Erzählung aus Wilhelm Meisters Wanderjahre. (Geschrieben 1807/08).

Johann Wolfgang von Goethe

Wer ist der Verräter?

«Nein! nein!«rief er aus, als er heftig und eilig ins angewiesene Schlafzimmer trat und das Licht niedersetzte;»nein! es ist nicht möglich! Aber wohin soll ich mich wenden? Das erstemal denk' ich anders als er, das erstemal empfind' ich, will ich anders. — O mein Vater! Könntest du unsichtbar gegenwärtig sein, mich durch und durch schauen, du würdest dich überzeugen, daß ich noch derselbe bin, immer der treue, gehorsame liebevolle Sohn. Nein zu sagen! des Vaters liebstem, lange gehegtem Wunsch zu widerstreben! wie soll ich's offenbaren? wie soll ich's ausdrücken? Nein, ich kann Julien nicht heiraten. — Indem ich's ausspreche, erschrecke ich. Und wie soll ich vor ihn treten, es ihm eröffnen, dem guten, lieben Vater? Er blickt mich staunend an und schweigt, er schüttelt den Kopf; der einsichtige, kluge, gelehrte Mann weiß keine Worte zu finden. Weh mir! — O ich wüßte wohl, wem ich diese Pein, diese Verlegenheit vertraute, wen ich mir zum Fürsprecher ausgriffe! Aus allen dich, Lucinde! und dir möcht' ich zuerst sagen, wie ich dich liebe, wie ich mich dir hingebe, und dich flehentlich bitten: ›Vertritt mich, und kannst du mich lieben, willst du mein sein, so vertritt uns beide!‹»

Dieses kurze, herzlich-leidenschaftliche Selbstgespräch aufzuklären, wird es aber viele Worte kosten.

Professor N. zu N. hatte einen einzigen Knaben von wundersamer Schönheit, den er bis in das achte Jahr der Vorsorge seiner Gattin, der würdigsten Frau, überließ; diese leitete die Stunden und Tage des Kindes zum Leben, Lernen und zu allem guten Betragen. Sie starb, und im Augenblicke fühlte der Vater, daß er diese Sorgfalt persönlich nicht weiter fortsetzen könne. Bisher war alles Übereinkunft zwischen den Eltern; sie arbeiteten auf einen Zweck, beschlossen zusammen für die nächste Zeit, was zu tun sei, und die Mutter verstand alles weislich auszuführen. Doppelt und dreifach war nun die Sorge des Witwers, welcher wohl wußte und täglich vor Augen sah, daß für Söhne der Professoren auf Akademien selbst nur durch ein Wunder eine glückliche Bildung zu hoffen sei.

In dieser Verlegenheit wendete er sich an seinen Freund, den Oberamtmann zu R., mit dem er schon frühere Plane näherer Familienverbindungen durchgesprochen hatte. Dieser wußte zu raten und zu helfen, daß der Sohn in eine der guten Lehranstalten aufgenommen wurde, die in Deutschland blühten und worin für den ganzen Menschen, für Leib, Seele und Geist, möglichst gesorgt ward.

Untergebracht war nun der Sohn, der Vater jedoch fand sich gar zu allein: seiner Gattin beraubt, der lieblichen Gegenwart des Knaben entfremdet, den er, ohne selbsteigenes Bemühen, so erwünscht heraufgebildet gesehn. Auch hier kam die Freundschaft des Oberamtmanns zustatten; die Entfernung ihrer Wohnorte verschwand vor der Neigung, der Lust, sich zu bewegen, sich zu zerstreuen. Hier fand nun der verwaiste Gelehrte in einem gleichfalls mutterlosen Familienkreis zwei schöne, verschiedenartig liebenswürdige Töchter heranwachsen; wo denn beide Väter sich immer mehr und mehr bestärkten in dem Gedanken, in der Aussicht, ihre Häuser dereinst aufs erfreulichste verbunden zu sehn.

Sie lebten in einem glücklichen Fürstenlande; der tüchtige Mann war seiner Stelle lebenslänglich gewiß und ein gewünschter Nachfolger wahrscheinlich. Nun sollte, nach einem verständigen Familien- und Ministerialplan, sich Lucidor zu dem wichtigen Posten des künftigen Schwiegervaters bilden. Dies gelang ihm auch von Stufe zu Stufe. Man versäumte nichts, ihm alle Kenntnisse zu überliefern, alle Fähigkeiten an ihm zu entwickeln, deren der Staat jederzeit bedarf: die Pflege des strengen gerichtlichen Rechts, des läßlichern, wo Klugheit und Gewandtheit dem Ausübenden zur Hand geht; der Kalkül zum Tagesgebrauch, die höheren Übersichten nicht ausgeschlossen, aber alles unmittelbar am Leben, wie es gewiß und unausbleiblich zu gebrauchen wäre.

In diesem Sinne hatte Lucidor seine Schuljahre vollbracht und ward nun durch Vater und Gönner zur Akademie vorbereitet. Er zeigte das schönste Talent zu allem und verdankte der Natur auch noch das seltene Glück, aus Liebe zum Vater, aus Ehrfurcht für den Freund seine Fähigkeiten gerade dahin lenken zu wollen, wohin man deutete, erst aus Gehorsam, dann aus Überzeugung. Auf eine auswärtige Akademie ward er gesendet und ging daselbst, sowohl nach eigener brieflicher Rechenschaft als nach Zeugnis seiner Lehrer und Aufseher, den Gang, der ihn zum Ziele führen sollte. Nur konnte man nicht billigen, daß er in einigen Fällen zu ungeduldig brav gewesen. Der Vater schüttelte hierüber den Kopf, der Oberamtmann nickte. Wer hätte sich nicht einen solchen Sohn gewünscht!

Indessen wuchsen die Töchter heran, Julie und Lucinde. Jene, die jüngere, neckisch, lieblich, unstät, höchst unterhaltend; die andere zu bezeichnen schwer, weil sie in Geradheit und Reinheit dasjenige darstellte, was wir an allen Frauen wünschenswert finden. Man besuchte sich wechselseitig, und im Hause des Professors fand Julie die unerschöpflichste Unterhaltung.

Geographie, die er durch Topographie zu beleben wußte, gehörte zu seinem Fach, und sobald Julie nur einen Band gewahr worden, dergleichen aus der Homannischen Offizin eine ganze Reihe dastanden, so wurden sämtliche Städte gemustert, beurteilt, vorgezogen oder zurückgewiesen; alle Häfen besonders erlangten ihre Gunst; andere Städte, welche nur einigermaßen ihren Beifall erhalten wollten, mußten sich mit viel Türmen, Kuppeln und Minaretten fleißig hervorheben.

Der Vater ließ sie wochenlang bei dem geprüften Freunde; sie nahm wirklich zu an Wissenschaft und Einsicht und kannte so ziemlich die bewohnte Welt nach Hauptbezügen, Punkten und Orten. Auch war sie auf Trachten fremder Nationen sehr aufmerksam, und wenn ihr Pflegvater manchmal scherzhaft fragte: ob ihr denn von den vielen jungen, hübschen Leuten, die da vor dem Fenster hin und wider gingen, nicht einer oder der andere wirklich gefalle? so sagte sie:»Ja freilich, wenn er recht seltsam aussieht!«— Da nun unsere jungen Studierenden es niemals daran fehlen lassen, so hatte sie oft Gelegenheit, an einem oder dem andern teilzunehmen; sie erinnerte sich an ihm irgendeiner fremden Nationaltracht, versicherte jedoch zuletzt, es müsse wenigstens ein Grieche, völlig nationell ausstaffiert, herbeikommen, wenn sie ihm vorzügliche Aufmerksamkeit widmen sollte; deswegen sie sich auch auf die Leipziger Messe wünschte, wo dergleichen auf der Straße zu sehen wären.

Nach seinen trocknen und manchmal verdrießlichen Arbeiten hatte nun unser Lehrer keine glücklichern Augenblicke, als wenn er sie scherzend unterrichtete und dabei heimlich triumphierte, sich eine so liebenswürdige, immer unterhaltene, immer unterhaltende Schwiegertochter zu erziehen. Die beiden Väter waren übrigens einverstanden, daß die Mädchen nichts von der Absicht vermuten sollten, auch Lucidorn hielt man sie verborgen.

So waren Jahre vergangen, wie sie denn gar leicht vergehen: Lucidor stellte sich dar, vollendet, alle Prüfungen bestehend, selbst zur Freude der obern Vorgesetzten, die nichts mehr wünschten, als die Hoffnung alter, würdiger, begünstigter, gunstwerter Diener mit gutem Gewissen erfüllen zu können.

Und so war denn die Angelegenheit mit ordnungsgemäßem Schritt endlich dahin gediehen, daß Lucidor, nachdem er sich in untergeordneten Stellen musterhaft betragen, nunmehr einen gar vorteilhaften Sitz nach Verdienst und Wunsch erlangen sollte, gerade mittewegs zwischen der Akademie und dem Oberamtmann gelegen.

Der Vater sprach nunmehr mit dem Sohn von Julien, auf die er bisher nur hingedeutet hatte, als von dessen Braut und Gattin, ohne weiteren Zweifel und Bedingung, das Glück preisend, solch ein lebendiges Kleinod sich angeeignet zu haben. Er sah seine Schwiegertochter im Geiste schon wieder von Zeit zu Zeit bei sich, mit Karten, Planen und Städtebildern beschäftigt; der Sohn dagegen erinnerte sich des allerliebsten, heitern Wesens, das ihn zu kindlicher Zeit durch Neckerei wie durch Freundlichkeit immer ergötzt hatte. Nun sollte Lucidor zu dem Oberamtmann hinüberreiten, die herangewachsene Schöne näher betrachten, sich einige Wochen, zu Gewohnheit und Bekanntschaft, mit dem Gesamthause ergehen. Würden die jungen Leute, wie zu hoffen, bald einig, so sollte man's melden, der Vater würde sogleich erscheinen, damit ein feierliches Verlöbnis das gehoffte Glück für ewig sicherstelle.

Lucidor kommt an, er wird freundlichst empfangen, ein Zimmer ihm angewiesen, er richtet sich ein und erscheint. Da findet er denn, außer den uns schon bekannten Familienmitgliedern, noch einen halberwachsenen Sohn, verzogen, geradezu, aber gescheit und gutmütig, so daß, wenn man ihn für den lustigen Rat nehmen wollte, er gar nicht übel zum Ganzen paßte. Dann gehörte zum Haus ein sehr alter, aber gesunder, frohmütiger Mann, still, fein, klug, auslebend nun hie und da auszuhelfen. Gleich nach Lucidor kam noch ein Fremder hinzu, nicht mehr jung, von bedeutendem Ansehn, würdig, lebensgewandt und durch Kenntnis der weitesten Weltgegenden höchst unterhaltend. Sie hießen ihn Antoni.

Julie empfing ihren angekündigten Bräutigam schicklich, aber zuvorkommend, Lucinde dagegen machte die Ehre des Hauses wie jene ihrer Person. So verging der Tag ausgezeichnet angenehm für alle, nur für Lucidorn nicht; er, ohnehin schweigsam, mußte von Zeit zu Zeit, um nicht gar zu verstummen, sich fragend verhalten; wobei denn niemand zum Vorteil erscheint.

Zerstreut war er durchaus: denn er hatte vom ersten Augenblick an nicht Abneigung noch Widerwillen, aber Entfremdung gegen Julien gefühlt; Lucinde dagegen zog ihn an, daß er zitterte, wenn sie ihn mit ihren vollen, reinen, ruhigen Augen ansah.

So bedrängt, erreichte er den ersten Abend sein Schlafzimmer und ergoß sich in jenem Monolog, mit dem wir begonnen haben. Um aber auch diesen zu erklären, und wie die Heftigkeit einer solchen Redefülle zu demjenigen paßt, was wir schon von ihm wissen, wird eine kurze Mitteilung nötig.

Lucidor war von tiefem Gemüt und hatte meist etwas anders im Sinn, als was die Gegenwart erheischte; deswegen Unterhaltung und Gespräch ihm nie recht glücken wollte; er fühlte das und wurde schweigsam, außer wenn von bestimmten Fächern die Rede war, die er durchstudiert hatte, davon ihm jederzeit zu Diensten stand, was er bedurfte. Dazu kam, daß er, früher auf der Schule, später auf der Universität, sich an Freunden betrogen und seinen Herzenserguß unglücklich vergeudet hatte; jede Mitteilung war ihm daher bedenklich; Bedenken aber hebt jede Mitteilung auf. Zu seinem Vater war er nur gewohnt unisono zu sprechen, und sein volles Herz ergoß sich daher in Monologen, sobald er allein war.

Den andern Morgen hatte er sich zusammengenommen und wäre doch beinahe außer Fassung geruckt, als ihm Julie noch freundlicher, heiterer und freier entgegenkam. Sie wußte viel zu fragen, nach seinen Land- und Wasserfahrten, wie er, als Student, mit dem Bündelchen auf'm Rücken die Schweiz durchstreift und durchstiegen, ja über die Alpen gekommen. Da wollte sie nun von der schönen Insel auf dem großen südlichen See vieles wissen; rückwärts aber mußte der Rhein, von seinem ersten Ursprung an, erst durch höchst unerfreuliche Gegenden begleitet werden, und so hinabwärts durch manche Abwechselung; wo es denn freilich zuletzt, zwischen Mainz und Koblenz, noch der Mühe wert ist, den Fluß ehrenvoll aus seiner letzten Beschränkung in die weite Welt, ins Meer zu entlassen.

Lucidor fühlte sich hiebei sehr erleichtert, erzählte gern und gut, so daß Julie entzückt ausrief: so was müsse man selbander sehen. Worüber denn Lucidor abermals erschrak, weil er darin eine Anspielung auf ihr gemeinsames Wandern durchs Leben zu spüren glaubte.

Von seiner Erzählerpflicht jedoch wurde er bald abgelöst; denn der Fremde, den sie Antoni hießen, verdunkelte gar geschwind alle Bergquellen, Felsufer, eingezwängte, freigelassene Flüsse: nun hier ging's unmittelbar nach Genua; Livorno lag nicht weit, das Interessanteste im Lande nahm man auf den Raub so mit; Neapel mußte man, ehe man stürbe, gesehen haben, dann aber blieb freilich Konstantinopel noch übrig, das doch auch nicht zu versäumen sei. Die Beschreibung, die Antoni von der weiten Welt machte, riß die Einbildungskraft aller mit sich fort, ob er gleich weniger Feuer darein zu legen hatte. Julie, ganz außer sich, war aber noch keineswegs befriedigt, sie fühlte noch Lust nach Alexandrien, Kairo, besonders aber zu den Pyramiden, von denen sie ziemlich auslangende Kenntnisse durch ihres vermutlichen Schwiegervaters Unterricht gewonnen hatte.

Lucidor, des nächsten Abends (er hatte kaum die Türe angezogen, das Licht noch nicht niedergesetzt), rief aus.»Nun besinne dich denn! es ist Ernst. Du hast viel Ernstes gelernt und durchdacht; was soll denn Rechtsgelehrsamkeit, wenn du jetzt nicht gleich als Rechtsmann handelst? Siehe dich als einen Bevollmächtigten an, vergiß dich selbst und tue, was du für einen andern zu tun schuldig wärst. Es verschränkt sich aufs fürchterlichste! Der Fremde ist offenbar um Lucindens willen da, sie bezeugt ihm die schönsten, edelsten gesellig-häuslichen Aufmerksamkeiten; die kleine Närrin möchte mit jedem durch die Welt laufen, für nichts und wieder nichts. Überdies noch ist sie ein Schalk, ihr Anteil an Städten und Ländern ist eine Posse, wodurch sie uns zum Schweigen bringt. Warum aber seh' ich diese Sache so verwirrt und verschränkt an? Ist der Oberamtmann nicht selbst der verständigste, der einsichtigste, liebevollste Vermittler? Du willst ihm sagen, wie du fühlst und denkst, und er wird mitdenken, wenn auch nicht mitfühlen. Er vermag alles über den Vater. Und ist nicht eine wie die andere seine Tochter? Was will denn der Anton Reiser mit Lucinden, die für das Haus geboren ist, um glücklich zu sein und Glück zu schaffen? hefte sich doch das zapplige Quecksilber an den ewigen Juden, das wird eine allerliebste Partie werden.»

Des Morgens ging Lucidor festen Entschlusses hinab, mit dem Vater zu sprechen und ihn deshalb in bekannten freien Stunden unverzüglich anzugehn. Wie groß war sein Schmerz, seine Verlegenheit, als er vernahm: der Oberamtmann, in Geschäften verreist, werde erst übermorgen zurückerwartet. Julie schien heute so recht ganz ihren Reisetag zu haben, sie hielt sich an den Weltwanderer und überließ mit einigen Scherzreden, die sich auf Häuslichkeit bezogen, Lucidor an Lucinden. Hatte der Freund vorher das edle Mädchen aus gewisser Ferne gesehen, nach einem allgemeinen Eindruck, und sie sich schon herzlichst angeeignet, so mußte er in der nächsten Nähe alles doppelt und dreifach entdecken, was ihn erst im allgemeinen anzog.

Der gute alte Hausfreund, an der Stelle des abwesenden Vaters, tat sich nun hervor; auch er hatte gelebt, geliebt und war, nach manchen Quetschungen des Lebens, noch endlich an der Seite des Jugendfreundes aufgefrischt und wohlbehalten. Er belebte das Gespräch und verbreitete sich besonders über Verirrungen in der Wahl eines Gatten, erzählte merkwürdige Beispiele von zeitiger und verspäteter Erklärung. Lucinde erschien in ihrem völligen Glanze, sie gestand, daß im Leben das Zufällige jeder Art, und so auch in Verbindungen, das Allerbeste bewirken könne; doch sei es schöner, herzerhebender, wenn der Mensch sich sagen dürfe. er sei sein Glück sich selbst, der stillen, ruhigen Überzeugung seines Herzens, einem edlen Vorsatz und raschen Entschlusse schuldig geworden. Lucidorn standen die Tränen in den Augen, als er Beifall gab, worauf die Frauenzimmer sich bald entfernten. Der alte Vorsitzende mochte sich in Wechselgeschichten gern ergehen, und so verbreitete sich die Unterhaltung in heitere Beispiele, die jedoch unsern Helden so nahe berührten, daß nur ein so rein gebildeter Jüngling nicht herauszubrechen über sich gewinnen konnte; das geschah aber, als er allein war.

«Ich habe mich gehalten!«rief er aus.»Mit solcher Verwirrung will ich meinen guten Vater nicht kränken; ich habe an mich gehalten: denn ich sehe in diesem würdigen Hausfreunde den Stellvertretenden beider Väter; zu ihm will ich reden, ihm alles entdecken, er wird's gewiß vermitteln und hat beinahe schon ausgesprochen, was ich wünsche. Sollte er im einzelnen Falle schelten, was er überhaupt billigt? Morgen früh such' ich ihn auf; ich muß diesem Drange Luft machen.»

Beim Frühstück fand sich der Greis nicht ein; er hatte, hieß es, gestern abend zu viel gesprochen, zu lange gesessen und einige Tropfen Wein über Gewohnheit getrunken. Man erzählte viel zu seinem Lobe, und zwar gerade solche Reden und Handlungen, die Lucidorn zur Verzweiflung brachten, daß er sich nicht sogleich an ihn gewendet. Dieses unangenehme Gefühl ward nur noch geschärft, als er vernahm: bei solchen Anfällen lasse der gute Alte sich manchmal in acht Tagen gar nicht sehen.

Ein ländlicher Aufenthalt hat für geselliges Zusammensein gar große Vorteile, besonders wenn die Bewirtenden sich, als denkende, fühlende Personen, mehrere Jahre veranlaßt gefunden, der natürlichen Anlage ihrer Umgebung zu Hülfe zu kommen. So war es hier geglückt. Der Oberamtmann, erst unverheiratet, dann in einer langen, glücklichen Ehe, selbst vermögend, an einem einträglichen Posten, hatte nach eignem Blick und Einsicht, nach Liebhaberei seiner Frau, ja zuletzt nach Wünschen und Grillen seiner Kinder erst größere und kleinere abgesonderte Anlagen besorgt und begünstigt, welche, mit Gefühl allmählich durch Pflanzungen und Wege verbunden, eine allerliebste, verschiedentlich abweichende, charakteristische Szenenfolge dem Durchwandelnden darstellten. Eine solche Wallfahrt ließen denn auch unsere jungen Familienglieder ihren Gast antreten, wie man seine Anlagen dem Fremden gerne vorzeigt, damit er das, was uns gewöhnlich geworden, auffallend erblicke und den günstigen Eindruck davon für immer behalte.

Die nächste so wie die fernere Gegend war zu bescheidenen Anlagen und eigentlich ländlichen Einzelheiten höchst geeignet. Fruchtbare Hügel wechselten mit wohlbewässerten Wiesengründen, so daß das Ganze von Zeit zu Zeit zu sehen war, ohne flach zu sein; und wenn Grund und Boden vorzüglich dem Nutzen gewidmet erschien, so war doch das Anmutige, das Reizende nicht ausgeschlossen.

An die Haupt- und Wirtschaftsgebäude fügten sich Lust-, Obst- und Grasgärten, aus denen man sich unversehens in ein Hölzchen verlor, das ein breiter, fahrbarer Weg auf und ab, hin und wider durchschlängelte. Hier in der Mitte war, auf der bedeutendsten Höhe, ein Saal erbaut, mit anstoßenden Gemächern. Wer zur Haupttüre hereintrat, sah im großen Spiegel die günstigste Aussicht, welche die Gegend nur gewähren mochte, und kehrte sich geschwind wieder um, an der Wirklichkeit von dem unerwarteten Bilde Erholung zu nehmen: denn das Herankommen war künstlich genug eingerichtet und alles klüglich verdeckt, was Überraschung bewirken sollte. Niemand trat herein, ohne daß er von dem Spiegel zur Natur und von der Natur zum Spiegel sich nicht gern hin und wider gewendet hätte.

Am schönsten, heitersten, längsten Tage einmal auf dem Wege, hielt man einen sinnigen Flurzug um und durch das Ganze. Hier wurde das Abendplätzchen der guten Mutter bezeichnet, wo eine herrliche Buche rings umher sich freien Raum gehalten hatte. Bald nachher wurde Lucindens Morgenandacht von Julien halb neckisch angedeutet, in der Nähe eines Wässerchens zwischen Pappeln und Erlen, an hinabstreichenden Wiesen, hinaufziehenden Äckern. Es war nicht zu beschreiben, wie hübsch! schon überall glaubte man es gesehen zu haben, aber nirgends in seiner Einfalt so bedeutend und so willkommen. Dagegen zeigte der Junker, auch halb wider Willen Juliens, die kleinlichen Lauben und kindischen Gärtchenanstalten, die, nächst einer vertraulich gelegenen Mühle, kaum noch zu bemerken; sie schrieben sich aus einer Zeit her, wo Julie, etwa in ihrem zehnten Jahre, sich in den Kopf gesetzt hatte, Müllerin zu werden und, nach dem Abgang der beiden alten Leute, selbst einzutreten und sich einen braven Mühlknappen auszusuchen.

«Das war zu einer Zeit«, rief Julie,»wo ich noch nichts von Städten wußte, die an Flüssen liegen, oder gar am Meer, von Genua nichts u. s. w. Ihr guter Vater, Lucidor, hat mich bekehrt, seit der Zeit komm' ich nicht leicht hierher. «Sie setzte sich neckisch auf ein Bänkchen, das sie kaum noch trug, unter einen Holunderstrauch, der sich zu tief gebeugt hatte.»Pfui übers Hocken!«rief sie, sprang auf und lief mit dem lustigen Bruder voran.

Das zurückgebliebene Paar unterhielt sich verständig, und in solchen Fällen nähert sich der Verstand auch wohl dem Gefühl. Abwechselnd einfache, natürliche Gegenstände zu durchwandern, mit Ruhe zu betrachten, wie der verständige, kluge Mensch ihnen etwas abzugewinnen weiß, wie die Einsicht ins Vorhandene, zum Gefühl seiner Bedürfnisse sich gesellend, Wunder tut, um die Welt erst bewohnbar zu machen, dann zu bevölkern und endlich zu übervölkern, das alles konnte hier im einzelnen zur Sprache kommen. Lucinde gab von allem Rechenschaft und konnte, so bescheiden sie war, nicht verbergen, daß die bequemlich angenehmen Verbindungen entfernter Partien ihr Werk seien, unter Angabe, Leitung oder Vergünstigung einer verehrten Mutter.

Da sich aber denn doch der längste Tag endlich zum Abend bequemt, so mußte man auf Rückkehr denken, und als man auf einen angenehmen Umweg sann, verlangte der lustige Bruder: man solle den kürzern, obgleich nicht erfreulichen, wohl gar beschwerlichern Weg einschlagen.»Denn«, rief er aus,»ihr habt mit euren Anlagen und Anschlägen geprahlt, wie ihr die Gegend für malerische Augen und für zärtliche Herzen verschönert und verbessert; laßt mich aber auch zu Ehren kommen.»

Nun mußte man über geackerte Stellen und holprichte Pfade, ja wohl auch auf zufällig hingeworfenen Steinen über Moorflecke wandern und sah, schon in einer gewissen Ferne, allerlei Maschinenwerk verworren aufgetürmt. Näher betrachtet, war ein großer Lust- und Spielplatz, nicht ohne Verstand, mit einem gewissen Volkssinn eingerichtet. Und so standen hier, in gehörigen Entfernungen zusammengeordnet, das große Schaukelrad, wo die Auf- und Absteigenden immer gleich horizontal ruhig sitzen bleiben, andere Schaukeleien, Schwungseile, Lusthebel, Kegel- und Zellenbahnen, und was nur alles erdacht werden kann, um auf einem großen Triftraum eine Menge Menschen verschiedentlichst und gleichmäßig zu beschäftigen und zu erlustigen.»Dies«, rief er aus,»ist meine Erfindung, meine Anlage! und obgleich der Vater das Geld und ein gescheiter Kerl den Kopf dazu hergab, so hätte doch ohne mich, den ihr oft unvernünftig nennt, Verstand und Geld sich nicht zusammengefunden.»

So heiter gestimmt kamen alle vier mit Sonnenuntergang wieder nach Hause. Antoni fand sich ein; die Kleine jedoch, die an diesem bewegten Tage noch nicht genug hatte, ließ einspannen und fuhr über Land zu einer Freundin, in Verzweiflung, sie seit zwei Tagen nicht gesehen zu haben. Die vier Zurückgebliebenen fühlten sich verlegen, ehe man sich's versah, und es ward sogar ausgesprochen, daß des Vaters Ausbleiben die Angehörigen beunruhigte. Die Unterhaltung fing an zu stocken, als auf einmal der lustige Junker aufsprang und gar bald mit einem Buche zurückkam, sich zum Vorlesen erbietend. Lucinde enthielt sich nicht zu fragen, wie er auf den Einfall komme, den er seit einem Jahre nicht gehabt; worauf er munter versetzte:»Mir fällt alles zur rechten Zeit ein, dessen könnt ihr euch nicht rühmen. «Er las eine Folge echter Märchen, die den Menschen aus sich selbst hinausführen, seinen Wünschen schmeicheln und ihn jede Bedingung vergessen machen, zwischen welche wir, selbst in den glücklichsten Momenten, doch immer noch eingeklemmt sind.

«Was beginne ich nun!«rief Lucidor, als er sich endlich allein fand:»die Stunde drängt; zu Antoni hab' ich kein Vertrauen, er ist weltfremd, ich weiß nicht, wer er ist, wie er ins Haus kommt, noch was er will; um Lucinden scheint er sich zu bemühen, und was könnte ich daher von ihm hoffen? Mir bleibt nichts übrig, als Lucinden selbst anzugehn; sie muß es wissen, sie zuerst. Dies war ja mein erstes Gefühl; warum lassen wir uns auf Klugheitswege verleiten! Das Erste soll nun das Letzte sein, und ich hoffe, zum Ziel zu gelangen.»

Sonnabend morgen ging Lucidor, zeitig angekleidet, in seinem Zimmer auf und ab, was er Lucinden zu sagen hätte hin und her bedenkend, als er eine Art von scherzhaftem Streit vor seiner Tür vernahm, die auch alsobald aufging. Da schob der lustige Junker einen Knaben vor sich hin, mit Kaffee und Backwerk für den Gast; er selbst trug kalte Küche und Wein.»Du sollst vorangehen«, rief der Junker,»denn der Gast muß zuerst bedient werden, ich bin gewohnt, mich selbst zu bedienen. Mein Freund! heute komme ich etwas früh und tumultuarisch; genießen wir unser Frühstück in Ruhe, und dann wollen wir sehen, was wir anfangen: denn von der Gesellschaft haben wir wenig zu hoffen. Die Kleine ist von ihrer Freundin noch nicht zurück; diese müssen gegeneinander wenigstens alle vierzehn Tage ihr Herz ausschütten, wenn es nicht springen soll. Sonnabend ist Lucinde ganz unbrauchbar, sie liefert dem Vater pünktlich ihre Haushaltungsrechnung: da hab' ich mich auch einmischen sollen, aber Gott bewahre mich! Wenn ich weiß, was eine Sache kostet, so schmeckt mir kein Bissen. Gäste werden auf morgen erwartet, der Alte hat sich noch nicht wieder ins Gleichgewicht gestellt, Antoni ist auf die Jagd, wir wollen das gleiche tun.»

Flinten, Taschen und Hunde waren bereit, als sie in den Hof kamen, und nun ging es an den Feldern weg, wo denn doch allenfalls ein junger Hase und ein armer, gleichgültiger Vogel geschossen wurde. Indessen besprach man sich von häuslichen und gegenwärtig geselligen Verhältnissen. Antoni ward genannt, und Lucidor verfehlte nicht, sich nach ihm näher zu erkundigen. Der lustige Junker, mit einiger Selbstgefälligkeit, versicherte: jenen wunderlichen Mann, so geheimnisvoll er auch tue, habe er schon durch und durch geblickt.»Er ist«, fuhr er fort,»gewiß der Sohn aus einem reichen Handelshause, das gerade in dem Augenblick fallierte, als er, in der Fülle seiner Jugend, teil an großen Geschäften mit Kraft und Munterkeit zu nehmen, daneben aber die sich reichlich darbietenden Genüsse zu teilen gedachte. Von der Höhe seiner Hoffnungen heruntergestürzt, raffte er sich zusammen und leistete, anderen dienend, dasjenige, was er für sich und die Seinigen nicht mehr bewirken konnte. So durchreiste er die Welt, lernte sie und ihren wechselseitigen Verkehr aufs genaueste kennen und vergaß dabei seines Vorteils nicht. Unermüdete Tätigkeit und erprobte Rechtlichkeit brachten und erhielten ihm von vielen ein unbedingtes Vertrauen. So erwarb er sich allerorten Bekannte und Freunde, ja es läßt sich gar wohl merken, daß sein Vermögen so weit in der Welt umher verteilt ist, als seine Bekanntschaft reicht, weshalb denn auch seine Gegenwart in allen vier Teilen der Welt von Zeit zu Zeit nötig ist.»

Umständlicher und naiver hatte dies der lustige Junker erzählt und so manche possenhafte Bemerkung eingeschlossen, eben als wenn er sein Märchen recht weitläufig auszuspannen gedächte.

«Wie lange steht er nicht schon mit meinem Vater in Verbindung! Die meinen, ich sehe nichts, weil ich mich um nichts bekümmere; aber eben deswegen seh' ich's nur desto besser, weil mich's nichts angeht. Vieles Geld hat er bei meinem Vater niedergelegt, der es wieder sicher und vorteilhaft unterbrachte. Erst gestern steckte er dem Alten ein Juwelenkästchen zu; einfacher, schöner und kostbarer hab' ich nichts gesehen, obgleich nur mit einem Blick, denn es wird verheimlicht. Wahrscheinlich soll es der Braut zu Vergnügen, Lust und künftiger Sicherheit verehrt werden. Antoni hat sein Zutrauen auf Lucinden gesetzt! Wenn ich sie aber so zusammen sehe, kann ich sie nicht für ein wohl assortiertes Paar halten. Die Ruschliche wäre besser für ihn, ich glaube auch, sie nimmt ihn lieber als die Älteste; sie blickt auch wirklich manchmal nach dem alten Knasterbart so munter und teilnehmend hinüber, als wenn sie sich mit ihm in den Wagen setzen und auf und davon fliegen wolle. «Lucidor faßte sich zusammen; er wußte nicht, was zu erwidern wäre, alles, was er vernahm, hatte seinen innerlichen Beifall. Der Junker fuhr fort.»Überhaupt hat das Mädchen eine verkehrte Neigung zu alten Leuten; ich glaube, sie hätte Ihren Vater so frisch weg geheiratet wie den Sohn.»

Lucidor folgte seinem Gefährten, wo ihn dieser auch über Stock und Stein hinführte; beide vergaßen die Jagd, die ohnehin nicht ergiebig sein konnte. Sie kehrten auf einem Pachthofe ein, wo, gut aufgenommen, der eine Freund sich mit Essen, Trinken und Schwätzen unterhielt, der andere aber in Gedanken und Überlegungen sich versenkte, wie er die gemachte Entdeckung für sich und seinen Vorteil benutzen möchte.

Lucidor hatte nach allen diesen Erzählungen und Eröffnungen so viel Vertrauen zu Antoni gewonnen, daß er gleich beim Eintritt in den Hof nach ihm fragte und in den Garten eilte, wo er zu finden sein sollte. Er durchstrich die sämtlichen Gänge des Parks bei heiterer Abendsonne; umsonst! Nirgends keine Seele war zu sehen; endlich trat er in die Türe des großen Saals, und wundersam genug, die untergehende Sonne, aus dem Spiegel zurückscheinend, blendete ihn dergestalt, daß er die beiden Personen, die auf dem Kanapee saßen, nicht erkennen, wohl aber unterscheiden konnte, daß einem Frauenzimmer von einer neben ihr sitzenden Mannsperson die Hand sehr feurig geküßt wurde. Wie groß war daher sein Entsetzen, als er bei hergestellter Augenruhe Lucinden und Antoni vor sich sahe. Er hätte versinken mögen, stand aber wie angewurzelt, als ihn Lucinde freundlichst und unbefangen willkommen hieß, zuruckte und ihn bat, zu ihrer rechten Seite zu sitzen: Unbewußt ließ er sich nieder, und wie sie ihn anredete, nach dem heutigen Tage sich erkundigte, Vergebung bat häuslicher Abhaltungen, da konnte er ihre Stimme kaum ertragen. Antoni stand auf und empfahl sich Lucinden; als sie, sich gleichfalls erhebend, den Zurückgebliebenen zum Spaziergang einlud. Neben ihr hergehend, war er schweigsam und verlegen; auch sie schien beunruhigt; und wenn er nur einigermaßen bei sich gewesen wäre, so hätte ihm ein tiefes Atemholen verraten müssen, daß sie herzliche Seufzer zu verbergen habe. Sie beurlaubte sich zuletzt, als sie sich dem Hause näherten, er aber wandte sich, erst langsam, dann heftig, gegen das Freie. Der Park war ihm zu eng, er eilte durchs Feld, nur die Stimme seines Herzens vernehmend, ohne Sinn für die Schönheiten des vollkommensten Abends. Als er sich allein sah und seine Gefühle sich im beruhigenden Tränenerguß Luft machten, rief er aus:

«Schon einigemal im Leben, aber nie so grausam hab' ich den Schmerz empfunden, der mich nun ganz elend macht: wenn das gewünschteste Glück endlich Hand in Hand, Arm in Arm zu uns tritt und zugleich sein Scheiden für ewig ankündet. Ich saß bei ihr, ging neben ihr, das bewegte Kleid berührte mich, und ich hatte sie schon verloren! Zähle dir das nicht vor, drösele dir's nicht auf, schweig und entschließe dich!»

Er hatte sich selbst den Mund verboten, er schwieg und sann, durch Felder, Wiesen und Busch, nicht immer auf den wegsamsten Pfaden hinschreitend. Nur als er spät in sein Zimmer trat, hielt er sich nicht und rief:»Morgen früh bin ich fort, solch einen Tag will ich nicht wieder erleben!»

Und so warf er sich angekleidet aufs Lager. — Glückliche, gesunde Jugend! Er schlief schon; die abmüdende Bewegung des Tages hatte ihm die süßeste Nachtruhe verdient. Aus tröstlichen Morgenträumen jedoch weckte ihn die allerfrühste Sonne; es war eben der längste Tag, der ihm überlang zu werden drohte. Wenn er die Anmut des beruhigenden Abendgestirns gar nicht empfunden, so fühlte er die aufregende Schönheit des Morgens nur, um zu verzweifeln. Er sah die Welt so herrlich als je, seinen Augen war sie es noch; sein Inneres aber widersprach: das gehörte ihm alles nicht mehr an, er hatte Lucinden verloren.

Der Mantelsack war schnell gepackt, den er wollte liegenlassen; keinen Brief schrieb er dazu, nur mit wenig Worten sollte sein Ausbleiben vom Tisch, vielleicht auch vom Abend, durch den Reitknecht entschuldigt werden, den er ohnehin aufwecken mußte. Diesen aber fand er unten, schon vor dem Stalle, mit großen Schritten auf und ab gehend.»Sie wollen doch nicht reiten?«rief der sonst gutmütige Mensch mit einigem Verdruß.»Ihnen darf ich es wohl sagen, aber der junge Herr wird alle Tage unerträglicher. Hatte er sich doch gestern in der Gegend herumgetrieben, daß man glauben sollte, er danke Gott, einen Sonntagmorgen zu ruhen. Kommt er nicht heute frühe vor Tag, rumort im Stalle, und wie ich aufspringe, sattelt und zäumt er Ihr Pferd, ist durch keine Vorstellung abzuhalten; er schwingt sich drauf und ruft: ›Bedenke nur das gute Werk, das ich tue! Dies Geschöpf geht immer nur gelassen einen juristischen Trab, ich will sehen, daß ich ihn zu einem raschen Lebensgalopp anrege.‹ Er sagte ungefähr so und verführte andere wunderliche Reden.»

Lucidor war doppelt und dreifach betroffen, er liebte das Pferd, als seinem eigenen Charakter, seiner Lebensweise zusagend; ihn verdroß, das gute, verständige Geschöpf in den Händen eines Wildfangs zu wissen. Sein Plan war zerstört, seine Absicht, zu einem Universitätsfreunde, mit dem er in froher, herzlicher Verbindung gelebt, in dieser Krise zu flüchten. Das alte Zutrauen war erwacht, die dazwischenliegenden Meilen wurden nicht gerechnet, er glaubte schon bei dem wohlwollenden, verständigen Freunde Rat und Linderung zu finden. Diese Aussicht war nun abgeschnitten; doch sie war's nicht, wenn er es wagte, auf frischen Wanderfüßen, die ihm zu Gebote standen, sein Ziel zu erreichen.

Vor allen Dingen suchte er nun aus dem Park ins freie Feld, auf den Weg, der ihn zum Freunde führen sollte, zu gelangen. Er war seiner Richtung nicht ganz gewiß, als ihm, linker Hand, über dem Gebüsch hervorragend, auf wunderlichem Zimmerwerk die Einsiedelei, aus der man ihm früher ein Geheimnis gemacht hatte, in die Augen fiel und er, jedoch zu seiner größten Verwunderung, auf der Galerie unter dem chinesischen Dache den guten Alten, der einige Tage für krank gehalten worden, munter um sich blickend erschaute. Dem freundlichsten Gruße, der dringenden Einladung heraufzukommen widerstand Lucidor mit Ausflüchten und eiligen Gebärden. Nur Teilnahme für den guten Alten, der, die steile Treppe schwankenden Tritts heruntereilend, herabzustürzen drohte, konnte ihn vermögen, entgegenzugehen und sodann sich hinaufziehen zu lassen. Mit Verwunderung betrat er das anmutige Sälchen: es hatte nur drei Fenster gegen das Land, eine allerliebste Aussicht; die übrigen Wände waren verziert oder vielmehr verdeckt von hundert und aber hundert Bildnissen, in Kupfer gestochen, allenfalls auch gezeichnet, auf die Wand nebeneinander in gewisser Ordnung aufgeklebt, durch farbige Säume und Zwischenräume gesondert.

«Ich begünstige Sie, mein Freund, wie nicht jeden; dies ist das Heiligtum, in dem ich meine letzten Tage vergnüglich zubringe. Hier erhol' ich mich von allen Fehlern, die mich die Gesellschaft begehen läßt, hier bring' ich meine Diätfehler wieder ins Gleichgewicht.»

Lucidor besah sich das Ganze, und in der Geschichte wohl erfahren, sah er alsbald klar, daß eine historische Neigung zugrunde liege.

«Hier oben in der Friese«, sagte der Alte,»finden Sie die Namen vortrefflicher Männer aus der Urzeit, dann aus der näheren auch nur die Namen, denn wie sie ausgesehen, möchte schwerlich auszumitteln sein. Hier aber im Hauptfelde geht eigentlich mein Leben an, hier sind die Männer, die ich noch nennen gehört als Knabe. Denn etwa funfzig Jahre bleibt der Name vorzüglicher Menschen in der Erinnerung des Volks, weiterhin verschwindet er oder wird märchenhaft. — Obgleich von deutschen Eltern, bin ich in Holland geboren, und für mich ist Wilhelm von Oranien, als Statthalter und König von England, der Urvater aller außerordentlichen Männer und Helden.

Nun sehen Sie aber Ludwig den Vierzehnten gleich neben ihm, als welcher«— wie gern hätte Lucidor den guten Alten unterbrochen, wenn es sich geschickt hätte, wie es sich uns, den Erzählenden, wohl ziemen mag. denn ihn bedrohte die neue und neueste Geschichte, wie sich an den Bildern Friedrichs des Großen und seiner Generale, nach denen er hinschielte, gar wohl bemerken ließ.

Ehrte nun auch der gute Jüngling die lebendige Teilnahme des Alten an seiner nächsten Vor- und Mitzeit, konnten ihm einzelne individuelle Züge und Ansichten als interessant nicht entgehen, so hatte er doch auf Akademien schon die neuere und neueste Geschichte gehört, und was man einmal gehört hat, glaubt man für immer zu wissen. Sein Sinn stand in die Ferne, er hörte nicht, er sah kaum und war eben im Begriff, auf die ungeschickteste Weise zur Türe hinaus und die lange, fatale Treppe hinunter zu poltern, als ein Händeklatschen von unten heftig zu vernehmen war.

Indessen sich Lucidor zurückhielt, fuhr der Kopf des Alten zum Fenster hinaus, und von unten ertönte eine wohlbekannte Stimme:»Kommen Sie herunter, um 's Himmels willen, aus Ihrem historischen Bildersaal, alter Herr! Schließen Sie Ihre Fasten und helfen mir unsern jungen Freund begütigen — wenn er's erfährt. Lucidors Pferd hab' ich etwas unvernünftig angegriffen, es hat ein Eisen verloren, und ich mußte es stehen lassen. Was wird er sagen? Es ist doch gar zu absurd, wenn man absurd ist.»

«Kommen Sie herauf!«sagte der Alte und wendete sich herein zu Lucidor:»Nun, was sagen Sie?«Lucidor schwieg, und der wilde Junker trat herein. Das Hin- und Widerreden gab eine lange Szene; genug, man beschloß, den Reitknecht sogleich hinzuschicken, um für das Pferd Sorge zu tragen.

Den Greis zurücklassend, eilten beide jungen Leute nach dem Hause, wohin sich Lucidor nicht ganz unwillig ziehen ließ; es mochte daraus werden, was wollte, wenigstens war in diesen Mauern der einzige Wunsch seines Herzens eingeschlossen. In solchem verzweifelten Falle vermissen wir ohnehin den Beistand unseres freien Willens und fühlen uns erleichtert für einen Augenblick, wenn von irgendwoher Bestimmung und Nötigung eingreift. Jedoch fand er sich, da er sein Zimmer betrat, in dem wunderlichsten Zustande, eben als wenn jemand in ein Gasthofsgemach, das er soeben verließ, unerwünscht wieder einzukehren genötigt ist, weil ihm eine Achse gebrochen.

Der lustige Junker machte sich nun über den Mantelsack, um alles recht ordentlich auszupacken, vorzüglich legte er zusammen, was von festlichen Kleidungsstücken, obgleich reisemäßig, vorhanden war; er nötigte Lucidorn, Schuh und Strümpfe anzuziehen, richtete dessen vollkrause, braune Locken zurecht und putzte ihn aufs beste heraus. Sodann rief er hinwegtretend, unsern Freund und sein Machwerk vom Kopf bis zum Fuße beschauend.»Nun seht Ihr doch, Freundchen, einem Menschen gleich, der einigen Anspruch auf hübsche Kinder macht, und ernsthaft genug dabei, um sich nach einer Braut umzusehn. Nur einen Augenblick! und Ihr sollt erfahren, wie ich mich hervorzutun weiß, wenn die Stunde schlägt. Das hab' ich Offizieren abgelernt, nach denen die Mädchen immer schielen, und da hab' ich mich zu einer gewissen Soldateska selbst enrolliert, und nun sehen sie mich auch an und wieder an, weil keine weiß, was sie aus mir machen soll. Da entsteht nun aus dem Hin- und Hersehen, aus Verwunderung und Aufmerksamkeit oft etwas gar Artiges, das, wär' es auch nicht dauerhaft, doch wert ist, daß man ihm den Augenblick gönne.

Aber nun kommen Sie, Freund, und erweisen mir den gleichen Dienst! Wenn Sie mich Stück für Stück in meine Hülle schlüpfen sehen, so werden Sie Witz und Erfindungsgabe dem leichtfertigen Knaben nicht absprechen.»

Nun zog er den Freund mit sich fort, durch lange, weitläufige Gänge des alten Schlosses.»Ich habe mich«, rief er aus,»ganz hinten hingebettet. Ohne mich verbergen zu wollen, bin ich gern allein; denn man kann's den andern doch nicht recht machen.»

Sie kamen an der Kanzlei vorbei, eben als ein Diener heraustrat und ein Urvater-Schreibzeug, schwarz, groß und vollständig, heraustrug; Papier war auch nicht vergessen.

«Ich weiß schon, was da wieder gekleckst werden soll«, rief der Junker;»geh hin und laß mir den Schlüssel. Tun Sie einen Blick hinein, Lucidor! es unterhält Sie wohl, bis ich angezogen bin. Einem Rechtsfreund ist ein solches Lokale nicht verhaßt wie einem Stallverwandten«; und so schob er Lucidorn in den Gerichtssaal.

Der Jüngling fühlte sich sogleich in einem bekannten, ansprechenden Elemente: die Erinnerung der Tage, wo er, aufs Geschäft erpicht, an solchem Tische saß, hörend und schreibend sich übte. Auch blieb ihm nicht verborgen, daß hier eine alte, stattliche Hauskapelle zum Dienste der Themis, bei veränderten Religionsbegriffen, verwandelt sei. In den Reposituren fand er Rubriken und Akten, ihm früher bekannt; er hatte selbst in diesen Angelegenheiten, von der Hauptstadt her, gearbeitet. Einen Faszikel aufschlagend, fiel ihm ein Reskript in die Hände, das er selbst mundiert, ein anderes, wovon er der Konzipient gewesen. Handschrift und Papier, Kanzleisiegel und des Vorsitzenden Unterschrift, alles rief ihm jene Zeit eines rechtlichen Strebens jugendlicher Hoffnung hervor. Und wenn er sich dann umsah und den Sessel des Oberamtmanns erblickte, ihm zugedacht und bestimmt, einen so schönen Platz, einen so würdigen Wirkungskreis, den er zu verschmähen, zu entbehren Gefahr lief, das alles bedrängte ihn doppelt und dreifach, indem die Gestalt Lucindens zu gleicher Zeit sich von ihm zu entfernen schien.

Er wollte das Freie suchen, fand sich aber gefangen. Der wunderliche Freund hatte, leichtsinnig oder schalkhaft, die Türe verschlossen hinter sich gelassen; doch blieb unser Freund nicht lange in dieser peinlichsten Beklemmung, denn der andere kam wieder, entschuldigte sich und erregte wirklich guten Humor durch seine seltsame Gegenwart. Eine gewisse Verwegenheit der Farben und des Schnitts seiner Kleidung war durch natürlichen Geschmack gedämpft; wie wir ja selbst tatouierten Indiern einen gewissen Beifall nicht versagen.»Heute«, rief er aus,»Soll uns die Langeweile vergangener Tage vergütet werden; gute Freunde, muntere Freunde sind angekommen, hübsche Mädchen, neckische, verliebte Wesen, und dann auch mein Vater, und Wunder über Wunder! Ihr Vater auch; das wird ein Fest werden, alles ist im Saale schon versammelt beim Frühstück.»

Lucidorn war's auf einmal zumute, als wenn er in tiefe Nebel hineinsähe, alle die angemeldeten bekannten und unbekannten Gestalten erschienen ihm gespenstig; doch sein Charakter in Begleitung eines reinen Herzens hielt ihn aufrecht, in wenigen Sekunden fühlte er sich schon allem gewachsen. Nun folgte er dem eilenden Freunde mit sicherem Tritt, fest entschlossen, abzuwarten, es geschehe, was da wolle, sich zu erklären, es entstehe, was da wolle.

Und doch war er auf der Schwelle des Saals betroffen. In einem großen Halbkreis rings an den Fenstern umher entdeckte er sogleich seinen Vater neben dem Oberamtmann, beide stattlich angezogen. Die Schwestern, Antoni und sonst noch Bekannte und Unbekannte übersah er mit einem Blick, der ihm trübe werden wollte. Schwankend näherte er sich seinem Vater, der ihn höchst freundlich willkommen hieß, jedoch mit einer gewissen Förmlichkeit, die ein vertrauendes Annähern kaum begünstigte. Vor so vielen Personen stehend suchte er sich für den Augenblick einen schicklichen Platz; er hätte sich neben Lucinden stellen können, aber Julie, dem gespannten Anstand zuwider, machte eine Wendung, daß er zu ihr treten mußte; Antoni blieb neben Lucinden.

In diesem bedeutenden Momente fühlte sich Lucidor abermals als Beauftragten, und gestählt von seiner ganzen Rechtswissenschaft, rief er sich jene schöne Maxime zu seinen eignen Gunsten heran:»Wir sollen anvertraute Geschäfte der Fremden wie unsere eigenen behandeln, warum nicht die unsrigen in eben dem Sinne?«— In Geschäftsvorträgen wohl geübt, durchlief er schnell, was er zu sagen habe. Indessen schien die Gesellschaft, in einen förmlichen Halbzirkel gebildet, ihn zu überflügeln. Den Inhalt seines Vortrags kannte er wohl, den Anfang konnte er nicht finden. Da bemerkte er, in einer Ecke aufgetischt, das große Tintenfaß, Kanzleiverwandte dabei; der Oberamtmann machte eine Bewegung, seine Rede vorzubereiten; Lucidor wollte ihm zuvorkommen, und in demselben Augenblicke drückte Julie ihm die Hand. Dies brachte ihn aus aller Fassung, er überzeugte sich, daß alles entschieden, alles für ihn verloren sei.

Nun war an gegenwärtigen sämtlichen Lebensverhältnissen, diesen Familienverbindungen, Gesellschafts- und Anstandsbezügen nichts mehr zu schonen; er sah vor sich hin, entzog seine Hand Julien und war so schnell zur Türe hinaus, daß die Versammlung ihn unversehens vermißte und er sich selbst draußen nicht wiederfinden konnte.

Scheu vor dem Tageslichte, das im höchsten Glanze über ihn herabschien, die Blicke begegnender Menschen vermeidend, aufsuchende fürchtend, schritt er vorwärts und gelangte zu dem großen Gartensaal. Dort wollten ihm die Kniee versagen, er stürzte hinein und warf sich trostlos auf den Sofa unter dem Spiegel: mitten in der sittlich-bürgerlichen Gesellschaft in solcher Verworrenheit befangen, die sich wogenhaft um ihn, in ihm hin und her schlug. Sein vergangenes Dasein kämpfte mit dem gegenwärtigen, es war ein greulicher Augenblick.

Und so lag er eine Zeit, mit dem Gesichte in das Kissen versenkt, auf welchem gestern Lucindens Arm geruht hatte. Ganz in seinen Schmerz versunken, fuhr er, sich berührt fühlend, schnell in die Höhe, ohne die Annäherung irgendeiner Person gespürt zu haben: da erblickt' er Lucinden, die ihm nahe stand.

Vermutend, man habe sie gesendet, ihn abzuholen, ihr aufgetragen, ihn mit schicklichen, schwesterlichen Worten in die Gesellschaft, seinem widerlichen Schicksal entgegen zu führen, rief er aus:»Sie hätte man nicht senden müssen, Lucinde, denn Sie sind es, die mich von dort vertrieb; ich kehre nicht zurück! Geben Sie mir, wenn Sie irgendeines Mitleids fähig sind, schaffen Sie mir Gelegenheit und Mittel zur Flucht. Denn, damit Sie von mir zeugen können, wie unmöglich es sei, mich zurückzubringen, so nehmen Sie den Schlüssel zu meinem Betragen, das Ihnen und allen wahnsinnig vorkommen muß. Hören Sie den Schwur, den ich mir im Innern getan und den ich unauflöslich laut wiederhole: Nur mit Ihnen wollt' ich leben, meine Jugend nutzen, genießen, und so das Alter im treuen, redlichen Ablauf. Dies aber sei so fest und sicher als irgend etwas, was vor dem Altar je geschworen worden, was ich jetzt schwöre, indem ich Sie verlasse, der bedauernswürdigste aller Menschen.»

Er machte eine Bewegung zu entschlüpfen, ihr, die so gedrängt vor ihm stand; aber sie faßte ihn sanft in ihren Arm. — »Was machen Sie!«rief er aus. — »Lucidor!«rief sie,»nicht zu bedauern, wie Sie wohl wähnen, Sie sind mein, ich die Ihre; ich halte Sie in meinen Armen, zaudern Sie nicht, die Ihrigen um mich zu schlagen. Ihr Vater ist alles zufrieden; Antoni heiratet meine Schwester. «Erstaunt zog er sich von ihr zurück.»Das wäre wahr?«Lucinde lächelte und nickte, er entzog sich ihren Armen.»Lassen Sie mich noch einmal in der Ferne sehen, was so nah, so nächst mir angehören soll. — Er faßte ihre Hände, Blick in Blick!» Lucinde, sind Sie mein?«— Sie versetzte:»Nun ja doch«, die süßesten Tränen in dem treusten Auge; er umschlang sie und warf sein Haupt hinter das ihre, hing wie am Uferfelsen ein Schiffbrüchiger; der Boden bebte noch unter ihm. Nun aber sein entzückter Blick, sich wieder öffnend, fiel in den Spiegel. Da sah er sie in seinen Armen, sich von den ihren umschlungen; er blickte wieder und wieder hin. Solche Gefühle begleiten den Menschen durchs ganze Leben. Zugleich sah er auch auf der Spiegelfläche die Landschaft, die ihm gestern so greulich und ahnungsvoll erschienen war, glänzender und herrlicher als je; und sich in solcher Stellung, auf solchem Hintergrunde! Genugsame Vergeltung aller Leiden.

«Wir sind nicht allein«, sagte Lucinde, und kaum hatte er sich von seinem Entzücken erholt, so erschienen geputzt und bekränzt Mädchen und Knaben, Kränze tragend, den Ausgang versperrend.»Das sollte alles anders werden«, rief Lucinde;»wie artig war es eingerichtet, und nun geht's tumultuarisch durcheinander!«Ein munterer Marsch tönte von weitem, und man sah die Gesellschaft den breiten Weg her feierlich heiter heranziehen. Er zauderte entgegenzusehen und schien seiner Schritte nur an ihrem Arm gewiß; sie blieb neben ihm, die feierliche Szene des Wiedersehens, des Danks für eine schon vollendete Vergebung von Augenblick zu Augenblick erwartend.

Anders war's jedoch von den launischen Göttern beschlossen; eines Posthorns lustig schmetternder Ton, von der Gegenseite, schien den ganzen Anstand in Verwirrung zu setzen.»Wer mag kommen?«rief Lucinde. Lucidorn schauderte vor einer fremden Gegenwart, und auch der Wagen schien ganz fremd. Eine zweisitzige, neue, ganz neuste Reisechaise! Sie fuhr an den Saal an. Ein ausgezeichneter, anständiger Knabe sprang hinten herunter, öffnete den Schlag, aber niemand stieg heraus; die Chaise war leer, der Knabe stieg hinein, mit einigen geschickten Handgriffen warf er die Spriegel zurück, und so war in einem Nu das niedlichste Gebäude zur lustigen Spazierfahrt vor den Augen aller Anwesenden bereitet, die indessen herankamen. Antoni, den übrigen voreilend, führte Julien zu dem Wagen.»Versuchen Sie«, sprach er,»Ob Ihnen das Fuhrwerk gefallen kann, um darin mit mir auf den besten Wegen durch die Welt zu rollen; ich werde Sie keinen andern führen, und wo es irgend not tut, wollen wir uns zu helfen wissen. Über das Gebirg sollen uns Saumrosse tragen, und den Wagen dazu.»

«Sie sind allerliebst!«rief Julie. Der Knabe trat heran und zeigte mit Taschenspielergewandtheit alle Bequemlichkeiten, kleine Vorteile und Behendigkeiten des ganzen leichten Baues.

«Auf der Erde weiß ich keinen Dank«, rief Julie,»nur auf diesem kleinen, beweglichen Himmel, aus dieser Wolke, in die Sie mich erheben, will ich Ihnen herzlich danken. «Sie war schon eingesprungen, ihm Blick und Kußhand freundlich zuwerfend.»Gegenwärtig dürfen Sie noch nicht zu mir herein, da ist aber ein anderer, den ich auf dieser Probefahrt mitzunehmen gedenke, er hat auch noch eine Probe zu bestehen. «Sie rief nach Lucidor, der, eben mit Vater und Schwiegervater in stummer Unterhaltung begriffen, sich gern in das leichte Fuhrwerk nötigen ließ, da er ein unausweichlich Bedürfnis fühlte, nur einen Augenblick auf irgendeine Weise sich zu zerstreuen. Er saß neben ihr, sie rief dem Postillon zu, wie er fahren solle. Flugs entfernten sie sich, in Staub gehüllt, aus den Augen der verwundert Nachschauenden.

Julie setzte sich recht fest und bequem ins Eckchen. — »Rücken Sie nun auch dorthin, Herr Schwager, daß wir uns recht bequem in die Augen sehen.»

Lucidor. Sie empfinden meine Verwirrung, meine Verlegenheit; ich bin noch immer wie im Traume, helfen Sie mir heraus.

Julie. Sehen Sie die hübschen Bauersleute, wie sie freundlich grüßen! Bei Ihrem Hiersein sind Sie ja nicht ins obere Dorf gekommen. Alles wohlhabende Leute, die mir alle gewogen sind. Es ist niemand zu reich, dem man nicht einmal wohlwollend einen bedeutenden Dienst erweisen könne. Diesen Weg, den wir so bequem fahren, hat mein Vater angelegt und auch dieses Gute gestiftet.

Lucidor. Ich glaub' es gern und geb' es zu; aber was sollen die Äußerlichkeiten gegen die Verworrenheit meines Innern!

Julie. Nur Geduld, ich will Ihnen die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zeigen. Nun sind wir oben! Wie klar das ebene Land gegen das Gebirg hinliegt! Alle diese Dörfer verdanken meinem Vater gar viel, und Mutter und Töchtern wohl auch. Die Flur jenes Städtchens dort hinten macht erst die Grenze.

Lucidor. Ich finde Sie in einer wunderlichen Stimmung; Sie scheinen nicht recht zu sagen, was Sie sagen wollten.

Julie. Nun sehen Sie hier links hinunter, wie schön sich das alles entwickelt! Die Kirche mit ihren hohen Linden, das Amthaus mit seinen Pappeln hinter dem Dorfhügel her. Auch die Gärten liegen vor uns und der Park.

Der Postillon fuhr schärfer.

Julie. Jenen Saal dort droben kennen Sie; er sieht sich von hier aus ebenso gut an wie die Gegend von dort her. Hier am Baume wird gehalten; nun gerade hier spiegeln wir uns oben in der großen Glasfläche, man sieht uns dort recht gut, wir aber können uns nicht erkennen. — Fahre zu! — Dort haben sich vor kurzem wahrscheinlich ein Paar Leute näher bespiegelt und, ich müßte mich sehr irren, mit großer wechselseitiger Zufriedenheit.

Lucidor, verdrießlich, erwiderte nichts; sie fuhren eine Zeitlang stillschweigend vor sich hin, es ging sehr schnell.»Hier«, sagte Julie,»fängt der schlechte Weg an, um den mögen Sie sich einmal verdient machen. Eh es hinabgeht, schauen Sie noch hinüber, die Buche meiner Mutter ragt mit ihrem herrlichen Gipfel über alles hervor. Du fährst«, fuhr sie zum Kutschenden fort,»den schlechten Weg hin, wir nehmen den Fußpfad durchs Tal und sind eher drüben wie du. «Im Aussteigen rief sie aus:»Das gestehen Sie doch, der ewige Jude, der unruhige Anton Reiser, weiß noch seine Wallfahrten bequem genug einzurichten, für sich und seine Genossen: es ist ein sehr schöner, bequemer Wagen.»

Und so war sie auch schon den Hügel drunten; Lucidor folgte sinnend und fand sie auf einer wohlgelegenen Bank sitzend, es war Lucindens Plätzchen. Sie lud ihn zu sich.

Julie. Nun sitzen wir hier und gehen einander nichts an, das hat denn doch so sein sollen. Das kleine Quecksilber wollte Ihnen gar nicht anstehen. Nicht lieben konnten Sie ein solches Wesen, verhaßt war es Ihnen.

Lucidors Verwunderung nahm zu.

Julie. Aber freilich Lucinde! Sie ist der Inbegriff aller Vollkommenheiten, und die niedliche Schwester war ein für allemal ausgestochen. Ich seh' es, auf Ihren Lippen schwebt die Frage, wer uns so genau unterrichtet hat?

Lucidor. Es steckt ein Verrat dahinter!

Julie. Jawohl! ein Verräter ist im Spiele.

Lucidor. Nennen Sie ihn.

Julie. Der ist bald entlarvt. Sie selbst! — Sie haben die löbliche oder unlöbliche Gewohnheit, mit sich selbst zu reden, und da will ich denn in unser aller Namen bekennen, daß wir Sie wechselsweise behorcht haben.

Lucidor (aufspringend). Eine saubere Gastfreundschaft, auf diese Weise den Fremden eine Falle zu stellen!

Julie. Keineswegs; wir dachten nicht daran, Sie zu belauschen, so wenig als irgendeinen andern. Sie wissen, Ihr Bett steht in einem Verschlag der Wand, von der Gegenseite geht ein anderer herein, der gewöhnlich nur zu häuslicher Niederlage dient. Da hatten wir einige Tage vorher unsern Alten genötigt zu schlafen, weil wir für ihn in seiner abgelegenen Einsiedelei viele Sorge trugen; nun fuhren Sie gleich den ersten Abend mit einem solchen leidenschaftlichen Monolog ins Zeug, dessen Inhalt er uns den andern Morgen angelegentlichst entdeckte.

Lucidor hatte nicht Lust, sie zu unterbrechen. Er entfernte sich.

Julie (aufgestanden ihm folgend). Wie war uns mit dieser Erklärung gedient! Denn ich gestehe gern: wenn Sie mir auch nicht gerade zuwider waren, so blieb doch der Zustand, der mich erwartete, mir keineswegs wünschenswert. Frau Oberamtmännin zu sein, welche schreckliche Lage! Einen tüchtigen, braven Mann zu haben, der den Leuten Recht sprechen soll und vor lauter Recht nicht zur Gerechtigkeit kommen kann! der es weder nach oben noch unten recht macht und, was das Schlimmste ist, sich selbst nicht. Ich weiß, was meine Mutter ausgestanden hat von der Unbestechlichkeit, Unerschütterlichkeit meines Vaters. Endlich, leider nach ihrem Tod, ging ihm eine gewisse Mildigkeit auf, er schien sich in die Welt zu finden, an ihr sich auszugleichen, die er sich bisher vergeblich bekämpft hatte.

Lucidor (höchst unzufrieden über den Vorfall, ärgerlich über die leichtsinnige Behandlung, stand still). Für den Scherz eines Abends mochte das hingehen, aber eine solche beschämende Mystifikation Tage und Nächte lang gegen einen unbefangenen Gast zu verüben, ist nicht verzeihlich.

Julie. Wir alle haben uns die Schuld geteilt, wir haben Sie alle behorcht; ich aber allein büße die Schuld des Horchens.

Lucidor. Alle! desto unverzeihlicher! Und wie konnten Sie mich den Tag über ohne Beschämung ansehen, den Sie des Nachts schmählich-unerlaubt überlisteten? Doch ich sehe jetzt ganz deutlich mit einem Blick, daß Ihre Tagesanstalten nur darauf berechnet waren, mich zum besten zu haben. Eine löbliche Familie! und wo bleibt die Gerechtigkeitsliebe Ihres Vaters? — Und Lucinde! —

Julie. Und Lucinde! — Was war das für ein Ton! Nicht wahr, Sie wollten sagen: wie tief es Sie schmerzt, von Lucinden übel zu denken, Lucinden mit uns allen in eine Klasse zu werfen?

Lucidor. Lucinden begreif' ich nicht.

Julie. Sie wollen sagen: diese reine, edle Seele, dieses ruhig gefaßte Wesen, die Güte, das Wohlwollen selbst, diese Frau, wie sie sein sollte, verbindet sich mit einer leichtsinnigen Gesellschaft, mit einer überhinfahrenden Schwester, einem verzogenen Jungen und gewissen geheimnisvollen Personen! das ist unbegreiflich.

Lucidor. Jawohl ist das unbegreiflich.

Julie. So begreifen Sie es denn! Lucinden wie uns allen waren die Hände gebunden. Hätten Sie die Verlegenheit bemerken können, wie sie sich kaum zurückhielt, Ihnen alles zu offenbaren, Sie würden sie doppelt und dreifach lieben, wenn nicht jede wahre Liebe an und für sich zehn- und hundertfach wäre; auch versichere ich Sie, uns allen ist der Spaß am Ende zu lang geworden.

Lucidor. Warum endigten Sie ihn nicht?

Julie. Das ist nun auch aufzuklären. Nachdem Ihr erster Monolog dem Vater bekannt geworden und er gar bald bemerken konnte, daß alle seine Kinder nichts gegen einen solchen Tausch einzuwenden hätten, so entschloß er sich, alsbald zu Ihrem Vater zu reisen. Die Wichtigkeit des Geschäfts war ihm bedenklich. Ein Vater allein fühlt den Respekt, den man einem Vater schuldig ist. — »Er muß es zuerst wissen«, sagte der meine,»um nicht etwan hintendrein, wenn wir einig sind, eine ärgerlich-erzwungene Zustimmung zu geben. Ich kenne ihn genau, ich weiß, wie er einen Gedanken, eine Neigung, einen Vorsatz festhält, und es ist mir bange genug. Er hat sich Julien, seine Karten und Prospekte so zusammen gedacht, daß er sich schon vornahm, das alles zuletzt hierher zu stiften, wenn der Tag käme, wo das junge Paar sich hier niederließe und Ort und Stelle so leicht nicht verändern könnte: da wollt' er alle Ferien uns zuwenden, und was er für Liebes und Gutes im Sinne hatte. Er muß zuerst erfahren, was die Natur uns für einen Streich gespielt, da noch nichts eigentlich erklärt, noch nichts entschieden ist. «Hierauf nahm er uns allen den feierlichsten Handschlag ab, daß wir Sie beobachten und, es geschehe, was da wolle, Sie hinhalten sollten. Wie sich die Rückreise verzögert, wie es Kunst, Mühe und Beharrlichkeit gekostet, Ihres Vaters Einwilligung zu erlangen, das mögen Sie von ihm selbst hören. Genug, die Sache ist abgetan, Lucinde ist Ihnen gegönnt. —

Und so waren beide, vom ersten Sitze lebhaft sich entfernend, unterwegs anhaltend, immer fortsprechend und langsam weitergehend, über die Wiesen hin auf die Erhöhung gekommen an einen andern wohlgebahnten Kunstweg. Der Wagen fuhr schnell heran; Augenblicks machte sie ihren Nachbar aufmerksam auf ein seltsames Schauspiel. Die ganze Maschinerie, worauf sich der Bruder so viel zugute tat, war belebt und bewegt; schon führten die Räder eine Menschenzahl auf und nieder, schon wogten die Schaukeln, Mastbäume wurden erklettert, und was man nicht alles für kühnen Schwung und Sprung über den Häuptern einer unzählbaren Menge gewagt sah! Alles das hatte der Junker in Bewegung gesetzt, damit nach Tafel die Gäste fröhlich unterhalten würden.»Du fährst noch durchs untere Dorf«, rief Julie,»die Leute wollen mir wohl, und sie sollen sehen, wie wohl es mir geht.»

Das Dorf war öde, die Jüngern sämtlich hatten schon den Lustplatz ereilt, alte Männer und Frauen zeigten sich, durch das Posthorn erregt, an Tür und Fenstern, alles grüßte, segnete, rief:»O das schöne Paar!»

Julie. Nun, da haben Sie's! Wir hätten am Ende doch wohl zusammengepaßt; es kann Sie noch reuen.

Lucidor. Jetzt aber, liebe Schwägerin! —

Julie. Nicht wahr, jetzt» lieb«, da Sie mich los sind.

Lucidor. Nur ein Wort! Auf Ihnen lastet eine schwere Verantwortlichkeit; was sollte der Händedruck, da Sie meine überschreckliche Stellung kannten und fühlen mußten? So gründlich Boshaftes ist mir in der Welt noch nichts vorgekommen.

Julie. Danken Sie Gott, nun wär's abgebüßt, alles ist verziehen. Ich wollte Sie nicht, das ist wahr, aber daß Sie mich ganz und gar nicht wollten, das verzeiht kein Mädchen, und dieser Händedruck war, merken Sie sich's! für den Schalk. Ich gestehe, es war schalkischer als billig, und ich verzeihe mir nur, indem ich Ihnen vergebe, und so sei denn alles vergeben und vergessen! Hier meine Hand.

Er schlug ein, sie rief:»Da sind wir schon wieder! in unserm Park schon wieder, und so geht's bald um die weite Welt und auch wohl zurück; wir treffen uns wieder.»

Sie waren vor dem Gartensaal schon angelangt, er schien leer; die Gesellschaft hatte sich, im Unbehagen, die Tafelzeit überlang verschoben zu sehen, zum Spazieren bewegt. Antoni aber und Lucinde traten hervor. Julie warf sich aus dem Wagen ihrem Freund entgegen, sie dankte in einer herzlichen Umarmung und enthielt sich nicht der freudigsten Tränen. Des edlen Mannes Wange rötete sich, seine Züge traten entfaltet hervor, sein Auge blickte feucht, und ein schöner, bedeutender Jüngling erschien aus der Hülle.

Und so zogen beide Paare zur Gesellschaft, mit Gefühlen, die der schönste Traum nicht zu geben vermochte.