie griff nach dem Telefon und gab eine Telegramm an Carstairs in Baltimore auf. Nachdem sie den Hörer wieder aufgelegt hatte, löschte sie das Licht, und noch ehe sie überlegen konnte, auf welche Weise ihr Verdacht einer Prüfung zu unterziehen sei, sank sie in einen tiefen und ruhigen Schlaf.

DONNERSTAG 

12

Ein schrilles, erbarmungsloses Klingeln in ihren Ohren, das nur langsam in ihr Bewußtsein drang, weckte Mrs. Pollifax am nächsten Morgen. Vorsichtig öffnete sie ein Auge und sah, daß es Tag war. Sie öffnete das andere Auge und registrierte mit einem schnellen Blick, daß es erst neun Uhr war und das Klingeln also nicht von ihrem Wecker herrühren konnte. Sie tastete nach dem Telefon, und als sie den Hörer endlich zu fassen bekommen hatte, stellt sie erleichtert fest, daß das Klingeln aufhörte. »Hallo«, murmelte sie verschlafen.

»Spreche ich mit Mrs. Pollifax?« fragte eine sonore Männerstimme.

Mit einem Mal hellwach, setzte sich Mrs. Pollifax mit einem Ruck auf und versicherte der Stimme, daß sie Mrs. Pollifax sei.

»Hier spricht Detwiler von der Firma Feng-Imports. Sie erinnern sich vielleicht? Wir haben uns vor ein paar Tagen kennengelernt.«

Sie hatte seine Stimme sofort wiedererkannt, doch sie hütete sich, dies zu erwähnen. »Ja, natürlich«, sagte sie herzlich. »Der Buddha, den Sie mir großzügigerweise geschenkt haben, ist einfach wunderschön.«

Nach kurzem Zögern fuhr Detwiler fort: »Um so schwerer fällt es mir. Ihnen den Grund meines Anrufs zu erklären. Es geht nämlich um diesen Buddha, Mrs. Pollifax.«

»Oh!« machte sie nur und hoffte inständig, daß ihrer Stimme die Erregung, die sie empfand, nicht anzumerken war.

»Ja - leider, Mrs. Pollifax. Offenbar habe ich mit der Wahl gerade dieses Buddhas einen Fehler begangen - zur Bestürzung Mr. Fengs. Dieser Buddha wurde im Auftrag eines japanischen Klosters in Kyota geschnitzt und muß natürlich geliefert werden. Wir haben erst jetzt bemerkt, daß ich Ihnen ausgerechnet diesen Buddha geschenkt haben muß, und... Es ist mir äußerst unangenehme, Mrs. Pollifax, das dürfen Sie mir glauben, aber ich muß Sie bitten, so freundlich zu sein, ihn mir zurückzugeben. Ich werde Ihnen selbstverständlich einen anderen dafür geben. Bitte entschuldigen Sie dieses...«

»Wie unangenehm«, murmelte Mrs. Pollifax, während sie in Gedanken die Bedeutung des soeben Gehörten abzuschätzen versuchte. Das Ergebnis, zu dem sie kam, war mehr als erfreulich.

»... dieses Versehen. Wie Sie wissen, haben wir sehr viele Buddhas, und... Ich versichere Ihnen, daß mir das alles sehr peinlich ist, aber ich muß Sie bitten, den Buddha noch heute morgen zurückzugeben, damit wir ihn verpacken und mit der Nachmittagsmaschine nach Japan schicken können. Wäre Ihnen das möglich?«

Dies klang wie eine flehentliche Bitte, was Mrs. Pollifax keineswegs entging, doch sie hatte ihre Entscheidung längst getroffen. »Aber selbstverständlich«, erwiderte sie herzlich. »Allerdings bin ich soeben erst aufgewacht und bin weder angezogen, noch habe ich gefrühstückt. Vor elf werde ich Ihnen den Buddha wohl schwerlich vorbeibringen können.«

»Das macht doch nichts. Und ich bitte Sie nochmals um Entschuldigung«, sagte er, und die Erleichterung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Ich darf Sie also um elf Uhr erwarten?«

»Um elf, ja ja«, sagte sie und legte auf. Sie blieb im Bett sitzen und ließ sich das Gespräch noch einmal Wort für Wort durch den Kopf gehen. Sie nickte nachdenklich, denn jetzt konnte sie erkennen, wie sich die Teile des Puzzles zu einem vollständigen Bild zusammenfügten. Es verwunderte sie keineswegs, daß Detwiler nicht angeboten hatte, den Buddha selbst abzuholen - das hatte sie auch gar nicht erwartet.

Sie wählte die Nummer von Robins Suite und war erleichtert, als er sogleich abhob. »Allmählich kommt die Sache ins Rollen«, berichtete sie. »Ich hatte soeben einen Anruf von Mr. Detwiler. Könntest du mit Marko zu mir herunter kommen?«

»Ein Anruf von Detwiler!« rief Robin.. »Wir sind schon unterwegs!«

»Moment! Nicht so hastig! Gebt mir fünf Minuten, um mich zu waschen und anzuziehen«, sagte sie und legte auf. Sie hob den Hörer wieder ab, wählte den Zimmerservice und bestellte Frühstück für eine Person und Kaffee für drei, dann stand sie auf und kleidete sich an.

»Was hat er gesagt?« fragte Robin, als Mrs. Pollifax den beiden die Tür öffnete.

»Immer schön langsam, mein Freund«, mahnte Marko, der hinter Robin ins Zimmer trat. »Guten Morgen, Mrs. P.!«

»Guten Morgen«, erwiderte sie aufgeräumt. »Setzt euch; ich habe euch einiges zu erzählen. Mein Frühstück und Kaffee für uns alle muß gleich hier sein... Ich brauche eure Hilfe und eure Anwesenheit bei etwas, das erledigt werden muß, ehe ich mich mit Mr. Detwiler bei Feng-Imports treffe.« »Wie bitte?« polterte Robin los. »Bist du verrückt?! Du wirst natürlich nicht dorthin gehen!«

»Laß sie doch erst mal ausreden«, schlug Marko vor. »Darf man fragen, weshalb er Sie treffen will?«

»Natürlich. Wie es scheint, hat es eine... eh... kleine Verwechslung mit den Buddhas gegeben«, erwiderte sie, »und der, den er mir geschenkt hat, war für ein Kloster in Kyota bestimmt.«

»Das nimmst du ihm doch um Himmels willen nicht etwa ab!« brauste Robin auf.

»Das tut sie nicht. Robin«, mischte sich Marko ein, der Mrs. Pollifax genau beobachtete. »Du bist etwas voreilig heute morgen, mein Lieber. Nun setz dich endlich hin und hör auf, wie ein Verrückter hier rumzurennen!«

Es klopfte, und Mrs. Pollifax öffnete die Tür. Der Zimmerkellner schob den Wagen mit dem Frühstück herein, verbeugte sich und zog sich wieder zurück. Mrs. Pollifax goß Kaffee ein und reichte Robin und Marko ihre Tassen. Ohne Begeisterung stocherte sie in ihren Spiegeleiern herum, nahm einen Bissen und entschloß sich dann doch für den Kaffee. »Wie gesagt, ich habe euch einiges zu erzählen und ich fürchte, ich muß euch mit Einzelheiten und Details traktieren...«

»Wir sind ganz Ohr«, brummte Robin.

»Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß sich Carstairs auf dem Holzweg befindet, was Detwiler anbelangt. Und deshalb war auch ich ganz zwangsläufig auf der falschen Spur.«

»Und wie kommst du auf diesen Gedanken?« erkundigte sich Robin mißtrauisch.

»Punkt eins«, sagte sie und spreizte den Daumen ihrer linken Hand in die Höhe. »Bei meinem Besuch bei Feng-Imports am Montag bat mich Detwiler in das Hinterzimmer des Ladens, nachdem Mr. Feng bereits behauptet hatte, er kenne keinen Sheng Ti. Das gab mir zu denken. Mr. Detwiler bestand sogar darauf, daß ich in sein Atelier kam, und nach einem heftigen Streit zwischen den beiden blieb Mr. Feng nichts anderes übrig, als seinen Ärger hinunterzuschlucken... Und Punkt zwei...«, sie ließ ihren Zeigefinger dem Daumen folgen, »...Mr. Detwiler bestand darauf, mir eine sehr wertvolle Buddhastatue zu schenken.« s

Robins und Markos Blicke wanderten zu der Buddhafigur auf dem Schreibtisch.

»Ein bemerkenswert schönes Exemplar«, stellte Marko fest.

»Den er jetzt aber wieder zurückhaben will«, ergänzte Robin ironisch.

»Genau. Reichlich merkwürdig, nicht wahr?« stimmte sie zu und fuhr fort: »Punkt drei: Er bat mich, ihm den Zettel zu zeigen, auf dem Bishop die Adresse von Feng-Imports geschrieben hatte. Er warf einen Blick darauf und, ohne daß ich damals begriffen hätte, worauf er hinaus wollte, sagte er: >Sie haben tatsächlich die einzige Informationsquelle ausfindig gemacht, die über Sheng Tis Aufenthaltsort Bescheid weiß. Niemand sonst hat eine Ahnung, daß sich Sheng Ti hier aufhält. <«

»Weshalb auch nicht?« sagte Robin. »Er hat doch jahrelang für Carstairs gearbeitet - nicht? Er kann ohne weiteres Bishops Schrift erkannt haben.«

»Ja, das glaube ich auch«, sagte sie. »Er hat Bishops Schrift erkannt... und gab mir dann den Buddha - den Buddha, den er jetzt zurückhaben will. Ich glaube, Detwiler hatte gar nicht die Absicht, Carstairs und das Ministerium hinters Licht zu rühren.«

»Wie bitte?«

Sie nickte bekräftigend. »Ich glaube, er hat während der letzten zwei Monate ganz bewußt verzerrte Berichte geschickt, mit der Absicht, Carstairs Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und in der Hoffnung, Carstairs würde jemanden nach Hongkong schicken, der der Sache auf den Grund geht.«

»Du machst Scherze!« warf Robin dazwischen.

Sie schüttelte den Kopf. »Er wußte sofort, daß ich im Auftrag Carstairs' nach Hongkong gekommen war; zum einen, weil ich nach Sheng Ti fragte, und zum anderen, weil er Bishops Schrift erkannte.«

»Aber weshalb hat...?«

»Ich glaube, Detwiler steckt bis zum Hals in Schwierigkeiten«, fuhr sie ohne sich unterbrechen zu lassen fort. »Ich konnte zunächst einfach nicht verstehen, weshalb ich nur am ersten Tag von dem Mann mit dem Diplomatenköfferchen beschattet wurde... Inzwischen bin ich überzeugt, Detwiler wollte nur herausfinden, in welchem Hotel ich wohne, und wagte nicht, mich direkt zu fragen - aus Angst, jemand könnte es hören. Der Mann mit dem Diplomatenköfferchen arbeitet für Detwiler. Detwiler war es auch, der den Mann beauftragt hat, gestern nacht in mein Zimmer einzudringen.«

»Aber aus welchem Grund denn?« fragte Robin immer noch ungläubig.

»Um den Buddha zu stehlen, natürlich«, erwiderte sie. »Ich habe viel zu lange gebraucht, bis ich das begriffen habe, denn ich bin immer davon ausgegangen, daß bei Feng-Imports Detwiler die Zügel in der Hand hält. Er mußte den Buddha einfach wieder zurückhaben, und als der Einbruchsversuch mißglückte, blieb ihm nur mehr dieser Anruf heute morgen übrig. Nichts paßte zusammen - bis ich heute nacht anfing, die Teile des Puzzles herumzuschieben, mit ihnen zu jonglieren, sozusagen ... Die Tatsache, daß Detwiler zwei Monate nicht zu Hause war, erschien mir unerklärlich... , und dann dieser seltsame Verlauf meines Besuchs bei Feng-Imports ... , dieser dilettantische Einbruchsversuch..., der Umstand, daß er und Inspektor Wi befreundet gewesen waren... In dem Augenblick, als ich Detwiler nicht länger als Verräter betrachtete, paßte mit einem Mal alles zusammen, und ich begriff,in welchen Schwierigkeiten Detwiler steckt: Er wird gefangengehalten -bei Feng-Imports in der Dragon Alley.«

»Verdammt! Wollen Sie damit etwa sagen, daß...« setzte Marko an.

Sie nickte. »Wer sonst, als Mr. Feng? Ein kleiner Erpressungsversuch und etwas Druck auf Mr. Detwiler wegen seiner Spionagetätigkeit; dazu die Anwendung von Drogen, um seinen Willen zu schwächen und ihn gefügig zu machen - Sheng Ti war absolut sicher, was die Drogen anbelangt... Es war wichtig, daß Detwiler mir den Buddha ganz offen gegeben hat; quasi als einen Akt der Großzügigkeit getarnt. Aber ich glaube, daß er von Feng später unter Druck gesetzt und gezwungen wurde zuzugeben, was er getan hat. Nun verlangt man von ihm, den Buddha wieder herbeizuschaffen.«

»Du meinst, Mr. Feng verlangt das von ihm«, staunte Robin.

Sie nickte. »Ja... Was wissen wir eigentlich über Mr. Feng?«

»Was wissen Sie von Feng?« präzisierte Marko.

»Eine zwielichtige Figur«, antwortete sie. »Ein Geschäftsmann, dessen Laden als Deckadresse für Detwilers nachrichtendienstliche Aktivitäten benutzt wird. Ein Mann, der auf den ersten Blick den Anschein erweckt, vom Leben gezeichnet zu sein und der scheinbar nur mehr als passiver Zuschauer daran teilhat. Als ich Feng-Imports verließ, hatte ich jedoch diesen Eindruck gründlich revidiert: Ich halte ihn für eiskalt, berechnend und gerissen, und die Art, wie er mich gemustert hat, verriet ungeschminkte Feindseligkeit.«

»Aber daß er mit Terroristen unter einer Decke steckt...«

Mrs. Pollifax zuckte die Achseln. »Wir können uns nur nicht vorstellen weshalb... Aber weshalb eigentlich nicht?«

Robin pfiff durch die Zähne. »Wir müssen unverzüglich alle verfügbaren Informationen über Feng einholen; eine relativ leichte Übung, jetzt, wo wir Kontakt mit dem Sonderdezernat haben... Aber wie paßt der Buddha in das Bild?«

»Sehr gut sogar«, sagte Mrs. Pollifax. »Wenn ich mich in bezug auf Detwiler nicht gewaltig irre, dann ist der Buddha der eigentliche Grund, weshalb er es wagte, sich mit Feng anzulegen und mich in das Hinterzimmer des Ladens zu bitten... Und wenn Feng tatsächlich sein Drogenlieferant ist und ihn unter Druck setzt, dann war dies ein äußerst bravouröser und mutiger Zug von Detwiler. Ich könnte mir vorstellen, daß Det-wiler früher - ehe er von Drogen abhängig gemacht wurde -große Ambitionen hegte. Als ich in seinem Laden auftauchte, hatte er gerade einen seiner besseren Tage, und er war bereit, alles zu wagen.«

Sie ging zum Schreibtisch, nahm den Buddha und brachte ihn Robin. »Es muß irgend etwas Besonderes an dem Buddha sein, daß Detwiler es riskierte, ihn mir zu geben. Ich hoffe, wir brauchen ihn nicht zu zerbrechen; er ist einfach zu schön...«

»Nur das nicht«, murmelte Robin und starrte bestürzt die Figur an.

»Das wäre mehr, als ich zu hoffen wage«, sagte Marko und beugte sich interessiert vor, »aber... mon Dieu, vielleicht hat er ein Geheimfach...« Er setzte sich zu Robin auf die Couch und seine Finger bewegten sich tastend über den Buddha. »Ich tippe auf den Kopf - was meint ihr? Das ist der einzige Teil des Buddhas, der offensichtlich nicht aus dem gleichen Teil Elfenbein geschnitzt ist.« Er fischte eine Schnappmesser aus seiner Jackentasche und sagte: »Darf ich mal?«

Mrs. Pollifax zuckte zusammen, als er die Klinge des Messers unterhalb des kunstvollen Kopfschmucks am Hals des Buddhas ansetzte. Zunächst versuchte er es auf der linken Seite des Halses, dann führte er das Messer zur rechten Seite und drückte die Spitze gegen die Figur.

Mit einem klickenden Geräusch löste sich der Kopfschmuck von der Figur und fiel zu Boden.

»Und hier. Freunde«, sagte sie stolz und deutete auf die Vertierung im Kopf des Buddhas, »haben wir Detwilers Geheimfach. Er ist tatsächlich auf unserer Seite.«

»Da ist was drin«, flüsterte Robin.

»Tatsächlich!« sagte Marko und zog vier winzige, fest zusammengerollte Papierstreifen hervor. »Die Götter sind uns wohlgesinnt«, murmelte er, während er sie flach strich. Nach einem kurzen Blick auf die ersten beiden Papierstreifen reichte er sie Mrs. Pollifax. »Die sollte ich besser nicht lesen; anscheinend sind das die Originalberichte Detwilers, die er nicht an Ihre Vorgesetzten geschickt hat... Es geht um irgendwelche ausländische Schiffe im Hafen von Hongkong.«

»Aber der hier nicht!« rief Robin und griff nach dem dritten Papierstreifen. »Namen, Marko! Namen - hör' zu!« Er las sie laut vor. »Eric Johansen - das ist Eric der Rote. Xian Pi - er ist neu. Charles Szabö - oh, den kennen wir nur zu gut. Jan von Damm. John Yonomoto. Hoban Holloway - das ist ein Killer. Miguel Valentos, John D'Eon, Carl Eberhardt, Henri Duval und Angelo Gregorio.«

»Elf«, nickte Mrs. Pollifax, »das stimmt genau mit den elf Pässen überein.«

»Die ganze verdammte Terroristenbrut der >Befreiungsfront '8o<!« zischte Marko.

»Und hier ist noch mehr - das ist ja unglaublich!« rief Robin. »Das müssen die Ziele ihrer Anschläge sein.«

Über seine Schulter hinweg starrten sie alle auf den letzten der vier Papierstreifen:

1. Turm/Peak. Kommandozentrale

2. Regierungsgebäude?

3 Rundfunksender

4- Elektrizitätswerk

»Jetzt wissen wir also... welch ein Fund!« flüsterte Marko. »Mrs. P., wir stehen zutiefst in Ihrer Schuld.«

»Aber kein Hinweis, wann«, wandte Mrs. Pollifax ein. »Daß die Terroristen ihre Anschläge für Ende nächster Woche planen, ist eine pure Annahme, die sich allein darauf stützt, daß Detwilers Haushälterin ihn bis dahin zurück erwartet. Das ist reichlich dürftig und vage und außerdem aus zweiter Hand; wir können daraus unmöglich konkrete Schlüsse ziehen.«

»Das nicht; aber wir werden kein Risiko eingehen«, sagte Robin. »Ich werde sofort den Gouverneur anrufen - und keine Sorge, er wird mich auch ohne viel Worte verstehen.« Er erhob sich, ging zum Telefon und wählte eine Nummer.

Mit einem Lächeln wandte sich Marko an Mrs. Pollifax: »Ich schätze, es liegt ein arbeitsreicher Tag vor uns, wenn wir über Ihren Mr. Feng etwas herausfinden wollen. Und Sie? Sind Sie immer noch entschlossen, sich in die Höhle des Löwen zu wagen? Sie kennen das Risiko.«

Mit dem Hörer in der Hand rief Robin quer durch den Raum: »Risiko? Selbstmord! Glaubst du, du kannst einen leeren Buddha bei Feng-Imports abliefern, und dann unbehelligt einfach wieder gehen?«

»Ich denke nicht einmal im Traum daran, den Buddha, den mir Detwiler gegeben hat, zurückzubringen«, erklärte Mrs. Pollifax würdevoll. »Unten in der Ladenstraße habe ich eine zum Verwechseln ähnliche Figur gesehen; zwar nicht so perfekt gearbeitet, doch sonst hat sie die gleiche Größe, dieselbe Pose und ist auch aus edlem weißen Elfenbein geschnitzt. Mr. Detwiler wird natürlich sofort erkennen, daß es nicht derselbe Buddha ist, aber ich bezweifle, daß es Mr. Feng bemerken wird.«

»Unsinn!« knurrte Robin. Im selben Augenblick kam seine Verbingung zustande, und er kehrte ihnen den Rücken zu und berichtete mit leiser Stimme über das, was sie soeben erfahren hatten.

»Aber Mr. Feng wird den Unterschied sehr wohl bemerken, sobald er versucht, den Buddha zu öffnen und feststellt, daß er nicht zu öffnen ist«, bemerkte Marko eindringlich.

»In dem Laden halten sich keine Terroristen auf«, erinnerte ihn Mrs. Pollifax entschieden, »nur Detwiler und Feng - und Sheng Ti und Lotus natürlich. Außerdem habt ihr doch Beobachtungsposten rund um Feng-Imports eingerichtet. Sollte ich der Situation nicht gewachsen sein...«

Robin legte den Hörer auf und gesellte sich wieder zu ihnen. »Schlag dir diese verrückte Idee aus dem Kopf, Mrs. P.!« sagte er eindringlich. »Begreif doch endlich, daß das zu gefährlich ist. Wenn Feng tatsächlich hinter dieser Geschichte steckt, dann wartet er doch nur darauf, dich in seine Finger zu kriegen!«

»Sicher tut er das«, antwortete sie. »Und zweifellos hat er jedes Wort mitgehört, das Detwiler mit mir am Telefon gewechselt hat; wahrscheinlich hat er ihn dabei mit einer Pistole in Schach gehalten, wenn ich das richtig einschätze.«

»Weshalb also?« wollte Robin wissen.

Sie überlegte, wie sie ihm ihr Vorhaben verständlich machen konnte. Schließlich sagte sie: »Wenn ich nicht gehe, ist es durchaus möglich, daß Detwiler umgebracht wird, weil er mir den Buddha gegeben hat... Seine Nützlichkeit für Feng dürfte allmählich erschöpft sein. Ich muß hingehen, weil ich ja schließlich wegen Detwiler nach Hongkong gekommen bin... , weil sein Anruf einem Hilferuf gleichkommt... und weil ich dann unter Umständen von Detwiler den Tag und die genaue Stunde der Terroranschläge erfahre.«

»Und du glaubst tatsächlich, daß Feng dich unbehelligt wieder gehen läßt?« fragte Robin skeptisch.

Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr. »Ich werde natürlich versuchen, meine Rolle als naive Touristin weiter zu spielen«, sagte sie beschwichtigend und fügte dann entschlossen hinzu: »Sollte ich jedoch gezwungen sein, Gewalt anzuwenden, dann muß das noch lange nicht bedeuten, daß Feng aufgrund meiner Karatekenntnisse gleich auf den Gedanken kommt, ich könnte eine amerikanische Agentin sein. Und wie gesagt, sind Krugg und Upshot nicht weit; und Sheng Ti und Lotus sind außerdem auch noch da.«

»Vorausgesetzt, sie verlassen ihren Posten nicht«, bemerkte Robin düster.

Marko räusperte sich. »Das ist etwas, dessen du dich vergewissern solltest. Robin - ehe sie geht«, schlug er vor.

»Mein Gott!« fluchte Robin. »Jetzt fang du nicht auch noch damit an, Marko!«

Mrs. Pollifax erhob sich. »Allmählich erinnerst du mich an einen übertrieben ängstlichen Vater«, bemerkte sie trocken. »Du weißt ganz genau, Robin, daß es in diesem Geschäft keine Garantien gibt! Und inzwischen ist es nun mal so, daß ich die einzige bin, die überhaupt Zugang hat zu... zur Höhle des Löwen, wie Marko so schön sagt... Und vielleicht kann ich tatsächlich etwas in Erfahrung bringen, das uns hilft, ein Blutbad wie die Geiselaffäre in Frankreich zu verhindern.«

Sie sah erneut auf die Uhr. »Könntet ihr mir dreihundert Hongkong-Dollar leihen, damit ich diese Buddhafigur kaufen kann? Es ist bereits halb elf, und ich habe versprochen, um elf bei Feng-Imports zu sein. Der Buddha ist nicht billig, und ich habe im Moment nicht so viel Geld bei mir...«

Mit einem breiten Grinsen fischte Marko seine Brieftasche hervor und zählte ihr die Banknoten ab. »Wir werden hier sein und Sie erwarten«, sagte er. »Zumindest ich... und inzwischen werde ich ein ernstes Wörtchen mit Robin reden.«

»Danke, Marko«, sagte Mrs. Pollifax erleichtert, schenkte ihm ein warmes Lächeln und mit einem spöttischen Blick in Richtung Robin segelte sie aus dem Zimmer.

Als sie nach zwanzig Minuten wieder zurückkehrte, war nur mehr Marko in ihrem Zimmer. Er beschäftigte sich mit dem Toast auf ihrem Frühstückstablett und hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen. Er erhob sich und wickelte den Buddha, den sie soeben erstanden hatte, aus dem Papier. Er hielt ihn neben das Original und nickte zufrieden. »Nicht schlecht!«

»Wo ist Robin?«

»Er ist oben und benachrichtigt Krugg und Upshot, daß Sie kommen. Er schärft ihnen ein, daß sie - nachdem Sie Feng-Imports betreten haben - beim ersten Anzeichen von irgendwelchem Ärger im Laden sofort eingreifen sollen. Natürlich macht er sich Sorgen um Sie«, fügte er hinzu. »Sie müssen etwas Geduld mit ihm haben. Schließlich ist er in diesem Spiel relativ neu und kein so alter Hase wie Sie oder ich. Außerdem hat er Sie sehr gern und...«

Mrs. Pollifax nickte.

»Ich konnte ihn schließlich doch überreden«, grinste Marko, »aber nur unter einer Voraussetzung.« Er kramte in seiner Tasche und brachte eine winzige Kapsel, nicht größer als der Radiergummi an einem Bleistift, zum Vorschein. »Sie werden den Saum Ihres Kleides auftrennen und das hier einnähen. Ein kleiner Sender, mit dem wir stets wissen, wo Sie sind. >Ackameter< nennen wir das Ding.«

»Na schön«, sagte Mrs. Pollifax und ging zu ihrem Koffer, um Nadel, Faden und eine Schere zu holen. Nachdem sie den Sender in den Saum ihres Rocks genäht hatte, glättete sie auf dem Schreibtisch das Papier, in das Lotus Detwilers Buddha eingeschlagen hatte, und .verpackte darin die soeben gekaufte Figur. Nervös sah sie auf die Uhr und verzog das Gesicht. »Nun wird es aber Zeit!«

Marko nickte. »Robin hat vorhin übrigens kurz angerufen: Heute morgen hat noch niemand Feng-Imports verlassen.«

»Gut«, sagte sie mit einem Lächeln. »Marko...« Sie streckte ihm die Hand hin.

Er griff danach und drückte sie herzlich. »Sobald Cyrus hier ist, werde ich ihn beknien, seine Gattin für Interpol freizugeben«, grinste er. Er hielt ihre Hand fest und wurde ernst. »Sollte ich je in Detwilers Lage geraten - der Himmel möge eine solche Katastrophe verhindern -, kann ich nur beten, daß auch zu meiner Rettung eine Mrs. Pollifax bereit ist, Kopf und Kragen zu riskieren. Geben Sie auf sich acht!«

»Danke, Marko«, erwiderte sie ernst und zog ihre Hand zurück. Sie nahm den Buddha und ging.

Die Tür des Aufzugs stand offen, und da sie sich für den Haupteingang entschieden hatte, fuhr sie in die Halle hinab. Von der Helligkeit des Sonnenlichts geblendet, blinzelte sie heftig, als sie aus dem Schatten der Markise trat, und winkte in Richtung der wartenden Taxis. Ein Wagen scherte aus der Reihe der Taxis aus und kam vor ihr zum Stehen. Eine Tür wurde geöffnet, und sie hatte bereits im Wagen Platz genommen, als sie bemerkte, daß schon ein Fahrgast im Taxi saß.

»Oh... Entschuldigung!« murmelte sie und schickte sich an, wieder auszusteigen. Erst jetzt erkannte sie den Fahrgast, und sie begriff mit einem Male, daß etwas schiefgegangen war... schrecklich schiefgegangen war.

»Sie sind äußerst pünktlich«, sagte Mr. Feng mit der Andeutung eines höhnischen Grinsens. »Fahr los, Carl! Schnell, ehe man uns entdeckt!«

13

Als Marko in die Suite zurückkehrte, saß Robin am Funkgerät. »Ist sie gegangen?« fragte Robin und runzelte finster die Stirn.

»Gerade eben - ja«, bestätigte Marko. »Sieh mal, Robin - du mußt das verstehen«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Sie ist wegen Detwiler nach Hongkong gekommen. Es ist ihr Auftrag, und sie muß das tun. Ich kann nur den Hut vor ihr ziehen... «

Robin schüttelte den Kopf. »Trotzdem gefällt mir diese Geschichte nicht«, murmelte er und beugte sich vor, um das Funkgerät einzuschalten. »Hier Rabe. Kannst du mich hören?«

»Klar und deutlich, alter Junge!« quakte Kruggs Stimme aus dem Gerät.

»Unsere Freundin hat soeben das Hotel verlassen. Halte die Augen offen und gib Bescheid, wenn sie ankommt.« »Verstanden, Rabe. Over.«

Robin drehte leicht an der Skala und rief Upshot, der den Beobachtungsposten im Lagerhaus hinter Feng-Imports besetzt hielt. »Putz dir deine Stielaugen«, schnarrte er ins Mikrofon. »Unser Kunde hat soeben das Hotel verlassen und wird in etwa fünfzehn Minuten am Zielort eintreffen.« »Verstanden«, antwortete Upshot.

Robin sah zu Marko auf, dann huschte sein Blick zur Uhr. »Drei Minuten nach elf... Hat sie den Ackameter?« Marko nickte und kramte ein flaches, etwas größeres Gerät, als den Sender, den er Mrs. Pollifax gegeben hatte, aus seiner Tasche. Er drückte einen Knopf und befestigte den Funkempfänger mit dem an der Unterseite angebrachten Saugknopf an der Wand. Er gab ein monotones, aufdringliches Summen von sich. »Funktioniert«, stellte er fest. »Hat Duncan eigentlich schon was wegen des Funkortungswagens von sich hören lassen?«

Robin nickte. »Guter Mann, dieser Duncan. Die Einheit ist seit sechs Uhr heute morgen auf den Straßen.«

»Ja - sehr tüchtig«, bestätigte Marko. »Also - wer von uns beiden übernimmt nun die Zusammenstellung der Informationen, die über Feng registriert sind?«

Robin lächelte dünn. »Ich war ebenfalls tüchtig. Ich habe das bereits mit Duncan besprochen, und er hat mir für den Nachmittag den Bericht über Feng zugesagt; einen Bericht der höchsten Geheimstufe und äußersten Dringlichkeit, wie Duncan mir versichert hat. Allerdings«, fügte er hinzu, »könnten wir, sobald Mrs. Pollifax zurück ist, ruhig ein paar Nachforschungen auf eigene Faust anstellen.«

Marko nickte. »Sie müßte in etwa zwanzig Minuten bei Feng-Imports sein.«

Robin beugte sich über den Stadtplan von Hongkong und verfolgte mit dem Finger Mrs. Pollifax' Route. »Mal sehen... Da die Dragon Alley für den Verkehr gesperrt ist, wird sie hier in der Straße oberhalb aussteigen und zu Fuß zum Laden gehen...« Er warf einen prüfenden Blick auf seine Uhr. »Es ist jetzt zwölf nach elf... Gehen wir davon aus, daß sie unter Umständen ein paar Minuten auf ein Taxi warten mußte und daß in der City jetzt dichter Verkehr herrscht, dann müßte sie spätestens um elf Uhr vierzig dort sein.« Er blätterte in seinem Notizbuch nach einer Nummer und rief den Funkortungswagen an, der irgendwo in den Straßen von Hongkong unterwegs war. »Hier Funk Eins im Hongkong-Hilton«, schnarrte er. »Wir haben jemanden mit einem Ackameter losgeschickt - in die Gegend der Lower Lasar Row... Kümmert euch nicht darum, wenn ihr das Signal zufällig empfangen solltet - wir verfolgen es von hier aus.«

»Und wie wir das Signal empfangen«, antwortete eine Stimme erleichtert. »Es macht uns schon ganz verrückt. Wie ist euer Codewort? Wir brauchen es zur Überprüfung.«

»Blauer Drachen«, antwortete Robin mit einem Seufzen, denn dieses Spiel mit Codeworten erschien ihm jedes Mal aufs neue kindisch.

»Danke. Over.«

Marko sagte: »Magst du eine Tasse Kaffee?«

Robin nickte und erhob sich. Er goß Kaffee in eine Tasse, kehrte wieder zum Funkgerät zurück und knipste es erneut an. Er rief Krugg. »Hier Rabe«, sagte er. »Ich schalte auf Empfang und erwarte deinen Bericht, bitte.«

»Roger...« antwortete Krugg. »Noch nichts... alles ruhig.«

Marko zog seinen Stuhl neben das Funkgerät und machte es sich, ein Bein über die Lehne geschlagen, bequem und wartete. Robin beneidete ihn um seine Ruhe. Er kannte Markos Geschichte und wußte, wie hart erarbeitet diese Gelassenheit war. Robin mußte zugeben, daß er selbst dazu nicht fähig war. Er war emotional viel zu sehr engagiert - besonders jetzt, wo es um eine Freundin, um Mrs. Pollifax ging. Er war unruhig und gereizt. Ungeduldig wartete er darauf, daß sie endlich bei Feng-Imports ankäme; und noch ungeduldiger, daß sie heil wieder aus Feng-Imports herauskäme.

Das monotone Summen des Ackameters und Robins nervöse Unruhe erfüllten den Raum mit einer schier unerträglichen Spannung. Um halb zwölf meldete sich Krugg erneut: »Immer noch nichts...« Robin setzte mit einem Ruck die Tasse ab und begann, im Zimmer auf und ab zu marschieren.

Sie hatten ihre Ankunft für spätestens elf Uhr vierzig kalkuliert. Um elf Uhr vierzig begann Robin leise vor sich hin zu fluchen. Er ging zum Funkgerät, drehte es an und bellte: »Was ist los?!«

»Nichts«, erwiderte Krugg.

»Over... aber ich ruf dich zurück.« Er rief den Funkortungswagen. »Hier Blauer Drachen. Ich bitte um eine sofortige Standortbestimmung des Ackametersignals! Da ist möglicherweise was schiefgegangen... Ja, jetzt sofort! Bericht an Funk Eins.« Robin wandte sich an Marko und fragte ihn mit einem bedrückten Lächeln: »Was meinst du dazu? Verkehrsstau, Unfall, ein platter Reifen - oder ernsthafte Schwierigkeiten?«

Ohne zu antworten setzte sich Marko an das Funkgerät und schaltete auf Kruggs Kanal. »Laßt das Objekt keine Sekunde aus den Augen«, sagte er. Außerdem müssen wir unbedingt wissen, wer bisher den Laden verlassen hat. Am besten liest du mir deine Notizen vor. Und du hast doch auch Witkowskis Liste, oder?«

»Ja... Augenblick... Als ich meine Schicht antrat, kam gerade dieser alte Chinese an. Er hatte ein Einkaufsnetz mit Obst dabei und verschwand damit im Laden. Um acht kam dann der junge Mann Sheng Ti und vierzig Minuten später das Mädchen - Lotus heißt sie, nicht? Und dann... «

»Nicht so schnell! Noch mal zurück«, unterbrach ihn Marko. »Wenn >dieser alte Chinese<, er heißt Feng, um sieben Uhr den Laden betreten hat... wann hat er ihn dann verlassen?«

Nach einem längerem Schweigen brummte Krugg: »Wenn ich das nur wüßte, verdammt. Ich hab' soeben Witkowskis Notizen überflogen - er machte hier um halb sieben Schluß -, aber ich kann keine Eintragung darüber entdecken, wann Feng den Laden verlassen hat.«

Aufgeregt mischte sich Robin ein und schnaubte wütend. »Hat dieser Witkowski gepennt, oder was?! Weshalb schicken die uns verdammt noch mal Agenten, die noch vom letzten Job fix und fertig sind?... Er muß eingeschlafen sein, denn Feng muß ja irgendwann das Haus verlassen haben, wenn er um halb sieben zurückgekehrt ist.«

»Ich hab' schon öfters mit Witkowski gearbeitet«, erwiderte Krugg bestimmt, »und er ist bei einem Job noch nie eingeschlafen.«

Robin zog scharf die Luft ein. »O Gott!« ächzte er. »Kann es sein, daß es einen anderen Ausgang gibt? Einen, den wir übersehen haben?«

»Langsam, langsam«, sagte Marko und wählte die Nummer des Funkortungswagens. »Hier Funk Eins, Blauer Drachen. Habt ihr was Neues über das Ackametersignal?«

»Im Augenblick scheint sich das Objekt nicht zu bewegen. Es bleibt unverändert in der Nähe des Man Mo Tempels, Sir«, berichtete der Mann. »Wir sind auf dem Weg dorthin - in der Queen's Road Central... zähflüssiger Verkehr, aber in höchstens zehn Minuten müßten wir eigentlich dort sein.«

»Danke. Wir bleiben in Verbindung«, sagte Marko und wandte sich Robin zu. »Das ist beruhigend; sie ist immer noch im Western District.«

»Ich gehe«, verkündete Robin und griff nach seiner Jacke. »Der Renault steht noch immer am Hintereingang des Hotels. Ich kann genauso schnell am Man Mo Tempel sein wie die Kollegen von der Funkortung - vielleicht sogar schneller.«

»Nimm deine Kanone mit«, sagte Marko ruhig.

Robin wirbelte zu ihm herum und fauchte: »Jetzt tue bloß nicht so, als würde dir das mit deinem kaltschnäuzigen Optimismus was ausmachen!« Er unterbrach sich und murmelte betreten: »Entschuldige, Marko. Tut mir leid.«

»Schon in Ordnung... viel Glück«, erwiderte Marko und reichte Robin, nachdem dieser seine Pistole in den Halfter geschoben hatte, den Minidetektor für den Ackameter. Dieser Empfänger war zwar bei weitem nicht so leistungsfähig wie die Geräte des Funkortungswagens, doch er würde seine Dienste tun und Robin zu dem Ackameter führen, den Mrs. Pollifax bei sich trug. »Ich bleibe hier am Funkgerät«, sagte Marko, »und halte die Verbindung mit Krugg und Upshot.«

Die Hand bereits an der Türklinke, hielt Robin inne. Er wandte sich um und mit erstickter Stimme sagte er: »Wir sind davon ausgegangen, daß sowohl Detwiler als auch Feng im Laden sind und Mrs. Pollifax erwarten ...Im Laden, Marko! Falls einer der beiden irgendwie den Laden verlassen hat und uns abschütteln konnte, ohne daß wir es bemerkt haben... « Er öffnete die Tür, ging hinaus und knallte sie hinter sich ins Schloß. Er spurtete den Korridor hinab zum Lastenaufzug und zwei Minuten später saß er am Steuer des Renaults. Er scherte sich keinen Deut um Geschwindigkeitsbegrenzungen, verfluchte mit Inbrunst jede rote Ampel und traktierte ausgiebig die Hupe, sobald ein langsamer Wagen seine Spur blockierte.

Nach wenigen Minuten hatte er eines der ältesten und belebtesten Viertels Hongkongs erreicht, und der chaotische Verkehr in den engen Straßen und Gäßchen strapazierte seine Nerven und brachte ihn schier zur Verzweiflung. Als er eine Parklücke erspähte, manövrierte er den Renault an den Bordstein, sprang aus dem Wagen und rannte los. Der Ackameter in seiner Hand summte beruhigend, und der eingebaute Distanzmesser, der die Entfernung zwischen ihm und dem in Mrs. Pollifax' Rocksaum genähten elektronischen Verbündeten anzeigte, klickte leise. Er bog um eine Ecke, sprintete an dem altehrwürdigen Suzie Wong Hotel vorbei und entdeckte eine Stück die Straße hinab die rot und golden leuchtende Fassade des Man Mo Tempels. Das Summen des Ackameters schwoll zu einem hysterischen Pfeifen an. Verwirrt blieb Robin stehen. Nirgendwo war ein Taxi zu entdecken, und von Mrs. Pollifax war weit und breit nichts zu sehen. Ratlos irrte sein Blick die parkenden Wagen entlang, als ihm eine grauer Lieferwagen ohne Firmenaufschrift auffiel, der dem Tempel gegenüber schräg auf den Gehsteig fuhr und stehenblieb. Ein Mann in grauem Overall stieg aus, und Robin überquerte die Straße. »Sonderdezernat?« fragte er leise.

Unbewegt starrte ihn der Mann an. »Sonder was?«

»Funk Eins«, sagte Robin. »Blauer Drachen.«

Der Mann entspannte sich sichtlich. »Können Sie sich ausweisen?«

Robin fischte aus einer Geheimtasche seines Jacketts seinen zerknitterten Ausweis und brummte: »Eigentlich müßte mein Ackameter Ausweis genug sein... Sollten wir die Versammlung nicht auflösen, ehe sich hier eine neugierige Menge zusammenrottet?«

Der Mann im Overall brachte ein sparsames Grinsen zuwege. »Wir haben den Standort des Ackameters genau lokalisiert - er muß drüben im Tempel sein. Ich bin übrigens Harold Lei, und das ist Jim Bai. Er nimmt den Hintereingang. Worauf warten wir also?«

Sie liefen zum Eingang des Tempels, und Robin registrierte nur beiläufig die vollendete Schönheit des alten Bauwerks. Drinnen glänzte Bronze matt zwischen leuchtenden Rottönen. Der Rauch von Räucherstäbchen hing wie ein hauchdünner, kunstvoller Baldachin unter der Decke des Innenraums. Doch Robin hatte kein Auge für den Zauber dieses Orts. Vergeblich suchte er alle Winkel des Tempels ab; Mrs. Pollifax war nicht hier.

»Verdammt!« fluchte er laut und handelte sich einen mißbilligenden Blick des Tempelwächters ein, der in einer Ecke saß und erschreckt von seiner Zeitung aufsah.

Die beiden Kollegen von der Hongkonger Polizei warteten bereits vor dem Tempel auf Robin.

»Nichts zu entdecken am Hintereingang«, berichtete Jim Bai. »Was sagt Ihr Ackameter?«

Robin warf einen Blick auf den Empfänger in seiner Hand. »O Gott!« ächzte er. »Der Distanzmesser steht auf Null!«

»Es muß hier sein«, stellte Harold Lei mit einem ratlosen Stirnrunzeln fest.

»Sie haben ja keine Ahnung...«, setzte Robin zu der Erklärung an, daß der Sender in den Rocksaum einer Frau eingenäht sei und folglich diese Frau hier sein müsse. Doch er unterbrach sich, als er sah, wie Harold Lei sich bückte und etwas aufhob, das wie ein flacher Kieselstein aussah.

»Ist er das?«

Als Robin den Sender in seine Hand gleiten fühlte, war ihm, als schnüre ihm die Angst die Kehle zu. »Sie haben sie!« stöhnte er. »Zu gerissen für uns... Welch ein Hohn, den Ackameter für uns hier liegen zu lassen! Es sei denn... « Er führte den Gedanken nicht zu Ende, denn sein Gehirn weigerte sich auszumalen, wie der in Mrs. Pollifax' Rocksaum genähte Sender auf das Trottoir vor dem Tempel gekommen war. Vage Vorstellungen von Gewalt verstärkten die Panik, die ihn ergriffen hatte. »Ich brauche ein Telefon«, bellte er. »Ich muß Ihren Vorgesetzten anrufen. Das ändert alles.«

»Im Wagen«, sagte Lei. »Eine direkte Leitung.«

Im Telegrammstil berichtete Robin Duncan dem Leiter des Sonderdezernats, den der Gouverneur als absolut zuverlässig charakterisiert hatte, von Mrs. Pollifax' Entfuhrung.

»Weshalb nur hat sie sich auf ein solch idiotisches Hazard-programm eingelassen?« knurrte Duncan. »Eine dumme Geschichte - das! Das wirft alles uber den Haufen, denn wenn die ein bißchen Druck ausuben, redet sie wie ein Buch und erzählt alles, was wir wissen.«

»Was nicht allzuviel ist«, bemerkte Robin duster.

»Genug, sie ihre Pläne ändern zu lassen - das Einzige, wovon wir wenigstens eine Ahnung haben.«

»Dank Mrs. Pollifax«, erinnerte ihn Robin.

»Wo sind Sie jetzt?«

»Vor dem Man Mo Tempel. Ich fahre zum Hotel zuruck.«

»Okay. Sagen Sie meinen Leuten, sie sollen wieder an ihren Job gehen. Wir hören später voneinander. Und... Kopf hoch, alter Junge!«

»Ja«, war alles, was Robin als Antwort zustande brachte, denn seine Gedanken waren damit beschäftigt, sich selbst zu verwunschen - seine Schwäche und seine Unentschlossenheit, die ihn gehindert hatten, Mrs. Pollifax entschieden zu verbieten, alleine zu gehen. Doch selbst wenn er entschlossener aufgetreten wäre, hätte das gar nichts bewirkt - stellte er grüblerisch fest -, ganz bestimmt nicht bei Mrs. Pollifax.

Er legte auf, wechselte ein paar Worte mit den beiden Männern und ging dann zum Renault. Bedrückt fuhr er zum Hotel zurück. Er schenkte sich die Mühe, seine Spur zu verwischen und mit dem Lastenaufzug zu fahren. Wenn tatsächlich jemand daran interessiert sein sollte, ihn zu verfolgen, dachte er grimmig, dann sollten sie nur kommen! Er würde ihnen mit Freuden die Zähne in den Hals rammen - und eine Kanone hinterher, und sie zwingen, ihn zu Mrs. Pollifax zu führen. Die Erkenntnis, daß sie erneut ausgetrickst worden waren, und Mrs. Pollifax sich in den Händen dieser Schurken befand, schien nur durch den Wunsch nach einer extrem riskanten Aktion erträglicher zu werden. In seinen Gedanken spukten die Worte Duncans >wenn die ein bißchen Druck ausüben, redet sie wie ein Buch und sagt ihnen alles, was wir wissen<.«

Druck! Ein sehr taktvoller Ausdruck für Folter.

Robin blieb vor der Front der Aufzüge in der Hotellobby stehen und drückte mechanisch die Knöpfe. Als endlich ein Aufzug kam und die Tür zur Seite glitt, stiegen Mr. Hitchens und Ruthie aus.

»Rob... Lars!« rief Mr. Hitchens erfreut, um sich sogleich schuldbewußt umzusehen, ob jemand seinen Versprecher bemerkt hatte, »Darf ich Ihnen Ruthie vorstellen. Ruthie, das ist... Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte er und sah Robin forschend an.

Robin nickte bekümmert. »Sie haben Mrs. Pollifax!« Seine Worte trafen Mr. Hitchens wie ein Schlag, und Robin fühlte, wie Mr. Hitchens' Bestürzung Trost und sogar einen kleinen Hoffnungsschimmer in ihm aufkeimen ließ.

»Sie?« stammelte Mr. Hitchens. »Sie meinen...?«

»Ja.«

»O Gott.«

»Aber ich habe sie doch erst vor einer Stunde gesehen«, sagte Ruthie. »Was ist denn passiert?«

»Sie haben sie gesehen?« fragte Robin verblüfft. »Wo? Wann?«

»Sie stieg in ein Taxi - draußen vor dem Hauptportal«, berichtete Ruthie.

Robin legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Wollen wir uns nicht einen Augenblick auf die Couch dort drüben setzen«, schlug er vor. »Ich würde gerne mehr darüber hören.« Als sie Platz genommen hatten, wandte er sich ungeduldig an Ruthie: »Also, erzählen Sie.«

Ruthie nickte. »Ich kam die Auffahrtsallee zum Hotel hoch und sah, wie Mrs. Pollifax durch die Glastür auf den Gehsteig trat. Offenbar blendete sie die Sonne, denn sie blieb eine geraume Zeit stehen und hielt zum Schutz ihre Hand vor das Gesicht. Dann ließ sie die Hand sinken und winkte mit der anderen ein Taxi herbei. Eines der Taxis fuhr an, stoppte vor ihr, und sie stieg ein. Es war genau eine Minute vor elf, und ich machte mich nicht bemerkbar, weil ich um elf mit Hitch verabredet war und es eilig hatte.«

»Sind Sie absolut sicher, Ruthie, daß der Wagen, in den sie stieg, ein ganz normales Taxi war?«

»Sie meinen, das ist entscheidend?« fragte Ruthie verwirrt. »Mein Gott! Lassen Sie mich überlegen... Sie stand da und wartete... Die Sonne blendete sie, und sie kniff die Augen zusammen. Und das Taxi...« Ruthie stockte. »Es ist merkwürdig... Als ich die Auffahrt heraufkam, fiel mir auf, daß drei Taxis vor dem Hotel warteten. Aber das Taxi, in das Mrs. Pollifax stieg, war keines der drei. Es kam... Ich weiß nicht, woher es so plötzlich kam.«

»Wie sah es aus?«

Ruthie legte die Stirn nachdenklich in Falten. »Rot - denke ich... wie alle Taxis. Mit einem Taxischild auf dem Dach.«

»Saß außer dem Fahrer noch jemand in dem Wagen?«

Ruthie schloß einen Augenblick die Augen. »Doch!« rief Ruthie erstaunt über ihr eigenes Erinnerungsvermögen. »Jetzt, wo Sie es sagen! Da waren die Umrisse einer Gestalt im Fond des Wagens... Und Mrs. Pollifax' Kopf ruckte herum, als sie eingestiegen war - als ob sie soeben erst bemerkt hätte, daß das Taxi besetzt war... Sie machte sogar Anstalten, wieder auszusteigen, aber das Taxi fuhr los und verschwand mit ziemlich hoher Geschwindigkeit auf der anderen Seite der Auffahrt.«

Ruthie sah Robin mit großen Augen an. »Ihr wird doch nichts geschehen?!« fragte sie besorgt.

»Das ist eine Frage, die allein Mr. Hitchens beantworten kann«, erwiderte Robin. »Aber ich muß jetzt dringend nach oben und die nötigen Schritte in die Wege leiten. Tausend Dank, Ruthie; vielleicht hilft uns das weiter.«

Er eilte zu den Aufzügen und fuhr nach oben, um Marko die Hiobsbotschaft zu überbringen.

Um vier Uhr nachmittags war Kruggs Schicht zu Ende, und er fiel ins Bett, um ein paar Stunden zu schlafen.

Witkowski übernahm seinen Posten bis Mittemacht.

Ein Taxi, das um zehn Uhr früh in der Gegend der Causeway Bay als gestohlen gemeldet worden war, wurde um fünfzehn Uhr verlassen in der Hennessy Road aufgefunden. Doch vor allem - und dies war das Wichtigste - trafen im Laufe des Nachmittags erste Informationen zur Person des Mr. Charles Yuan Feng, Eigentümer der Firma Feng-Imports in der Dragon Alley 311/2, ein. Jede dieser Informationen war äußerst interessant.

Feng war für die Polizei von Hongkong kein Unbekannter. Wie aus den Unterlagen der Polizei hervorging, war er aus Shanghai, wo er in unbekannter Funktion in den Diensten des Generals Tschiang Kai-scheck gestanden hatte, in Begleitung seines Bruders Weng Feng nach Hongkong gekommen. Damals, in den 50er Jahren, hatte man den Verdacht gehegt, daß einer der beiden Brüder mit dem nationalchinesischen General Koi Suiheong in Verbindung stehe, der unter der chinesischen Bevölkerung Hongkongs seine Propaganda mit dem Ziel betrieb, die Rückkehr der Nationalchinesen auf das Festland vorzubereiten und Mao zu stürzen.

1967 war Weng Feng in Hongkong als nationalchinesischer Agent und Saboteur verhaftet worden, und die Polizei hatte in seiner Wohnung ein ganzes Waffenarsenal beschlagnahmt. In aller Stille war Weng 1968 nach Taiwan abgeschoben worden, wo er heute noch lebte.

Das Interesse der Polizei an Mr. Charles Yuan Feng hatte nachgelassen. Man war davon ausgegangen, daß Weng Feng das schwarze Schaf der Familie war, und betrachtete seither den Fall als abgeschlossen. Trotzdem war Mr. Fengs Name nicht aus der Kartei gelöscht worden.

Robin runzelte unbehaglich die Stirn. »Ist das nun von Bedeutung - oder nicht? In Hongkong wimmelt es von Nationalchinesen, der Nationalfeiertag im Oktober wird noch immer gefeiert, und es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht ein Komplott irgendwelcher Politamateure gegen Rotchina aufgedeckt wird.«

»Aber hier haben wir es sicher nicht mit einem Komplott von Amateuren zu tun«, stellte Marko fest. »Und nichts deutet auf einen Zusammenhang mit der Chinafrage hin.«

Robin nickte. »Das Ganze ist mir unbegreiflich. Übrigens findet in diesen Tagen wieder ein Treffen zwischen Großbritannien und Rotchina statt, wie in der Zeitung von heute nachzulesen ist, um über die Übergabebedingungen von Hongkong im Jahr 1997 zu verhandeln.« Er fuhr sich nachdenklich mit der Hand über das Kinn. »Die Kolonie wird an Rotchina abgetreten und nicht an Taiwan - wie ursprünglich vorgesehen... Insofern könnte ich mir durchaus vorstellen, daß die Absicht, Hongkong - das kapitalistische Zentrum Ostasiens - zu einer unbedeutenden Kommune eines kommunistischen Staates zu machen, manchen Leuten vor Wut das Blut in den Kopf steigen läßt.«

»Aber doch nicht Eric dem Roten und der >Befreiungsfront 8o<«, sagte Marko skeptisch.

Es gab keine Spur, die in diese Richtung verlief; mit Ausnahme einer interessanten, vielleicht aber bedeutungslosen Notiz in der Polizeiakte der Feng-Brüder, die die Verbindung mit nationalchinesischen Reaktionären möglich erscheinen ließ: Mr. Fengs Bruder, der als nationalchinesischer Agent ausgewiesen worden war, war mit einer Frau namens Xian Sutsung verheiratet gewesen, und auf der Liste, die sie in Mrs. Pollifax' Buddha entdeckt hatten, war unter anderen der Name Xian Pi gestanden.

>Ein Neffe vielleicht?< überlegte Robin, als er sich auf dem Weg nach unten befand, um im Restaurant eine Kleinigkeit zu essen. Doch dies allein bewies nichts - außer daß sich auch Chinesen terroristischen Vereinigungen anschließen konnten. Nichtsdestoweniger war es ein interessanter Aspekt. Für ihn persönlich waren seit der Vertreibung Tschiang Kaischecks vom chinesischen Festland und der Errichtung einer >proviso-rischen< Regierung in Taiwan Ewigkeiten vergangen. Tschiang Kaischeck war schon lange tot, und auch Mao war inzwischen gestorben... Doch andererseits wußte Robin sehr wohl, daß alte Konflikte und Feindseligkeiten weiter schwelen konnten und oft erst nach Generationen wieder ausbrachen. Die Geschichte war voll von Beispielen dafür. Friedensverträge und Grenzkorrekturen nach Kriegen, die ohne Rücksicht auf religiöse, ethnische und nationale Zugehörigkeiten zustande gekommen waren, bargen Zündstoff für neue Konflikte: Kurden gegen Türken, Sikhs gegen Hindus, Serben gegen Kroaten, Drusen gegen Christen... Und ganz sicherlich beharrte auch Taiwan noch Jahrzehnte nach der Vertreibung darauf, die einzige rechtmäßige Regierung Chinas zu sein.

Als Robin den Speisesaal betrat, warf er einen Blick auf seine Uhr; es war bereits kurz nach sechs. Jetzt erst fühlte er, wie sehr ihn die Ereignisse des Tages mitgenommen hatten. Auch mit dem besten Willen konnte er sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal etwas Warmes gegessen hatte, und er verstand nun, weshalb Marko darauf insistiert hatte, daß er für eine Stunde den Platz vor dem Funkgerät räume und etwas esse gehe. Er würde Marko später wieder ablösen... Robin entschied sich für einen Tisch in der Ecke des Restaurants, ließ sich mit dem Rücken zur Wand auf einen Stuhl sinken und wickelte das Besteck aus der Serviette.

Undeutlich registrierte er aus den Augenwinkeln eine Bewegung drei Tische weiter, die seine Aufmerksamkeit erweckte. Er sah auf und erkannte erst jetzt Ruthie und Mr. Hitchens, die ihm beide zuwinkten.

Ruthie beugte sich etwas vor und rief: »Sie sehen richtig erschöpft aus, und wir wollten Sie nicht weiter stören, aber hat man Mrs. Pollifax inzwischen gefunden?«

Glücklicherweise war der Speisesaal zu dieser Stunde nur spärlich besetzt, und nur wenige Gäste hatten diese unbesonnene Bemerkung gehört. Robin zwang sich zu einem höflichen Lächeln und schüttelte den Kopf.

Am Nebentisch blickte ein Mann von seinem Teller auf, sah von Robin zu Ruthie und wieder zurück und erhob sich dann. Er war auffallend groß gewachsen und trug einen etwas zerknitterten Anzug. Er hatte ein intelligentes Gesicht, müde, übernächtigte Augen und weißes Haar. Zu Robins Verwunderung steuerte der Mann direkt auf ihn zu, zog sich einen Stuhl heran und nahm Platz.

»Wenn ich micht nicht irre, habe ich soeben den Namen meiner Frau gehört«, sagte er und musterte Robin mit einem prüfenden Blick. »Ich bin erst vor zwei Stunden hier angekommen und suche vergebens nach meiner Frau... Emily Pollifax.«

»Herrjeh!« rief Robin, mit einem Schlag seiner Lethargie entrissen. »Sie sind Cyrus Reed, - und heute ist Donnerstag!«

»Sowohl als auch«, bestätigte der Mann und fügte nach einigem Zögern hinzu: »Soviel ich verstehe, ist Emily verschwunden und steckt wieder einmal bis zum Hals in Schwierigkeiten. Eine Unart von ihr... Ich habe zwar nicht die leiseste Idee, wer Sie sind, aber wie es aussieht, bin ich gerade zur rechten Zeit hier eingetroffen... Also - was gedenken Sie zu unternehmen, um meine Frau wiederzufinden?«

14

Mit der nicht gerade ermutigenden Situation konfrontiert, in einem Taxi mit Mr. Feng zu sitzen, kam Mrs. Pollifax zu dem Schluß, daß Vorsicht der ratsamere Teil der Tapferkeit sei. Sie versuchte, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen und zwang ihre Lippen zu einem höflichen und erwartungsfrohen Lächeln - ganz so, als hätte Detwiler in seiner zuvorkommenden Art ihr ein Taxi geschickt, und Mr. Feng hätte sich freundlicherweise bereit gefunden, sie abzuholen. Tatsächlich fiel ihr auch gar nichts ein, das sie hätte sagen können; zumindest nichts, das sie nicht belastet oder gar verraten hätte - wie zum Beispiel die Frage, wie um alles in der Welt es ihm gelungen sei, Feng-Imports zu verlassen, ohne daß Robin und Marko es bemerkt hatten, oder die Frage, wo Mr. Detwiler sei.

»Ich bemühe mich stets, pünktlich zu sein«, plauderte sie drauflos und versuchte ihrer Panik Herr zu werden. »Es ist einfach ein Akt der Höflichkeit den anderen gegenüber -finden Sie nicht auch?«

Wie nicht anders zu erwarten, ignorierte Feng diesen meisterlichen Schachzug taktischer Konversation. Das Taxi verließ die Queen's Road Central und bog in eine enge Straße mit ausgeprägtem chinesischen Charakter ein. Es verringerte seine Fahrt, und Feng beugte sich zum Fahrer und deutete auf einen unscheinbaren Laden mit dem Schild >SCHNEIDER<. Direkt vor dem Eingang kam der Wagen zum Stehen.

Aus seinem weiten Ärmel zauberte Mr. Feng eine kleine Pistole; was Mrs. Pollifax mit einem vorwurfsvollen Blick quittierte. Ihr wäre es viel lieber gewesen, die Realität noch eine Weile ignorieren zu können, denn ihre Gedanken weigerten sich beharrlich einzugestehen, daß sie in eine Falle gegangen war... Sich auf eine solche Situation einzustellen, erfordert seine Zeit, dachte sie, doch die Waffe in Fengs Hand machte ihr unmißverständlich klar, daß sie diese Zeit nicht hatte.

»Steigen Sie aus - schnell!« sagte Feng ruhig. »Lassen Sie den Buddha auf dem Sitz liegen. Wir haben nur fünf Minuten und keine Sekunde länger.«

>Fünf Minuten - wofür?< dachte Mrs. Pollifax beklommen, und da sie keine Möglichkeit für eine Flucht sah, legte sie das Paket auf den Sitz. Während sie noch damit beschäftigt war, Fengs Absichten zu ergründen, wurde sie bereits durch die offene Tür der Schneiderei gestoßen. Der Laden war winzig. Ein Mann stand an einer dampfbetriebenen Bügelmaschine, und vier Frauen waren damit beschäftigt, Ärmel von Seidenjacketts anzunähen. Im Hintergrund des Raums erkannte Mrs. Pollifax zwei mit Vorhängen abgetrennte Umkleidekabinen. Keiner der Anwesenden schien überrascht, Mr. Feng und sie hier zu sehen. Ohne ein Wort oder den Anflug eines Lächelns erhob sich eine der Frauen von ihrer Nähmaschine und ging zu den Umkleidekabinen. Sie hatte ein mürrisches, hartes Gesicht, das Mrs. Pollifax ohne Regung und ohne das geringste Interesse anstarrte.

»Ziehen Sie sich aus«, sagte die Frau.

»Wie bitte?« fragte Mrs. Pollifax ungläubig.

»Schnell!« sagte die Frau. »Alles!«

Offensichtlich hatte man sie erwartet, und wie ihr der Druck von Fengs Pistole zwischen ihren Schulterblättern unmißverständlich klarmachte, war jeder Widerstand zwecklos. Mrs. Pollifax ging in die Kabine, zog sich aus und reichte Stück für Stück ihre Kleider nach draußen. Als sie damit fertig war, trat die Frau zu ihr in die Kabine und unterzog sie einer nicht geraden sanften Leibesvisitation.

>Das hier<, dachte Mrs. Pollifax düster, >geschieht Tag für Tag irgendwo auf unserer Erde - wahrscheinlich sogar jede Stunde... Und vielleicht ist es nur recht und billig, daß auch ich erfahre, wie man sich dabei fühlt... Es ist abscheulich und erniedrigend!< dachte sie und fühlte, wie der Zorn in ihr aufstieg.

Als alles vorüber war, wurden ihre Kleidungsstücke in die Kabine geworfen, und Mrs. Pollifax war keineswegs überrascht, daß der Sender in ihrem Rocksaum verschwunden war. Das also war der Grund gewesen, weshalb sie in dieser Schneiderei haltgemacht hatten. Während man sie zum Taxi zurückbrachte, dachte Mrs. Pollifax an Krugg, der in der Dragon Alley saß und noch immer vergebens auf ihre Ankunft wartete, und an Robin und Marko, die wahrscheinlich gespannt dem Summen des Ackameters lauschten, der seine Signale nun aus einer Schneiderei sendete.

Hierin allerdings irrte sich Mrs. Pollifax, wie sie selbst feststellen mußte, als das Taxi in der Nähe des Man Mo Tempels anhielt und Mr. Feng dem Fahrer das winzige elektronische Gerät in die Hand drückte. Der Mann, den er Carl genannt hatte, stieg aus, und Mrs. Pollifax mußte mit ansehen, wie er den Ackameter am Eingang des Tempels fallen ließ. >Mein Gott!<, dachte sie. >Sie haben an alles gedacht - an allesl<

Dies war der Augenblick, als Mrs. Pollifax die nackte Realität ihrer Situation in ihrer ganzen Tragweite bewußt wurde, und der Gedanke an die entsetzlichen Konsequenzen jagte ihr eiskalte Schauer über den Rücken. Sie war in die Falle getappt; allerdings nicht in die Falle mit Schlupflöchern, die sie in Feng-Imports erwartet hatte -mit Sheng Ti und Lotus im selben Raum und Krugg und Upshot in Rufweite... Sie befand sich in den Händen von Terroristen, und jede Hilfe in Gestalt von Robin, Marko, Carstairs oder der Polizei war ihr verwehrt. Sie war gänzlich auf sich alleine gestellt und hatte weder eine Ahnung, wo die Reise hinführen sollte, noch ob es für sie eine Rückfahrkarte gab. Ihre Chancen standen derart schlecht, mußte sie zugeben, daß wohl keine Versicherungsgesellschaft bereit gewesen wäre, eine Lebensversicherung mit ihr abzuschließen.

Und Cyrus war unterwegs nach Hongkong... Doch sie durfte jetzt nicht an Cyrus denken, denn wenn man sie unter Druck setzte, würde sie all ihre Kraft brauchen, nichts zu verraten. Der Gedanke an Cyrus würde ihre Konzentration nur stören, denn er verkörperte all die schönen, angenehmen Seiten des Lebens, die sie so sehr liebte und die jetzt nicht enden durften! Sie mußte zum Beispiel um jeden Preis verhindern, daß Mr. Feng und seine Freunde erfuhren, daß Interpol in die Sache verwickelt war, daß man Eric den Roten in Hongkong gesehen und ihn erkannt hatte, und vor allem, daß Funkortungswagen der Polizei durch die Stadt kreuzten, um das Funkgerät der Terroristen anzupeilen.

>Ich muß klaren Kopf behalten! <, dachte sie. >Ich muß unbedingt klaren Kopf behalten!<

Sie kurvten durch enge, überfüllte Straßen und waren oft gezwungen anzuhalten, weil ihnen dichte Schwärme von Fußgängern, Straßenverkäufer und Lastenträger den Weg versperrten. Zunächst hatte sie - als das Taxi in das Labyrinth der engen Gäßchen getaucht war - angenommen, sie seien irgendwo in der Nähe der Dragon Alley, doch dies hier war ein sehr viel älterer Bezirk Hongkongs, in dem ausschließlich Chinesen lebten - und ganz bestimmt nicht wenige...

Carl bog erneut nach rechts und steuerte das Taxi in ein Gässchen, das kaum breit genug für einen Personenwagen war. Er hielt an und griff nach hinten, um Mr. Fengs Tür zu öffnen. Ohne die Waffe aus der Hand zu nehmen, ging Feng um den Wagen herum und öffnete die andere Tür für Mrs. Pollifax. Einen Augenblick sah sie ihm direkt in das Gesicht, in ein Gesicht wie zerknittertes Pergament, und in seine sanften, geheimnisvollen, etwas zu eng stehenden Augen, und sie dachte: >]ung' Cassius sieht hager und hungrig drein; er grübelt zu viel... doch worüber? Welche Leidenschaft verbirgt sich hinter diesen unergründlichen Augen und treibt ihn zu dieser Tat?<

Sie stieg aus dem Wagen und stand vor einer verwitterten, ehemals wohl blau gestrichenen Tür. Das Taxi fuhr rückwärts aus dem Gäßchen, und Mr. Feng stieß die Tür vor ihr auf. Während sie sich in Bewegung setzte, schätzte sie die Entfernung und ihre Chancen, einen erfolgreichen Schlag zu führen, doch Feng war zu clever und peinlich darauf bedacht, außerhalb ihrer Reichweite zu bleiben. Vor die Wahl gestellt zwischen den ausgetretenen Stufen vor ihr und Fengs Pistole in ihrem Rücken, begann Mrs. Pollifax die dunkle, schmale und altersschwache Stiege zu erklimmen. Sie schien kein Ende nehmen zu wollen. Hinter den niedrigen Türen, die sie auf den drei winzigen Treppenabsätzen passierte, war kein Laut zu hören. Als sie das oberste Stockwerk erreicht hatte, sprang eine der Türen auf, und grelles Licht flutete über die staubigen Bohlen des Flurs. Mrs. Pollifax blieb abrupt stehen und blinzelte erschreckt in das Licht.

»Übernimm sie«, sagte Feng zu dem Mann, der im Türrahmen auftauchte, und schlurfte die Treppe wieder hinab.

Mrs. Pollifax musterte den Mann in der Tür mit zusammengekniffenen Augen und kam zu dem Schluß, daß sie dieses Gesicht nicht mochte; besonders seine groben und auffallend nordischen Züge mißfielen ihr. Er war blond, glattrasiert und braungebrannt, und sie fand, in seinen Jeans, T-Shirt und Sandalen sah er wie ein x-beliebiger HongkongTourist aus; nur die Pistole, die er auf sie richtete, paßte nicht in dieses Bild; ebensowenig wie der Blick aus seinen eiskalten blauen Augen. Sie wurde durch die Tür gezogen. Der Raum, in dem sie plötzlich stand, war voller Leute und vollgestopft mit irgendwelchen Dingen, überflutet vom grellen Neonlicht der Deckenbeleuchtung. Das Bild, das sich ihr bot, war schlichtweg chaotisch: Die Fenster waren mit vergilbtem Zeitungspapier abgedeckt, überall lagen Schlafsäcke ausgebreitet, und dazwischen sah sie zahllose aufeinandergetürmte Kabelrollen. An einer Wand waren unzählige Flaschen und Krüge, eine Blechtonne, ein Holzfaß und mehrere Holzkisten aufgereiht. In der hinteren Ecke des Raums entdeckte Mrs. Pollifax zwei Männer, die mit einem Schweißbrenner arbeiteten. Mit ihren Schutzbrillen sahen sie wie Marsmenschen aus. Ein blauer Funkenregen stob bis an die Decke. Drei andere Männer rührten in einer Blechtonne herum, offenbar damit beschäftigt, irgendein Gebräu zu mischen. Daneben saßen zwei Männer über einen Apparat gebeugt, der aussah wie ein Funkgerät, und diskutierten heftig, wobei sie immer wieder auf die Skalen und Armaturen deuteten. In dem Raum herrschte eine erstickende Hitze, und Mrs. Pollifax' Nase kräuselte sich beleidigt, denn der Gestank von heißem Fett, verfaulendem Abfall, Schweiß und ein alles durchdringender, heißender Geruch, von dem sie hoffte, daß es nicht Benzin sei, war schier unerträglich.

Die Pistole trieb sie auf die Wand links von ihr zu. Sie stolperte um die Ecke eines Stapels aus Holzkisten und blieb wie angewurzelt stehen. Mit einer Mischung aus Bestürzung und Erleichterung stellte sie fest, daß sie nicht allein sein würde. Zwei andere Gäste waren bereits vor ihr in dieses gastliche Haus gebeten worden. Sie hockten mit gefesselten Handgelenken auf dem Boden:

Es waren Detwiler und ein junger Mann, dessen Gesicht sie aus der Zeitung kannte - Alec Wi.

Detwiler hob den Kopf und brachte ein mattes Lächeln zustande, halb entschuldigend, halb resigniert.

»Guten Morgen - oder vielmehr guten Tag«, sagte sie höflich, und während ihre Handgelenke ebenfalls mit Stricken zusammengebunden wurden - so fest, daß ihr Tränen in die Augen stiegen -, ließ sie keinen Blick von Alec Wi.

Als der Blonde sein Werk vollendet hatte, wirbelte er sie herum und stieß sie zu Boden. Sie fiel zwischen Alec Wi und Detwiler, und der Stoß war so heftig gewesen, daß sie mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Mit einem verächtlichen Grinsen wandte sich der Mann ab und ging wieder in den anderen Teil des Raums zurück. Über den Rand der Kisten hinweg verfolgte ihn Mrs. Pollifax mit ihrem Blick, bis er nicht mehr zu sehen war.

Detwiler wandte den Kopf und sah sie an. Sie schwieg; ihr Kopf schmerzte, und sie hatte den unwiderstehlichen Wunsch, nach ihrer Beule zu tasten - doch das war natürlich nicht möglich. Jetzt erst fiel ihr auf, daß Tränen in Detwilers Augen standen. »Es tut mir leid«, sagte sie leise.

»Ich wüßte nicht weshalb«, erwiderte er und versuchte die Fassung zu wahren. »Schließlich war ich es, der... Sie angerufen hat. Es war...« Seine Stimme versagte. »Haben Sie den Buddha mitgebracht? Hat Feng ihn?«

»Einen Buddha - ja.«

Er stöhnte. »Jetzt haben sie den Buddha, jetzt bringen sie mich um. Sie konnten ja nicht wissen... wie denn auch... aber der Buddha hat ein Geheimfach... mit Plänen und Aufzeichnungen drin. Alles, was ich wußte, und... und... «

Der Schmerz in Mrs. Pollifax' Hinterkopf ließ allmählich nach, und mit scheinbar gleichgültiger Stimme fragte sie: »Weshalb haben Sie mir eigentlich diesen Buddha mit Geheimfach und Aufzeichnungen darin gegeben, Mr. Detwiler?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte... ich wollte... Im richtigen Augenblick wollte ich Sie anrufen... verstehen Sie? In Ihrem Hotel anrufen und Ihnen alles sagen. Ihnen sagen, was ich in dem Geheimfach versteckt habe. Ich dachte...« Er schniefte heftig, und erneut traten ihm Tränen in die Augen. Vergeblich versuchte er, sich mit den gefesselten Händen über das Gesicht zu fahren.

Mit müder Stimme sagte Alec Wi neben ihm: »Er hat Entzugserscheinungen. Gestern nacht haben sie ihn bis obenhin abgefüllt, um ihn ruhigzustellen, denn er hat wie am Spieß geschrien... Das ist jetzt allerdings scholl ziemlich lange her. Er braucht einen Schuß.«

Sie hatte also recht gehabt mit ihrer Vermutung, Detwiler sei drogensüchtig. In dem Zustand, in dem er sich befand, war er absolut keine Hilfe. Und plötzlich begriff sie, daß sie ihm dadurch, daß sie die Notizen aus dem Buddha genommen hatte, einen großen Dienst erwiesen und sich selbst in eine äußerst prekäre Situation gebracht hatte. Sobald man entdeckte, daß die Aufzeichnungen aus dem Buddha verschwunden waren, würde sich die Aufmerksamkeit der Terroristen nicht mehr auf Detwi-ler, sondern ganz auf sie konzentrieren. Sie seufzte tief und bitter angesichts dieses wohl gröbsten und lebensgefährlichsten Fehlers, den sie je gemacht hatte. Wie konnte sie nur so naiv sein anzunehmen, man würde sie zu Feng-Imports bringen! Weshalb hatten Robin, Marko und sie selbst nicht einfach Detwilers Notizen kopiert und sie dann wieder in das Geheimfach gesteckt? Jeder wäre dann davon ausgegangen, sie sei eine unbeteiligte Touristin, doch mit ihrem scheinbar so cleveren Manöver, den Buddha zu vertauschen, hatte sie das Augenmerk Fengs auf sich gelenkt; nun würde man sie unter Druck setzen und versuchen, alles aus ihr herauszupressen. Ihre Aussichten waren alles andere als erfreuliche; vor allem dann, wenn die Terroristen sie verhören würden...

»Als wir uns kennenlernten, wußten Sie, wer ich bin?« wandte sie sich an Detwiler. »Und weshalb ich gekommen war?«

Detwiler nickte bekümmert.

»Weiß es auch Mr. Feng?«

»Wahrscheinlich«, schluchzte er, »...ich weiß es nicht... ich weiß nicht, was ich ihm alles gesagt habe. Er begann... ich glaube, er sagte, er begann damit, mir kleine Mengen Drogen ins Essen zu mischen... ins Mittagessen, im Laden... vor einigen Monaten bereits. Und dann... nach einer Weile wußte ich überhaupt nicht mehr, was los war. Es war alles so verschwommen. Und dann sagte er mir... er sagte mir...« Er schlug seine gefesselten Hände vor das Gesicht und weinte. »Er sagte mir, daß ich ein Teil seines Plans sei... das war an dem Tag, als er die Nadeln hervorholte und mir erklärte, daß ich nicht mehr nach Hause könne.« Er zog die Beine fest an den Körper und vergrub das Gesicht zwischen den Knien. Er versuchte sein Schluchzen und Zittern zu unterdrücken, doch seine Schultern zuckten heftig unter dem Weinkrampf, der ihn schüttelte.

Während Mrs. Pollifax das verzweifelte Häufchen Mensch betrachtete, versuchte sie sich jenen sanften und souveränen Mr. Detwiler in Erinnerung zu rufen, den sie am Montag, vor nicht mehr als vier Tagen, kennengelernt hatte; jenen Detwiler, der es gewagt hatte, gegen Feng aufzubegehren und ihr den Buddha gegeben hatte. Wochenlang muß er zwischen der Persönlichkeit, die er einmal gewesen war und seinem jetzigen desolaten Zustand hin und her getaumelt sein - überlegte Mrs. Pollifax -, stets von Feng und dessen Drogen abhängig. Heute trug er keinen schwarzen Seidenanzug und keine goldenen Manschettenknöpfe. Die Sandalen, in denen seine Füße steckten, waren zerissen, und die Hose und das Baumwollhemd, das er trug, zerknittert. Sie mußte an sein vornehmes Haus denken, an die eleganten Dinnerpartys, von denen Mrs. O'Malley gesprochen hatte, und sie fühlte, wie Mitleid in ihr aufstieg; Mitleid für dieses Wrack neben ihr, das von Detwiler übriggeblieben war.

Alec Wi warf ihr einen düsteren, anklagenden Blick zu. »Wer sind Sie eigentlich?« fragte er. »Ich habe Sie gehört und ich habe ihn gehört...«

Erleichtert wandte Mrs. Pollifax ihren Blick von Detwiler. »Ich heiße Emily Pollifax, und ich nehme an, Sie sind Alec Wi?«

Verblüfft richtete er sich etwas auf. »Aber woher...?«

»Ich habe Ihr Bild in der Zeitung gesehen. Mr. Hitchens macht sich große Sorgen um Sie.«

»Hitchens? Sie kennen ihn? Hat man ihn auch entführt? Hat er meinen Vater gefunden?« Seine Stimme wurde lebhafter, doch in seinen Augen lag noch Mißtrauen.

Die linke Seite seines Gesichts war blutunterlaufen, seine Lippen geschwollen, und man hatte ihm einen Schneidezahn ausgeschlagen. Doch er war jung und ein zäher Bursche und erinnerte Mrs. Pollifax an einen CollegeStudenten der Boxstaffel, der eine Runde zu lang im Ring gestanden hatte. Sie fühlte den Zorn in Alec Wi; die Art von Zorn, zu der Detwiler nicht mehr fähig war. Dieser Zorn war es, der ihn aurrecht hielt, und Mrs. Pollifax war sich sicher, daß er die Wahrheit vertragen konnte. »Ihr Vater ist tot, Alec«, sagte sie behutsam.

Er zuckte zusammen und sog stockend die Luft ein. Dann schluckte er mühsam und nickte. »Ich fürchte, ich bin nicht einmal überrascht - jetzt nicht mehr. Ich glaube, ich habe schon vor drei Tagen die Hoffnung verloren. Eigentlich überrascht mich am meisten, daß ich selbst noch am Leben bin - nach diesen drei Tagen hier.,« Seine Stimme zitterte. »Haben sie... mußte er viel leiden?«

»Nein, sicher nicht«, sagte sie leise. »Auf seinem Gesicht lag... Überraschung. Die Kugel traf ihn in die Schläfe.« Sie beugte sich vor und flüsterte: »Es sollte wie Selbstmord aussehen. Ein Abschiedsbrief in seiner Handschrift und die Tatwaffe befanden sich in seiner Hand, aber ich habe beides verschwinden lassen.«

»Sie haben ihn gesehen?« fragte er verwirrt.

Sie nickte. »Zusammen mit Mr. Hitchens - am nächsten Morgen in der Hütte, in der Sie entführt wurden. Mr. Hitchens und ich kamen mit derselben Maschine nach Hongkong«, erklärte sie, »und wir frühstückten zusammen. Als er in jener Nacht von der Hütte zurückkam, war er übel zugerichtet und suchte in meinem Zimmer Hilfe.«

»Dann sind Sie... ein Freund«, sagte er überrascht. »Nicht daß dies etwas ändern würde, aber... «

»Ich weiß.«

»Er war auch ein Freund«, sagte Alec bitter und nickte mit dem Kopf in Richtung Detwilers. »Er und mein Vater waren sogar sehr gute Freunde, aber Mr. Feng und diese Leute haben ihn fertiggemacht. Sie dürfen ihm nicht vertrauen, hören Sie!«

»Niemand sollte ihm vertrauen - in der Verfassung, in der er sich befindet«, ergänzte sie. »Trotzdem hat er versucht zu retten, was zu retten war... Und ich bin sicher, das war nicht ungefährlich.«

»Sicherlich nicht«, nickte er. »Sie kennen ihn?«

»Wir... eh... haben gemeinsame Freunde«, erwiderte sie. »Dies ist auch der Grund, weshalb ich ihn am Montag besucht habe - gleich nachdem ich in Hongkong angekommen war. Aber Sie...« Mit der Andeutung eines Lächelns wechselte sie das Thema. »Diese Kerle sind mit Ihnen ziemlich übel umgesprungen?«

»Kann man wohl sagen«, bestätigte er mit einem mißglückten Lächeln. »Aber mir geht es schon wieder ganz gut. Sie haben vor, ganz Hongkong zu übernehmen - wußten Sie das? Zuerst mußte ich lachen, als ich das hörte, doch das Lachen ist mir inzwischen vergangen.«

Er nickte mit dem Kopf in Richtung der Aktivitäten jenseits der Holzkisten. »Wissen Sie, was die da drüben zusammenrühren?«

Sie schüttelte verneinend den Kopf.

»Pottasche und Diesel! Beides ist überall problemlos aufzutreiben. Sie machen Bomben daraus. Gestern nacht haben sie an verschiedenen Orten der Stadt Bomben deponiert, in die - soviel ich hören konnte - Langzeitzünder eingebaut sind, die zu verschiedenen Zeiten, irgendwann in den nächsten zwei, drei Tagen hochgehen. Alles was sie in die Stadt schaffen, lassen sie durch diese zwei Fenster dort drüben hinab - zu einem Lieferwagen, den sie während des Tages irgendwo verstecken. Die Fenster sind so gebaut, daß sie mit einem Griff herauszunehmen sind. Ich habe allmählich den Verdacht, daß es Terroristen sind - oder?« Mrs. Pollifax nickte. »Die >Befreiungsfront 8o<.

»Was?!« rief er entsetzt. »Das war also die Spur, auf die mein Vater gestoßen ist! 0 Gott! Kein Wunder, daß...« . Er stockte. »Nun verstehe ich!«

»Und Mr. Feng ist der Kopf des Ganzen - wie es scheint.« '

Alec blinzelte verblüfft. »Dieser alte Mann, der hier herumgeistert? Ein- oder zweimal habe ich zwar gesehen, wie er Geld verteilt hat, aber was kann die >Befreiungsfront 8o< schon von ihm wollen?«

Auf diese Frage wußte auch Mrs. Pollifax keine Antwort, und sie wandte sich wieder Detwiler zu. Mit ihren gefesselten Händen berührte sie ihn am Arm und rüttelte ihn leicht. »Mr. Detwiler«, flüsterte sie. »Hören Sie mich?«

Er hob den Kopf. Sein Blick war glasig, und seine Lippen zitterten.

»Was hat Mr. Feng vor?« fragte sie. Einen Augenblick lang schien es, als würde Detwiler gar nicht wahrnehmen, daß jemand zu ihm sprach, doch dann straffte er sich - offenbar unter Schmerzen - und bewegte mühsam die Lippen: »Er hat jahrelang geschuftet, hat er mir erzählt... Sklaverei... Er ist ein F... ein Fanatiker... ein verbohrter Fanatiker. Ein selbstmörderischer Kamikaze!« Detwiler hob seine gefesselten Hände über den Kopf und deutete eine große Explosion an. »Bumm...!« machte er. »Weil die Regierung in Peking nicht die... die rechtmäßige ist. Sondern Taiwan. Nationalisten!«

Verblüfft starrte sie ihn an. Dann sagte sie: »Wie dumm und grausam.« Sie wandte sich wieder Alec zu. »Haben Sie eine Ahnung, wann genau diese Leute die Macht in Hongkong übernehmen wollen?«

»Morgen früh!« antwortete Alec. »Morgen früh um Sieben -das habe ich genau gehört.«

Wie von einem Schlag getroffen, zuckte Mrs. Pollifax zusammen. »Morgen?!« flüsterte sie fassungslos. »Morgen früh... Sie meinen, am Freitag?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht einmal, was heute für ein Tag ist.«

»Donnerstag«, sagte sie mechanisch.

»Okay, dann am Freitag - oder was immer morgen für ein Tag ist.«

»Aber dann haben wir ja überhaupt keine Zeit mehr!« rief sie.

»Wofür?« fragte Alec überrascht.

»Sie aufzuhalten! Und hier rauszukommen.«

Ungläubig starrte er sie an. »Sie aufhalten? Sind Sie verrückt? Was können wir schon tun! Sehen Sie uns doch an. Und sehen Sie die da drüben an!«

Mrs. Pollifax beherzigte seinen Rat. Sie reckte den Hals und spähte vorsichtig um die Ecke der aufgestapelten Kisten. Sie konnte eine Reihe von Radioröhren - oder etwas in dieser Art -erkennen, die knackende atmosphärische Geräusche von sich gaben. Von den Röhren hing ein Gewirr von Drähten herab und verschwand in einem schwarzen Gehäuse, das Robins Funkgerät im Hotel nicht unähnlich war. Einer der beiden Männer, die mit dem Schweißgerät hantierten, erhob sich und kam zu dem schwarzen Gehäuse herüber, das keine drei Meter von Mrs. Pollifax entfernt stand. Er nahm seine Schutzbrille ab, und Mrs. Pollifax erkannte ihn: es war Eric der Rote. Sie beobachtete, wie er einen Schalter umlegte, sich Kopfhörer überstreifte und angespannt lauschte. Unvermittelt drehte er sich um und starrte Mrs. Pollifax an.

Seine kalten, ausdruckslosen Augen versprachen nichts Gutes.

Mit einer ruckartigen Bewegung nahm er die Kopfhörer ab, knipste den Schalter aus und steuerte direkt auf Mrs. Pollifax zu. Dicht vor ihr blieb er stehen und starrte auf sie herab. Dann schlug er ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. »Es war der falsche Buddha«, zischte er in gebrochenem Englisch, »Nicht der, den Sie von Detwiler bekommen haben.«

Mrs. Pollifax fühlte, wie Detwiler sich neben ihr bewegte. Offenbar waren die Worte Eric des Roten bis in sein umnebeltes Gehirn gedrungen. Er hob den Kopf und starrte sie voller Erstaunen an. In seinen Augen glomm Hoffnung auf.

Eric der Rote beugte sich herab, packte Mrs. Pollifax an der Bluse und zerrte sie hoch. »Wir werden ja sehen, was Sie wissen und was Sie mit den Aufzeichnungen, die im Buddha versteckt waren, gemacht haben.«

>Jetzt ist es soweit<, dachte Mrs. Pollifax düster und betete inständig darum, nicht schwach zu werden, während Eric der Rote sie aus dem Zimmer zerrte.

15

Die Zeiger der Uhr standen auf neunzehn Uhr dreißig, als Marko und Robin ihre Schilderung der bisherigen Ereignisse und der wenigen Anhaltspunkte und Informationen, die sie in Händen hatten, beendeten. Sie hatten sich in die Suite zurückgezogen und um das stumme Funkgerät gruppiert. Inmitten der ausgebreiteten Karten und leeren Kaffeetassen war Cyrus in ein düsteres Schweigen versunken. Robin war keineswegs entgangen, daß er im Laufe ihres Berichts kreidebleich geworden war, doch er hatte sich schnell wieder gefangen und zur Ruhe gezwungen. Umsichtig und souverän - als säße er noch immer auf seiner Richterbank - hatte er die geschilderten Fakten abgewogen und geprüft. Robin stellte fest, daß Marko nicht minder beeindruckt war als er selbst: Cyrus bewältigte die Situation glänzend. Erbehielt klaren Kopf und würde sich unter Umständen noch als ein Fels in der Brandung erweisen - und zwar als ein mächtiger Fels, dachte Robin, denn er hatte sehr schnell erkannt, daß an Cyrus' mächtiger Gestalt von einsneunzig kein Gramm Fett war und daß sich hinter seiner scheinbaren Trägheit mit seiner sparsamen Art zu sprechen ein schneller und scharfer Verstand verbarg.

»Wie Sie sehen, ist unsere Situation alles andere als rosig«, gab Robin zerknirscht zu. »Die Machtübernahme in der Kolonie scheint seit längerer Zeit bis ins kleinste Detail geplant und hat inzwischen eine Eigendynamik entwickelt, die uns in eine ähnliche Situation versetzt wie die Maus, die gelähmt vor Entsetzen und unfähig zu handeln die Schlange anstarrt. Wir können nur feststellen, daß Mrs. Pollifax seit elf Uhr heute morgen spurlos verschwunden ist, und wir nehmen an, daß Mr. Feng in dem Taxi saß, mit dem sie wegruhr. Feng betrat den Laden wieder gegen zwölf Uhr fünfzehn. Und hier haben Sie ein weiteres Beispiel dafür, wie sehr wir im dunkeln tappen: trotz Überwachung seines Ladens rund um die Uhr haben wir nicht gemerkt, daß er durch unser Netz geschlüpft ist.«

»Nachdem Feng in den Laden zurückgekehrt war«, warf Marko dazwischen, »hat der Funkortungswagen ein einminütiges Hochleistungssignal aus der Gegend der Dragon Alley aufgefangen; doch leider war die Sendezeit zu kurz, um den genauen Standort zu ermitteln. Wir nehmen an, daß der Funkspruch aus Feng-Imports kam. Von Detwiler fehlt nach wie vor jede Spur...«

Cyrus nickte. »Und Sie konnten nicht feststellen, auf welchem Weg dieser Mr. Feng den Laden unbemerkt verlassen hat? Hat er Verdacht geschöpft, er könnte beobachtet werden?«

Robin zögerte. »Wir sind ziemlich sicher, daß er unsere Leute nicht bemerkt hat«, erwiderte er schließlich.

»Zumindest nehmen wir an, er würde sich ganz anders verhalten, wenn er etwas in dieser Richtung vermuten würde. Als er uns das erste Mal entwischte, war es tiefste Nacht, und da es in der Dragon Alley praktisch keine Straßenbeleuchtung gibt, ist es durchaus möglich, daß er einfach Glück hatte. Heute morgen allerdings ist er uns ganz offensichtlich erneut durch die Maschen geschlüpft - und zwar bei hellichtem Tag. Damit können wir unsere beruhigende Theorie von Glück und Zufall in den Kamin schreiben. Marko vermutet, er benutzt ein oder zwei Nachbargebäude, um unbemerkt zu verschwinden -möglicherweise ein für die Terroristen konzipierter Fluchtweg, dessen er sich hin und wieder selbst bedient. Marko hat bereits eine Anfrage durchgegeben, wem das Gebäude neben Feng-Imports gehört. Sie müssen wissen, wir arbeiten inzwischen mit einer sorgsam ausgewählten Gruppe des Hongkonger Sonderdezernats zusammen, aber... «

»Wie viele Leute?« warf Cyrus dazwischen.

»Sieben«, sagte Marko. »Sieben plus Duncan, der Einsatzleiter.«

»...aber in Hongkong einen Hausbesitzer ausfindig zu machen, ist ein schwieriges Unterfangen«, fuhr Robin fort. »Und was unsere zugegebenermaßen recht kleine Gruppe von sieben Männern anbelangt, so dürfen Sie nicht vergessen, daß wir überaus vorsichtig sein müssen, wem wir trauen können. Wir dürfen da absolut kein Risiko eingehen! Aus demselben Grund haben wir auch die Presse nicht informiert. Vielleicht wäre das sogar eine Chance, Hongkong zu retten - und wer wollte das nicht -, aber wir können es uns einfach nicht leisten, die Mitglieder der >Befreiungsfront 8o< entkommen zu lassen. Sie würden sofort untertauchen und sicherlich Mittel und Wege finden, aus Südostasien zu verschwinden; nur um ein halbes Jahr später in einer anderen Ecke der Welt wieder aufzutauchen und das gleiche Spiel von vorne zu beginnen. Als Mitglieder einer internationalen Polizeibehörde... « Er schüttelte den Kopf. »Ich bin sicher, Sie verstehen, welche Verantwortung dies bedeutet. Wir wollen mehr, als Mrs. Pollifax aus den Händen der Terroristen befreien; wir wollen dan Anschlag verhindern und jedes einzelne verdammte Mitglied der Gruppe kriegen und für immer aus dem Verkehr ziehen.«

»Glauben Sie, die haben eine Ahnung, daß Interpol die Hände im Spiel hat?« fragte Cyrus.

»Wenn Mrs. Pollifax mit ihrer Einschätzung der Situation richtig lag, dann waren sie völlig ahnungslos«, antwortete Marko, »bis Detwiler die Geschichte mit dem Buddha und dem Geheimfach ausplauderte. Daraufhin haben sie vermutlich angenommen, daß Mrs. Pollifax in... eh... in irgendeiner Weise mit Detwilers nachrichtendienstlicher Tätigkeit zu tun hat; obwohl Feng dies bereits von Anfang an vermutet haben könnte.«

»Was nun also?« fragte Cyrus mit ruhiger Stimme.

Mit einer Geste der Hilflosigkeit breitete Marko die Arme aus. »Wir wissen es nicht.«

»Mit anderen Worten: Emily soll zusehen, wie sie sich allein aus diesem Schlamassel befreit?«

Mit einemmal erschien es Robin sehr viel angenehmer, Cyrus' Blick zu vermeiden und zu Boden zu sehen.

»Na schön. Ich denke, ich weiß nun, wie die Dinge stehen«, sagte Cyrus mit emotionsloser Stimme. »Jetzt würde ich gerne hören, was Sie vorhaben... Sie haben doch einen Plan?« fragte er vorsichtig und ließ forschend die Augenbrauen nach oben wandern. »Lassen Sie Feng- Imports noch immer beobachten?«

Marko nickte. »Sicherlich. Jetzt, nachdem Feng - wie sagt man so schön - die Katze aus dem Sack gelassen hat, auf jeden Fall. Außerdem hat der Gouverneur auf unsere offizielle Bitte hin eine Durchsuchung aller Häuser durch die Polizei angeordnet. Gesucht werden zwei vermißte englische Touristen, die zuletzt«, er deutete mit dem Finger auf den Stadtplan, »hier in dieser Gegend gesehen wurden. Das ist das Viertel, in dem Mr. Hitchens ungewöhnliche Aktivitäten - oder beunruhigende Schwingungen, wie er es nannte - ausgemacht hat.«

»Dieser lächerliche Vorwand mit den beiden vermißten Touristen ist ein weiterer Beweis unserer Ohnmacht«, warf Robin ein. »Doch wir dürfen einfach nicht das Risiko eingehen, daß Detwiler oder Feng zugetragen wird, daß Interpol in den Fall verwickelt ist.«

»Sobald sie Emilys Buddha untersuchen, werden sie ohnehin wissen, daß etwas im Busch ist - nicht?« Stellte Cyrus klar.

Das betretene Schweigen, das auf diese Bemerkung folgte, bewies, daß Robin und Marko Cyrus' Ansicht voll und ganz teilten.

»Sie müssen verstehen, es handelt sich um meine Frau, die entführt wurde«, fuhr Cyrus fort, »und ich habe den Eindruck, es ist nicht genug, was Sie zu ihrer Befreiung unternehmen. Sie schwanken wie Schilf im Wind, und Ihre Unentschlossenheit läßt Sie auf der Stelle treten. Was jetzt not tut, ist Tatkraft und Entschlossenheit - verdammt noch mal!«

»Sie haben ja nur allzu recht«, gab Robin zu.

Cyrus nickte. »Warum, zum Henker, fordern Sie dann nicht die Armee an - wenn Sie der Polizei nicht vertrauen können?! Schließlich haben die Briten doch Soldaten in Hongkong stationiert, oder? Weshalb fordern Sie nicht einen Zug oder einen Trupp an - wie auch immer die Briten eine Abteilung nennen? Versuchen Sie's! Immerhin ist es sehr unwahrscheinlich, daß auch sie bestochen wurden.«

Robin stieß einen Pfiff aus. »Wenn das machbar wäre!« rief er hoffnungsvoll, um dann sogleich einzuschränken: »Doch das wird Mrs. Pollifax wohl kaum helfen...«

»Was ihr helfen wird, können Sie im Augenblick schwerlich beurteilen - nicht wahr?« schnitt ihm Cyrus das Wort ab. »Im übrigen ist Emily nicht so leicht unterzukriegen. Sie wird alles tun, was in ihren Kräften steht... Dies ist nicht das erste Mal, daß sie in einer bedrohlichen Klemme steckt. Wenn wir ein bißchen Glück haben, finden wir sie. Mit Hilfe dieses Funkortungswagens vielleicht oder wenn die Polizisten zufällig an die richtige Tür klopfen. Doch darauf verlassen können wir uns natürlich nicht. Unsere größte Chance wäre, wenn sie sie als Geisel behielten.«

>Wenn das ihre größte Chance ist<, dachte Robin bedrückt, >dann sieht es wirklich nicht gut für Mrs. Pollifax aus -schließlich ist es ja denkbar, daß sie mehrere Tage oder für eine ganze Woche die Gefangene der Terroristen sein wird - und wer weiß schon, was ihr in dieser Zeit alles zustoßen kann. ..<

»Ich für meine Person habe den Eindruck, daß ich mich entschuldigen muß«, sagte Marko. »In den letzten Stunden saßen Robin und ich wie gelähmt hier mm und haben nicht mehr zustande gebracht, als uns für diese Schlappe gegenseitig zu bedauern... Anscheinend mußte jemand wie Sie kommen, der die Dinge wieder ins richtige Verhältnis rückt und die Initiative ergreift. Robin, du solltest sofort Seine Exzellenz anrufen und ihn um die Soldaten bitten.«

»Okay«, nickte Robin und sprang auf. Mit langen Schritten eilte er ins Nebenzimmer.

Als er eine halbe Stunde später zurückkehrte, war Marko soeben dabei, Cyrus Mr. Hitchens und Ruthie vorzustellen. »Wir konnten es einfach nicht mehr aushalten, alleine und untätig herumzusitzen«, erklärte Mr. Hitchens Cyrus ihren Besuch. »Nicht, solange Ihre Frau in Gefahr ist, und wir dachten, wir sehen mal vorbei, um zu erfahren, ob es etwas Neues gibt.«

Marko wandte sich an Robin. »Genau das ist es, was ich von Robin hören möchte. Hast du den Gouverneur erreicht?«

Robin verzog das Gesicht. »Das schon, aber es hat Ewigkeiten gedauert, ihn an den Apparat zu bekommen. Er ist auf einer Dinnerparty, und die Verbindung war furchtbar. Aber ich denke, er hat trotz des Geschnatters im Hintergrund begriffen, worum es geht. Er ruft später zurück... Wenn ich ihn richtig verstanden habe, ist es nicht so einfach, die Armee zu mobilisieren. Selbst wenn es nur eine Handvoll Männer sind, die wir brauchen, sind einige Formalitäten zu erledigen.«

»Und was, zum Teufel, bedeutet das?« knurrte Cyrus gereizt.

»Er ist von der Queen ernannt«, bemerkte Ruthie. »Heißt das, daß er ihr Einverständnis einholen muß?«

»Wohl kaum«, erwiderte Marko. »Ich schätze, es existiert ein Senat oder Verwaltungsrat oder ähnliches. Und um diese Uhrzeit dürfte es gar nicht so einfach sein, jedes einzelne der Ratsmitglieder zu kontaktieren.« Nach einer Weile allseitigen bedrückten Schweigens räusperte er sich vernehmlich, um mit einem gewollt charmanten Lächeln vorzuschlagen: »Setzen wir uns doch alle. Ich werde den Zimmerkellner anrufen und eine Kleinigkeit zum Essen bestellen... Dann reden wir uns wenigstens nicht um den Rest unserer Nerven, während wie hier warten... «

»Wer traurig ist, weiß Geselligkeit zu schätzen«, sagte Ruthie und schenkte Cyrus ein mitfühlendes Lächeln. »Wie fühlen Sie sich, Cyrus?«

»Es geht so«, antwortete Cyrus, doch Robin bemerkte sehr wohl, wie müde und angegriffen er aussah.

Während die anderen auf der Couch und in den Sesseln Platz nahmen, hielt Marko Mr. Hitchens am Arm zurück und fragte ihn leise: »Glauben Sie, es würde Cyrus helfen, wenn Sie mit einer Kostprobe Ihrer Fähigkeiten bestätigten, daß es Mrs. Pollifax den Umständen entsprechend gutgeht?«

»Großer Gott, nein!« fuhr Mr. Hitchens auf. »Ich habe es bereits versucht... Sie befinden sich in einem winzigen dunklen Raum, und dieser Mann...« Seine Stimme versagte ihm den Dienst. »Ich mußte abbrechen! Das ist sehr unprofessionell von mir, aber wissen Sie, ich kenne Mrs. Pollifax und das macht alles so schwer. Um sie steht es gar nicht gut!«

»Ich verstehe«, sagte Marko leise und ließ Mr. Hitchens' Arm los. Er ging zum Telefon, um den Zimmerservice anzurufen.

Um 22 Uhr kam ein Anruf für Robin. Sheng Ti war am Apparat, der vergebens versucht hatte, Mrs. Pollifax in Zimmer 614 zu erreichen. »Haben Sie das Geld für das Taxi noch?« fragte Robin. »Gut. Setzen Sie sich in ein Taxi, und kommen Sie sofort zum Haupteingang des Hilton. Ich erwarte Sie dort.«

Als Sheng Ti gemeinsam mit Robin die Suite betrat, stand ihm der Schock, den ihm die Nachricht von Mrs. Pollifax' Verschwinden offenbar versetzt hatte, ins Gesicht geschrieben. Er nahm nicht einmal den für ihn sicherlich ungewohnten Luxus der Suite wahr, und schüttelte ungeduldig den Kopf, als ihm Marko etwas zu essen anbot. Cyrus wurde ihm als Mrs. Pollifax' Mann vorgestellt, und er eilte auf ihn zu und schüttelte ihm überschwenglich die Hand, dann setzte er sich neben ihn auf die Couch und wich keine Sekunde mehr von seiner Seite -ganz so, als sei er entschlossen, die für ihn einzig greifbare Verbindung zu Mrs. Pollifax nie wieder aufzugeben.

Sheng Ti hatte nicht allzuviel zu berichten. Das meiste davon war ihnen ohnehin bekannt - abgesehen von der Tatsache, daß Detwiler den ganzen Tag über nicht im Laden gewesen war und daß Feng mehrere Stunden in seinem Zimmer über dem Laden zugebracht hatte. Wie sich herausstellte, stimmte die Zeit von Fengs angeblichem Aufenthalt in seinem Zimmer genau mit den Stunden überein, die er nachweislich außerhalb von Feng-Imports verbracht hatte. Er und Lotus, erzählte Sheng Ti weiter, hatten den ganzen Tag eine Menge längst fälliger Exportaufträge zusammengestellt und verpackt, und Lotus sei bereits erschöpft zu Bett gegangen.

»Ich bleibe«, verkündete er entschlossen. »Sie müssen Mrs. Pollifax finden - bitte. Sie ist großer Freund, aus Turfan - aus China.«

Cyrus beugte sich zu ihm und tätschelte beruhigend seine Hand. »Sie bleiben hier«, sagte er.

Um 23 Uhr kam ein Anruf von Duncan, der mitteilte, daß seine Männer Donald Chang, dem Sheng Ti das Päckchen mit Diamanten geliefert hatte, ohne großes Aufsehen zu erregen am Flughafen verhaftet hatten. Wie es schien, hatte Chang keine Ahnung von irgendwelchen terroristischen Aktivitäten; seine Aufgabe war es lediglich gewesen, bestimmte, besonders gekennzeichnete Kisten und Pakete am Zoll vorbeizuschmug-geln. Er hatte angenommen, es handele sich um Diamanten, für die Feng keine Steuern zahlen wollte. Keinerlei Neuigkeiten gab es - laut Duncan - von seiten der Streifen der Stadtpolizei, die nach den beiden angeblich verschwundenen Touristen suchten.

Gegen Mitternacht meldete sich Krugg aus der Dragon Alley und berichtete, bei Feng-Imports sei alles ruhig - kein Licht im ganzen Haus. Eine Viertelstunde später kam vom Funkortungswagen die Meldung >keine Sendeaktivitäten<.

Um ein Uhr ähnelte die Suite in gewisser Weise einem Feldlager. Cyrus, der es nicht mehr auf der Couch ausgehalten hatte, marschierte unruhig im Zimmer auf und ab. Sheng Ti lag zusammengerollt auf der Couch und schlief fest. Mr. Hitchens blätterte desinteressiert in einer Illustrierten, während Ruthie neben ihm mit hängendem Kopf vor sich hin döste. Die Tische waren inzwischen von zerknüllten Servietten und Pappbechern übersät.

Doch keiner dachte daran, zu gehen; keiner brachte es fertig, die angespannte und bange Atmosphäre der Suite mit seinem eigenen ruhigen Zimmer zu tauschen, denn jeder wußte, wenn etwas geschehen würde, dann würde es hier geschehen. Jeder einzelne der Anwesenden hoffte auf die erlösende Nachricht, und jedesmal, wenn das Telefon klingelte oder das Funkgerät quakte, beobachtete Robin, wie in den Gesichtern von neuem Hoffnung aufkeimte. Doch allmählich beschwichtigte der Schlaf ihre Besorgnis und Unruhe, und Robin wünschte, dies träfe auch auf ihn selbst und Cyrus zu, doch das Gefühl der Hilflosigkeit nagte an ihm, machte ihn wütend - und hellwach. Irgendwo im Westen der Stadt verbrachte auch Mrs. Pollifax eine sicherlich schlaflose Nacht; in der Gewalt von Terroristen, die offenbar nicht im Traum daran dachten, längere Gespräche per Funk zu führen oder sich von einer Polizeistreife aufstöbern zu lassen...

Als das Telefon um halb eins erneut losschrillte, war Robin der schnellste und riß den Hörer ans Ohr. »Ah -ja... Eure Exzellenz«, sagte er. Cyrus unterbrach abrupt seine rastlose Wanderung, Marko erhob sich vom Funkgerät und Mr. Hitchens ließ die Illustrierte sinken.

»Nein, noch noch nichts Neues von unserer Agentin«, sagte Robin. »Ihr Mann ist inzwischen bei uns... ja, ihr Ehemann. Die Idee mit der Armee stammt von ihm. Was ist mit der Armee, Sir? Mit der gebotenen Geheimhaltung.. .« Er unterbrach sich und lauschte in den Hörer. Seine Miene hellte sich zusehends auf. »Das ist eine sehr erfreuliche Nachricht, Sir. Aber wann...?« Er verstummte und seine Miene verdüsterte sich wieder. Als er wieder sprach, klang seine Stimme spröde: »So spät?! .Früher ist es gar nicht möglich? Ja, ich weiß, daß es mitten in der Nacht ist, aber unter den besonderen Umständen. .. Nein, die einzige Information, die wir in dieser Richtung haben, ist, daß es innerhalb der nächsten Woche geschehen soll. Doch es handelt sich um eine äußerst unzuverlässige Information, Sir; im Grunde genommen reine Spekulation... Eine Haushälterin - richtig. Ich habe Ihnen bereits davon berichtet... Ja. Sicherlich hilft uns das weiter, aber ich muß zugeben, es beunruhigt mich, daß... Ja, Sir. Ich verstehe. Sehr gut. Ich danke Ihnen.«

Er legte auf und knurrte gereizt: »Morgen - morgen nachmittag.« Mit einem Blick auf die Uhr fügte er hinzu: »Noch dreizehneinhalb Stunden... Er garantierte uns, daß morgen nachmittag ab fünfzehn Uhr Militärstreifen in Zivil den Peak und den Gipfelturm, das Elektrizitätswerk, den Rundfunksender und das Regierungsgebäude überwachen werden.«

»Und weshalb erst so spät?« wollte Cyrus wissen.

»Er hat mich darauf aufmerksam gemacht«, erwiderte Robin enttäuscht, »daß Terroristen ihre Anschläge ausnahmslos in den Stunden kurz vor den Abendnachrichten ausführen, um die größtmögliche Publizität zu erreichen. Er ist der Meinung, wir sollten dies bedenken und uns in Geduld üben - während er die erforderlichen amtlichen Schritte in die Wege leitet. Außerdem hat er darauf hingewiesen, daß es beinahe zwei Uhr morgens sei, daß der Verwaltungsrat verständigt und die Soldaten für ihre Aufgabe instruiert werden müssen.«

»Das dauert einfach zu lange!« brummte Cyrus bedrückt.

»Ja«, pflichtete ihm Marko bei, »aber es ist besser als nichts. Bitte - setzt euch doch wieder. Noch ist nichts verloren...«

Um ein Uhr dreißig rief Duncan erneut an und gab eine Liste der Hausbesitzer in der Dragon Alley durch. Marko notierte die Namen in fliegender Hast auf ein Blatt Papier. Mit einer Hand hielt er die Sprechmuschel des Telefons zu und drehte sich mit dem Papier in der Hand zu Cyrus und Robin um. »Eine Liste der Grundstücke und Häuser, die auf den Namen Charles Feng eingetragen sind; alle sorgfältig mit verschiedenen Firmennamen getarnt und... Mon dieu! Hört euch das mal an: Unter dem Namen Crystal Curio Enterprises gehört dem Mann die halbe Dragon Alley - Haus Nummer 31 1/2, Nummer 30 und Nummer 28! Das ist die Erklärung, wie er unbemerkt Feng-Imports verlassen konnte. Unter dem Firmennamen Emperor Gems Limited besitzt er ein Lagerhaus im Hafen, unter dem Firmennamen Green Jade Associates Limited gehört ihm eine Schneiderei. Möglicherweise ist das noch nicht einmal alles; das Sonderdezernat recherchiert weiter...« Er wandte sich wieder dem Telefon und Duncan zu: »Versuchen Sie es zuerst mit dem Lagerhaus und der Schneiderei... Aber mit äußerster Vorsicht.«

Im Verlauf der nächsten Stunde standen Telefon und Funkgerät still, und das Warten wurde für die, die nicht schlafen oder zumindest dösen konnten, zur Qual.

Um vier Uhr sprang Cyrus unvermittelt auf. »Jetzt habe ich endgültig die Nase voll, verdammt noch mal! « knurrte er und ging zu Sheng Ti hinüber, der noch immer auf der Couch schlief. Er rüttelte ihn am Arm. »Wachen Sie auf, Sheng Ti!« rief er, und während Sheng Ti sich aufsetzte und seine Augen rieb, schnarrte Cyrus in Befehlston: »Marko - Sie rufen Ihre Leute von der Dragon Alley zurück. Robin, Sie wecken Ihren dritten Mann, der nebenan schläft... Ich kann mir nicht helfen, doch dies hier erinnert mich zu sehr an eine Totenwache, und es ist die sinnloseste Vergeudung von Talenten, die ich je erlebt habe!«

»Sie übernehmen das Kommando, mein Freund?« lächelte Marko schwach.

»Ja, zum Henker!« knurrte Cyrus entschlossen. »Möglich, daß Sie deshalb Ihren Job verlieren, aber für mich steht das Leben meiner Frau auf dem Spiel! Ich schlage folgendes vor... « Er unterbrach sich und berichtigte: »Nein - wir werden folgendes tun.«

Ruhig doch bestimmt setzte er ihnen auseinander, welchen Plan er entworfen hatte, und was sie unternehmen würden, während der Gouverneur die nötigen Schritte in die Wege leitete und mühsam das Getriebe der Bürokratie in Bewegung brachte.

FREITAG 

16

Um sie herum war tiefste Dunkelheit gewesen; dann ein winziger, trüber Lichtschein. An der Decke ein Haken, an den man sie mit ihren gefesselten Händen aufgehängt hatte - eine Handbreit über dem Boden. Und der Mann, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, hatte Fragen gestellt - zahllose Fragen... Dann hatte der Schrecken begonnen... Oder hatte sie das alles etwa geträumt? Sie bewegte sich, stöhnte laut auf und öffnete mühsam die Augen. Etwas hatte sich verändert: der dunkle Raum war nicht mehr da, und sie lag auf dem Fußboden eines hell erleuchteten Zimmers - zu hell, und sie mußte die Augen wieder schließen. Jetzt erst fühlte sie den brennenden Schmerz, der wie Feuer über ihren Rücken zuckte und etwas Warmes, Klebriges, das irgenwie damit zusammenhing. >Wie komme ich hierher?< dachte sie. >Und wo bin ich überhaupt?< Zu viele Fragen, auf die sie keine Antwort wußte, und sie sank zurück in einen Zustand des Vergessens - halb Bewußlosigkeit, halb Erschöpfungsschlaf. ..

Als sie erneut zu sich kam und die Augen öffnete, begriff sie mit plötzlichem Entsetzen, wo sie war und weshalb: Sie war in Hongkong und man hatte sie verhört und geschlagen. Der Mann ohne Gesicht hatte sie geschunden und gequält, um sie zum Reden zu bringen. Sie fragte sich, weshalb er sie nicht getötet hatte, doch das würde vermutlich als nächstes geschehen... Überwältigt von Schmerz und Schwäche begann sie leise vor sich hin zu weinen und dachte an Cyrus, der zu ihr unterwegs war, und den sie nun nie mehr sehen wurde - nie mehr einen Morgen mit ihm, nie mehr einen Frühling, einen Sommer...

Doch sehr bald wurde sie wütend auf sich selbst; darauf, daß sie sich ihrem Schmerz und Selbstmitleid hingab, und sie dachte ärgerlich: >Ich erwarte ja nicht unbedingt saubere Laken, aber in einem schmutzigen Speicher in Hongkong zu enden? Das darf nicht seinl<

Das war schon viel besser. Wut ist immer gut.

»Gott sei Dank, Sie leben noch!« sagte ein Stimme von irgendwoher.

Sie öffnete die Augen und sah direkt vor ihrem Gesicht einen Fuß, der in einer zerschlissenen Sandale steckte, dann das dazugehörende Bein. Obwohl sie nicht die Kraft aufbrachte, den Kopf zu heben und den Besitzer der Stimme zu identifizieren, empfand sie grenzenlose Erleichterung: Es stimmte, sie lebte noch! Und nun fiel ihr auch Eric der Rote wieder ein und die Worte Alec Wis, der gesagt hatte, der Anschlag der Terroristen sei für den Morgen geplant. Ob es wohl schon morgen war? Sie mußte endlich aufhören, sich selbst zu bemitleiden. Sie mußte herausfinden, wieviel Uhr es war. Vorausgesetzt, sie konnte sich überhaupt bewegen. Sie mußte versuchen, von diesen verfluchten Brettern hochzukommen ...

Kurz entschlossen hob sie den Kopf, ignorierte das Dröhnen in ihren Ohren und ließ sich auch nicht entmutigen, als sich die Welt um sie herum immer schneller zu drehen begann. Das Karussell, auf dem sie saß, wurde langsamer, und sie erkannte den Stapel von Holzkisten wieder, hinter dem sie am Nachmittag gelegen hatte. Und sie erkannte Detwiler, der sie entsetzt anstarrte. »Detwiler«, murmelte sie, und der Klang ihrer eigenen Stimme erfüllte sie mit unsäglicher Freude und gab ihr neue Kraft. Nun drangen auch Geräusche in ihr Bewußtsein: Stimmen, Schritte, die hin und her eilten, ein Lachen und... Was hatte dieses Quietschen im Hintergrund zu bedeuten - so vertraut, als würde jemand Wäsche auf die Leine hängen -und doch so anders...? Natürlich - ja! Es war der Flaschenzug, an dem irgendwelche Gegenstände zur Straße hinabgelassen wurden. Sie erinnerte sich, daß Alec gesagt hatte, die Fenster seien mit einem Griff herauszunehmen, um den Lieferwagen zu beladen... Die Terroristen waren also bereits damit beschäftigt, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Folglich mußte der Morgen schon angebrochen sein. Wenn dem so war, dann war es an der Zeit, daß auch sie aktiv wurde. >Steh auf, Emily!< dachte sie. > Wenn du hier nicht hochkommst, bringen Sie dich um! Sie lassen dich ganz sicher nicht hier zurück! <

Der Gedanke versetzte sie in Panik, und sie überlegte, woher er gekommen war und und ob er der Wahrheit entsprach.

>Natürlich ist das wahr!< antwortete eine leise Stimme in ihrem Kopf. > Wenn du nicht gehen kannst, dich nicht einmal alleine auf den Beinen halten kannst, was nützt du ihnen dann schon? Lebend lassen sie dich hier bestimmt nicht zurück! <

Sie überlegte, wie sie auf den Gedanken gekommen war, die Terroristen würden sie mitnehmen... Hatte diese innere Stimme etwa gemeint, sie könnte als Geisel benutzt werden?

>Und weshalb nicht?< antwortete die Stimme noch einmal und fügte leicht ironisch hinzu: Vielleicht ist dir aufgefallen, daß dein Rücken zwar nur mehr Blut und rohesFleisch ist, aber dein Gesicht, deine Hände, Beine und Füße haben sie verschont. Sieht man von deinem Rücken ab, kann man dich durchaus der Öffentlichkeit präsentieren. <

Diese Überlegung erfüllte sie mit neuem Leben und spornte sie an. Sie mußte es einfach schaffen! Sie mußte sich aufsetzen und vielleicht... - wer konnte das schon wissen -... vielleicht konnte sie sogar auf die Beine kommen und unter Umständen sogar gehen? Wunder geschehen immer wieder, dachte sie, und so wie die Dinge lagen, würde sie sich im Augenblick auch mit einem kleinen Wunder zufriedengeben. Mehrmals atmete sie tief durch, wurde von einem Hustenkrampf geschüttelt und sog erneut die Luft tief in ihre Lungen. Mit einer wahrhaft herkulischen Anstrengung, die ihr Tränen in die Augen trieb, rollte sie sich zur Wand und stemmte sich in eine sitzende Position. Sie unterdrückte einen Schmerzensschrei, als ihr zerschundener Rücken die Wand berührte. Sie biß gerade die Zähne zusammen und hob ihre gefesselten Handgelenke, um einen Blick auf die Uhr zu werfen - sie stand auf sechs Uhr drei -, als eine Welle der Übelkeit in ihr aufstieg und ihren Magen zu einem Knoten zusammenpreßte, so daß sie sich heftig übergeben mußte.

Als es vorüber war, war sie in Schweiß gebadet; sie fühlte sich schwach und hundeelend, doch sie bezwang den schier unwiderstehlichen Wunsch, sich flach auf dem Fußboden auszustrecken, und wartete ab.

Minuten vergingen - oder waren es Stunden? -, ehe sie es wagte, die Augen wieder zu öffnen. Nun fühlte sie sich besser. Zwar war sie sich völlig im klaren darüber, daß ihre Situation weiterhin alles andere als vielversprechend war, doch allmählich begann ihr Gehirn wieder normal zu funktionieren. Sie erinnerte sich an eine Konzentrationstechnik, die sie im Karateunterricht bei Lorvale Brown gelernt hatte: die Mobilisierung von Energie und ihre Konzentration in jedem beliebigen Teil des Körpers - gewöhnlich in der Hand, die dann mit der Schnelligkeit und Wucht eines Geschosses zuschlagen konnte. Sie entsann sich der ungeheuer verblüffenden Wirkung, die diese Übung hatte, und sie begann sich auf ihren zerschlagenen Körper zu konzentrieren, um ihre letzten ungenützten Kraftreserven zu mobilisieren. Einbildung oder nicht - es funktionierte.

»Nun ist alles vorbei«, seufzte Detwiler neben ihr bitter. »Wir sind verloren. Sie brechen jeden Augenblick auf... Und um sieben Uhr ist der Victoria Peak bereits fest in ihrer Hand.«

Sie wandte den Kopf in seine Richtung und sah ihm direkt in die Augen. Sein Gesicht war eingefallen und grau, und Mrs. Pollifax fragte sich, ob Mrs. O'Malley ihn in diesem Zustand wiedererkennen würde.

»Hat man Sie zum Reden gebracht?« fragte er.

Ihre Gedanken tasteten sich zurück zu der Hölle, durch die sie gegangen war, und obwohl sich alles in ihr gegen die Erinnerung sträubte, zwang sie sich dazu. »Nein«, sagte sie. »Ich habe ihnen erzählt, der Buddha, den Sie mir geschenkt haben, hat mir so sehr gefallen, daß ich ihn nicht mehr hergebe wollte. Ich habe ihnen gesagt, ich hätte in einem Souvenirladen einen sehr ähnlichen Buddha entdeckt und dachte. Sie würden den Unterschied nicht bemerken.«

»Das haben Sie getan? Wie haben Sie das nur geschafft?« fragte er verblüfft. »Wir haben...«, er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, »...wir haben Ihr Schreien gehört... dreimal... und dann Ihr Stöhnen.«

Hatte sie etwa geschrien? Wenn er es sagte, mußte es wohl so gewesen sein...

»Es war - furchtbar!« stöhnte er, und Tränen stiegen ihm in die Augen und rannen über seine Wangen.

Dies war nicht die Hilfe, die sie erwartet hatte, und Mrs. Pollifax drehte den Kopf zur anderen Seite. Ihr Blick suchte Alec Wi. Er lag zusammengerollt auf dem Boden und schlief offenbar so tief, daß er von den Geräuschen und hektischen Aktivitäten um ihn herum nichts bemerkte. Sie reckte den Hals und konnte das weitoffene Fenster sehen, um das sich eine Traube von Männern geschart hatte, die auf die Straße hinabsahen, Anweisungen riefen und aufgeregt herumgestikulierten. Ihr Blick wanderte weiter und blieb an dem Funkgerät hängen, das nur wenige Schritte von ihr entfernt auf einer Holzkiste stand.

Gedankenverloren betrachtete sie das schwarze Gehäuse auf der Holzkiste - keine drei Meter von den Männern entfernt, die sich am Flaschenzug zu schaffen machten.

Funkgerät... Was hatte Marko noch gesagt? »In einem Funkortungswagen sitzen außer dem Fahrer noch zwei Männer, die die Peilungsantennen bedienen... Wenn das Signal länger als zweieinhalb Minuten gesendet wird, ist es durch Drehen der Antennen möglich, den genauen Standort...« So ähnlich hatte sich Marko doch ausgedrückt?!

... Ist es möglich, den genauen Standort zu bestimmen!

Wenn ich doch nur die paar Meter bis zum Funkgerät kriechen könnte !< dachte sie verzweifelt. >Ich könnte den Schalter auf Sendung umlegen! Sie würden mich wohl kaum bemerken... Nicht, wenn ich dicht am Boden bliebe - hinter die Holzkisten geduckt... Der einzige riskante Augenblick wäre der, wenn ich mich aufrichten und vorbeugen muß, um den Schaller umzulegen. <

Falls sie überhaupt kriechen konnte... Und falls sie es schaffen würde, sich aufzurichten...

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war sechs Uhr fünfzehn, und es war durchaus möglich, daß sie nicht ein zweites Mal so viel Kraft mobilisieren konnte. Würde sie es überhaupt schaffen können?

Zweieinhalb Minuten waren eine lange Zeit, stellte sie fest, wahrend sie beobachtete, wie der Sekundenzeiger ihrer Armbanduhr langsam um das Zifferblatt kroch. Doch nur wenn das Funkgerät zweieinhalb Minuten auf Sendung sein würde, hatten sie eine Chance, angepeilt und lokalisiert zu werden.

»Was haben Sie?« fragte Detwiler, der ihr angestrengtes Stirnrunzeln beobachtet hatte.

»Das Funkgerät...«, flüsterte sie.

»Was ist damit?«

»Ich habe nur überlegt, wenn ich da hinüber kriechen und auf Empfang schalten könnte... Für zweieinhalb Minuten nur...«

Er sah sie verständnislos an. »Was würde das schon helfen? Niemand würde uns hören.«

»Man würde uns hören«, entgegnete sie bestimmt. »Es hat sich eine Menge getan, Mr. Detwiler. Es sind Leute da draußen, die nur darauf warten, daß der Funk betätigt wird.«

Seine Augen wurden groß. »Sie meinen...? Leute, die Bescheid wissen?«

»Ja. Aber sie wissen nicht wann«, erwiderte sie. »Ihre Aufzeichnungen, die Sie im Buddha versteckt haben, sind in guten Händen. Ich muß unbedingt an das Funkgerät kommen! Falls die Männer am Fenster sich umdrehen, könnten Sie dann vielleicht irgendein Ablenkungsmanöver inszenieren? Das Gerät müßte..., es muß zweieinhalb Minuten auf Sendung sein.«

Er schwieg, und sein Gesicht war plötzlich ernst und nachdenklich. Das erste Mal, seit sie ihn hier wiedergetroffen hatte, erinnerte er sie an jenen Detwiler, den sie an ihrem ersten Tag in Hongkong kennengelernt hatte.

»Nein«, sagte er.

Sie war verwirrt, fühlte sich betrogen und hintergangen und sie spürte, wie kalter Zorn in ihr aufstieg. »Sie wollen mir nicht

helfen?«

»Nein«, sagte er leise. »Nein - Sie verstehen mich falsch. Ich werde zum Funkgerät kriechen - nicht Sie.« Er sah ihr ins Gesicht. »Sie dürfen mir das nicht abschlagen!« Ein seltsames Lächeln trat auf sein Gesicht. »Ich war bisher keine große Hilfe und... Wissen Sie, was es bedeutet, süchtig zu sein? Geben Sie mir die Chance, mich wieder wie ein menschliches Wesen zu fühlen.«

»Aber...«

Er berührte ihre gefesselten Hände mit den seinen. »Es ist in Ordnung so. Glauben Sie mir - es ist in Ordnung! Es ist doch der Schalter auf der linken Seite?«

Sie nickte. »Legen Sie ihn nur um, und kommen Sie dann sofort zurück.« Irgend etwas an ihm irritierte sie. »Kommen Sie zurück, und wir zählen gemeinsam die Sekunden.«

Er lächelte matt, nickte und wälzte sich auf die Knie. Dann ließ er sich auf die Ellenbogen sinken und begann, ungeschickt die Holzkisten entlang zu kriechen. Die Männer am Fenster waren noch immer mit den Geschehnissen auf der Straße beschäftigt, und als sich einer von ihnen umwandte, um eine weitere Kiste unter den Flaschenzug zu schieben, hob er nicht einmal den Blick.

Detwiler war unter dem Funkgerät angelangt, und Mrs. Polifax fühlte, daß sie vor Anspannung den Atem anhielt. Nun kam der gefährlichste Augenblick - wenn er sich aufrichten und sich über die Holzkiste beugen mußte, um den Schalter zu erreichen. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Detwiler kniete geduckt vor der Kiste und sah zu ihr herüber. Sie begriff, daß er auf ein Zeichen wartete. Die Männer standen noch immer mit dem Rücken zu ihnen. Sie nickte heftig. Atemlos beobachtete sie, wie Detwiler sich mit einem Bein hochstemmte, das zweite Bein... Er stand aufrecht, beugte sich vor und legte den Schalter um.

»Großartig!« flüsterte Mrs. Pollifax. »Einfach großartig!« Sie erlaubte sich einen tiefen Seufzer der Erleichterung als sie sah, wie Detwiler auf den Boden zurückglitt. Sie hob ihre gefesselten Hände und begann, die Sekunden zu zählen. Es war genau sechs Uhr neunundzwanzig und null Sekunden. >0 Gott!< dachte sie, als sie registrierte, wie langsam der Sekundenzeiger vorwärts kroch. >Das sind Ewigkeiten! Wie oft muß er die Distanz von einer zur anderen Ziffer überwinden, bis zweieinhalb Minuten. vorbei sind?... Dreißigmal? <

>Vier Sekunden, ßüsterte sie. >Fünf... acht... neun Sekunden... <

Detwiler kam nicht zurück. Ihr Blick huschte kurz zu ihm hinüber, doch sie sah nur seinen Rücken, der sich unter dem Funkgerät zusammenkauerte. Ihr Blick flog zurück auf das Zifferblatt ihrer Uhr und verfolgte gebannt den Sekundenzeiger. >Fünfzig Sekunden... sechzig... eine Minute! <

Eine Minute und drei Sekunden. Eine Minute und fünf Sekunden... acht... neun...

>Was für ein erstaunliches Phänomen die Zeit doch ist<, dachte sie. >Wie quälend lange eine Sekunde sein kann! War den Menschen das bewußt?<

Eine Minute und fünfzig Sekunden... achtundfünfzig. Zwei Minuten! Das Funkgerät sendete seit zwei Minuten!

Zwei Minuten und eine Sekunde... Allmählich begann Mrs. Pollifax zu hoffen... Vor ihrem geistigen Auge sah sie die zwei Männer im Funkortungswagen sitzen, wie sie mit fliegender Hast die Antennen drehten und Koordinaten bestimmten. Wenn nur nicht...

Zwei Minuten und zwanzig Sekunden... »Bitte, o bitte«, flüsterte sie. Zwei Minuten und fünfundzwanzig Sekunden... sechundzwanzig... neunundzwanzig... dreißig Sekunden. Zweieinhalb Minuten!

Beinahe hätte sie vor Freude laut losgejubelt und Detwiler zugerufen, daß er es geschafft hatte. Das Funkgerät war noch immer auf Sendung; inzwischen bereits zwei Minuten und achtundfünfzig Sekunden... neunundfünfzig... Drei Minuten!

Ein heiserer Aufschrei schreckte sie auf. »Oh, nein!« stöhnte sie laut, als ihr Blick auf den Mann fiel, der über Detwiler gebeugt stand und ihn ungläubig anstarrte. Sie sah, wie Verstehen im Gesicht des Mannes dämmerte, sah, wie er den Schalter zurückwarf. Nun eilten auch die übrigen Männer hinzu und scharten sich um Detwiler. Waffen wurden gezogen. Mrs. Pollifax schloß die Augen. Ein Schuß fiel. Als sie die Augen wieder öffnete, lag Detwiler leblos hingestreckt auf den staubigen Dielen vor der Holzkiste. Seine Augen starrten sie blicklos an.

17

Gewaltsam löste Mrs. Pollifax ihren Blick von der leblosen Gestalt Detwilers. >Er muß es geahnt haben<, dachte sie bestürzt. >Das war es, was er mir zu sagen versucht hat: Er sah keine Perspektive mehr für sich, und er wußte, daß es kein Zurück mehr für ihn gab ... <

»Arme Mrs. O'Malley«, flüsterte sie.

Nun erst begriff sie allmählich, daß Detwiler ganz bewußt sein Leben riskiert hatte. Vermutlich hatte er ihr durch seine mutige Tat das Leben gerettet, denn schließlich hatte sie vorgehabt, selbst zum Funkgerät zu kriechen. Ungeschickt wischte sie sich mit den gefesselten Händen die Tränen aus den Augen. Neben ihr war Alec Wi aus dem Schlaf hochgefahren. »Was ist?« rief er verstört um sich blickend. »Was ist passiert?«

Sie nickte mit dem Kopf in Richtung Detwilers. »Sie haben ihn erschossen.«

Seine Augen weiteten sich entsetzt, als er Detwiler liegen sah. »Ist er tot?« flüsterte er und starrte sie betroffen an. »Ich dachte, man würde zuerst Sie erschießen. Ich habe nicht erwartet, daß... «

»Ich weiß«, sagte sie.

»Sind jetzt wir an der Reihe?« fragte Alec mit unsicherer Stimme. »Hört denn dieser Alptraum nie auf?!« Mrs. Pollifax hatte beobachtet, wie die Männer das Fenster wieder in den Rahmen gesetzt hatten, und als sie sah, daß Eric der Rote sich zu ihr und Alec umwandte und auf sie zusteuerte, sammelte sie ihre letzten Kraftreserven. »Aufstehen - los! « sagte e rbarsch. »Wir brechen auf.«

>Der Augenblick der Wahrheit! < dachte sie. >Nun muß sich zeigen, wozu der Orangensaft und die Vitamintabletten all die Jahre zum Frühstück gut waren... Los, Emily, du magst dich vielleicht nach einem weichen Bett, einer kräftigen Mahlzeit und liebevoller Pflege sehnen, aber das beste, was du jetzt tun kannst, ist, dich von diesem einladenden, wundervollen Fußboden zu erheben und irgendwie die Treppe hinabzusteigen<

Alec half ihr auf die Beine zukommen - eine äußerst galante Geste, wie sie fand: ihr war entgangen, daß Alec entsetzt ihren blutverkrusteten Rücken anstarrte, als sie sich nach vorn auf die Hände gestützt hatte. Sie taumelte leicht und stellte fest, wenn sie sich auf Detwilers letzte, heldenhafte Tat konzentrierte, war der Schmerz, den die Berührung ihrer Bluse mit ihrem Rücken verursachte, leichter zu ertragen. Stufe um Stufe folgte sie Eric dem Roten die Stiege hinab, und jedesmal, wenn sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte, stützte sie Alec von hinten.

Die ehemals blaue Tür stand offen, und sie konnte den Wagen erkennen, der in dem schmalen Gäßchen stand, in das sie Feng - wie es ihr schien vor Ewigkeiten - gebracht hatte. Es war kein Lieferwagen, wie sie ihn zusehen erwartet hatte, sondern ein verblüffend harmlos anmutender Volkswagenbus, der aussah, als hätte man unter einer Zeltplane auf dem Dachständer das Reisegepäck verstaut. Und - >welch ein gerissener Einfall!<, stellte sie fest - an dessen Rückfront man zwei Fahrräder angebracht hatte. Lediglich vor den beiden hintersten Seitenfenstern waren Vorhänge gespannt. Die übrigen Fenster waren für jedermann leicht einsehbar, ganz so, als wollte man betonen, daß es in diesem Bus nichts zu verbergen gebe. Mrs. Pollifax stellte jedoch beim Einsteigen fest, daß sich unterhalb der hinteren Fenster ein Stapel Maschinenpistolen, einige Tragnetze mit Konservendosen und etliche Holzkisten mit der Aufschrift AMMO befanden.

Wo blieb nur der Funkortungswagen?!

Sie gemahnte sich zur Ruhe und hielt sich an dem Gedanken fest, daß sie immerhin noch am Leben war. Offenbar wurde sie als Geisel benutzt und würde deshalb wohl auch noch ein bißchen länger leben - falls niemand nervös wurde, falls alles gutging... Sie setzte sich direkt an eines der Fenster ohne Vorhänge und versuchte, mit dem Rücken nicht gegen die Lehne zu stoßen. Wo nur der Funkortungswagen blieb?

Neben ihr sagte Alec: »Die Sonne... Ich habe nicht mehr geglaubt, daß ich sie wiedersehen würde.«

»Ja«, sagte sie geistesabwesend und erinnerte sich, daß er bereits drei Tage in der Hand der Terroristen war. Vorsichtig warf sie einen Blick auf ihre Uhr. Es war sechs Uhr fünfundfünfzig. Etwa dreiundzwanzig Minuten waren vergangen, seit Detwiler erschossen und das Signal unterbrochen wurde. >Die drei Minuten müssen doch gereicht haben? < dachte sie. Und plötzlich versetzte sie ein Gedanke in Panik: Was, wenn die Männer im Funkortungswagen schon zuvor aufgegeben hatten? Oder wenn sie um halb sieben für zehn Minuten eine Frühstückspause gemacht hatten?! Detwiler hatte sein Leben für diese zweieinhalb Minuten gegeben! Sie überlegte fieberhaft, ob sie die Sekunden richtig gezählt hatte, ob Marko mit den zweieinhalb Minuten recht gehabt hatte, ob inzwischen technisch verbesserte Funkgeräte entwickelt worden waren, die man nicht mehr orten konnte...

Die Zweifel nagten an ihren letzten, wegen des anstrengenden Abstiegs über die enge Treppe ohnehin über Gebühr beanspruchten Kräften. Mit Schrecken fühlte sie, wie das letzte Quentchen Energie in ihr schwand.

Jetzt stiegen die anderen in den Bus. Mrs. Pollifax zählte insgesamt sechs Männer. Carl setzte sich ans Steuer, und die übrigen verschwanden im hinteren Teil des Busses. Der Wagen setzte rückwärts aus dem Gäßchen und fuhr dann langsam eine der gewundenen Altstadtstraßen hinab. Mrs. Pollifax' Blick wanderte suchend über das Gewimmel der Menschen, die unterwegs zur Arbeit waren, über die zahllosen Handkarren, die bis obenhin mit Lasten beladen waren, und blieb für ein paar Sekunden an zwei alten Männern hängen, die unter einer Markise, wie zwei Inseln im Strom, mitten auf dem Gehsteig saßen und Mah Jong spielten. Der Freitagmorgen hatte unwiderruflich begonnen.

Doch nirgendwo auf der Straße konnte sie einen Lieferwagen entdecken oder ein Fahrzeug, das einem Funkortungswagen ähnlich sah.

Irgend etwas war schiefgelaufen - gründlich schiefgelaufen. Sie fühlte, wie die Last dieser Erkenntnis ihre Widerstandskraft zerbrach. Ihre letzten Kraftreserven hatte sie bereits mobilisiert, und nun - als sich ihre letzte Hoffnung in Nichts auflöste, forderte ihr Körper den Preis für das, was er erduldet hatte. Sie fühlte den fast unwiderstehlichen Wunsch, ihren Tränen freien Lauf zu lassen.

Über die Schulter hörte sie das Quaken eines Funkgeräts und die Stimme Eric des Roten. Einige Satzfetzen verstand sie: »Kaffeehaus, dritter Stock« und »bringt sie nach oben« und dann: »noch ungefähr acht Minuten«. Sie begriff, daß eine Vorhut der Terroristen den Gipfelturm bereits eingenommen und Geiseln in ihre Gewalt gebracht haben mußte. Nun bestand keinerlei Hoffnung mehr... Es war zu spät - zu spät... Sie schloß die Augen, um die gleichgültige Welt dort draußen nicht mehr wahrnehmen zu müssen und dachte an zu Hause, an Neuengland, an Mr. Lupalak, und daran, ob er das Rundfenster nun leicht asymmetrisch angebracht hatte oder nicht.

Als sie die Augen wieder öffnete, waren sie bereits auf der Peak Road, die zum Gipfel hinauf führte; ein unauffälliger, ziemlich abgetakelter VW-Bus, aus dessen Fenster eine Frau sah, mit Fahrrädern am Heck und Gepäck auf dem Dachständer. Doch das Reisegepäck bestand unter anderem aus einem Raketenwerfer... Ihr Blick wanderte über den Hafen, der bereits weit unter ihnen lag, und sie fragte sich, was Robin und Marko wohl im Augenblick machten. >Schlafen, natürlich<, dachte sie, denn schließlich war es erst kurz vor sieben. Wie ein Schock überfiel sie das Gefühl, gänzlich verlassen und einsam zu sein.

Über den Wipfeln der Bäume war bereits der Gipfelturm zu erkennen, und die runde Fassade des Restaurants im obersten Stock erinnerte sie mehr denn je an eine Raumkapsel. Das Funkgerät war verstummt, und Mrs. Pollifax konnte fast körperlich fühlen, wie die Spannung in dem engen Bus wuchs. Auch sie fühlte, wie Unruhe sie ergriff, denn sobald sie den Gipfel erreicht haben würden, würde sie wieder gehen müssen und sie hatte nicht vergessen, wie wenig diesen Leuten ein Menschenleben wert war.

»Ich kann das alles bald nicht mehr ertragen«, stöhnte Alec neben ihr leise. »Hört denn das nie auf?! Diese Ungewißheit -wie das alles enden wird?«

Wie eine Ertrinkende nach dem berüchtigten Strohhalm, griff sie nach der Möglichkeit, ihn zu trösten, ihm Mut zuzusprechen; nicht so sehr aus Überzeugung, vielmehr um sich selbst von ihrer eigenen Verzweiflung abzulenken. Sie beugte sich zu ihm und legte beruhigend die gefesselten Hände auf seinen Arm. »Sehen Sie...«, begann sie und stockte. »Sehen Sie«, setzte sie erneut an und versuchte, ihrer Stimme Festigkeit und Überzeugungskraft zu verleihen, »irgendwie ist doch alles ungewiß ... Und genau besehen, müssen wir damit jeden Tag aufs neue fertig werden... «

Ihre eigenen Worte schienen aus großer Entfernung an ihr Ohr zudringen; sie klangen hohl und dumpf, als säße sie in einer Höhle, tief unterm Berg, oder in einem feuchten, dunklen Verlies. Tief in ihrem Innern fühlte sie die drückende Last ihrer eigenen Niederlage und ein deprimierendes Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das sich - wie sie sehr wohl wußte - aus vielen Faktoren zusammensetzte: die Reaktion ihres geschundenen Körpers, der Schock des Erlebten, Hunger und eine abgrundtiefe Müdigkeit sowie das Entsetzen über Detwilers Tod. Das Schlimmste jedoch war die Tatsache, daß das Funksignal ungehört geblieben war. Es gab nichts mehr, das sie tun konnte. Und das Wissen darum beraubte sie ihrer Fähigkeit, klar zu denken.

>Irgend etwas hat in meinem Kopf ausgesetz<t, dachte sie vage und stellte zugleich fest, daß ihr dies gänzlich gleichgültig war. Sollten dies Symptome einer geistigen Verwirrung, des sich ankündigenden Wahnsinns sein, so versprachen sie zumindest den Trost, die grausame Wirklichkeit nicht bei vollem Bewußtsein erleben zu müssen. Carl lenkte den VW-Bus auf den Parkplatz vor dem Gipfelturm. Stotternd erstarb das Motorengeräusch. Wie Mrs. Pollifax feststellte, standen bereits mehrere Wagen auf dem Parkplatz, deren Insassen inzwischen vermutlich alle Geiseln der Terroristen waren. Weit und breit war niemand zu sehen; lediglich ein einsamer Gärtner, ein junger Chinese, war unweit des Turms damit beschäftigt, Rosenbüsche zu stutzen. Sie hörte, wie die Terroristen im Fond des Wagens die Waffen aufnahmen. »Raus jetzt«, zischte sie jemand an, und als sie den Blick hob, erkannte sie Carl, der dicht vor ihr stand und eine Pistole auf sie und Alec richtete. Um die Schulter hatte er eine Maschinenpistole geschlungen, und an seinem Gürtel baumelten einige Handgranaten.

Mühsam stemmte sie sich aus dem Sitz und taumelte, gefolgt von Alec, aus dem Bus. Der nächste Akt dieses Alptraums hatte begonnen, und Mrs. Pollifax strebte, verbissen einen Fuß vor den anderen setzend, auf den Eingang des Turms zu. Hinter ihr hörte sie die Stimmen der Männer, die aufgekratzt durcheinanderredeten. Eine abrupte Bewegung links von ihr ließ Mrs. Pollifax zusammenschrecken, und mechanisch hob sie den Blick. Es war jedoch nur der Gärtner, der, einen halbgefüllten Sack hinter sich herschleifend, auf einen anderen Rosenstock zustrebte. >Du Narr!< wollte sie ihm zurufen. >Siehst du nicht, daß sie ganz Hongkong zu ihrer Geisel machen wollen? !< Doch sie besann sich eines Besseren und schwieg. So war nun einmal die Welt: Es würde immer einen Gärtner geben, der blind und ungerührt seine Rosen schnitt, während die Welt auf den Abgrund zutrieb.

>Es sei denn... Merkwürdige dachte sie, >wie sehr der Gärtner Sheng Ti ähnlich sieht! <

>Nun sehe ich schon Gespenster<, stellte sie schicksalsergeben fest. >Sheng Ti ist ganz bestimmt kein Gärtner und sitzt jetzt sicherlich völlig verängstigt im Laden in der Dragon Al-ley...< Verstört durch die Streiche, die ihr ihr verwirrter Geist spielte, sah sie schnell zur Seite, ehe der Gärtner die Gestalt von Robin oder Cyrus annehmen konnte.

Sie betraten das Foyer des Gipfelturms, eine nüchterne, riesige Halle ganz aus Beton; kalt und deprimierend, wie alles an diesem Tag. >Die ihr hier eintretet, laßt alle Hoffnung fahren<, dachte Mrs. Pollifax düster und fühlte den Lauf einer Waffe in ihrem Rücken, der sie nach rechts dirigierte. Sie heftete ihren Blick auf die Reihe der Aufzüge und steuerte darauf zu. Ein Mann stand vor den Aufzügen und wartete offenbar darauf, nach oben zu fahren. Es überraschte sie nicht im geringsten, daß der Mann Cyrus täuschend ähnlich sah. Offenbar war es eines der ersten Symptome des Wahnsinns, die Welt mit bekannten Gesichtern zu bevölkern.

Der Mann, der wie Cyrus aussah, blickte ihnen interessiert entgegen, wobei sein Blick etwas länger bei Mrs. Pollifax zu verweilen schien, als bei den übrigen. »Guten Morgen«, grüßte er aufgeräumt. »Diese verdammten Fahrstühle werden von Tag zu Tag langsamer.«

»So?« knurrte Eric der Rote barsch.

>Er hat so sanfte Augen<, dachte sie verwirrt. >Ganz wie Cyrus... Und seine Stimme.. .< Die Ähnlichkeit mit Cyrus' Stimme war derart verblüffend, daß Tränen in ihre Augen stiegen. Aber Cyrus war in einer ganz anderen Welt... Er war noch nicht einmal in Hongkong... Mißtrauisch starrte sie dem Mann ins Gesicht und haßte ihn dafür, daß er sie so sehr an Cyrus erinnerte.

»Ah...«, machte der Mann, »jetzt scheint endlich einer zu kommen.« Er musterte die Gruppe, die sich zu ihm gesellte, und mit einem gutmütigen, verständnisvollen Nicken in Richtung der Waffen fragte er: »Wohl ein Manöver der Armee - wie es scheint?«

»Mmm...«, brummte Carl vage.

Ungeduldig richteten sich die Blicke aller auf den ankommenden Fahrstuhl, doch Mrs. Pollifax warf einen zweiten verstohlenen Blick auf den Mann, der wie Cyrus aussah. Er stand jetzt dichter bei ihr, und sie mußte ihren Blick gewaltsam von seinem Gesicht reißen, als der Fahrstuhl mit einem scharrenden Geräusch hinter der Tür zum Stehen kam.

Sie hatte angenommen, in ihrem Zustand könne sie nichts mehr erschüttern... Sie hatte angenommen, der Aufzug würde leer sein... Sie hatte angenommen...

Die Tür glitt zur Seite, und Mrs. Pollifax stieß einen schrillen Schrei aus, als sie sich plötzlich mit einer dichtgedrängten Schar von Männern konfrontiert sah - und einer Phalanx von schwarz-starrenden Gewehrmündungen. Männer der >Befreiungsfront 8o<, die ihre Maschinenpistolen auf sie gerichtet hatten! Das Massaker! Das Ende! Doch plötzlich - der Schleier ihrer Fieberfantasie schien auf wunderbare Weise zu zerreißen - erkannte sie die Gesichter Markos, Robins, Kruggs und Upshots unter den Männern im Aufzug, und sie begriff, daß sie nicht halluziniert hatte, daß der Gärtner draußen vor dem Turm tatsächlich Sheng Ti gewesen war, und der Mann, der neben ihr stand, war Cyrus! Cyrus wie er leibt und lebt!

»Runter, Emily!« rief Cyrus, während er sich gegen Mrs. Pollifax warf und sie und Alec zu Boden riß. Die Maschinenpistolen ratterten los und spien ihre tödlichen Feuergarben über Mrs. Pollifax hinweg.

EPILOG

»Ein paar Amateure mußten kommen und uns zeigen, wie der Hase läuft«, stellte Marko mit einem breiten Grinsen fest und schüttelte noch immer ungläubig den Kopf. »Der Gouverneur steht noch immer unter Schock und die Interpolzentrale übt sich in ungläubigem Staunen, denn für sie sind Amateure Relikte aus der Steinzeit.«

»Total aus der Mode gekommen«, stimmte Robin zu, und zu Mrs. Pollifax gewandt, gestand er: »Es war Cyrus, ganz allein Cyrus, der uns aus unserer Lethargie gerissen hat. Wenn er nicht gewesen wäre... «

Sie saßen um einen Tisch im Goldenen-Lotus-Saal, in dem alles begonnen hatte. Mrs. Pollifax' Gedanken kehrten zum vergangenen Montag zurück, zum gemeinsamen Frühstück mit Mr. Hitchens, der sie auf Lars Petterson, den drittreichsten Mann der Welt, aufmerksam gemacht hatte. Nun war es Freitag, und noch immer konnte sie kaum fassen, was in den fünf Tagen alles geschehen war. Am meisten jedoch erstaunte sie die Tatsache, daß sie hier inmitten ihrer Freunde saß und sich ihres Lebens freute.

Doch wenn sie ehrlich war, mußte sie zugeben, daß sie nur mit einem Teil ihres Bewußtseins anwesend war, denn noch immer schwankte sie zwischen dem Hier und Jetzt und jener düsteren, gewalttätigen Welt hin und her, der sie so knapp entronnen war. Trotzdem hatte sie darauf bestanden, bei der Verabschiedung Markos und Robins dabeizusein, die um Mitternacht nach Rom zurückflogen. Zwar war es für sie sehr anstrengend, längere Zeit auf einem Stuhl zu sitzen, doch die einzige Alternative - so hatte sie Cyrus gegenüber argumentiert war, flach auf dem Bauch zu liegen; dies jedoch war nicht nur ermüdend, sondern auch fürchterlich langweilig.

»Betrachtet man im nachhinein die näheren Umstände und die strategischen Voraussetzungen dieses versuchten Terroranschlags, dann sind wir wirklich nur äußerst knapp einem schrecklichen Blutbad entgangen«, stellte Marko fest. »Die Stellung auf dem Victoria Peak ist praktisch uneinnehmbar, und wenn die Regierung Hubschrauber, Polizei, Armee und Marine eingesetzt hätte...« Er schüttelte den Kopf. »Beim geringsten Anzeichen hätten die Terroristen ihre Raketen auf die Stadt abgefeuert und Hunderte oder gar Tausende von Unschuldigen getötet. Eine Handvoll Leute kann sich dort oben mehrere Tage halten und jedes beliebige Ziel in der Stadt unter Beschuß nehmen.«

>Genau das wäre geschehen<, dachte Mrs. Pollifax und nickte bekräftigend. Sie zweifelte nicht im geringsten daran, denn sie hatte - wenn auch nur kurz - die Bekanntschaft der >Befreiungsfront 8o< gemacht. Marko kannte die Psyche und die rücksichtslose Entschlossenheit dieser Männer, und er wußte, wovon er sprach...

Nachdem alles vorbei war, hatte man Mrs. Pollifax in einem Krankenhaus gründlich untersucht und geröngt. Sie hatte sich jedoch beharrlich geweigert, in dem Krankenhaus zu bleiben und war Cyrus nicht mehr von der Seite gewichen. Sie hatte es vorgezogen, sich den kundigen Händen Dr. Chiangs anzuvertrauen, der ihren Rücken mit Kräutersalben behandelt und ihr ein Beruhigungsmittel, Antibiotika und eine Tetanusspritze gegeben hatte. Cyrus hatte ihr eine Hühnerbrühe und Tee eingeflößt, und sie hatte den ganzen Nachmittag geschlafen. Zwar würde sie die Narben am Rücken ihr ganzes Leben lang behalten, meinte Dr. Chiang, doch ihre Beziehung zum CIA und ihre Rolle als Geisel hatte sie vor schlimmeren Qualen bewahrt - wie er ihr versicherte -, um ihr dann in aller Ausführlichkeit die kunstvolleren Foltermethoden der zivilisierten Welt zu schildern.

Mrs. Pollifax hatte ihm aufmerksam zugehört, um in Erfahrung zu bringen, aus welchem Grund sie Dankbarkeit empfinden müsse, sobald die brennenden Schmerzen in ihrem Rücken nachließen, und sie war schließlich zu der Erkenntnis gelangt, daß sie tatsächlich unwahrscheinliches Glück gehabt hatte.

Als sie am Nachmittag nach sechs Stunden Schlaf erwachte, waren die Schmerzen bereits erträglicher gewesen, und sie fühlte sich mittlerweile wieder soweit erholt, daß sie nun neugierig fragte: »Erzählt mir doch! Ich möchte alles hören.«

Wie ein Kind wartete sie darauf, eine wunderbare Geschichte mit glücklichem Ausgang zu hören, die ihr dabei helfen würde, wieder ganz in die Wirklichkeit zurückzufinden.

Robin lächelte ihr mitfühlend zu. »Na gut - schön... Zunächst mußt du dir jedoch das Bild vergegenwärtigen, wie wir alle ratlos und bis ins Mark frustriert die ganze Nacht in unserer Suite rumsaßen und entnervt auf ein Zeichen von dir warteten. Nur - es gab kein Zeichen von dir, und die Stunden, bis die Armee eingesetzt werden konnte, schienen endlos.

Es war Cyrus, der gegen vier Uhr plötzlich aufsprang und mitleidlos verkündete, daß wir uns alle wie verdammte Idioten benähmen, daß wir schließlich fünf ausgewachsene Männer seien und mit Witkowski, Krugg und Upshot sowie mit Dun-cans sieben Leuten des Sonderdezernats - falls dieser nichts gegen Freiwillige einzuwenden habe - eine recht schlagkräftige Truppe auf die Beine stellen könnten... «

»Wobei er sich gegen das Wort Freiwillige verwahrte«, warf Mr. Hitchens dazwischen.

»Na schön - Amateure«, gab Robin zu und konnte ein Grinsen nicht verbergen. »Amateure wie Cyrus, Mr. Hitchens, Sheng Ti und Ruthie...«

>Das klingt alles so wirklich - so real<, dachte Mrs. Pol-lifax, während sie aufmerksam zuhörte und keinen Blick von den Gesichtern ihrer Freunde ließ. Doch sie selbst fand noch immer nicht den Bezug zur Wirklichkeit, und nach wie vor schienen die Worte von weit her an ihr Oht zu dringen.

»Wenn ich mich recht erinnere«, berichtete Ruthie weiter, »hat Cyrus' Initiative endlich diesem quälenden Gefühl, völlig nutzlos herumzusitzen, ein Ende bereitet - und immerhin bestand die theoretische Möglichkeit, daß die >Befreiungsfront 8o< früher losschlagen könnte als erwartet.«

»Was sie dann ja auch getan hat«, erklärte Mr. Hitchens. »Mein Gott - wenn ich nur daran denke, was geschehen wäre, wenn wir nicht auf dem Peak gewesen wären...« Ruthie warf ihm einen warnenden Blick zu, und er verstummte taktvoll.

»Gott sei Dank griff Duncan den Vorschlag sofort auf«, fuhr Marko fort. »Ihm bereiteten die zehn Stunden, die wir noch auf den Einsatz der Armee warten sollten, ebensolches Unbehagen wie uns. Er war sogar bereit, mit dem Einsatzbefehl für seine Männer seinen Job zu riskieren; allerdings nur unter der Bedingung, daß wir äußerst professionell und mit der Annahme, die »Befreiungsfront 8o< werde tatsächlich zuschlagen, vorgehen würden.«

»Was keiner von uns für möglich hielt«, warf Robin dazwischen. »Außer Cyrus.«

»Richtig«, brummte Marko. »Trotzdem versicherten wir Duncan natürlich, daß wir davon überzeugt seien, und er gab uns freie Hand und schloß sich mit seinen sieben Männern an. Wir setzten uns zusammen und kamen - vor allem aufgrund des Wortes >Kommandozentrale< auf dem Zettel im Geheimfach des Buddhas - zu dem Schluß, daß wir unsere Aktivitäten auf den Gipfelturm des Victoria Peaks zu konzentrieren hatten... «

Robin nickte. »Wir postierten Duncans Männer auf dem Dach des Turms... «

»Das Restaurant ist nämlich bis zwölf Uhr geschlossen«, erklärte Ruthie. »Nur das Cafe im dritten Stock war geöffnet.«

»Richtig«, bestätigte Marko. »Und Ruthie und Mr. Hitchens saßen hinter einem Busch an der Auffahrt zum Turm mit Walkie-Talkies ausgerüstet... «

»... und mit Decken und Kaffee«, fügte Mr. Hitchens schmunzelnd hinzu.

»...Und mit dem Auftrag, jedes Fahrzeug, das vorbeikam, zu melden. Sheng Ti war unser Gärtner..., der ein ganzes Waffenarsenal in seinem Sack hinter sich herzog.«

Sheng Ti nickte eifrig und fügte strahlend hinzu: »Und einen Walkie-Talkie. Sehr gut!«

»Ich muß jedoch zugeben«, ergriff Robin das Wort, »daß wir alle, wie wir hier sitzen, unseren Augen nicht trauten, als die Terroristen tatsächlich am Turm ankamen. Wir waren gerade noch rechtzeitig gekommen!«

»Ich habe sie zuerst gesehen«, verkündete Sheng Ti stolz. Ruthie nickte. »Ja. Hitch und ich hatten lediglich einen Wagen auf der Straße zum Turm gemeldet, doch Sheng Ti fiel auf, daß zwei schwerbewaffnete Männer aus dem Wagen stiegen und nach oben zum Cafe fuhren.«

»Wo acht Besucher sowie Krugg und Upshot beim Frühstück saßen«, bemerkte Mr. Hitchens. »Die beiden Terroristen bedrohten sie mit Maschinenpistolen und zwangen sie, auf das Dach des Turms zu gehen.«

»Und dort nahmen wir sie in Empfang«, berichtete Cyrus.

»Robin, Marko, meine Wenigkeit, der dritte Mann von Interpol - wie war doch gleich sein Name? - und Duncans sieben Leute.«

»Es geschah alles so schnell!« murmelte Mr. Hitchens.

»Kurz danach«, fuhr Marko fort, »kam von Mr. Hitchens und Ruthie bereits die Meldung, daß ein VW-Bus die Straße zum Gipfel herauffahre, hinter dessen Fenster eindeutig Mrs. Follifax zu erkennen sei.«

Voller Verwunderung und mit dem hartnäckigen Gefühl, dies alles sei nicht wirklich geschehen, registrierte Mrs. Polli-fax, daß dies der Zeitpunkt war, an dem sie in die Handlung der Geschichte eintrat. Unwillkürlich verglich sie die niederdrückende Einsamkeit und Verzweiflung, die sie auf der Fahrt im VW-Bus empfunden hatte, mit der überschwenglich und freudig erregten Beschreibung der Geschehnisse seitens ihrer Freunde; doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich des deprimierenden Gefühls nicht erwehren, isoliert und im Grunde genommen alleine zwischen all diesen lieben Menschen zu sitzen. Sie war einfach nicht fähig, die qualvollen Stunden und die schrecklichen Erlebnisse der Nacht und des Morgens so ohne weiteres abzuschütteln. Der Gedanke an Detwiler bedrückte sie, und als sie den Blick hob, sah sie direkt in Alec Wis Augen und sie erkannte in ihnen denselben Schmerz, dieselbe Trauer, die sie empfand. Sie lächelte ihm aufmunternd zu und im selben Augenblick fühlte sie den leichten, beruhigenden Druck von Cyrus' Hand auf ihrem Arm und sie begriff, daß Cyrus sie verstand.

Mit einemmal fiel die beklemmende Düsterkeit von ihr ab, und wie ein freudiger Schock durchströmte sie die Erkenntnis, daß sie wieder empfinden konnte - sich selbst, das Leben, Cyrus, Alec und all die wunderbaren Menschen um sie. Es war, als wäre sie mit einem einzigen Schritt aus dem dumpfen Schatten eines Grabs in das helle, sanfte Sonnenlicht getreten.

»Cyrus fuhr ins Erdgeschoß hinab«, berichtete Robin weiter, »um auf dich zu warten und um dich durch seine Anwesenheit zu warnen... «

»Er machte sich natürlich Sorgen, Ihnen könnte bei der zu erwartenden Schießerei etwas geschehen«, warf Marko dazwischen.

Die Erinnerung an die Sekunden vor dem Aufzug zauberte ein zaghaftes Lächeln in Mrs. Pollifax' Züge, und erleichtert, endlich den Zugang zur Wirklichkeit wiedergefunden zu haben, gestand sie: »Ich dachte... Ich habe wirklich die ganze Zeit über geglaubt, ich hätte Halluzinationen ... Sheng Ti als Gärtner und Cyrus vor dem Aufzug des Gipfelturms - das konnte unmöglich die Wirklichkeit sein... Ich war überzeugt, verrückt geworden zu sein.«

»Sie befanden sich in einem tiefen Schockzustand«, erinnerte sie Ruthie. »Hervorgerufen durch die Folter, wie Dr. Chiang sagte, und dadurch, daß Sie mit ansehen mußten, wie Detwiler erschossen wurde.«

>Hervorgerufen durch die Folter und dadurch, daß ich mit ansehen mußte, wie Detwiler erschossen wurde...<, wiederholte Mrs. Pollifax in Gedanken. >Vielleicht werde ich eines Tages - eines schönen Sommertages, zwischen den Blumen in meinem Garten - in der Lage sein, alles aus einer größeren Distanz heraus zu überdenken und endlich diese Welt begreifen, die einerseits Mikrochips, computergesteuerte Roboter und Satelliten produziert, die sogar Menschen zum Mond schickt, andererseits jedoch nicht fähig ist, in Frieden und Eintracht zu leben, und deren Bewohner ohne das geringste Mitgefühl einander foltern, quälen und töten. Eines Tages vielleicht; doch nicht jetzt - noch nicht.. .<

Es fiel ihr leichter, an Detwiler zu denken; an den Menschen Detwiler, der mißbraucht und manipuliert worden war, hin und her gerissen zwischen Schwäche und Entschlossenheit, zwischen Selbstaufgabe und Opfermut - bis er dann doch noch die Kraft fand, zu handeln. Detwiler, der lieber gestorben war, als sich weiterhin zu unterwerfen und erniedrigen zu lassen...

Ihr wurde bewußt, daß alle sie verwundert und besorgt anstarrten. »Ich mußte an Detwiler denken«, erklärte sie. »Daran, daß es doch nicht umsonst war, daß er sein Leben für ein Funksignal von drei Minuten Länge geopfert hat.«

»Nein - es war nicht umsonst«, versicherte Marko. »Ganz sicher nicht, meine liebe Mrs. Pollifax! Denn hätte uns Cyrus nicht aus unserer Lethargie gerissen, wäre Detwilers Verzweiflungstat die einzige Chance gewesen, Sie und Alec doch noch zu retten. Das Signal wurde tatsächlich aufgefangen und das Gebäude gefunden. Wir hatten soeben die Vorhut der Terroristen im Turm überwältigt, als die Besatzung des Funkortungswagens Verstärkung anforderte, doch Duncan versicherte ihnen, wir hätten die Situation bereits unter Kontrolle. Sie hatten die Anweisung, Ihnen und dem VW-Bus in sicherer Distanz zum Gipfel zu folgen. Detwilers Tat war also keinesfalls umsonst.«

Mrs. Pollifax suchte Alecs Blick. »Vielleicht fällt es Ihnen nun leichter, ihm zu vergeben?«

»Vergeben - ja. Aber nicht vergessen«, erwiderte Alec verbittert. »Er war es ja nicht, der meinen Vater erschossen hat. Es war Mr. Feng... Mr. Feng hat...« Alecs Stimme versagte.

»Feng ist tot«, versuchte ihn Marko zu beschwichtigen.

»Er hat sich nach dem ersten Verhör erschossen.«

»Dann erklären Sie mir doch endlich, aus welchem Grund er diesen ganzen Wahnsinn angezettelt hat!«

Marko seufzte. »Sobald die Terroristen Hongkong in ihre Gewalt gebracht hatten, sollten sie die sofortige Einstellung aller Verhandlungsgespräche zwischen Großbritannien und Peking und eine Berücksichtigung Taiwans bei der Aufteilung der ehemaligen Kronkolonie fordern... Das sind Fengs eigene Worte...«

»War der Mann verrückt?« fuhr Alec auf.

»Alle Fanatiker sind mehr oder weniger verrückt«, stellte Marko trocken fest. »Er hat sein ganzes Leben der Rückeroberung Chinas durch die Nationalchinesen geopfert und ist damit gescheitert. Er war entschlossen, wenigstens zu verhindern, daß 1997 auch Hongkong an Rotchina fällt«, erklärte Marko. »Der Erwerb von Häusern in den verschiedensten Stadtvierteln Hongkongs, in denen Waffen und Munition versteckt und gelagert werden konnten... Wir nehmen sehr stark an, daß ihn dabei sein Bruder und andere Sympathisanten von Taiwan aus unterstützt haben. Den Kontakt mit der >Befreiungsfront 80'< hat sein Neffe Xian Pi hergestellt. Dann folgten die Überfälle auf die Diamantenkuriere, um die Operation zu finanzieren, und schließlich die methodische Verteilung der Diamanten, um Waffen und Schweigen zu kaufen.«

>Und die allmähliche Versklavung Detwilers<, dachte Mrs. Pollifax.

»Genau betrachtet«, fügte Marko freudlos hinzu, »waren seine Motive am Ende dann nicht mehr von denen der >Befreiungsfront 8o'< zu unterscheiden: Er wollte Hongkong in Schutt und Asche legen und seine Wut und seinen Haß gegen die ganze Welt befriedigen. Ihm kann nicht entgangen sein, daß es für seinen Traum von der Rückkehr der nationalistischen Regierung auf das Festland längst keine reale Grundlage mehr gibt. Doch er hatte sein ganzes Leben dieser Vorstellung gewidmet, und konnte offenbar nicht mehr zurück.«

»Das war Fengs Beweggrund«, warf Robin ein. »Der der >Befreiungsfront 8o'< war etwas profaner: Sie hatte die Absicht, zehn Millionen Dollar in Gold und freien Abzug auf Hongkong - vermutlich nach Libyen - zu fordern.«

Mrs. Pollifax schüttelte den Kopf angesichts dieses Wahnsinns. »Und was ist mit Eric dem Roten?«

»Tot«, erwiderte Robin ausdruckslos. »Er und zwei andere starben im Kugelhagel vor dem Aufzug. Die überlebenden Terroristen waren geständig und zeigten der Polizei, wo die Bomben deponiert waren - übrigens eine ganze Menge -, sicherlich in der Hoffnung auf ein milderes Urteil... Die Gerüchteküche in Hongkong produziert immer neue Variationen der Ereignisse. Um eine Panik zu vermeiden, hat der Gouverneur eine Nachrichtensperre verhängt, bis alle Bomben gefunden sind.«

»Natürlich war eines der Hauptmotive für die >Befrei-ungsfront 8o'< die Macht, die sie mit einemmal besitzen würde«, erinnerte Marko. »Mr. Fengs teufischer Plan war für sie eine verlockende Möglichkeit, einen vernichtenden Schlag gegen Recht und Ordnung, gegen die Regierungen der gesamten zivilisierten Welt zu führen. Zweifellos spielte in der Gruppe auch der Zwang, immer wieder neue Aktionen durchzuführen, eine gewisse Rolle; doch das zentrale Motiv war wohl das berauschende Gefühl der Macht, mit einer Schar von Geiseln im Gipfelturm zu sitzen und uns alle nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen.«

»Doch das ist Gott sei Dank nicht eingetreten«, sagte Cyrus.

»Dieses Mal nicht - nein«, erwiderte Marko. »Nicht hier, nicht in Hongkong.«

Sie dachten über diese Bemerkung Markos nach, und nach einer Weile hob Mr. Hitchens sein Glas. »Dann schage ich vor, wir trinken auf das, was nicht geschehen ist... Vielleicht hat Mrs. Pollifax dem noch einiges hinzuzufügen?«

Sie lächelte ihm zu. »Ja - ja, ich denke schon«, sagte sie und ließ ihren Blick über die Gesichter ihrer Freunde schweifen: von Marko, mit seinen klugen, empfindsamen Augen, zu Robin, mit dem sie nun ein zweites gemeisames Abenteuer verband, zu Sheng Ti, der zusammen mit Lotus in die Vereingten Staaten gehen würde - Carstairs' Zusage war vor knapp einer Stunde eingetroffen - und zu Alec, der seinen Vater verloren, doch sein Leben neu gewonnen hatte.

Ihr Blick wanderte weiter zu Mr. Hitchens, dessen Leben wohl um einige Erfahrungen reicher geworden war, und schließlich zu Ruthie, die auf einer Pauschalreise ihr individuelles Glück gefunden hatte... Sie dachte an das Telegramm Bishops, das am frühen Abend eingetroffen war: »TUN SIE SO ETWAS NIE - NIE WIEDER STOP CARSTAIRS KONSUM AN BERUHIGUNGSMITTELN ERSCHRECKEND GESTIEGEN STOP ERBITTEN ANKUNFTSZEIT IN NEW YORK STOP BEREITEN SIE CYRUS AUF ÜBERSCHWENGLICHE DANKESBEZEIGUNGEN VOR STOP ALLES LIEBE BISHOP.

Schließlich fand ihr Blick Cyrus' Augen... Cyrus, der Mann, mit dem sie ihr Leben und die kleinen kostbaren Freuden der Gemeinsamkeit teilen konnte...

Sie erhob ihr Glas und lächelte ihm glücklich zui Dann sagte sie: »Auf alle Amateure - auf alle besorgten, zornigen und entschlossenen Amateure... Und darauf, daß das, was in Hongkong hätte geschehen können, niemals geschehen wird.«