Owen Todtsteltzer wurde nach seiner Rebellion gegen die Tyrannei der Kaiserin Löwenstein XIV zum Helden, zu einer Legende. Doch er und seine Freunde haben nicht lange Zeit, sich über ihren Sieg zu freuen. Erneut werden sie in einen erbitterten Konflikt verwickelt - diesmal um die Nachfolge der entthronten Herrscherin. Owen und Hazel versuchen sich aus dem politischen Intrigenspiel herauszuhalten, doch bald entdecken sie, daß der Menschheit sehr viel ernstere Probleme drohen, ja, daß der Krieg noch lange nicht vorbei ist, sondern im Gegenteil gerade erst begonnen hat …

Simon R. Green

Über das abenteuerliche Leben des OWEN TODTSTELTZER

Der Legende vierter Theil 

TODTSTELTZERS EHRE

Wenn letzten Ende alles andere scheitert, bleibt die Ehre.

Sie waren schließlich offizielle Helden der großen Rebellion: Owen Todtsteltzer, ausgestoßener Aristokrat und widerstrebender Krieger.

Hazel D’Ark, Ex-Klonpascherin und Ex-Piratin.

Jakob Ohnesorg, der legendäre Berufsrevolutionär.

Ruby Reise, die berüchtigte Kopfgeldjägerin.

Gemeinsam kämpften sie im Namen der Freiheit und Gerechtigkeit gegen unmögliche Widerstände an und triumphierten ein ums andere Mal. Sie stellten eine Armee der Kühnen und Tapferen auf, der Geknechteten und Verzweifelten, und führten sie zum Sieg. Und im großen Stahl- und Messingpalast der Heimatwelt Golgatha stürzten sie die Imperatorin Löwenstein XIV und vernichteten endgültig den Eisernen Thron des Imperiums.

Sie hätten gefeiert und geehrt werden und auf allen Planeten höchste Ehrungen erfahren sollen.

Sie hätten glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben sollen.

Leider ist das Leben nicht so.

KAPITEL EINS

DAS HAUS DER GEBEINE

An Bord der guten Sonnenschreiter II:

»Kopfgeldjäger!« sagte Hazel D’Ark angewidert. »Nach allem, was wir geleistet haben, was wir durchgemacht haben, sind wir letztlich nichts weiter geworden als bessere Kopfgeldjäger!«

»Immer noch besser als das, was wir bislang getan haben«, versetzte Owen sanft. Der hochgewachsene und langgliedrige Mann mit dem dunklen Haar und den noch dunkleren Augen lümmelte schlaff im bequemsten Sessel des Salons. »Die Jagd auf Kriegsverbrecher ist eine wichtige Aufgabe. Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich finde es viel nervenschonender, der Jäger zu sein als der Gejagte. Obendrein müßte es für Euch mal eine nette Abwechslung bedeuten, auf der Seite des Gesetzes zu stehen.«

»Es geht ums Prinzip!« schnauzte Hazel. »Wir waren schließlich wer! Wir haben Armeen geführt! Wir haben das Imperium gestürzt! Haben immer wieder riskiert, daß uns jemand die Ärsche wegballert, und trotzdem finden wir uns wieder, wie wir für das Parlament die Drecksarbeit tun. Am liebsten würde ich kotzen.«

Owen sah sich für einen Moment aus dem Konzept gebracht.

Eigentlich hätte er gutes Geld darauf verwettet, daß Hazel ein Prinzip nie als solches erkannt hätte, selbst wenn sie auf dem Rückweg von der Toilette darüber stolperte. Er raffte sich jedoch tapfer auf und beendete die Diskussion mit einem treffenden, wenn auch nicht gänzlich taktvollen Einwurf.

»Wenn ich mich recht entsinne, war das ohnehin alles Eure Idee.«

Hazel bedachte ihn mit einem finsteren Blick und wandte sich ab, um das nächste Schott anzufunkeln. Sie hatte wieder eine ihrer Launen und war nicht bereit, sich von simpler Logik umstimmen zu lassen. Owen seufzte, besaß jedoch ausreichend gesunden Menschenverstand, es ganz leise zu tun. Um die Wahrheit zu sagen: Auch er empfand es als eine Art Abstieg, jetzt als Kopfgeldjäger loszuziehen, aber alle Alternativen wären schlimmer ausgefallen. Während er noch in der Rebellion kämpfte, hatte er nie richtig darüber nachgedacht, was er mal tun wollte, wenn es vorbei war. Vor allem deshalb nicht, weil er die meiste Zeit zu sehr damit beschäftigt war, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, aber auch, weil er nie ernsthaft damit gerechnet hatte, noch in seiner Lebenszeit das Ende der Rebellion zu erleben. Die meisten Leute, die sich zum Widerstand aufrafften gegen Imperatorin Löwenstein XIV, auch die Eiserne Hexe genannt, landeten frühzeitig im Grab. Oft mit fehlenden Körperteilen. Aber schließlich hatte sich in Owens Leben noch nie etwas so entwickelt, wie er es erwartet hatte.

Wenn er zurückblickte, so schien er die meiste Zeit seines Lebens von einer Krise in die nächste gestolpert zu sein, oft mehr von den Umständen getrieben als aufgrund eigener Pläne und Wünsche handelnd. Überall um ihn herum spannen Intriganten und Verschwörer ihre Netze, von denen er meist nicht mehr mitbekam als den Schatten, den sie beiläufig auf sein Leben warfen. Und letztlich fand er, daß es trotz seiner Absichten und seiner kühnen Gefährten und der geheimnisvollen Kräfte, die ihm das Labyrinth des Wahnsinns verliehen hatte, die eigene schiere Sturheit gewesen war, die ihn gegen den Eisernen Thron geführt hatte, und die Weigerung, sich ungünstigen Chancen zu beugen, die einen Mann mit mehr Vernunft abgeschreckt hätten.

Er war zum Helden und zum Retter der Menschheit geworden, und niemanden hatte das mehr überrascht als ihn selbst.

Er hatte erwartet zu scheitern. Zu sterben, und zwar qualvoll.

Statt dessen stürzte er ein Imperium, das über ein Jahrtausend Bestand gehabt hatte, setzte die Herrscherin ab, vernichtete ihren Thron und erlebte das Ende praktisch jeder sozialen und politischen Struktur mit, an die er glaubte. Und damit begannen die Probleme erst richtig.

Löwensteins Leichnam war noch nicht erkaltet, als schon die Geier herabstießen. Noch während die letzten Gefechte tobten, setzte zwischen den diversen Gruppierungen der Rebellen ein heftiger Streit darüber ein, was genau an die Stelle des alten Systems treten sollte. Selbst die wenigen, die am Ende persönlich beteiligt waren, konnten zu keiner Übereinkunft gelangen.

Owen hätte am liebsten gehabt, daß die Dinge weitgehend so blieben wie bisher, daß nur ein paar politische Reformen durchgeführt und ein paar Ungerechtigkeiten bestraft wurden.

Hazel hätte am liebsten das ganze System niedergerissen und die Familien für Verbrechen gegen die Menschlichkeit vors Kriegsgericht gebracht. Jakob Ohnesorg beharrte auf Demokratie für alle, einschließlich aller Klone und Esper und sonstiger Unpersonen. Ruby Reise wollte die Beute sehen, die man ihr versprochen hatte.

Bald schlossen sich ihnen bei Hofe Vertreter der Klon- und Esper-Bewegung an sowie politischer Randgruppen aller Formen und Schattierungen und mehr religiöser Gruppierungen, als man überhaupt zählen konnte. Alle erpicht darauf, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Zum Glück waren alle zu müde, um sofort einen neuen Krieg vom Zaun zu brechen. Der Streit entwickelte sich zu einer Sackgasse, und alle stampften in unterschiedliche Richtungen auseinander, um neue Pläne und Intrigen zu schmieden. Im Moment besorgte das Parlament die Alltagsgeschäfte des Imperiums, weil das ja irgend jemand tun mußte, und die Abgeordneten hatten wenigstens Erfahrung auf diesem Gebiet. Niemand traute ihnen auch nur so weit, wie er spucken konnte, aber das wiederum war nichts Neues.

Männer und Frauen, die einmal miteinander verbündet gewesen waren, darauf eingeschworen, sich bis in den Tod und darüber hinaus zu verteidigen, bekämpften einander nun heftig über dogmatische Punkte und Fragen der Vorrangstellung.

Owen vermutete, daß ihn das nicht hätte überraschen dürfen.

Er war schließlich Historiker. Alles, was die diversen Rebellengruppen gemein gehabt hatten, war ein gemeinsamer Feind.

Und obwohl sie alle mit Begriffen wie Gerechtigkeit und Freiheit um sich warfen, bedeuteten sie für unterschiedliche Leute auch Verschiedenes.

Und dann war da noch das Abkommen, das Ohnesorg inmitten des verzweifeltsten Kampfes geschlossen hatte – nämlich die aristokratischen Familien zwar abzusetzen, aber nicht zu vernichten. Als sich die großen Häuser mit einer zunehmend siegreichen Armee konfrontiert sahen, die nach ihrem kollektiven Blut schrie, schlossen sie sich zusammen und boten an, auf Macht und Privilegien zu verzichten, falls man ihnen dafür erlaubte, als rein ökonomische Mächte zu überleben. Das war das Zuckerbrot. Die Peitsche bestand in ihrer Drohung, die wirtschaftliche Basis des ganzen Imperiums zu zerstören und jede zivilisierte Welt in die Barbarei zurückzuschleudern. Niemand bezweifelte, daß sie dazu fähig waren. Und so traf Ohnesorg das Abkommen, um Milliarden das Leben zu retten, aber niemand dankte ihm dafür. Der Mann auf der Straße sah sich um seine Rache betrogen; die Rebellen warfen ihrem geliebten Helden vor, er hätte seine politischen Überzeugungen verkauft; und die Familien haßten ihn, weil sie ihren hochgeschätzten Adelsstand verloren hatten. Ohnesorg mußte eine Sekretärin einstellen, nur um sich um die Haßbriefe und Morddrohungen zu kümmern.

Und als wäre die Lage noch nicht kompliziert genug gewesen, tauchte der Schwarze Block aus den Schatten auf, um die Familien zu einigen und zu beherrschen und alle anderen zu Tode zu erschrecken. Der Schwarze Block war die Geheimwaffe der Familien, ein Mittel der letzten Verteidigung gegen die Imperatorin, sollte sie je die Macht und den Status der Clans ernsthaft bedrohen. Die jüngsten Söhne und Töchter aller Häuser wurden dem Schwarzen Block übergeben, ausgebildet und dazu konditioniert, den Familien bis in den Tod loyal zu bleiben. Leider stellte sich heraus, daß der Schwarze Block ganz eigene Pläne hatte.

In verborgenen Schulen lehrten gesichts- und namenlose Ausbilder die jüngeren Söhne und Töchter, von denen ohnehin niemand Titel oder Reichtum geerbt hätte, daß die Familien als Klasse viel wichtiger waren als jedes einzelne Haus. Und daß die Loyalität zum Schwarzen Block demzufolge schwerer wog als die Loyalität zu einem einzelnen Clan. Sie lehrten ihre Schützlinge auch andere Dinge, manche davon unbeschreiblich, aber das blieb weiterhin geheim. Zunächst.

Sie waren es gewesen, die Jakob Ohnesorg das Abkommen vorgeschlagen hatten, und jetzt, wo sie ohne zu blinzeln ins grelle Licht der Öffentlichkeit getreten waren, bildeten sie auch die Gruppierung, die das Abkommen durchsetzte. Die Clans sahen, was sie ahnungslos geschaffen hatten, und fürchteten sich. Und so beugten sich alle dem Schwarzen Block und behielten ihre Wut und ihre Pläne für eine blutige Vergeltung für sich.

Owen, Hazel, Jakob und Ruby waren sich einig in ihrem Entsetzen über die Büchse der Pandora, die sie da geöffnet und deren Füllung aus Problemen sie freigesetzt hatten. Allerdings konnten sie sich nicht entscheiden, was sie in dieser Hinsicht unternehmen sollten. Ohnesorg eilte von einer Konferenz zur nächsten, verzweifelt bemüht, die Lage unter Kontrolle zu halten. Dabei half ihm, daß die meisten Leute wenigstens bereit waren, ihm zuzuhören. Alle respektierten den legendären Jakob Ohnesorg. Selbst wenn sie ihn inbrünstig haßten. Seine restliche Zeit verwandte er darauf, genau die Streitkräfte wieder aufzubauen, gegen die er bis vor kurzem gekämpft hatte.

Schließlich wollte er auf Angriffe durch die zahlreichen Feinde des Imperiums vorbereitet sein. Die abtrünnigen KIs von Shub, die wiedergeborenen Hadenmänner und potentiell gefährliche Fremdwesen ohne Zahl waren allesamt durchaus fähig, ein Imperium anzugreifen, das durch interne Zerwürfnisse abgelenkt wurde.

Ruby Reise nutzte derweil jede Gelegenheit, alle auszuplündern, die schwächer waren als sie, darunter etliche Konzerne.

Auch verlor sie keine Zeit dabei, es sich in der Art Luxus gemütlich zu machen, an die sie sich schon immer hatte gewöhnen wollen. An Politik war sie nicht interessiert. Falls man etwas nicht angreifen oder ausplündern konnte, wußte Ruby meist nicht weiter. Also hielt sie sich aus den laufenden Verhandlungen heraus, und alle Welt seufzte tief erleichtert.

Und Owen und Hazel waren Kopfgeldjäger geworden und machten Jagd auf geflohene Kriegsverbrecher. Offiziell hieß es, sie sollten die Schurken zurückbringen, um ihnen öffentlich den Prozeß zu machen, aber insgeheim stimmten alle Seiten darin überein, daß es besser wäre, wenn bestimmte Parteien auf der Flucht erschossen wurden. Owen und Hazel nickten ernst, als man ihnen das erklärte, und entschieden dann, daß sie sich eine eigene Meinung zu dem Thema bilden würden, sobald es nötig wurde. Sollte es jemals Hoffnung geben, daß die neue Ordnung, an der Jakob gerade arbeitete, irgendeine Form von Stabilität aufwies, dann mußten die wirklich üblen Gesellen bestraft werden, und zwar öffentlich. Leute wie Valentin Wolf zum Beispiel, die verachtete rechte Hand der Imperatorin und Schlächter von Virimonde. Man konnte nicht irgendeine beliebige Person hinter einem so gefährlichen und verschlagenen Schurken wie dem Wolf herschicken, also kamen an diesem Punkt Owen Todtsteltzer und Hazel D’Ark ins Spiel. Schließlich waren sie die gefährlichsten Menschen, die man im Imperium je erlebt hatte.

Dabei hatte sich Owen nie etwas sehnlicher gewünscht, als wieder sein früheres Leben führen zu können, aber fast von dem Augenblick an, als die Rebellion offiziell für siegreich erklärt wurde, schien ihm, daß Krethi und Plethi sich darum stritten, ein Stück von dem legendären Helden Todtsteltzer zu ergattern. Jede politische Partei wollte ihn als Galionsfigur haben. Vertreter sämtlicher Anliegen wollten seinen Namen und sein Schwert in den Dienst ihrer Sache stellen. Manchmal kam es vor seiner Tür zu Duellen, um zu klären, wer ihn zuerst sprechen durfte.

Dazu kamen noch die Holonachrichtensender, die endlose Interviews führen wollten, und Agenten, erpicht auf die Exklusivrechte an seiner Lebensgeschichte. Alle verlangten nach Bildern und Zitaten und Antworten auf zunehmend persönliche Fragen. Ganz zu schweigen von Produktempfehlungen und Buchverträgen und Vermarktungsrechten. Verdammt, ein Unternehmen wollte sogar eine Reihe von Action-Figuren auflegen, die auf ihm und Hazel und Jakob und Ruby beruhten.

Owen wünschte jedoch nur, seinen Frieden zu haben, und tat dies immer lauter kund, ohne daß jemand zugehört hätte. Und so flüchtete er schließlich mit der Sonnenschreiter II von Golgatha und stürzte sich in etwas, was sich als der erste von vielen Einsätzen als besserer Kopfgeldjäger entpuppte, bevollmächtigt und bezahlt vom Parlament, um die gefährlicheren Schwierigkeiten des Imperiums zu beseitigen.

Hazel begleitete ihn. Sie sagte, sie täte es nur, um ein wenig Abenteuer zu erleben und nicht zu verweichlichen, aber Owen dachte sich gern, daß sie sich nur zu Tode langweilte, wenn sie keinen Feind zu bekämpfen hatte. Obwohl man ins Feld führen mußte, daß sie nie jemand gewesen war, der es schätzte, herumzusitzen und über die Lilien auf der Wiese zu sinnieren, und sie war gerade deshalb zur Gesetzlosen geworden, um kein friedliches und produktives Leben führen zu müssen. Sie konnte sich nicht mal mehr betrinken und Kneipenschlägereien anzetteln. Alle Welt wußte, wer sie war, und hatte eine Mordsangst, irgend etwas zu sagen, was sie vielleicht erzürnte. Als Ohnesorg ihr also den Auftrag anbot, flüchtige Kriegsverbrecher aufzuspüren und womöglich auch zu exekutieren, überlegte sie nicht zweimal und ging ohne Verzug daran, Owen zu

überreden, er möge sich ihr anschließen. Auch wenn sie sich an den umgekehrten Vorgang zu erinnern schien. Aber andererseits war Hazel nun mal so. Nichts machte sie glücklicher, als jemand anderem die Schuld geben zu können.

»Wir sind gerade über Virimonde aus dem Hyperraum gefallen«, flüsterte die KI Ozymandius Owen ins Ohr. »Zur Zeit halte ich eine hohe Umlaufbahn und sämtliche Schilde aufrecht. Ich weiß wirklich nicht, warum du hierher zurückkehren wolltest, Owen. Ich meine, es ist ja nicht so, daß du hier noch irgendwelche Freunde hättest. Tatsächlich muß ich sogar feststellen, daß die Gefahr für uns, mit Löchern durchsiebt zu enden, mit jeder Sekunde geometrisch zunimmt, die wir dumm genug sind, hier zu verweilen.«

»Nörgel nörgel nörgel«, wisperte Owen lautlos, damit Hazel es nicht hörte. Sie wäre nicht damit einverstanden gewesen, daß er mit einer KI sprach, die eigentlich tot sein sollte und die niemand sonst verstehen konnte. »Du möchtest nie irgendwohin, wo man Spaß hat, Oz. Hier ist jedoch unsere gegenwärtige Beute an Land gegangen, also ist es auch unser Ziel. Genau in diesem Augenblick hält sich Valentin Wolf irgendwo dort unten auf, gemeinsam mit gewissen aristokratischen Kumpanen; jeden einzelnen davon sähen die gegenwärtigen Behörden liebend gern auf der Anklagebank oder am Strick baumelnd. Vorzugsweise beides. Außerdem… Ich habe immer gesagt, daß ich eines Tages nach Virimonde heimkehren würde.«

Früher einmal war Owen Todtsteltzer Lord des ganzen Planeten Virimonde gewesen. Dann hatte ihn die Imperatorin Löwenstein zum Gesetzlosen erklärt und ihm alles genommen.

Die eigenen Sicherheitsleute versuchten ihn daraufhin umzubringen, um das Kopfgeld einzustreichen, und er mußte durch Flucht sein Leben retten. Es wurde knapp. Genau im richtigen Moment tauchte jedoch Hazel auf, um ihm den aristokratischen Hintern zu retten. Sie wurde später nie müde, ihn daran zu erinnern. Beide blieben fortan zusammen. Er verliebte sich in sie.

Bis heute wußte er nicht recht, welche Gefühle sie für ihn hegte. Sein Vetter David wurde in seiner Abwesenheit zum Lord berufen, starb aber wenig später bei dem Versuch, den Planeten gegen Löwensteins Truppen zu verteidigen, die unter dem Befehl Valentin Wolfs standen. Der Wolf führte Aufsicht über die Ermordung Millionen schutzloser Menschen und die völlige Zerstörung dessen, was einmal ein echtes ländliches Paradies gewesen war.

Und jetzt war Valentin zurückgekehrt, wie ein Verbrecher, der sich wieder am Tatort einfand, oder ein Hund, der an den eigenen Exkrementen schnüffelte. Auch Owen war erneut hier, um den Zerstörer Virimondes einer verspäteten Gerechtigkeit zuzuführen. Auf die eine oder andere Art.

Er seufzte leise vor sich hin. Auf all seinen Wanderungen als Rebell hatte er sich immer an die heimliche Hoffnung geklammert, er könnte eines Tages heimkehren und sein altes Leben als kleiner Historiker wieder aufnehmen, der für niemanden außer sich selbst von wirklicher Bedeutung war. Er hatte sich jedoch so stark verändert und in so vieler Hinsicht, daß er sich selbst nicht mehr recht wiedererkannte. Und wenn man die Berichte von der völligen Verwüstung bedachte, die ihn dort unten erwartete, war er sich nicht mal sicher, ob überhaupt noch ein Zuhause vorhanden war, in das er zurückkehren konnte.

»Führe eine Sensormessung durch«, wies er die KI lautlos an. »Suche meine alte Burg und sieh mal nach, mit welchen Mitteln sie geschützt ist.«

»Bin dir wie üblich weit voraus«, schniefte die KI. »Eine Armee von recht ansehnlicher Größe lagert rings um die Burg.

Schenkt man den Funksprüchen Glauben, die ich abhöre, wird die Festung gerade von Valentin und seinen Kumpanen bewohnt. Typisch. Nur das Beste für den lieben Valentin. Und den Informationen zufolge, die wir vor dem Aufbruch von Golgatha erhielten und auf die du sicher nicht mal einen Blick geworfen hast – da wette ich gutes Geld drauf –, ist dort unten auch eine höllische Menge wissenschaftlicher Ausrüstung vorhanden, ebenso die Wissenschaftler, die sie bedienen. Obwohl scheinbar niemand weiß, was oder wozu.«

»Werd nicht hochnäsig, Oz. Sag mir einfach, was ich wissen muß.«

»Tyrann.«

Owen hatte keine rechte Vorstellung davon, woran er bei Oz war. Der ursprüngliche Ozymandius war die Familien-KI gewesen, die Owens verstorbener Vater an ihn vererbt hatte. Es stellte sich heraus, daß sie versteckte imperiale Programme enthielt und für Löwenstein spionierte. Schließlich griff sie sogar Owen an und versuchte, ihn mit Kontrollwörtern zu versklaven, die sie in seinem Unterbewußtsein implantiert hatte.

Owen war nichts anderes übriggeblieben, als seine Labyrinthkräfte einzusetzen, um die KI zu vernichten. Nur daß Oz irgendwann später zurückkehrte. Oder eine Stimme in seinem Kopf, die nur er hören konnte und die behauptete, sie wäre die KI Ozymandius. Sicherlich war sie genauso kenntnisreich und provokant wie das Original. Owen akzeptierte diese Situation zunächst und gedachte dabei zu bleiben, solange sich die KI als nützlich erwies. Und weil er nicht die leiseste Ahnung hatte, wie er die Stimme wieder loswerden sollte.

Außerdem vermißte er Oz.

»Soll ich jetzt den Anflug einleiten oder nicht?« fragte Oz forsch. »Wir sind umfassend getarnt, aber niemand weiß, wie lange selbst Schilde der Hadenmänner den Sicherheitssystemen standhalten, die Valentin dort installiert hat. Das, was früher normale Satelliten zur Wettersteuerung waren, ist mit echt heftigen Sensoren aufgebessert worden und dazu mit stärkerer Bewaffnung als der durchschnittliche Flottenkreuzer. Wenn der Wolf ›Bitte nicht stören‹ sagt, meint er es ernst.«

»Bleib im Orbit«, sagte Owen nachdrücklich. »Ich möchte erst eine wirklich gute Vorstellung von dem haben, was mich auf dem Planeten erwartet, ehe ich mich auf eine Landung festlege. Setze die Sensoren auf das Gebiet um die Burg an, in einem Radius von fünfzehn Kilometern, und gib die Lage der örtlichen Bevölkerung durch.«

»Owen… Das habe ich schon getan. Eine örtliche Bevölkerung gibt es nicht mehr.«

»Was?«

»Ich habe die Umgebung sondiert, so weit meine Sensoren reichen. Auf Hunderte von Kilometern gibt es keine lebende Seele mehr. Es tut mir leid, Owen.«

Owen schüttelte langsam den Kopf. Er hatte die Meldungen über die Zerstörung Virimondes durch Valentin gelesen, hatte sich Tobias Shrecks Filmaufnahmen davon und Interviews mit den wenigen Überlebenden angesehen, die sich vom Planeten hatten retten können, hatte aber stets vermutet, daß es Übertreibungen waren. Niemand konnte nur zum Spaß anordnen, die Bevölkerung eines ganzen Planeten zu ermorden. Nicht einmal Valentin Wolf. Tief im Herzen hatte sich ein Teil Owens verzweifelt danach gesehnt, nach Hause zurückzukehren, umjubelt von seinem Volk, das voller Freude war, den rechtmäßigen Lord endlich wiederzuhaben. Er hatte sich gewünscht, sich dafür zu entschuldigen, daß er nicht zugegen gewesen war, um die Menschen zu beschützen. Hatte ihnen versprechen wollen, daß jetzt, wo er wieder daheim war, alles anders werden würde. Er würde für ihre Sicherheit sorgen, sie beschützen, jedes Ungemach von ihnen wenden. Niemand würde ihnen je wieder weh tun, nur weil er sich gerade andernorts als Held der Rebellion herumtrieb. Er hatte so viel sagen wollen und müssen. Er hatte nicht glauben wollen, daß sein ganzes Volk tot war.

»Was ist los?« erkundigte sich Hazel. »Gibt es ein Problem?«

»Nein«, sagte Owen. »Ich habe nur nachgedacht. Darüber, wie es früher hier ausgesehen hat.«

»Tu das nicht«, sagte Hazel. »Das war schon immer dein Problem, Todtsteltzer. Daß du in der Vergangenheit lebst.«

»Ich kenne mich aus mit der Vergangenheit«, versetzte Owen. »Damals ging es einfacher zu. Ich kannte meine Welt und mein Imperium und meinen Platz darin. Oder glaubte es zu tun. Inzwischen habe ich erlebt, wie alles zerstört wurde, woran ich je glaubte, habe alles verloren, woraus ich mir je etwas machte. Und jetzt stelle ich fest, daß mir die Heimkehr versagt bleibt. Weil Valentin Wolf alles niedergebrannt und auf die Asche gepinkelt hat. Virimonde ist tot.«

»Das wissen wir erst sicher, wenn wir gelandet sind und selbst nachgeschaut haben«, sagte Hazel. »Berichte können übertrieben ausfallen; Sensoren kann man falsch deuten. Es ist ein großer Planet, Owen. Valentin kann nicht jeden umgebracht haben.«

»Und falls doch? Falls er alles getan hat, was ihm nachgesagt wird?«

»Dann schneiden wir ihm das schwarze Herz heraus, werfen es auf den Boden und trampeln darauf herum. Und das gleiche tun wir mit allen, die ihm geholfen haben.«

Owen mußte leise lächeln. »Das Leben war für Euch immer so einfach, nicht wahr, Hazel? Die Guten und die Bösen und eine direkte, kraftvolle Lösung für jedes Problem. Aber Ihr habt ja den Mann bei der Einsatzbesprechung gehört. Immer noch gibt es Mächtige, die wollen, daß Valentin für einen Schauprozeß lebend zurückgebracht wird. Wenn auch nur, um für ein kleines Vermögen die Holorechte zu verhökern.«

»Ich halte mich über alles auf dem laufenden«, entgegnete Hazel. »Und ich wette, daß ich für jede Gruppierung, die den Wolf lebend haben möchte, zehn andere nennen kann, die ihn viel lieber von Fliegen umschwärmt heimkehren sehen würden.

Nicht zuletzt die Klon- und Esper-Bewegungen. Sollte je durchsickern, daß Valentin Wolf einmal aktiver Mitarbeiter und Förderer der Untergrundbewegungen gewesen ist, verlieren sie auch noch das wenige, was sie an öffentlicher Unterstützung und Popularität genießen. Und um dem Faß die Krone aufzusetzen, findet man jede Menge Leute, die früher zweifelhafte Geschäfte mit ihm getätigt haben und nicht möchten, daß das jetzt herauskommt, wo sie sich als treuherzige Förderer der Rebellion neu herausgeputzt haben.«

»Und genau deshalb werden wir den Mistkerl lebend zurückbringen«, sagte Owen in entschiedenem Ton. »Nicht unbedingt in einem Stück, aber definitiv lebendig. Ich bin niemandes Marionette, auch nicht die irgendeiner Organisation. Ich muß deutlich machen, daß mich niemand unter Druck setzen kann. Und ich werde ihn nicht einfach nur deshalb umbringen, weil ich es möchte.«

»Du und dein verdammtes Gewissen«, sagte Hazel. »In Ordnung, wir versuchen also, ihn lebend festzunehmen. Was ist mit seinen Gefolgsleuten?«

»Meinetwegen massakriert ruhig den ganzen Haufen.«

»Das läßt sich schon eher hören!« meinte Hazel.

Owen lehnte sich zurück, verschränkte die Hände und starrte nachdenklich darauf. »Er war nicht immer ein Monster, wißt Ihr? Valentin. Als Kinder haben wir uns gekannt, in denselben Kreisen verkehrt, dieselben Parties besucht. Er kam mir damals … ganz normal vor. Nichts Ungewöhnliches. Keine Spur von dem Psychopathen, zu dem er mal werden sollte. Nur ein Junge wie alle anderen, vielleicht ein bißchen ruhiger als die meisten.

Mir sehr ähnlich. Wir waren nie richtige Freunde, aber ich kann mich an schöne Zeiten erinnern, die wir gemeinsam verlebten. Dann sind wir unterschiedlicher Wege gegangen, um als Wolf und als Todtsteltzer ausgebildet zu werden, und ich habe ihn jahrelang nicht wiedergesehen. Und manchmal ertappe ich mich bei der Frage, wie zwei einander so ähnliche Kinder zu so verschiedenen Erwachsenen werden konnten.«

»Leute verändern sich nun mal«, gab Hazel zu bedenken.

»Ob sie es wollen oder nicht. Das Leben schreibt unseren Text, und wir erhalten nur hin und wieder Gelegenheit, improvisierte Zeilen einzubauen.«

Owen sah sie an. »Aber Hazel, das war ja beinahe tiefsinnig.«

»Sprich nicht von oben herab mit mir, Todtsteltzer. Ich habe einen Verstand. Ich habe das eine oder andere Buch gelesen.

Wenn ich nichts anderes zu tun hatte. Ich wollte nur sagen, daß das Universum uns verändert, selbst während wir dabei sind, das Universum zu verändern. Sieh dich mal an: Du bist nicht der Mensch, der du früher warst, nicht mal der von vor wenigen Jahren. Gott sei Dank. Der Owen Todtsteltzer, den ich dort unten vor dem sicheren Tod gerettet habe, unterscheidet sich erheblich von dem offiziellen Helden, der ein Imperium gestürzt hat.«

»Ich weiß«, sagte Owen. »Genau das ist es, was mir Kummer macht.«

»Gräme dich nicht darüber«, empfahl ihm Hazel. »Er war wirklich ein hochnäsiger kleiner Schnösel.«

Owen zog eine Braue hoch. »Warum seid Ihr dann bei ihm geblieben?«

Hazel lächelte. »Ich glaubte, gute Anlagen in ihm zu entdecken.«

Owens Mundwinkel zuckten. »Ich hatte ähnliche Gedanken, was Euch angeht.« Und er runzelte erneut die Stirn.

»Ach verdammt, Owen, was ist denn jetzt? Ich schwöre, daß du mehr Möglichkeiten hast als jeder andere, dich selbst zu deprimieren.«

»Ich mußte nur an Finlay Feldglöck denken. Wir hätten ihn zu dieser Fahrt mitnehmen sollen.«

»Darüber haben wir uns doch schon unterhalten, Owen. Er ist ein Besessener. Er hat geschworen, an Valentin Rache zu nehmen. Hat beim eigenen Blut und der eigenen Ehre den Eid abgelegt, ihn umzubringen. Falls wir uns dort unten Möglichkeiten offenhalten möchten, können wir uns nicht leisten, den Feldglöck irgendwo in der Nähe zu haben. Er war schon immer…  unberechenbar. Man hat versucht, ihn als Kopfgeldjäger einzusetzen, aber er hat die Leute immer nur tot zurückgebracht. Manchmal in Einzelteilen. Zuletzt habe ich gehört, daß seine Freundin Evangeline Shreck versuchte, sein Interesse an der Politik zu wecken. Gott stehe dem Parlament bei, mehr fällt mir dazu nicht ein.«

»Er hat an unserer Seite gekämpft. Er war ein Held der Rebellion, genau wie wir. Und Valentin hat seine ganze Familie ausgelöscht. Für mein Gefühl ist es nicht richtig, ihn aus dieser Sache auszuschließen.«

»Owen, wir kennen den Mann kaum. Du bist es doch, der Valentin lebendig zurückbringen möchte. Wäre der Feldglöck dabei…«

»Ja, ich weiß. Aber falls wir Geheimnisse haben vor Leuten, die angeblich unsere Kameraden sind, was enthalten sie dann uns vor?«

»Ach verdammt«, sagte Hazel geringschätzig, »jeder hat Geheimnisse.«

Wie sich das anhörte, bemerkte sie erst, als die Worte heraus waren, und sie hielt für einen Moment die Luft an, bis Owen brummte und sich abwandte, um die Sensorenergebnisse auf dem Hauptbildschirm zu studieren. Hazel ließ die Luft langsam heraus, damit Owen es nicht hörte, und versuchte sich zu entspannen. Selbst heute noch enthielt sie ihm das eine oder andere vor, teils, weil sie ihn nicht aufregen wollte, teils, weil sie nach wie vor an das Prinzip glaubte, die eigenen Angelegenheiten für sich zu behalten. Seit sie zum erstenmal das Labyrinth des Wahnsinns auf der Wolflingswelt durchschritten hatte und für immer verändert worden war, machten ihr Träume zu schaffen. Zunächst waren es nur beunruhigende Bilder gewesen, aber heute verfolgten sie die Träume immer hartnäckiger bis in die wache Zeit, und sie wurde den Gedanken einfach nicht los, daß sie etwas zu bedeuten hatten. Etwas Wichtiges.

Inzwischen träumte sie jede Nacht klar und deutlich, und sie wußte nicht, ob sie die Vergangenheit oder die Zukunft sah. Es hatte den Anschein, als entwirrte sich die Zeit in Hazels Kopf, in den dunkelsten Stunden der Nacht, wenn sie am wenigsten geschützt war. Etwas in ihrem Verstand zeigte ihr Dinge und ließ einfach nicht zu, daß sie sich davon abwandte.

Auf Nebelwelt hatte sie von der imperialen Invasion geträumt, nur Stunden, ehe sie tatsächlich passierte.

Vergangene Nacht hatte sie drei Träume gehabt, einen nach dem anderen. Der erste handelte von den Blutläufern, den üblen Bewohnern der dunklen Obeah- Welten, weit draußen am Abgrund, wo niemand sonst hinfuhr. Die Blutläufer hatten einmal versucht, Hazel für ihre nie endenden Experimente über die Natur des Leidens und der Existenz zu entführen. Damals rettete Owen Hazel, griff mit seinen Gedanken über zahllose Lichtjahre hinaus und streckte den Anführer nieder. In dem Traum hatten die Blutläufer sie mit wissenden, grausamen Augen gemustert, mit entsetzlicher Geduld auf sie gewartet. Sie hielten etwas in der Hand. Etwas Scharfes.

Dann träumte sie von der Burg der Familie Owens auf Virimonde, Dort folgte sie den leeren Steinkorridoren, die ihr mühelos vertraut waren, obwohl sie nie zuvor dort gewesen war.

Es war bitterkalt, kalt wie in einem Grab, und Blut rieselte von den Wänden und verschmutzte die uralten Wandbehänge und die vorzüglichen Teppiche. Etwas lauerte hinter der nächsten Ecke und tief unter ihr, etwas Furchtbares.

Und schlußendlich träumte sie, sie stünde allein auf der Brücke der Sonnenschreiter II, während ringsherum die Hölle ausbrach. Von allen Seiten griffen Schiffe an, mehr als man zählen konnte, überwältigten ihre Abwehreinrichtungen, obwohl Hazel heftigen Widerstand leistete. Sämtliche Alarmsirenen heulten, und die Geschütze der Sonnenschreiter II feuerten unaufhörlich. Nirgendwo entdeckte Hazel eine Spur von Owen.

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vielleicht. Aber waren es Vorhersagen oder nur Warnungen? Bedeuteten sie, daß Hazel eine Chance hatte, etwas zu ändern, die Geschichte umzuschreiben, dem Schicksal zu trotzen? Oder wurde sie einfach nur verrückt wie alle anderen?

Früher einmal hatte ihr die verbotene Droge Blut geholfen, mit vielem fertig zu werden, einschließlich der Träume, aber darüber war sie hinweg. Körperlich war sie so weit transformiert worden, verglichen mit ihrem früheren Selbst, daß sie Zweifel hatte, ob Blut heute überhaupt noch die leiseste Wirkung auf ihre Körperchemie gehabt hätte. Außerdem war die Droge stark suchterzeugend, und Hazel wollte verdammt sein, wenn sie es irgend etwas oder irgend jemandem je erlauben würde, wieder Herrschaft über sie auszuüben, und das galt auch für die eigenen Schwächen.

»Was denkst du, führen Valentin und seine Kumpane da unten im Schilde?« fragte sie plötzlich, entschlossen, auf andere Gedanken zu kommen.

»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte«, sagte Owen, der weiterhin die Daten studierte, die auf dem Bildschirm an ihm vorbeiwanderten. Sie liefen viel zu schnell, als daß normale Augen ihnen hätten folgen können, aber keiner der beiden erwähnte es. Kleine Veränderungen dieser Art waren sie gewöhnt. »Er hat die Schilde der Burg verstärkt. Ich empfange nichts, was verwertbar wäre. Was an sich eine bedeutsame Information darstellt. Er dürfte eigentlich nichts zur Verfügung haben, was stark genug ist, um Hadenmänner-Sensoren auszusperren. Wer versorgt ihn mit Tech?«

»Wir werden ihn fragen müssen«, sagte Hazel. »Sobald wir dort sind.«

»Zu viele Fragen«, meinte Owen und schaltete schließlich den Bildschirm aus. »Zu viele Unbekannte. Warum ist er hierher zurückgekehrt? Warum hat er meine alte Burg übernommen? Was hofft er hier zu erreichen? Was ist ihm wichtig genug, um das Risiko einzugehen, daß ich ihn verfolge?«

»Er verfolgt eine besondere Absicht«, behauptete Hazel. »Es muß so sein, andernfalls hätte er nicht so viele Leute dazu

überreden können, ihm hierher zu folgen. Und jemand muß die ganzen tollen Sachen bezahlt haben, die er da wohl hat. Wenn du mich fragst, hat es was mit Drogen zu tun. Alles, womit sich Valentin befaßt, hat letztlich mit Drogen zu tun.«

»Oder mit Rache. Er ist schließlich ein Wolf. Und Oz sagt, Valentins Sicherheitssysteme wären viel fortschrittlicher als alles, worauf er eigentlich Zugriff haben sollte.«

Hazel musterte Owen scharf. »Du hörst immer noch Stimmen, nicht wahr?«

»Ich wünschte wirklich, Ihr würdet es nicht so ausdrücken.

Und es ist nur eine Stimme.«

»Soll mich das vielleicht beruhigen? Wenn du so weitermachst, wirst du bald behaupten, du hättest das Imperium nur gestürzt, weil der Teufel es von dir verlangt hat. Das wird der Öffentlichkeit wirklich gut schmecken.«

»Es ist nur meine alte KI!«

»Warum höre ich sie dann nicht über mein Komm-System?

Warum hört niemand sonst ihre Stimme? Und du hast sehr deutlich gesagt, du hättest das verdammte Ding umgebracht, nachdem es uns auf der Wolflingswelt verriet.«

»Ich hielt sie für tot. Heute bin ich mir in vieler Hinsicht nicht mehr so sicher wie früher. Schließlich haben auch wir beide eine Menge durchgemacht, was uns eigentlich hätte umbringen sollen. Hat es das?«

Hazel fiel keine schnelle Antwort darauf ein. Also starrten sie einander eine ganze Weile lang unbehaglich und schweigsam an, bis sie plötzlich von den Warnsirenen der Jacht unterbrochen wurden, die alle gleichzeitig losheulten. Das Deck schaukelte unter ihren Füßen, als etwas wirklich Machtvolles wie ein Hammer auf das Schiff einschlug.

»Oz!« schrie Owen. »Was zum Teufel ist da los?«

»Du kannst nicht behaupten, ich hätte dich nicht gewarnt«, antwortete die KI ruhig. »Valentins Sicherheitssysteme konnten unsere Tarnschilde schließlich durchdringen, und die bewaffneten Satelliten schießen mit allem auf uns, was sie haben.

Was wirklich beträchtlich ist. Die Hauptschilde halten stand.

Vorläufig. Habe ich deine Erlaubnis, das Feuer zu erwidern?«

»Verdammt, natürlich hast du sie! Puste die nächstgelegenen Satelliten vom Himmel und bringe uns dann nach unten, so schnell du kannst.«

»Welche Landekoordinaten?«

»Nicht zu weit von der Burg. Die Entfernung eines Fußmarsches.«

»Wird aber auch Zeit, daß du dir gesunde Bewegung verschaffst«, erklärte die KI beifällig. »Du hast in letzter Zeit zugenommen.«

»Nun?« erkundigte sich Hazel. »Was geht da vor?«

»Valentin weiß, daß wir da sind. Und die Stimme in meinem Kopf hält sich jetzt für meine Mutter. Ich bringe das Schiff schnell hinunter. Haltet Euch irgendwo fest und betet um eine weiche Landung.«

»Zur Hölle damit«, erwiderte Hazel. »Ich möchte erst selbst ein paar Treffer landen.«

»Wozu die Mühe? Die Feuerleitlektronen des Schiffs sind durchaus in der Lage…«

»Gott, du bist manchmal wirklich ein Waschlappen, Todtsteltzer. Es geht ums Prinzip!«

Und da ging sie auch schon, hinauf zur Brücke, um sich in die Feuerleitsysteme einzustöpseln. Owen ließ sie ziehen. So war nun mal Hazel. Immer dann am glücklichsten, wenn sie irgendeine Art Schußwaffe in der Hand hatte, mit der sie Verwüstungen anrichten und jemandem den Tag verderben konnte.

Er schnallte sich auf seinem Platz an und wartete geduldig ab.

Zumindest war die Sonnenschreiter II mit anständigen Geschützen ausgestattet. Die ursprüngliche Sonnenschreiter war die meiste Zeit ihres kurzen Daseins von einem Planeten zum nächsten gehetzt worden, oft beschossen und in Brand gesetzt, bis sie schließlich in den tödlichen Dschungeln von Shandrakor eine Bauchlandung hinlegte. Als Owen die neue Jacht rings um die geborgenen Maschinen der alten bauen ließ, bestand er darauf, daß die Hadenmänner so viele Waffensysteme modernsten Zuschnitts einbauten, wie überhaupt möglich war. Er fand keinen Gefallen daran, fliehen zu müssen. Es entsprach nicht seinem Naturell.

Und da schlingerte das Schiff wieder, als etwas wirklich Übles durch die Energieschilde knallte und auf den verstärkten Rumpf prallte. Die Beleuchtung flackerte kurz, und Owen spannte sich an, wartete auf das schrille Warnsignal eines Rumpfbruchs. Dazu kam es nicht, aber Owen entschied schließlich doch, daß sein Platz auf der Brücke war. Verteidigungslektronen gelangten irgendwo an ihre Grenzen. Er rannte auf ganzer Strecke, hatte aber am Ziel trotzdem noch genügend Luft, um Hazel zu fragen, was zum Teufel hier vor sich ging.

»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte«, sagte Hazel lebhaft, den Blick auf die Lektronenschalttafeln vor ihr geheftet. »Ich bin noch nie auf eine derartige Feuerkraft gestoßen.

Zumindest keine, die auf einen Menschentech zurückginge.«

Owen plumpste auf den Sitz neben ihr und studierte rasch die taktischen Anzeigen. Die Hauptschilde hielten noch, steckten aber höllisch viel ein. Am Rumpf lagen einige Außenschäden vor, aber nur oberflächlicher Art. Die Hadenmänner verstanden sich darauf, Schiffe zu bauen. »Das dürfte eigentlich nicht passieren«, sagte er schließlich. »Die Hadenmänner haben mir versichert, wir könnten jedem Gegner standhalten, einschließlich eines imperialen Sternenkreuzers.«

»Du hättest dir das schriftlich geben lassen sollen, mein Hengst«, sagte Hazel und lächelte kurz, als einer von Valentins Satelliten unter ihrem Beschuß explodierte. »Vielleicht hat auch Valentin ein Abkommen mit den Hadenmännern geschlossen. Oder vielleicht hat er sich mit Shub unterhalten.

Oder sogar den Fremdwesen. Die ganze Menschheit für simplen persönlichen Gewinn zu verhökern ist genau das, was man von Valentin Wolf erwartet. So oder so – wir stecken bis über beide Ohren im Schlamassel und sinken rasch. Vorschläge praktischer Art sind dringend erwünscht. Gebete ebenfalls.«

»Zur Hölle mit einer Entscheidung in der Schlacht«, versetzte Owen. »Bring soviel Energie wie möglich in die Schilde und lande rasch, Oz. Hoffentlich sind die Satelliten nur darauf programmiert, Ziele in einer bestimmten Zone anzugreifen. Sobald wir unter ihre Reaktionshöhe gesunken sind, müßten sie uns in Ruhe lassen. Und dann wollen wir alle hoffen, daß Valentin nicht auch in eine Bodenabwehr investiert hat.«

»Hört sich für mich nach einem guten Plan an«, stellte Hazel fest. »Kann ich die Landung durchführen?«

»Nein«, entgegnete Owen mit Bestimmtheit. »Oz soll es machen. Ich habe Eure Landungen schon erlebt, Hazel.«

»Spielverderber.«

Die Sonnenschreiter II stürzte kreischend und flammenumhüllt durch die Atmosphäre, bis sie schließlich außer Reichweite der Satelliten war und der Angriff eingestellt wurde. Owen und Hazel wappneten sich auf möglichen Beschuß vom Boden aus, aber nichts dergleichen geschah. Anscheinend war Valentin davon ausgegangen, daß nichts außer seinen frisierten Satelliten nötig war, um Besucher abzuschrecken. Bei jedem anderen Schiff hätte er wahrscheinlich recht behalten. Oz ging schließlich in eine flachere Anflugbahn über und suchte nach einem Landeplatz, der nicht zu weit von der Burg entfernt lag.

Owen entspannte sich ein bißchen.

»Es hat glatt den Anschein, daß Valentin mächtige neue Bundesgenossen gewonnen hat«, sagte er nachdenklich. »Ich frage mich, was er noch an Überraschungen für uns bereithält.«

»Zweifellos etwas Scheußliches«, meinte Hazel. »Wenn man Valentin kennt. Aber wir werden damit fertig.«

»Werdet nur nicht großspurig«, sagte Owen. »Valentin hat nicht so lange überlebt, indem er irgendwas dem Zufall überließ. Seit er sich hier eingerichtet hat, muß er wissen, daß ich kommen würde, um ihn zu holen. Er muß… Vorbereitungen getroffen haben.«

»Er kann nichts auf uns werfen, was wir nicht direkt auf ihn zurückwerfen könnten«, sagte Hazel ruhig. »Ich wäre letztlich mit den Satelliten fertig geworden, hättest du nicht gekniffen.

Nichts kann uns mehr verletzen, Owen. Nicht nach all dem, was wir durchgemacht haben.«

»Großspurig«, entgegnete Owen. »Eindeutig großspurig. Das wird alles schlecht ausgehen…«

Er hätte mehr gesagt, aber die Navigation läutete diskret und informierte ihn darüber, daß sich die Sonnenschreiter II dem Landeplatz näherte. Owen und Hazel studierten sorgfältig die Anzeigen der Nah- und Fernsensoren, aber das Schiff setzte ohne Zwischenfall auf. Oz ließ sie warten, während er seine Landungscheckliste durchging.

»Luftqualität hinnehmbar. Kalt für die Jahreszeit, aber in akzeptablen Grenzen. Keine Lebenszeichen. In Ordnung, jetzt ist es offiziell sicher, auszusteigen. Alter Zeiten zuliebe bin ich an genau der Stelle gelandet, wo Hazel dir zum erstenmal begegnet ist, Owen. Nenn mich ruhig töricht und sentimental.«

»Halt die Klappe, Oz.«

Sie gingen zur Luftschleuse hinunter, und dort wartete Owen geduldig, während Hazel sich mit ein paar weiteren Waffen und Munitionsgürteln bepackte. All ihren Ansprüchen zum Trotz, unverwundbar zu sein, ging sie nie wirklich gern in die Öffentlichkeit, solange sie nicht mehr Waffen mit sich herumschleppte als der typische bewaffnete Patrouillentrupp. Owen lehnte sich ans Stahlschott und dachte an die Umstände zurück, unter denen er Hazel D’Ark anfänglich kennengelernt hatte.

Er war gerade vor den eigenen Sicherheitsleuten geflüchtet, hatte stark verletzt und verzweifelt einen beschädigten Flieger gesteuert. Nur wenige Kilometer von seiner Burg schossen sie ihn ab. Stolpernd entfernte er sich vom brennenden Wrack. Er blutete stark und lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum in der Nähe, damit er seine letzte Schlacht aufrecht schlagen konnte.

Und da tauchte Hazel aus dem Nichts auf und rettete ihn vor seinen Feinden, die sie niederstreckte wie eine glorreiche, wenn auch etwas von ihrer Arbeit verschmutzte Walküre. Gemeinsam flüchteten sie mit der ersten Sonnenschreiter von Virimonde. Owen war seitdem nicht wieder hiergewesen. Er hatte es immer geplant, aber die Rebellion ließ ihm nie genug Zeit.

Schon die Kindheit hatte er auf einem Dutzend verschiedener Planeten verbracht, während der Vater im Zuge seiner endlosen Intrigen kreuz und quer durchs Imperium zischte. Virimonde hatte jedoch Owen allein gehört, seine Zuflucht vor der Familie und dem Schicksal eines Kriegers, das er sich nie gewünscht hatte. Der einzige Ort, den er je als Zuhause betrachtet hatte.

»Komm schon, du Hengst, bringen wir die Show in Gang.

Ich habe schon seit Stunden niemanden umgebracht, und langsam werde ich nervös.«

Und da hatte er Hazel, lebensgroß und doppelt so gefährlich, mit genug Waffen bepackt, um einen Krieg vom Zaun zu brechen. Owen mußte lächeln.

»Was ist denn so komisch?« fragte sie argwöhnisch.

»Oh, nichts. Nur daß wir laut Oz an genau der Stelle gelandet sind, wo Ihr und ich uns zuerst begegnet sind.«

»Du warst schon immer nostalgischer, als gut für dich ist, Todtsteltzer. Knacke doch bitte diese Luftschleuse, damit wir uns endlich die Füße schmutzig machen können. Ich bin nicht den ganzen Weg gekommen, um nur herumzustehen.«

»Ihr habt keine Spur Sentimentalität im Leib, nicht wahr, Hazel?«

»Wofür ich dem lieben Gott täglich danke. Rührseligkeit behindert nur bei der Arbeit.«

Owen seufzte und öffnete die Luftschleuse. Die Luft des Planeten wehte herein, und er holte tief Luft, wobei er mit den altvertrauten Gerüchen von Gras und Erde und wachsenden Dingen rechnete. Stattdessen mußte er kräftig husten, als sich die Lungen mit heißer, trockener Luft voller Staub füllten.

Owen und Hazel blickten sich gegenseitig an, und dann trat Owen vorsichtig auf den Planeten hinaus, der ihm einmal gehört hatte. Der Himmel war düster und bewölkt, das Licht grau und leblos. Wo sich einmal grüne Felder und das reiche Laubwerk weitläufiger Wälder ausgebreitet hatten, entdeckte er in allen Richtungen nur noch aufgewühlten Schlamm, soweit er blicken konnte. Weder Felder noch Getreide noch niedrige Grenzmauern, nur der Schlamm, dunkel und grobkörnig von festgetretener Asche.

Einen Augenblick lang glaubte Owen, er wäre auf dem falschen Planeten gelandet. Nirgendwo hatte die ländliche Idylle von Virimonde jemals so ausgesehen. Aber natürlich sah sie jetzt so aus. Genauso, wie er es tief im Herzen die ganze Zeit gewußt hatte.

»Verdammt«, sagte Hazel leise. »Es tut mir leid, Owen.«

»Ich denke, die Bäume standen dort drüben«, erklärte er. Er versuchte, dorthin zu zeigen, aber der Arm war so schwer.

»Gleich da drüben. Jetzt sind sie aber weg. Alles ist weg. Alles.

Nichts verrät mehr, daß sie und wir jemals hier waren. Diese Leute haben mir sogar die Vergangenheit geraubt. Und es ist alles meine Schuld.«

»Wie zum Teufel kommst du nur auf diese Idee?« fragte Hazel.

»Ich war der Lord dieser Welt. Dieser Planet und alle seine Bewohner waren mir anvertraut und meinem Schutz unterstellt worden. Aber ich bin fortgegangen und habe sie im Stich gelassen, schutzlos, als die Wölfe des Imperiums über sie herfielen. Ich war nicht hier, als sie mich brauchten.«

»Das ist jetzt aber wirklich Quatsch«, meinte Hazel. »Sie haben dich davongejagt! Deine eigenen Sicherheitsleute haben sich gegen dich gewandt. Man hat dich zum Gesetzlosen erklärt. Und du kannst verdammt sicher sein, daß es hier niemanden gab, der dich nicht unverzüglich und begeistert verraten und verkauft hätte, um das Kopfgeld einzustreichen. Dein Vetter David war nach dir Lord und konnte sich nicht mal selbst retten, als die imperialen Truppen kamen. Verdammt, er war einer von ihnen, und sie haben ihn trotzdem umgebracht!«

»Ihr habt recht«, sagte Owen. »Aber es hilft nicht. Ich hätte hier sein sollen.«

»Dann wärst du jetzt auch tot. Möchtest du das?«

»Manchmal. Mein altes Ich ist tot. Ich habe es irgendwo auf der langen Straße der Rebellion verloren, die mich an Löwensteins Hof führte. Ich vermisse es. Es hat mir viel besser gefallen als die Tötungsmaschine, zu der ich geworden bin.«

»Fang nicht wieder damit an. Veränderung ist nicht gleich Tod.«

»Es geschah für Virimonde. Dieser Planet diente einmal der Nahrungsproduktion. Was wir hier an Getreide und Vieh zogen, hat Menschen überall im Imperium ernährt. Wer gibt ihnen jetzt zu essen? Seht euch nur um, Hazel. Sie haben diese Welt getötet.«

»Du könntest neu anfangen. Pumpe genug Mikroorganismen in die Erde, bringe die richtige Saat aus, und diese Welt könnte wieder blühen. Mit der Zeit.«

»Vielleicht. Aber es wäre nicht dasselbe. Es wäre nicht die Welt, die ich gekannt habe.«

Hazel schüttelte ärgerlich den Kopf. »Alles läuft immer auf dich hinaus, was, Todtsteltzer? Typischer Aristo, der alles selbstbezogen betrachtet. Virimonde ist nicht der einzige Planet, der nach den Launen der Imperatorin Prügel bezogen hat.

Wegen solcher Dinge haben wir die Rebellion ausgefochten, erinnerst du dich?«

Owen bemühte sich ihr zuliebe um ein Lächeln. »Ich weiß.

Ich habe nur Selbstmitleid. Eigentlich habe ich nicht das Recht dazu, schätze ich. Mein Volk hat alles verloren. Aber ich kann es wenigstens rächen. Valentin wird für das bezahlen, was er hier angerichtet hat. Ich werde zusehen, wie er stirbt, wie er langsam stirbt, und zur Hölle mit den Konsequenzen.«

Hazel versetzte ihm einen kräftigen Klaps auf die Schulter.

»Das gefällt mir schon besser. Wenn schon nichts sonst, bleibt immer die Rache.«

»Ihr seid eine Frau, die die einfachen Freuden schätzt, Hazel.«

»Das denkst du wohl, du Hengst.« Sie lächelte Owen an, und er konnte nicht umhin, das Lächeln zu erwidern.

Sie standen eine Zeitlang zusammen, genossen den Augenblick der Gemeinsamkeit. Die Welt war ganz still, und nicht einmal das Flüstern einer Brise störte die Leichenruhe. Owen und Hazel blickten sich langsam um, und nichts blickte zurück.

Hazel runzelte plötzlich die Stirn.

»Was ist?« fragte Owen.

»Ich hasse es, wenn ich morbide klinge… aber müßten hier nicht verdammt viele Leichen herumliegen? Oder Leichenteile oder… irgendwas? Aber ich sehe auf Kilometer hinaus nur Schlamm.«

»Das hat etwas für sich«, sagte Owen langsam. »Es wirkt ein wenig ordentlich, oder? Ich wußte gar nicht, daß jemand schon einen Trupp zum Aufräumen geschickt hat. Wartet mal eine Minute.« Er wandte sich an seine KI. »Oz, wo sind all die Toten?«

»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte, Owen. Den Berichten zufolge fand genau hier eine größere Schlacht zwischen den Bauern und den Invasionstruppen statt.«

»Untersuche mal die Gegend, Oz. Finde ein paar Leichen für mich.«

»Bin schon dabei. Das ist aber interessant. Ich entdecke da ein paar verweste tierische Überreste, die in den Schlamm hineingemischt sind, aber nirgendwo eine Spur von menschlichen Überresten in irgendeiner Form. Ich kann mir das nicht erklären.«

»Also was zum Teufel ist mit den Toten passiert? Könnte Shub zu Besuch gekommen sein, um Rohmaterial für seine Geistkrieger zu suchen?«

»Unwahrscheinlich«, antwortete die KI. »Auch wenn man bedenkt, wie verstreut die imperiale Flotte zur Zeit ist, wäre ein solcher Besuch kaum unbemerkt geblieben. Und was eine Aufräummannschaft angeht, das kannst du vergessen. Zur Zeit gibt es nicht mal genügend Personal, um für die Bedürfnisse der Lebenden zu sorgen, geschweige denn die der Toten. Es sei denn… Valentin hätte sie entfernen lassen.«

»Warum sollte er das tun?«

»Um zu demonstrieren, daß es ihm leid tut? Um Wiedergutmachung zu leisten?«

Hazel mischte sich ein und wollte wissen, was Oz sagte.

Owen erklärte es ihr, und sie schnaubte geringschätzig. »Das kannst du vergessen. Valentin hat sich noch nie im Leben für irgendwas entschuldigt.«

»Aber ich wette, er weiß, was hier passiert ist«, sagte Owen.

»Das wäre genau die Art Vorfall, über die er informiert sein möchte. Also schätze ich, werden wir uns nur durch den Schlamm zu meiner alten Burg schleppen, ihn am Kragen hervorzerren und fragen müssen.«

»Klingt für mich nach einem guten Plan«, sagte Hazel. »Ist es okay, wenn ich ihm meine Knarre ins Ohr stecke, während du ihn verhörst?«

»Seid mein Gast.«

Owen machte sich auf, das Meer aus aufgewühltem Schlamm in der Richtung zu durchschreiten, in der er seine alte Burg vermutete. Ein grauer Schleier von grimmiger Rätselhaftigkeit täuschte den Sinn für Entfernungen. Laut Oz lag Owens altes Zuhause nur wenig über drei Kilometer entfernt, so daß er und Hazel sich unmittelbar außerhalb der Burgsensoren befanden.

Es sei denn, Valentin hatte sie auch hochfrisiert. Owen lächelte humorlos. Es bedeutete einen Dreck, wenn Valentin es getan hatte. Sollte er ruhig wissen, daß sich ihm der Tod näherte.

Vielleicht standen Owen und Hazel zu zweit gegen eine unbekannte Zahl von Feinden, aber Owen war es egal. Selbst eine Armee konnte ihn jetzt nicht mehr aufhalten. Als ihm dieser Gedanke kam, blieb er abrupt stehen und machte ein finsteres Gesicht. Immer häufiger ertappte er sich bei Gedanken, die ihm Angst machten. Er fragte sich, was aus ihm wurde. Die Veränderungen, die das Labyrinth des Wahnsinns in ihm ausgelöst hatte, schienen sich glatt noch zu beschleunigen. Zuerst hatten sie ihm nur mehr Biß verliehen, dann zu einem Mann mit unbekannten ESP-Fähigkeiten gemacht, aber seit langem schon war er nicht mehr nur ein Mensch. Er ließ die menschliche Natur hinter sich und war sich dessen bewußt, und es machte ihm Angst. Vielleicht klammerte er sich deshalb so verzweifelt an die alten, menschlichen Vorstellungen von Ehre und Gerechtigkeit.

Er seufzte müde. Er hatte sich weit entfernt von dem kleinen Historiker, als der er früher hier gelebt hatte. Aber er hatte schließlich alles verloren, als man ihn zum Gesetzlosen erklärte, und keine andere Wahl mehr gehabt, als sich zu dem Krieger zu entwickeln, den sich sein Clan immer gewünscht hatte. Er hatte etwas verkörpern müssen, was er am meisten verachtete, um nicht zu sterben. Er erreichte viel auf diesem Weg, bestrafte Übeltaten und übte Gerechtigkeit in großem wie in kleinem Maßstab, aber am Ende hatte ihm einfach Blut an den Händen geklebt… Meist von Menschen, die den Tod verdient hatten, aber eben nicht nur. Auf jeden eindeutigen Schurken, der von seiner Hand gestorben war, kamen hundert Menschen, die einfach nur als Soldaten Befehlen gehorcht und getan hatten, was sie für das Richtige hielten. Die ein korruptes Imperium verteidigten, weil ihnen alle Alternativen als noch schlimmer erschienen. Tapfere Kämpfer, die starben, weil sie das Pech hatten, zwischen Owen Todtsteltzer und seiner Bestimmung zu stehen.

So viele Tote ohne Gesichter. Zuzeiten träumte er von ihnen.

Da war ein Kind, das er auf den schmutzigen Seitenstraßen von Nebelhafen verstümmelt und getötet hatte. Ein Unfall. Und das Mädchen hatte obendrein in diesem Moment versucht, ihn umzubringen. Aber nichts davon bedeutete etwas. Er hatte im Kampfesrausch blindwütig zugeschlagen, und das Ergebnis war ein junges Mädchen, das im blutbespritzten Schnee lag.

Das hatte er sich nie vergeben, und er würde es sich auch nie vergeben. Falls der Krieger, zu dem er geworden war, irgendeinen Sinn hatte, dann den, das System zu beseitigen, das solche Kinder hervorbrachte. Und vielleicht, Menschen wie sie vor Leuten wie ihm zu schützen.

Genau diese Bedeutung hatte es, ein Todtsteltzer zu sein.

Er blickte kurz zu Hazel hinüber, die entschlossen neben ihm ausschritt. Das lange, verfilzte rote Haar fiel ihr rings um das scharf gezeichnete und spitze Gesicht. Vielleicht nicht hübsch im konventionellen Sinn, aber andererseits glaubte Hazel D’Ark nicht an das Konventionelle, wenn sie es vermeiden konnte. Owen fand sie hübsch, aber er war schließlich voreingenommen. Er liebte sie still und insgeheim. Sie war überhaupt nicht die Art Frau, von der er einmal geglaubt hatte, er würde sich in sie verlieben, und sicherlich nicht die Art Frau, die zu heiraten man von ihm erwartete, um die jahrhundertealte Todtsteltzerlinie fortzusetzen, aber trotzdem liebte er sie. Ungeachtet all der genannten Überlegungen, oder vielleicht aufgrund von ihnen. Hazel war gescheit und witzig, auch ehrlich, wenn es ihr paßte, und die tapferste Frau, die er je kennengelernt hatte. Ganz zu schweigen davon, daß sie teuflisch gut mit jeder Waffe umgehen konnte, die einem nur einfiel. Er bewunderte sie enorm, achtete aber darauf, es für sich zu behalten. Sie hätte es nur ausgenutzt. Sie war zuversichtlich, wenn er verzagte, vorsichtig, wenn er es zu sein vergaß, und sie vergaß niemals, wofür sie kämpften. Und er wußte: Falls er je das Wort Liebe erwähnte, würde sie ihn glatt verlassen. Hazel hatte bei mehr als einer Gelegenheit deutlich gemacht, daß sie an solche Dinge wie die Liebe nicht glaubte. Sie schränkten ein, machten verwundbar und führten zu Themen wie Verpflichtung und Vertrauen und Offenheit, von denen keines in Hazels Leben einen Platz hatte. Also nahm Owen einfach an, was sie ihm zu eigenen Bedingungen an Wärme und Freundschaft anbot, und hoffte weiter. Sie waren zusammen, und wenn das alles war, was er erhalten konnte, dann war es immer noch mehr, als er je zuvor gehabt hatte.

»Warum gehen wir eigentlich zu Fuß?« fragte Hazel plötzlich. »Ich habe dafür gesorgt, daß man Gravschlitten an Bord brachte, ehe wir gestartet sind.«

»Schlitten würden auf den Ortungsgeräten der Burg erscheinen«, erläuterte Owen geduldig. »Wir selbst haben uns allerdings als für die meisten Abtaster unsichtbar erwiesen, seit wir das Labyrinth durchquerten. Eine weitere nützliche Nebenwirkung, die niemand erklären kann. Also gehen wir zu Fuß und schlüpfen hoffentlich unbemerkt durch Valentins Abwehrsysteme.«

»Ich hasse es zu laufen«, sagte Hazel finster. »Dabei tut mir immer der Rücken weh. Hätte Gott gewollt, daß wir zu Fuß gehen, hätte er uns nicht die Antischwerkraft geschenkt.«

»Genießt die Landschaft«, schlug Owen vor.

»Haha! Als ich letztesmal sowas durchquert habe, hatten alle Feldtoiletten gleichzeitig versagt.«

»Laufen soll sehr gesund sein.«

»Das gilt genauso für die richtige Ernährung und für Enthaltsamkeit, und ich hasse das auch. Ich möchte dich warnen, Todtsteltzer: Ich sollte auf deiner Burg lieber Gelegenheit finden, eine Menge Leute umzubringen, oder es gibt Ärger!«

»Oh, ich denke, das kann ich garantieren«, sagte Owen.

»Wenn Ihr Euch einer Sache sicher sein könnt, dann, daß wir keinerlei Freunde auf der Todtsteltzer-Festung haben.«

Die Todtsteltzer-Burg war eine große steinerne Feste auf einer Bergspitze. Das blaßgraue Gestein war hier und da von Schäden und Brandflecken durch Energiewaffen gezeichnet. Sie rührten von der Belagerung durch das Imperium her, als dieses den Lord David Todtsteltzer gefangennehmen wollte. Jetzt erduldete das Anwesen die Besetzung durch Lord Valentin Wolf und seine Kumpane. Der Wolf war mit ganz persönlichen Zielen nach Virimonde gekommen, und die anderen waren ihm gefolgt, weil ihnen keine Wahl blieb. Der Wolf bot ihnen die einzige Hoffnung darauf, die Rebellion zu besiegen und sie selbst wieder an die Macht zu bringen. Sie verlangten nicht nach dem geringeren Glanz, wie ihn Handel und Einflußpolitik boten. Sie wollten Herren und Meister sein und konnten nicht anders.

Sie waren auch deshalb hier, weil Valentin ihr Leben in der Hand hatte, obwohl sie bemüht waren, nicht daran zu denken, solange sie sich nicht genötigt sahen. Nichts anderes jedoch hätte derartige aristokratische Machtmenschen dazu bewegen können, sich so eng mit dem berüchtigten Valentin Wolf zu verbünden. Er war wahnsinnig, böse und eine gefährliche Bekanntschaft, aber er verfügte über etwas – über eine Waffe von potentiell solcher Macht, daß sie nicht riskieren konnten, sie zu verlieren. Also schlossen sie sich mit dem verachteten Wolf zusammen und verwetteten ihr Leben darauf, daß es ihnen irgendwann einmal gelingen würde, ihn auszumanövrieren. Was zeigte, wie verzweifelt sie waren.

Valentin saß ungezwungen auf dem Stuhl des Lords im großen Speisesaal dessen, was einmal die Todtsteltzer-Burg gewesen war, und verfolgte tolerant mit, wie seine Spießgesellen alles zerstörten. Sie waren zum Teil betrunken, hatten zu viele Flaschen Wein zu einer guten Mahlzeit genossen, und sie lachten jetzt, während sie mit Lebensmitteln um sich warfen und Möbel umstürzten. Lord Silvestri warf mit seinen Messern nach den Familienportraits an den Wänden, auf denen man die Todtsteltzers aller Zeiten erblickte. Er zielte auf die Augen und traf meistens. Lord Romanow hatte einen kostbaren Wandbehang heruntergerissen und trug ihn als Schal, während er Brandy aus der Flasche trank. Lord Kartakis stampfte auf dem Tisch hin und her, bewegt von der kühnen Überzeugung, er tanzte im Takt des zotigen Liedes, das er voll Trotz falsch sang. Valentin lächelte auf sie herab wie auf unartige Kinder und gönnte ihnen ihren Spaß. Sie hatten sonst nicht viel zu tun und waren schon lange in der Burg zusammengepfercht. Und Valentin sah es so gern, wie den kostbaren Habseligkeiten des Todtsteltzers Gewalt angetan wurde, wie er den Mann selbst eines Tages vernichten würde.

Valentin Wolf saß auf einem Stuhl, der viel zu groß für ihn war; er hatte eines seiner langen Beine über der Armlehne hängen und den anderen Fuß auf dem Tisch liegen. Wie immer trug er Schwarz; das blasse weiße Gesicht war von den langen dunklen Locken des geölten und parfümierten Haares umrahmt, der Mund ein scharlachroter Spalt, die Augen schwer von Wimperntusche. So vermittelte er das Abbild genau des absoluten Schurken, der zu sein er sich bemühte. Und die Drogen, die herrlichen Drogen randalierten in seinem Körper, wie sie es immer getan hatten. Von Valentin hieß es wahrheitsgemäß, daß er noch nie auf eine Chemikalie gestoßen war, die er nicht mochte, und wenn man etwas rauchen, schlucken, injizieren oder sich dort hinstecken konnte, wo die Sonne nicht schien, tauchte Valentin gleich an vorderster Front auf, bereit, es einmal zu probieren. Er betrachtete den eigenen chemisch verstärkten Verstand als Kunstwerk und bemühte sich, es ständig zu verbessern. Der absolute Rausch wartete nach wie vor irgendwo auf ihn, und Valentin suchte unablässig danach.

Zu diesem Zweck hatte er auch die seltene und augenblicklich suchterzeugende Esperdroge eingenommen, wohl wissend, daß sie einen kleinen, aber bedeutsamen Teil aller Menschen umbrachte, die sie zu sich nahmen. Valentin überlebte natürlich. Wahrscheinlich deshalb, weil man seine radikal veränderte Körperchemie durch nichts anderes mehr beeinträchtigen konnte als durch rauchende Salpetersäure. Die Esperdroge verlieh ihm geringfügige telepathische Fähigkeiten sowie die völlige Beherrschung des autonomen Nervensystems, und seine Gedanken folgten nun fremden und unvertrauten Pfaden. Er nahm eine Droge nach der anderen und wahrte durch schiere Willenskraft ein komplexes Gleichgewicht. Valentin betrachtete sich als ersten Vertreter einer neuen Art Menschen, wie die Hadenmänner eine waren – einen alchemistischen Schritt nach vorn auf der Evolutionsleiter, oder vielleicht zur Seite.

Er sah zu, wie Carlos Silvestri ein ums anderemal die Messer warf und dabei großen Männern die Augen ausstach, nur weil er es tun konnte, um allen zu beweisen, daß er den mächtigen Owen Todtsteltzer nicht fürchtete. Silvestri war groß und dünn, bestand ganz aus langen Gliedern und unerwarteten Winkeln.

Er kleidete sich in Rotschattierungen, die traditionellen Farben seines Clans. Es paßte nicht zu ihm. Das Gesicht war rund und geschwollen, als hätte es sich noch nicht entschieden, wie es einmal werden wollte, obwohl der Mann mindestens vierzig war. Er trug den Schädel kahlrasiert und rupfte sich die übrigen Haare aus. Er konnte gut mit dem Messer und noch besser mit dem Schwert umgehen. Er hätte sich als großer Schwertkämpfer und Duellant erweisen können, hätte er nur den Mut seiner Überzeugungen aufgebracht. Der Silvestri war jedoch seit eh und je ein ausgesprochen vorsichtiger Mann, der lieber von den Seitenlinien aus zusah und durch seine Untergebenen handelte und sich nie, niemals selbst die Hände schmutzig machte. Er hatte Finlay Feldglöck niemals die Ermordung seines guten Freundes William Saint John vergeben und viel Zeit und Geld in Pläne investiert, die Feldglöck ums Leben bringen sollten, aber mit nichts davon Erfolg gehabt. Nachdem Finlay wieder ein mächtiger und bedeutender Mann geworden war und der Silvestri seine Macht durch Ohnesorgs Abkommen und das Auftauchen des Schwarzen Blocks drastisch reduziert sah, war Carlos gezwungen, sich an Valentin zu wenden, seinen einzigen möglichen Retter. Und falls sich das ganz anders entwickelt hatte, als vom Silvestri ursprünglich geplant, legte er nur noch ein bißchen mehr Emphase in den Wurf seiner Messer.

Valentin lächelte und richtete die Aufmerksamkeit auf Pieter Romanow, diesen fetten, rotbackigen Mann, der sich in ein zerrissenes Meisterwerk gewickelt hatte. Pieter hegte die Auffassung, daß man einen Mann an der Breite und der Verwirklichung seiner Gelüste erkennen sollte, und er schwelgte in der Befriedigung seiner Sinne, bis sie unter der Last seines Willens ächzten. Er verspürte einen Hunger in sich, der nicht zu stillen war, so sehr er sich auch bemühte. Seine Leute gehorchten jeder seiner Launen, oder er ließ sie umbringen und durch andere ersetzen, die dazu bereit waren. Pieter war der Inbegriff eines Aristokraten, und Ohnesorgs Abkommen hatte ihn besonders hart getroffen. Für ihn waren verringerte Macht und die Profite aus bloßer Geschäftstätigkeit nichts. Also suchte er nach einem Bundesgenossen, einem großen Mann voller Macht und Einfluß, der alles wieder so richtete, wie es früher gewesen war und wie es sein sollte. Einen Mann mit Visionen, mit einer Bestimmung. Leider fand er nur Valentin. Der Wolf hatte jedoch wenigstens einen Plan, was mehr war, als man von den meisten behaupten konnte, und Pieter sah sich genötigt, einen Mann zu bewundern, dessen Sinn für Genuß tatsächlich noch seinen übertraf. Also schloß er mit Valentin einen Pakt, und wenn der Romanow die Art ihrer Machtbasis auch etwas erschreckend fand, so stöberte er doch stets eine weitere Mahlzeit und eine weitere Flasche aus dem exzellenten Weinkeller des Todtsteltzers auf, um sich abzulenken.

Und schließlich war da noch Athos Kartakis. Ein kleiner und dunkelhäutiger Mann mit strahlendem Lächeln und einem Temperament, das in einer Sekunde vom hellsten Tag zur finstersten Nacht umspringen konnte. Er sammelte Beleidigungen und betrachtete Duelle als Sport. Er akzeptierte nie das erste Blut als Siegbedingung, sondern war stets auf den Tod des Gegners aus. Die Leute achteten meist sorgfältig auf das, was sie in Gesellschaft des jungen Lord Kartakis sagten.

Sein Clan war nie mehr gewesen als ein eher kleines Haus und hatte das Geld seit Generationen schneller ausgegeben, als es hereinkam. Kartakis hatte viele Schulden geerbt und sich unverzüglich darangemacht, eigene hinzuzufügen. Die Gläubiger vergaßen ihre Rechnungen auch lieber, als das Risiko eines Duells einzugehen, aber trotzdem kannte alle Welt die tatsächliche Lage, und Kartakis wußte seinerseits, daß alle anderen sie kannten. Das Abkommen, das der Schwarze Block mit Ohnesorg geschlossen hatte, war der letzte Sargnagel gewesen. Man nehme Kartakis die Lordschaft, und es blieb nichts. Als Geschäftsmann hätte er nie überlebt. Sei es auch nur, weil er sich so viele Feinde in der Geschäftswelt gemacht hatte. Und so verpfändete er das, was von seiner Seele übrig war, an Valentin.

Valentin betrachtete seine Leute, wie sie herumspielten, und dachte voller Vorfreude an den Tag, an dem er sie nicht mehr benötigte und sie auf langsame und interessante Weise töten konnte. Er hatte gerade damit begonnen, die Methoden zu numerieren und sich für die Lieblingsmethode zu entscheiden, da läutete der Bildschirm an der Wand höflich. Valentin zog eine aufgemalte Braue hoch. Er hatte dem Dienstpersonal zu verstehen gegeben, daß er beim Essen auf keinen Fall gestört zu werden wünschte, es sei denn, es lag ein wichtiger Notfall vor, und nachdem er einen Lakaien von der Hüfte abwärts hatte häuten lassen, hatten sie die Lektion verstanden und gehorchten seinen Anweisungen buchstabengetreu. Also nahm er den Anruf entgegen und wies seine Kumpane an, still zu sein. Auf dem Bildschirm tauchte dieser finstere Fettkloß auf, der ehemalige Lord Gregor Shreck. Der Shreck saß hinter einem häßlichen, aber funktionellen Holztisch voller Papiere und Berichte. Er nickte Valentin kurz zu, was seine größte Annäherung an höfliches Verhalten war, und kam zur Sache, ohne weitere Umstände zu machen.

»Ihr steckt in Schwierigkeiten, Wolf. Das Parlament hat eine Einsatzgruppe geschickt, die untersuchen soll, was Ihr auf Virimonde im Schilde führt.«

»Tatsächlich?« fragte Wolf, ungerührt wie immer. »Und wie groß genau ist die Armee, die es entsandt hat?«

»Es ist etwas Schlimmeres als eine Armee. Es hat den Todtsteltzer und D’Ark geschickt.«

Die drei Aristokraten sahen einander kurz an und plapperten bestürzt los. Valentin gab ihnen mit einem Wink zu verstehen, daß sie ruhig sein sollten, und sie waren es. Der Wolf lächelte den Shreck bedächtig an, und der breite scharlachrote Spalt breitete sich über das totenhafte Gesicht aus. »Der liebe Owen.

Ich freue mich schon die ganze Zeit so darauf, ihm zu begegnen. Ich kann gar nicht erwarten, seine Meinung zu dem zu erfahren, was ich aus seinem alten Zuhause gemacht habe.

Wann kann ich mit dem illustren Helden und seiner kriegerischen Begleiterin rechnen?«

»Verdammt, er und das Miststück sind wahrscheinlich schon gelandet. Meine Verbindungen sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Nachrichten brauchen heute länger, bis sie mich erreichen.«

»Der Todtsteltzer kann nicht hier sein«, meinte der Kartakis.

»Die Sicherheitssysteme hätten sein Schiff vernichtet. Oder die Sensoren hätten uns gewarnt…«

»Seid nicht albern«, versetzte Valentin. »Wir sprechen hier über Owen Todtsteltzer.« Er wandte sich wieder dem Shreck zu. »Habt Ihr ansonsten bei Euch noch alles im Griff?«

»Natürlich. Liefert Ihr nur das Produkt. Ich habe arrangiert, daß es auch befördert wird.« Gregor runzelte betrübt die Stirn.

»Hätte nie erwartet, noch mal als Drogenkurier arbeiten zu müssen.«

»Ich hätte gedacht, eine solche Beschäftigung wäre geradezu ideal für Euch«, warf der Silvestri ein, der sich müßig mit einem seiner Messer die Fingernägel schnitt. »Aber schließlich erhebt sich jeder letzten Endes auf das ihm gebührende Niveau.«

»Wenigstens bin ich nicht auf der Flucht vor dem, was heute als Justiz durchgeht!« schnauzte der Shreck. »Ich habe nach wie vor meinen Turm und meine Leute.«

»Aber Ihr seid kein Lord mehr«, stellte der Romanow fest und saugte sich zwischendurch Hühnerfett von den Fingern.

»Wir haben nicht zugelassen, daß uns der Schwarze Block und dieser Verräter Ohnesorg unser rechtmäßiges Erbe rauben.«

»Und wir werden wieder Lords sein«, sagte der Kartakis kategorisch. »Selbst, wenn wir erst jeden im Imperium töten müßten, der etwas anderes behauptet.«

»Große Worte von einem kleinen Mann«, erwiderte Gregor und wiegte sich dabei in der Gewißheit, daß der Kartakis Lichtjahre entfernt war. »Wir haben versucht zu kämpfen. Wir haben verloren. Unser einzige Hoffnung ruht jetzt auf dem Plan des Wolfs. Und Gott helfe uns, falls alles schiefgeht.«

»Falls es gelingt, mache ich Euch alle zu Göttern«, sagte Valentin ruhig. »Wir werden ruhmreich heimkehren und eine Macht erfahren, die sogar über das hinausgeht, was Löwenstein früher hatte. Aber das liegt in der Zukunft. Erzählt mir von der Gegenwart, Gregor. Wie läuft das Komplott?«

»Es wächst und gedeiht ständig«, berichtete Gregor. »Niemand ist bereit, sich öffentlich zu bekennen, aber immer mehr Aristokraten und Politiker stellen Leute und Geld bereit, um die Verwirklichung Eures Plans voranzutreiben. Niemand kann jetzt schon sagen, wie viele von ihnen aufstehen und kämpfen werden, wenn die Zeit reif ist, aber ich gebe mich auch damit zufrieden, daß sie im richtigen Augenblick untätig bleiben. Die Rebellen und ihr Schoßparlament glauben vielleicht, sie hätten die Lage im Griff, aber ihr heißgeliebtes neues System ist auf Sand gebaut.«

»Und die Sanduhr, die ihre Zeit bemißt, läuft ab«, sagte Valentin. »Wie ich doch eine gute Metapher liebe! Seid jetzt ein guter Junge, Gregor, und verschwindet. Ich muß nachdenken.

Ich muß einen passenden Empfang für den lieben Owen und die respektgebietende Hazel D’Ark vorbereiten.«

»Gebt auf Euch acht«, empfahl ihm Gregor. »Das sind keine Menschen mehr. Falls sie es überhaupt je waren. Ihr werdet kräftig hinlangen müssen, um sie zu töten.«

»Falls es einfach wäre«, sagte Valentin, »würde es keinen Spaß machen, nicht wahr? Lebt wohl, Gregor.« Er schaltete den Bildschirm aus.

»Sollen sie ruhig kommen«, sagte der Silvestri. »Wir werden schon mit ihnen fertig.«

»Wir durchaus«, sagte der Kartakis. »Was Euch angeht, bin ich mir jedoch nicht sicher.«

Carlos Silvestri lief rot an und nahm ein Messer in jede Hand. »Ich kann meinen Beitrag leisten!«

»Entspannt Euch«, empfahl der Romanow und durchwühlte die Überreste seiner Mahlzeit, nur für den Fall, daß er etwas übersehen hatte. »Mit all den Wachtposten und Sicherheitssystemen, die wir hier aufgefahren haben, könnten wir uns einer ganzen Armee erwehren, bis sie verhungert wäre.«

»In jedem anderen Fall vielleicht«, entgegnete der Silvestri.

»Aber hier haben wir es mit dem Todtsteltzer und dieser D’Ark zu tun. Ich habe Geschichten über sie gehört, über das, was sie in den Straßenkämpfen auf Golgatha geleistet haben. Jemand sagte, sie wären umgekommen und hätten sich selbst wieder zum Leben erweckt.«

»Geschichten«, sagte Athos Kartakis. »Geschichten werden immer erzählt.«

»In diesem Fall könnten sie der Wahrheit entsprechen«, meinte Valentin. »Aber macht Euch keine Sorgen, geschätzte Kameraden. Sollen sie anrücken, wie sie möchten. Sie werden hier nichts anderes als den Tod finden.« Er lachte leise über diesen kleinen Scherz. Die anderen sahen nicht so aus, als wüßten sie seinen Humor besonders zu schätzen, aber schließlich taten sie das nur selten. Valentins Sinn für Humor hatte sich verändert, sich im Takt mit seiner alchemistischen Transformation verwandelt, und entsprach nicht mehr jedermanns Geschmack. Er seufzte und stand auf, gab damit das Zeichen, daß die Tafel offiziell aufgehoben war. Er tupfte sich anmutig die scharlachroten Lippen mit einer Serviette ab und ging zur Tür hinüber. Die drei Aristokraten gaben unwillkürlich diverse Laute der Beunruhigung von sich. Valentin ließ sich Zeit, bis er sich zu ihnen umdrehte.

»Ja, liebe Freunde? Ist da noch etwas?«

»Die Droge«, antwortete der Kartakis kalt. »Wir brauchen die Droge.«

»Natürlich«, sagte Valentin. »Wo war ich nur mit meinen Gedanken? Es wird Zeit für Eure tägliche Dosis, nicht wahr?

Wie außerordentlich vergeßlich von mir.«

Er spazierte zum Tisch zurück und zog ein Pillenfläschchen aus der Tasche. Die drei Männer, die einmal Lords gewesen waren und Meister ihres Schicksals, betrachteten das Fläschchen und bemühten sich, nicht zu verzweifelt auszusehen. Valentin war durchaus fähig, dieses Spielchen endlos hinzuziehen, falls ihm danach zumute war. Er konnte sie zwingen, alles zu tun, einfach alles, und das auf der Stelle, und jeder von ihnen wußte es.

Entwickelt worden war die Esperdroge von einer kleinen Gruppe Wissenschaftler, die eigentlich etwas anderes suchten.

Zu ihrer Überraschung stellten sie fest, daß sie eine Droge geschaffen hatten, die jedem bei regelmäßiger Einnahme geringe, aber echte telepathische Kräfte verlieh. Der ursprüngliche Hohe Lord Dram, genannt der Witwenmacher, hatte Droge und Wissenschaftler in seine Gewalt gebracht und eigenen Zwecken dienstbar gemacht, aber seine Pläne, seine Vorstellungskraft erwiesen sich als etwas beschränkt. Nach seinem Tod übernahm Valentin die Droge und das einzelne Labor, das sie herstellte. Natürlich hatte die Sache einen oder zwei Haken.

Erstens war die Droge hochgradig suchterzeugend. Hatte man sie erst mal eingenommen, mußte man für den Rest des Lebens damit fortfahren oder eines scheußlichen Todes sterben. Und zweitens starb ein kleiner Teil der Leute, die sie einnahmen, auf der Stelle. Valentin hatte das Für und Wider abgewogen, aber nicht lange dafür gebraucht. Es war schließlich nur eine Droge, und Valentin hatte nie viel davon gehalten, sich von einer Chemikalie unterkriegen zu lassen.

Die drei Ex-Lords nahmen die Droge ebenfalls und überlebten. Der Wolf hatte es ihnen zur Bedingung gemacht, um als Partner in die Massenproduktion des Mittels einzusteigen. Eine Droge, die man als Waffe nutzen konnte, um das Parlament und schließlich die zivilisierten Welten erst zu unterminieren und dann zu beherrschen. Denn jemand, der die Herstellung einer solch endlos suchterzeugenden Droge in der Hand hatte, hatte auch die völlige und vorbehaltlose Herrschaft über jeden, der sie einnahm, und für dessen ganzes Leben. Und was die wenigen anbetraf, die sich vielleicht zu widersetzen versuchten, so würde es recht einfach sein, ihnen die Droge unbemerkt unterzuschieben. Jeder mußte essen und trinken, und man brauchte nur eine Dosis.

Valentin fand seit eh und je, daß die einfachen Pläne die besten waren.

Und so verteilte er die kostbaren Pillen, und der Silvestri und der Romanow und der Kartakis schluckten sie, und somit waren alle daran erinnert, wer in der alten Todtsteltzer-Burg das Zepter schwang. Valentin besaß den Anstand, die drei Männer nicht triumphierend anzulächeln. Gerne hätten sie ihn umgebracht, um das Geheimnis zu wahren und ihr Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen, aber sie wagten es nicht. Sie wußten, daß es auch sie das Leben kostete, falls er starb, und wie schlimm sein Tod auch immer sein würde, ihrer würde schlimmer ausfallen.

»Ich hoffe doch, daß Ihr die Mahlzeit genossen habt«, sagte Valentin aalglatt. »Die heute etwas anders ausgefallen ist.«

Die drei Aristokraten musterten argwöhnisch den Eßtisch und versuchten sich zu erinnern, ob ihnen irgend etwas ungewöhnlich vorgekommen war.

»Nein, nein!« sagte Valentin, der ihren Gesichtsausdruck richtig deutete. »Ich würde doch keine meiner besonderen Kreationen auf ein Publikum verschwenden, das sie so wenig zu würdigen verstünde. Vielmehr habe ich mir überlegt, daß wir alle vom letzten echten Erzeugnis des Lebensmittelproduzenten Virimonde kosten sollten.«

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie es kapierten. Auf dem Planeten fand man keine Nahrung mehr. Alle wußten das. Und dann weiteten sich die Augen des Silvestris, und er legte sich die Hand auf den Mund, als ihm jede Farbe aus dem Gesicht wich. »Die Toten… die Menschen von Virimonde… haben wir gegessen…«

»Ja, habt Ihr«, bestätigte Valentin. »Und das mit solch ausgezeichnetem Appetit. Ach ja, so viele Tabus und so wenig Zeit!

Genießt doch zum Nachtisch den Pfefferminzlikör, meine Herren.«

Mit fröhlichem Lächeln und knappem Nicken verabschiedete sich Valentin Wolf, um die Überraschungen für Owen Todtsteltzer und Hazel D’Ark vorzubereiten, die er im Sinn hatte.

Die große Todtsteltzer-Burg war auf einem gewaltigen Vorgebirge aus massivem Granit errichtet. Vor der Front und den zwei Seitenmauern breiteten sich freie Ebenen aus. An der Rückwand folgte ein jäher Absturz von mehreren hundert Fuß, bis hinunter zu häßlichen, schartigen Klippen, die von einer heftigen Flut gepeitscht wurden. Dadurch war die Burg extrem leicht zu verteidigen und für heimliche Eindringlinge gleichzeitig nur schwer zu erreichen. Perfektes Sicherheitsdenken. Obwohl das für Owen nicht der Grund gewesen war, seine Burg hier zu errichten. Ihm hatte einfach die Aussicht gefallen.

Natürlich hatte er nie erwartet, hier mal selbst einbrechen zu müssen. Als er und Hazel also schließlich in Sichtweite seiner alten Burg waren, mußten sie anhalten und gründlich nachdenken. Eine frontale oder seitliche Annäherung kam nicht in Frage; durch ihre besondere Beschaffenheit waren Owen und Hazel vielleicht nicht für die Sensoren der Burg erkennbar, wohl aber uneingeschränkt für das bloße Auge. Und Owen teilte nicht Hazels Überzeugung von ihrer beider Unverwundbarkeit.

Nach dem Austausch einiger Argumente entschieden sie schließlich, daß der einzige praktische Weg zur Rückmauer führte. Dazu mußten sie erst ein Stück des Weges zurückgehen, den sie gerade gekommen waren, um dann langsam zum wellengepeitschten Fuß des großen Vorgebirges hinabzusteigen.

Endlich standen sie gemeinsam inmitten der hochgewirbelten Gischt und blickten mehrere hundert Fuß einer nackten Granitwand hinauf.

»Früher sah man hier Vögel«, erzählte Owen leise. »Oder Dinge, die Vögeln sehr ähnlich waren. Sie stiegen mit dem Wind auf, zogen ihre Kreise und schrien mit den traurigsten Stimmen, die man je gehört hatte. Und jetzt sind sie alle dahin.

Sie haben sogar die verdammten Vögel getötet!«

»Nur ein weiterer Grund, um Rache zu nehmen«, sagte Hazel. »Nichts geht über ein bißchen geschürte Wut, um den Körper auf einer langen, kalten Kletterpartie zu wärmen.«

»Es ist sehr kalt hier«, sagte Owen. »Ich denke nicht, daß mir je wieder warm wird.«

Er machte sich auf den Weg die dunkle Granitwand hinauf.

Er kletterte langsam und vorsichtig, und einen Moment später folgte ihm Hazel. Der Wind umrauschte sie, mühte sich, sie von der jähen Felswand zu pflücken, konnte sie aber nicht von der Stelle bewegen. So begnügte er sich damit, ihnen Tränen aus den Augen zu wehen. Owen konzentrierte sich auf die Wand vor ihm und bewegte sich selbstbewußt von einem Fußhalt und einem Handgriff zum nächsten.

Nach den ersten dreißig Metern entschied er sich definitiv, er würde keinen Blick nach unten riskieren, bis er sicher innerhalb der Burg war. Tolle Aussichten mal außer acht, hatte er sich in großer Höhe noch nie wohl gefühlt. Trotzdem fiel es ihm immer leichter, die nackte Felswand zu erklimmen, und er fand mit Händen und Füßen instinktiv Vorsprünge und Absätze, von denen er geschworen hätte, daß sie gar nicht vorhanden waren, bis er sie brauchte. Nicht zum ersten Mal hatte er das Gefühl, als wüßte der Körper selbst, was er zu tun hatte, ohne daß er es ihm hätte erklären müssen. Owen dachte darüber nach, während er kletterte. Er vollbrachte heute allerlei Dinge, zu denen er früher nie fähig gewesen war, ehe er das Labyrinth des Wahnsinns durchquerte und als jemand wieder daraus hervorkam, der sein altes Selbst so sehr übertraf. Die Talente kamen und gingen, und er konnte sich nicht immer darauf verlassen, daß sie vorhanden waren, wenn er sie brauchte. Und selbst nach all dieser Zeit war er kein bißchen schlauer geworden, welcher Art sie waren. Er blickte zu Hazel hinüber, die gelassen an der glatten Granitfläche emporkletterte wie ein Insekt an einer Glasscheibe, und mußte sich wieder abwenden. Er hoffte wirklich, daß er keinen vergleichbaren Eindruck machte. Er zwang sich, wieder hinüberzublicken, und stellte fest, daß Hazel den Blick erwiderte.

»Ich weiß, was du denkst«, sagte sie gelassen.

»Wäre nicht das erste Mal«, sagte Owen. »Ich vermute, Ihr hattet vor dem heutigen Tag auch keine Ahnung vom Bergsteigen?«

»Präzise umrissen. Es scheint, als wüßten Hände und Füße genau, wohin sie sich bewegen müßten, ohne daß ich erst hinsehe – als hätten sie es schon immer gewußt. Gruselig. Ich frage mich, was wir sonst noch alles schaffen würden, wenn wir es uns nur vornähmen. Ich habe schon immer davon geträumt, mal zu fliegen…«

»Das würde ich in diesem Moment nicht gerade probieren«, erwiderte Owen. »Die Klippen dort unten wirken besonders unnachgiebig.«

»Guter Punkt.«

Sie kletterten schweigend ein Stück weiter. Owen konnte nicht umhin festzustellen, daß sie beide nicht einmal schwer atmeten.

»Denkt Ihr je über das nach, was wir alles tun können?« fragte er schließlich. »Und zu wem wir uns entwickeln? Wir sind keine Esper. Ich habe etliche führende Leute der Esper-Bewegung gebeten, mich zu sondieren. Sie haben keine Ahnung, wie ich es schaffe, all das zu tun, was mir heute möglich ist.«

»Ich bemühe mich, nicht zu viel darüber nachzudenken«, sagte Hazel. »Wir haben Gaben erhalten. Gaben, die uns in Situationen das Leben gerettet haben, in denen jeder andere eines entsetzlichen Todes gestorben wäre. Sie haben uns dabei geholfen, das Imperium zu stürzen. Warum einem solchen geschenkten Gaul ins Maul schauen?«

»Die Tatsache allein, daß etwas an jeder Ecke ein Bein hat und Heu frißt, heißt noch nicht, daß es ein Pferd ist. Esper sind trotz all ihrer Kräfte immer noch Menschen. Das ist einer der Gründe, warum wir die Rebellion ausgefochten haben. Uns hat jedoch eine extraterrestrische Anlage verändert. Wer weiß schon, welchem Zweck sie eigentlich diente, was sie hervorbringen sollte?«

»Eine Verwandlung«, sagte Hazel langsam. »Sie hat uns… besser gemacht, als wir vorher waren. Das war ihre Funktion.

Daran kann ich mich noch erinnern.«

»Aber was meinen wir mit besser? Eine menschliche Definition oder eine extraterrestrische?«

»Warum zum Teufel fragst du mich? Du bist das Hirn in dieser Partnerschaft. Ich schieße nur auf Dinge.«

Owen seufzte. »Weil ich es leid bin, mir Fragen zu stellen, auf die ich keine Antwort finde. Oder auf die ich Antworten finde, die mich einfach zu stark beunruhigen. Unsere einzige Hoffnung auf Antwort war das Labyrinth selbst, und es existiert nicht mehr. Vernichtet. Und damit waren all unsere Hoffnungen dahin, genau zu erfahren, was mit uns gemacht wurde und warum.«

»Warum quälst du dich dann?« fragte Hazel. Sie stoppte und sah ihn an, weil sie feststellte, daß er ebenfalls nicht mehr weiterkletterte.

»Weil ich Angst vor dem habe, was vielleicht aus mir wird«, antwortete Owen. »Ich habe Angst, daß ich womöglich aufhöre, ein Mensch zu sein. Daß ich die menschliche Natur hinter mir lasse. Habt Ihr je daran gedacht, daß wir uns vielleicht so weit vom normalen Menschen entfernen wie die Hadenmänner oder die Wampyre oder die KIs von Shub? Daß wir… fremdartig genug werden könnten, um zu vergessen, wer und was wir einmal waren?«

»Hör auf damit, Owen!« versetzte Hazel scharf. »Du machst dir nur selbst Angst. Ich fühle mich nicht anders als früher. Ich glaube nach wie vor an dieselben Dinge, wünsche mir dieselben Dinge, verabscheue dieselben Dinge. Ich bin immer noch ich selbst. Meine Fähigkeiten erleichtern es mir nur so sehr, das zu erreichen, was ich möchte.«

Sie kletterte weiter, und einen Augenblick später folgte ihr Owen. »Ich denke, es ist ein subtilerer Vorgang«, sagte er schließlich. »Eine kleine Veränderung bedeutet vielleicht nicht viel, aber wenn man genug davon aneinanderreiht… Ich meine, wir haben nicht mal die leiseste Idee, wie unsere Kräfte funktionieren. Warum sie kommen und gehen, wie sie es nun mal tun. Manchmal sind wir einfach Kämpfer mit mehr Biß, und zu anderen Zeiten sind wir nahezu Götter. Wir lenken unsere Kräfte nicht selbst. Sie lenken uns.«

»Sieh mal«, sagte Hazel. »Falls du versuchst, mir Angst einzujagen, hast du Erfolg, also laß es lieber. Für unseren Zustand haben wir nun mal kein Handbuch erhalten, und wir können nur darauf hoffen, durch die Praxis zu lernen.«

»Es ist gefährlich, eine neue Waffe einzusetzen, ohne vorher das Kleingedruckte zu lesen. Sie könnte Nebeneffekte haben, die uns noch nicht aufgefallen sind. Vielleicht verbrauchen wir unsere Lebenskraft. Verbrennen all die Jahre, die wir sonst noch hätten. Die Energie, die unsere Kräfte antreibt, muß schließlich aus irgendeiner Quelle stammen. Die Kerze, die doppelt so hell brennt, hält nur halb so lange durch. Und wir haben heller gebrannt als Sonnen.«

»Mein Gott, du bist heute aber in einer morbiden Stimmung!

Ich fühle mich prima. Ich fühle mich besser als prima. Vielleicht leben wir ewig.«

»Und noch etwas: Warum sind wir alle mit unterschiedlichen Kräften aus dem Labyrinth hervorgegangen?«

»Warum nicht?« fragte Hazel vernünftig. »Wir alle waren verschiedene Menschen.«

»Ja, aber… Manches von dem, was wir tun, ähnelt ESP. Jakob und Ruby sind Zünder, und Giles konnte teleportieren. Ich habe so etwas wie Psychokinese. Aber wie zum Teufel stellt Ihr das an, was Ihr tut? Was sind diese verschiedenen Versionen Eurer selbst, die Ihr in einem Kampf heraufbeschwören könnt?«

»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte«, antwortete Hazel. »Ich rufe sie einfach, und sie tauchen auf. Keine von ihnen ist nachher jemals lange genug geblieben, um Fragen zu beantworten. Giles dachte, es wären Versionen meiner selbst von anderen Zeitschienen – also Personen, zu denen ich mich hätte entwickeln können, wäre das Leben anders verlaufen.«

»Schon, aber Zeitschienen sind reine Theorie«, gab Owen zu bedenken. »Niemand hat je beweisen können, daß verschiedene Dimensionen existieren, geschweige denn Kontakt mit ihnen aufgenommen. Vielleicht sind Eure anderen Ichs nur Produkte Eurer Vorstellungskraft, denen die Kraft in Euch Wirklichkeit verleiht.«

»Auf keinen Fall«, erwiderte Hazel mit Bestimmtheit. »Ich habe einige dieser anderen Ichs gesehen. Eine so gute Vorstellungskraft habe ich nicht.«

»Ja, aber…«

»Owen, ich weiß es nicht! Und weder ist jetzt die Zeit noch ist hier der Ort für eine Diskussion! Hör jetzt auf, Fragen zu stellen, und bring deinen Hintern in Schwung, oder ich trete dir den Arsch den ganzen Hang hinauf.«

Owen dachte darüber nach. »Das tätet Ihr wirklich, nicht wahr?«

»Verdammt richtig. Und jetzt los!«

Den restlichen Weg legten sie schweigend zurück, und schließlich erreichten sie die große runde Öffnung in der Granitwand, die zu den gewaltigen, unter der Burg ausgehobenen Höhlen führte. Owen hatte hier seine persönlichen Flieger und sonstigen Fahrzeuge geparkt, als er noch in der Burg wohnte.

Ihm erschien die Annahme vernünftig, daß auch Valentin und seine Kumpane ihre Schiffe in diesen Höhlen angedockt hatten, was bedeutete, daß die Öffnung nach wie vor passierbar sein würde. Und Owen kannte einen Geheimgang, der direkt von der Haupthöhle ins große Schlafzimmer führte.

»Ein Geheimgang?« hatte Hazel gefragt.

»O ja. Über ihn bin ich aus der Burg geflüchtet, als sich meine Leute damals gegen mich wandten.«

»Und niemand außer dir kennt ihn?«

»Es ist ein Familiengeheimnis. Nur David habe ich davon erzählt, und er ist jetzt tot.«

Lautlos stiegen sie bis an die Unterkante der Öffnung und hielten sich reglos wie Kletten am kalten Gestein fest, während sie danach lauschten, ob nicht irgendwo ein Zeichen davon zu hören war, daß man sie entdeckt hätte. Nach einer Weile gab Owen Hazel mit einer Handbewegung zu verstehen, daß er über die Kante in die Höhlenöffnung klettern wollte. Sie nickte, und er holte tief Luft und machte sich bereit. Theoretisch konnten bewaffnete Posten in beliebiger Zahl zugegen sein, die die geparkten Schiffe bewachten, aber das erschien ihm unwahrscheinlich. Nach allen normalen Begriffen hätten die Höhlen unerreichbar sein müssen. Pech für Valentin, daß Owen und Hazel schon seit längerer Zeit nicht mehr in Rufweite des Normalen lebten. Owen packte den Granitsims fest und zog sich mit einer raschen, fließenden Bewegung in die Höhle hinauf. Innerhalb einer Sekunde war er auf den Beinen, den Disruptor in der Hand, und suchte nach einem Ziel, aber alles blieb ruhig. Vier Luxusjachten mit abgestellter Energie standen hier nebeneinander, ebenso eine Handvoll Einmannflieger, aber ansonsten waren die Höhlen verlassen. Kein einziger Posten in Sicht. Owen tapste verstohlen weiter hinein und lauschte angestrengt nach dem leisesten Geräusch, hörte aber nur den eigenen Atem. Er senkte die Waffe und atmete etwas leichter.

»Alles frei, Hazel.«

Es dauerte nur einen Augenblick, bis sie über den Keramikboden gerannt kam und neben Owen stand, die Projektilwaffe in einer Hand, eine Granate in der anderen. Argwöhnisch blickte sie sich um. »Eigentlich müßte jemand hier sein. Es ergibt doch keinen Sinn, teure Schiffe wie diese unbewacht herumstehen zu lassen.«

»Wer sollte sie schon stehlen?« fragte Owen vernünftig.

»Nur Valentin und seine Privatarmee halten sich hier auf.«

»Was ist mit Überwachungskameras?«

»Oz kennt immer noch geheime Zugriffscodes für alle Sicherheitslektronen der Burg. Zur Zeit bearbeitet er die übermittelten Signale, damit wir nicht zu erkennen sind. Bei den Einsatzbesprechungen wurde das alles behandelt, Hazel. Ich wünschte wirklich, Ihr hättet daran teilgenommen.«

»Um dir den Spaß daran zu verderben, mir alles zu erklären?

Das hättest du mir nie verziehen.« Sie drehte sich langsam einmal völlig herum und kontrollierte die Ecken und Schatten.

»Mir gefällt es immer noch nicht. Es ist zu leicht. Hätte ich mir so viel Scheußliches zuschulden kommen lassen wie Valentin, würde ich mir alle Ein- und Ausgänge stark bewacht wünschen.«

»Er verläßt sich wahrscheinlich auf die Sicherheitssysteme.

Ich habe wirklich die allerbesten installiert. Und seine aufgemotzten Satelliten würden jedes normale Schiff abwehren.«

»Darüber habe ich nachgedacht«, sagte Hazel. »Was, wenn sie gemeldet haben, daß sie das Feuer auf uns eröffneten?«

»Was schon? Nach dem, was sie auf uns abgefeuert haben, sind sie wahrscheinlich davon ausgegangen, daß wir aufgrund der eingesteckten Schäden beim Landeanflug verbrannt sind.«

»Du benutzt das Wort ›wahrscheinlich‹. An Valentin Wolf ist überhaupt nichts besonders wahrscheinlich. Er ist höllisch paranoid; er denkt anders als wir anderen.«

»Hazel, vertraut mir. Hier bin ich zu Hause; ich weiß, was ich tue. Steckt jetzt bitte diese Waffe und die Granate weg, ehe Ihr einen unglücklichen und sehr lauten Unfall habt. Ich möchte mich mal umsehen.«

»Was gibt es hier schon zu sehen?« fragte Hazel. »Es ist nur eine Höhle.«

»Die erste von mehreren Höhlen«, sagte Owen und sah bewußt nicht hin, als Hazel die Schußwaffe und die Granate irgendwo an sich versteckte. »Als ich hier noch verantwortlich war, haben wir in den Zusatzhöhlen all die Sachen gelagert, für die wir in der eigentlichen Burg keinen Platz fanden. Ihr wärt erstaunt zu sehen, wieviel Schrott sich ansammelt, wenn eine Familie so alt ist wie meine. Und natürlich wagt man nicht, etwas davon wegzuwerfen, weil man fürchtet, künftige Generationen könnten einen als Barbaren beschimpfen. Weil man nie weiß, wann irgendein jahrhundertealter Mist wieder in Mode kommt oder sich als praktisch erweist, um eine alte Familienfehde oder einen alten Streit beizulegen. Ich habe die besten Stücke in der Burg ausgestellt und den Rest hier unten gelagert.

Alles ist sorgfältig katalogisiert. Irgendwo. David sagte, er würde nach seinem Einzug ordentlich aufräumen, aber ich denke nicht, daß er genug Zeit hatte. Wie auch immer, ich fühle mich besser, wenn ich nachgesehen habe. Ich mag keine Überraschungen.«

Er ging auf die Rückwand zu. Hazel verdrehte kurz die Augen, bis sie an die polierte Decke blickte, und folgte ihm, wobei sie den abgestellten Jachten weiträumig auswich, nur für den Fall, daß sie mit Alarmsystemen ausgestattet waren, die auf Annäherung reagierten. Owen kam allerdings nicht weit. Er blieb vor dem Eingang zur nächsten Höhle stehen, der mit einem leuchtenden Kraftfeld blockiert war. Er stand ganz reglos, und Hazel konnte seiner angespannten Haltung entnehmen, daß irgend etwas ganz und gar nicht stimmte. Sie beeilte sich, zu ihm zu gelangen, die Schußwaffe wieder in der Hand. Sie trat neben ihn und erstarrte, das Gesicht vor Abscheu verzerrt. Hinter dem durchsichtigen Kraftfeld war die Höhle von Wand zu Wand und vom Boden bis zur Decke mit Leichen vollgepackt.

Nicht respektvoll auf getrennten Platten oder Tischen aufgebahrt, sondern einfach so dicht wie möglich gestapelt. Eine Temperaturanzeige neben der Öffnung verriet, daß ein Kühlsystem die Leichen auf fast dem absoluten Nullpunkt hielt.

Einige der toten Gesichter waren Owen und Hazel zugewandt, und durch den Frost auf ihnen schimmerten die gefrorenen Augen fast lebendig.

»Nun«, sagte Owen schließlich, »jetzt wissen wir, was sie mit den Leichen gemacht haben.«

»Owen…«

»Jetzt nicht. Ich möchte die übrigen Höhlen überprüfen.«

Und so gingen sie von einer Höhle zur nächsten, von Öffnung zu Öffnung, und fanden alle restlos mit den eingefrorenen Toten von Virimonde gefüllt. Owen versuchte zu schätzen, wie viele Leichen es waren, aber selbst, wenn er die gewaltige Größe der Höhlen überschlug, konnte er die Dimension nicht fassen. Die Zahlen waren einfach zu riesig. Er blieb vor dem Eingang zur letzten Höhle stehen, konnte nicht weitergehen.

Alle Kräfte verließen ihn einfach. Hazel trat neben ihn und legte ihm tröstend die Hand auf den Arm, aber er spürte es kaum.

»Ich habe das Gefühl, ich müßte etwas tun«, sagte er leise.

»Ich weiß jedoch nicht, was. Sie waren mein Volk. Sie sind immer noch mein Volk. Selbst wenn sie tot sind. Aber ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Er hatte die Hände hilflos zu Fäusten geballt. Hazel drückte sich an ihn, versuchte ihn mit ihrer Nähe zu stützen und zu trösten.

»Ich schätze, Euch macht das nicht viel aus«, sagte er.

»Schließlich wart Ihr eine Klonpascherin.«

»Ich habe die Leichen nie gesehen«, sagte Hazel. »Nur manchmal hatte ich Alpträume… Warum, denkst du, hat Valentin sie…«

»Wer weiß noch, warum Valentin etwas tut?«

Hazel zögerte, als sie die kalte, bittere Wut in seinen Worten hörte, redete dann jedoch weiter. »Der Wolf ist verrückt, aber sein Wahnsinn hat immer Methode. Er muß einen Grund gehabt haben. Warum sollte er sich sonst die Mühe machen, sie einzufrieren?«

»Wie ich Valentin kenne, ist es wahrscheinlich ein sehr beunruhigendes Motiv.« Owen ließ die Luft in einem langen Seufzer fahren und öffnete die Fäuste. »Ich sage: Finden wir den Mistkerl und fragen ihn. Und falls mir seine Antworten nicht gefallen, knalle ich ihn so lange immer wieder vor die Burgmauer, bis ihm das Blut aus den Ohren fließt.«

»Klingt für mich nach einem guten Plan«, sagte Hazel.

Owen ging voraus zur Rückwand der Fliegerhöhle und öffnete eine getarnte Tür in der Wand. Dahinter lag ein schmaler Steingang, der nach oben führte. Lichter sprangen entlang des Tunnels an und erhellten ihn. Hazel war insgeheim beeindruckt.

»Er führt zu einer weiteren Geheimtür in meinem alten Schlafzimmer«, sagte Owen. »Von dort haben wir Zugang zu allen wichtigen Bereichen der Burg. Die Gebäudesicherheit beruht mehr auf Menschen als auf Tech. Aristokraten haben es nicht gern, wenn man sie ausspioniert. Haltet die Hand so, daß Ihr rasch das Schwert ziehen könnt, aber laßt Eure Schußwaffen in Ruhe. Beim Lärm einer Schußwaffe kämen die Wachtposten aus allen Richtungen angerannt. Und ich möchte keinen Krieg führen. Ich möchte nur Valentin in die Hand bekommen.«

Bei jeder anderen Gelegenheit hätte Hazel Owen dafür angeschnauzt, daß er ihr Lektionen über solch offenkundige Umstände hielt, aber diesmal blieb sie friedlich. Das Reden half ihm, sich abzulenken. Sie folgte ihm in den Tunnel, und die Tür schwang hinter ihnen zu. Ihre Schritte klangen in der Stille sehr laut. Und dann blieb Owen plötzlich stehen und blickte hin und her.

»Was ist los?« fragte Hazel leise.

»Irgendwas stimmt hier nicht«, antwortete Owen.

Hazel blickte den Tunnel hinauf. »Ich sehe nichts.«

»Ich auch nicht, aber ich spüre es. Ihr nicht?«

Hazel konzentrierte sich, wollte ihre Gedanken in die seltsamen Richtungen aussenden, die ihrem Bewußtsein offenstanden, aber da packte Owen sie und zerrte sie zu Boden. Sie schlug so heftig auf, daß es ihr die Luft aus den Lungen drückte. Owen landete nur einen Augenblick später neben ihr und warf einen Arm über sie, um sie am Boden festzuhalten. Und von allen Seiten zuckten Disruptorstrahlen aus getarnten Geschützluken.

Wären sie beide stehen geblieben, hätte der Beschuß Hackfleisch aus ihnen gemacht.

»Soviel zu deinem Geheimgang, Todtsteltzer!« zischte Hazel und versuchte, sich in den massiven Felsboden hineinzugraben.

»Sie müssen es aus David herausbekommen haben, ehe er starb«, sagte Owen. »Versucht, Euch rückwärts zur Tür zu schlängeln.«

»Zum Teufel damit«, erwiderte Hazel. »Ich habe schließlich meinen Stolz. Warten wir doch, bis sich die Strahler abschalten, und rennen dann los, während sie sich wieder aufladen.«

»Erstens feuern sie gestaffelt. Sie werden sich nicht abschalten. Zweitens zielen sie langsam immer tiefer. Jetzt schlängelt Euch, verdammt!«

Sie krochen, so schnell sie konnten, durch den Tunnel zur Tür zurück, und die Disruptorstrahlen verfehlten sie um höchstens zwei oder drei Zentimeter. Die immer tiefer haltenden Strahler versengten die Luft direkt über Owen und Hazel und erfüllten den Tunnel mit dem Gestank ionisierter Luft. Owens Kleider ruckten beim Rückwärtskriechen hoch, was ihn verlangsamte, und er hörte Hazels zahlreiche Schußwaffen und Munitionsgürtel über den Boden scharren. Er riskierte einen Blick hinüber, gerade zum richtigen Zeitpunkt, um zu sehen, wie ein Disruptorstrahl ihren aufgerichteten Ellbogen erwischte, den Ärmel verdampfte und das freigelegte Fleisch verbrannte. Hazel schnitt eine Grimasse, gab aber keinen Laut von sich und kroch weiter. Der Geruch verbrannten Fleisches vermischte sich kurz mit dem Ozon.

Owen verdoppelte seine Anstrengungen und krabbelte rückwärts, so schnell er sich nur überwinden konnte. Er spürte beinahe, wie die Energiestrahlen die Luft direkt über ihm durchschnitten. Und dann wurde er gestoppt, als er mit den Füßen heftig an die geschlossene Stahltür stieß. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür, aber sie gab nicht nach. Er wurde zornig und trat mit beiden Füßen zu. Die schwere Stahltür flog auf, war halb aus den Angern gerissen. Er blickte erneut zu Hazel hinüber. Sie hob bei dem Geräusch leicht den Kopf, und ein Disruptorstrahl nahm genau Kurs auf ihre Stirn.

Owen hatte das Gefühl, daß die Zeit langsamer wurde und fast stehenblieb und der Energiestrahl nur noch durch die Luft kroch. Und es war für Owen das leichteste auf der Welt, einen Satz nach vorn zu machen und seine goldene Hadenmännerhand zwischen Hazel und den Strahl zu halten, und der Disruptorschuß prallte harmlos ab. Die Zeit stürzte in ihre normale Geschwindigkeit zurück. Owen packte Hazel und zog sie mit sich, als er sich aus dem Tunnel herauswarf, zurück in die Haupthöhle. Sie schlugen heftig auf dem Boden auf und rollten sich von der Öffnung weg, brachten soviel Distanz wie möglich zwischen sich und den tödlichen Tunnel. Eine Zeitlang lagen sie nebeneinander und kamen wieder zu Atem. Dann standen sie ein wenig zittrig auf.

»Nun«, fragte Owen, »fühlt Ihr Euch immer noch unverwundbar?«

»Ach, halt die Klappe, Todtsteltzer. Wird es dir nicht leid, immer recht zu behalten?« Sie hob behutsam den Arm und musterte mit gekräuselter Lippe die Verbrennung. »Scheußlich.

Aber es wird heilen. Danke für die Rettung, Hengst.«

»Jederzeit«, sagte Owen.

Hazel betrachtete seine goldene Hand. »Ich muß sagen, ich bin beeindruckt. Der durchschnittliche Disruptorstrahl kann in weniger als einer Sekunde Stahlplatten verdampfen, aber von deinem modischen Goldaccessoire ist er einfach abgeprallt.«

»Die Hadenmänner leisten gute Arbeit.« Owen beugte die goldenen Metallfinger ein wenig befangen. »Irgendwann muß ich mich einmal mit ein paar menschlichen Wissenschaftlern zusammensetzen, damit sie dieses Ding durchgreifend analysieren, aber wie es scheint, finde ich einfach nie die Zeit dafür.

Wenn man ein Rebellenheld ist, heißt es in einem fort nur Tempo, Tempo, Tempo.«

»Gilt genauso für Kopfgeldjäger.«

»Stimmt. Wo wir davon sprechen: Ich habe eine neue Idee, wie wir uns den lieben Valentin schnappen könnten.«

»Schluck sie herunter. Deine letzte Idee hat sich als verdammt heiß erwiesen.«

»Und diese neue wird Euch auch nicht besonders gefallen.

Aber wir können hier nicht herumtrödeln; diese Disruptoren müssen überall Alarm ausgelöst haben, als sie losschossen.

Gleich werden hier Wachleute auflaufen. Eine Menge Wachleute, und bis an die Zähne bewaffnet.«

»Sollen sie nur kommen«, entgegnete Hazel. »Sollen sie ruhig alle kommen. Ich könnte schon was gebrauchen, um meine Frustration auszutoben.«

»Nicht zum erstenmal entgeht Euch der tiefere Sinn meiner Feststellung. Die Wachleute könnten uns hier festnageln, während Valentin und seine Kumpane fliehen. Und ich sehe lieber diese Burg in Trümmern liegen, als das zu erlauben. Diesmal wird Valentin für seine Verbrechen zahlen. Mit Blut.«

»Immer wieder mal erinnerst du mich daran, warum ich dich mag«, sagte Hazel. »In Ordnung, Todtsteltzer. Ich werde bestimmt bereuen, diese Frage gestellt zu haben, aber wie sieht dein toller neuer Plan aus?«

»Es gibt noch einen Geheimgang. Einen, von dem ich David nie erzählt habe. Ein Todtsteltzer behält immer ein paar Geheimnisse für sich.«

»Die Sache hat einen Haken«, sagte Hazel. »Ich weiß, daß sie einen Haken hat.«

»O ja! Der Eingang zum anderen Tunnel liegt in der Rückwand der ersten Höhle links. Der einzige Weg dorthin führt an den aufgehäuften Leichen vorbei.«

»Oh, das ist ja mal nett, Owen! Wie zum Teufel sollen wir das anstellen? Die Leichen einzeln rausziehen?«

»Zu zeitaufwendig. Die Wachtposten hätten uns erreicht, ehe wir richtig anfingen. Nein, ich sehe nur eine Möglichkeit. Wir müssen hindurchkriechen.«

»Nein!« erklärte Hazel kategorisch.

»Hazel…«

»Nein! Bist du verrückt? Uns den Weg durch Leichen graben, uns mit den Händen hindurchschaufeln? Das tue ich nicht, Todtsteltzer. Lieber stehe und kämpfe ich hier.«

»Und sterbt?«

»Ich tue das nicht!«

»Ihr wart einmal Klonpascherin!«

»Ich hatte längst vor, die Klonpascher zu verlassen, als ich dich kennenlernte. Wir können das nicht tun, Owen. Da drin ist es gefroren. Fast auf den absoluten Nullpunkt.«

»Wir haben schon Schlimmeres ausgehalten«, erwiderte Owen. »Die Wachleute werden nie auf die Idee kommen, uns zwischen den Leichen zu suchen.«

»Weil keine geistig gesunde Person überhaupt auf die Idee käme, sowas zu machen. Ich kann nicht, Owen, ich kann einfach nicht. Es wäre, als würde ich durch die Inhalte der Gefrieranlagen auf dem Klonpascherschiff kriechen. Wie der Stoff meiner Alpträume.«

»Nein, wäre es nicht. Diesmal bin ich dabei. Ihr müßt es tun, Hazel. Es ist unsere einzige Möglichkeit. Und ich schaffe es nicht ohne Euch.«

»Du bist ein Mistkerl, Todtsteltzer. Du hast dich schon immer darauf verstanden, unsauber zu kämpfen.« Hazel holte lange und ungleichmäßig Luft, die sie dann langsam wieder herausließ. »In Ordnung. Tun wir es. Bevor mir ein Anflug von Gehirn hochkommt und ich dir sage, du sollst dich zum Teufel scheren.«

»Folgt mir einfach. Ich zeige Euch den Weg.«

»Verdammt richtig, das wirst du.«

Owen ging voraus, zur Höhle hinüber. Im Augenwinkel sah er, daß Hazel stur nach vorn blickte, das Gesicht eine kalte Maske, während ihre Augen an ein verängstigtes Kind erinnerten. Owen hatte sie noch nie verängstigt erlebt, richtig verängstigt.

»Also«, sagte er und suchte nach den richtigen Worten, »Ihr hattet also schon daran gedacht, von den Klonpaschern wegzugehen, ehe wir uns kennenlernten?«

»Habe ich«, antwortete Hazel. »Sie waren sogar für mich zu grob. Und die Bezahlung war mies.«

»Wie dumm von mir. Ich dachte, es hätte vielleicht etwas mit Moralität zu tun gehabt.«

»Gebrauche in meiner Gesellschaft nicht das M-Wort, Todtsteltzer!«

Sie blieben vor dem Höhleneingang stehen. Von hinter dem schimmernden transparenten Kraftfeld blickten ihnen tote Gesichter entgegen. Hazel griff unwillkürlich nach ihren Waffen, aber sie boten ihr keinen Trost. »Zum Teufel mit dir, Todtsteltzer. Jemand wird dafür bezahlen!«

»Bleibt bei dieser Einstellung. Sie wird sich als sehr praktisch erweisen, wenn wir uns am anderen Ende durch Valentins Privatarmee hindurchkämpfen müssen.«

Hazel schnaubte. »Mit niederschmetternden Chancen werde ich schon fertig. Daran bin ich gewöhnt. Halt jetzt die Klappe und mach die verdammte Tür auf. Das schaffst du doch, oder?«

»Ich arbeite daran.«

Owen musterte das Kraftfeld nachdenklich, und ihm kam eine Idee. Er griff auf die KI zu.

»Oz, verfügst du immer noch über die Kommandoprioritäten für die Burgsysteme?«

»Natürlich. Ich kenne die Prioritätscodes für jedes System hier, ebenso für jedes neue System, das angeschlossen wurde, seit wir von hier fortgingen. Es sei denn, David oder Valentine haben sie noch einmal geändert.«

»Unwahrscheinlich. David hat sich bestimmt nicht die Mühe gemacht, und Valentin hatte nicht genug Zeit. Versuche es, Oz.

Isoliere dieses System, schalte das Kraftfeld der Höhle ab und aktiviere es wieder, sobald wir hindurch sind. Ohne irgendeinen Alarm auszulösen.«

Die KI schniefte. »Du verlangst nicht gerade viel, was?

Welch ein Glück für dich, daß ich ein solch überlegenes Modell bin. Aber ehe ich die üblichen Wunder wirke – darf ich darauf hinweisen, daß ich keine Kontrolle über die Gefrieranlagen habe, die Valentin in diesen Höhlen installiert hat? Es sind komplett eigenständige Systeme, auf die ich keinen Zugriff habe. Die Temperatur in der Höhle, die du betreten möchtest, entspricht nicht gerade dem absoluten Nullpunkt, kommt diesem Wert aber so nahe, wie du es wahrscheinlich niemals mehr erleben wirst – es sei denn, du öffnest eine Luftschleuse und trittst ins Vakuum des Alls hinaus. Obwohl ich dir so etwas durchaus zutrauen würde. Ich habe schon deprimierte Lemminge auf Fenstersimsen erlebt, mit Überlebensinstinkten, die deine übertreffen. Ich möchte es mit dem Hinweis bewenden lassen, daß jeder normale Mensch, der diese Höhle beträte, extrem rasch erfrieren würde. Mal vorausgesetzt, der Schock hätte ihn nicht vorher erwischt.«

»Hazel und ich sind keine normalen Menschen, Oz. Schon eine ganze Weile nicht mehr. Öffne die Höhle.«

Plötzlich war ein Schnalzen sich neutralisierender Energien zu hören, und das Kraftfeld war nicht mehr da. Eisige Luft stürzte aus der Höhle hervor und kondensierte in der Außenhöhle zu dichtem Nebel. Die bittere Kälte traf Owen und Hazel wie ein Schlag, und sie zuckten unwillkürlich zusammen. Sie zitterten heftig und hielten sich aneinander fest, um sich Halt zu geben. Zu riechen war nichts, kein Gestank des Todes oder der Verwesung. Dazu war es einfach zu kalt.

Owen und Hazel traten widerwillig vor, und die kalte Luft schmerzte in ihren Lungen. Die nächstliegende Leiche war die einer Frau in zerrissener Bauernkleidung. Die Ränder der von Energiewaffen erzeugten Wunden, die sie getötet hatten, waren schwarz verkohlt. Ihr Gesicht war eine blutige Ruine. Es fehlte zur Hälfte. Owen streckte eine Hand nach ihr aus, zögerte dann jedoch. Die Hand zitterte, und das nicht vor Kälte.

»Wenn sie so kalt ist, wie ich denke, könntest du eine Erfrierung bekommen, nur indem du sie anfaßt«, sagte Hazel.

»Kein Grund zur Sorge«, sagte Owen. »Bei Hofe habe ich eine Menge Frauen dieser Art gekannt.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ich dachte, ich hätte schon alles erlebt. Habe geglaubt, ich hätte soviel Tod und Leid gesehen, daß mir dies hier nichts mehr ausmachen würde. Aber ich habe mich wohl geirrt.«

»Sobald du aufhörst, etwas zu fühlen«, sagte Hazel, »stirbt auch ein Teil von dir. Der menschliche Teil. Aber so schlecht du dich auch fühlst, du hast trotzdem vor, diese Aktion durchziehen, oder?«

»Natürlich. Sie ist notwendig. Er hat meine Welt gemordet.«

Owen zog den Disruptor, zielte damit auf die gestapelten Leichen vor sich und feuerte. Der Energiestrahl riß einen Pfad durch die froststarren Toten und erzeugte einen Tunnel von einem knappen Meter Durchmesser. Es sah aus, als hätte sich ein riesiger Wurm oder eine gigantische Made auf dem Weg zu einer unbekannten, scheußlichen Bestimmung einen Weg durch den Leichenberg gefressen. Owen steckte den Disruptor weg und wandte sich an Hazel.

»Wir kriechen durch den Tunnel, so weit er reicht. Ihr müßt Leichen hinter uns hereinziehen, um unsere Spur zu verwischen. Was ich uns an zusätzlichem Raum verschafft habe, ermöglicht es uns, am Ende des Tunnels zu manövrieren.«

Hazel sah ihn für einen Moment an. »Nichts wird dich aufhalten, was, Todtsteltzer?«

»Nein. Ich weiß, daß das schwierig für Euch wird, Hazel, aber… Ich brauche Euch. Tut es für mich.«

»In Ordnung. Für dich. Dafür schuldest du mir dann jedoch einen verdammt großen Gefallen.« Finster musterte sie den Tunnel. »Es wird dunkel sein, sobald wir… innerhalb des Leichenbergs. Wie sollen wir unseren Weg erkennen?«

»Ich weiß, wo ich die Geheimtür finde«, sagte Owen. »Ich spüre sie in meinen Gedanken. Ihr braucht mir nur zu folgen.

Sorgt Euch nicht. Ihr schwebt ja nicht in Gefahr, Euch darin zu verirren. Gehen wir.«

Und er wandte sich von ihr ab und betrat die Kammer der Toten. Die bittere Kälte schnitt ihn förmlich auf, und er zitterte so heftig, daß ihm die Zähne klapperten. Die gefrorene Luft brannte in Hals und Lungen, als hätte er Rasierklingen geschluckt. Sofort bildete sich Rauhreif auf Haar und Augenlidern, und die Augen taten ihm weh, als die Flüssigkeit darin zu frieren begann. Owen blinzelte kräftig, knirschte mit den Zähnen und kniete nieder, um in den Tunnel zu kriechen, den er eben erzeugt hatte. Nicht einmal mit dem auf volle Kraft und breite Streuung eingestellten Disruptor hatte er einen besonders breiten Tunnel schießen können. Er würde auf allen vieren hindurchkriechen müssen. Er stieß sich die Knie an den Leichen, die so hart wie Beton gefroren waren. Der Energiestrahl hatte einige von ihnen so sauber aufgeschnitten wie mit dem Skalpell eines Chirurgen und dabei festgefrorene Innereien freigelegt. Sie waren überwiegend grau, mit ein paar blassen Schattierungen von Rosa und Purpur; die schreckliche Kälte hatte ihnen sogar die Lebendigkeit der Farben entzogen.

Owen rutschte weiter vor, streckte die Hände aus, packte die Leichen vor sich und zerrte sich hinein. Das tote Fleisch war so kalt, daß es ihm die nackten Hände verbrannte. Alle Instinkte schrien ihn an, er solle augenblicklich loslassen, aber er hörte nicht hin. Er griff fester zu und zog sich voran. Als er dabei doch den Griff lösen mußte, blieb sein warmes Fleisch am kalten hängen, und er mußte alle Kraft aufwenden, um es loszureißen. Er ließ Hautfetzen zurück, hatte aber keine Schmerzen.

Er weigerte sich, Beunruhigung aufkommen zu lassen. Die Haut würde nachwachsen, und immer weniger würde überhaupt abreißen, da die Hände allmählich abkühlten. Der Körper adaptierte sich schon an die scheußliche Kälte; die Körpertemperatur sackte mit einer Geschwindigkeit ab, die jeden anderen Menschen umgebracht hätte. Nirgendwo fühlte er mehr etwas, und die Augen waren in geöffnetem Zustand festgefroren, aber er zitterte nicht mehr. Arme und Beine fühlten sich an, als gehörten sie jemand anderem. Der Atem dampfte nicht mehr vor ihm in der Luft. Er zog sich weiter durch den Tunnel, tiefer hinein ins Reich der Toten, und die Dunkelheit schloß sich langsam um ihn. Er hörte, daß ihm Hazel dicht auf den Fersen war, vernahm ihren rauhen Atem, und sie war sein einziger Trost.

Der Tunnel war früher zu Ende, als er erwartet hatte. Er packte die Leichen vor sich, zerrte sie auseinander, legte einen Pfad frei. Oft gerieten ihm Gliedmaßen als Hindernisse in den Weg, und er mußte daran ziehen und zerren, sie abbrechen und zur Seite legen, sie aus dem Weg schaffen. Die Arme und Beine brachen sauber ab, Holzstücken gleich. Er versuchte, sie sich als genau das vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Es waren Menschen, sein Volk. Manchmal mußte er mit seiner übermenschlichen Kraft Brustkörbe einschlagen, um den nötigen Platz zu schaffen. Die reglosen Toten widersetzten sich ihm störrisch, und er entwickelte Widerwillen gegen sie. Wußten sie nicht, daß er es für sie tat? Er schlug mit den Fäusten zu und freute sich aus mehr als einem Grund, daß die Hände taub waren.

Er spürte Hazel hinter sich und hörte die abgehackten, brechenden Geräusche ihres langsamen Vorrückens, aber als er ihren Namen krächzte, antwortete sie nicht. Vermutlich setzte die Kälte ihrer Stimme ebenso zu wie seiner. Ohnehin konnte er sich nicht umdrehen und nachsehen, ob irgendwas nicht stimmte. Der Platz reichte nicht. Also machte er weiter, näherte sich der Tür.

Es war inzwischen sehr dunkel. Der letzte Rest des Lichtes, das die Haupthöhle und das neu eingeschaltete Kraftfeld spendeten, war schon lange zurückgeblieben. Überall ringsherum vernahm Owen Geräusche von Bewegung, knarrende Geräusche, während sich die Gewichte im Leichenberg aufgrund seiner Aktionen verlagerten. Es schien fast, als rührten sich die Toten, aufgestört von der Anwesenheit Lebender mitten unter ihnen. Owen war dankbar für die Dunkelheit. Er hegte die lautlose Schreckensvorstellung, eines der toten Gesichter könnte die Augen öffnen und sich zu ihm umwenden, wenn er vorüberkroch, und er glaubte, er könnte recht wohl den Verstand verlieren, falls dergleichen wirklich geschah. Dinge existierten, die anzublicken kein Mensch ertragen konnte, ohne den Verstand zu verlieren. Und so kämpfte sich Owen voran; das Herz hämmerte ihm in der Brust, der Atem ging rauh und ungleichmäßig, und er rechnete fast damit, daß jeden Augenblick eine tote Hand aus der Dunkelheit heraus nach ihm griff und ihn an Arm oder Bein packte.

Angst vor der Enge machte sich langsam in ihm breit, während das Gewicht all der Leichen immer schwerer auf ihm lastete. Erste Zweifel über die eingeschlagene Richtung und die Lage der Geheimtür kamen ihm. In der völligen Dunkelheit konnte er eine Richtung nicht von der anderen unterscheiden.

Soweit er wußte, konnten sie sich genausogut in einem weiten Kreis bewegen, sich hoffnungslos im Totenreich verirrt haben.

Allmählich fand er, daß er schon viel zu lange kroch, ohne irgendwohin zu gelangen. Daß er schon längst an der Tür hätte sein müssen. Daß er hier drin für immer in der Falle saß, in seiner ganz persönlichen Hölle. Aber er war nicht allein. Hazel begleitete ihn. Und allein dieses Wissen gab ihm die nötige Kraft, den Weg fortzusetzen.

Gelegentlich verhakten sich gekrümmte Finger in seiner Kleidung, so daß er abrupt anhalten, blind hinter sich herumtasten und die metallharten Finger abbrechen mußte, ehe er seinen Weg fortsetzen konnte. Obwohl er es nicht sehen konnte, verrieten ihm die Finger, daß die Leichen vor ihm nicht immer vollständig waren. Sein Volk war im Kampf gegen die Invasoren gestorben, in den meisten Fällen eines grausamen Todes.

Die Invasion und die Zerstörung von Virimonde waren den Bewohnern des Planeten ins nachgiebige Fleisch geschnitten worden, und hier lagen die Zeichen aufbewahrt, für jedermann lesbar. Wut brannte in Owen für das, was man diesen Menschen angetan hatte, und diese Wut half ihm, sich zu wärmen, während er sich weiter vorankämpfte.

Endlich erreichte er die andere Seite und stieß mit den Händen an unnachgiebiges Metall. Die Kälte hatte sein Denken verlangsamt, und er dachte eine Zeitlang träge über die Situation nach, ehe ihm klar wurde, daß er am Ziel war. Er schrie Oz an, er solle die Geheimtür öffnen, und eine Platte öffnete sich in der Wand und glitt lautlos zur Seite. Helles Licht fiel heraus und blendete Owens froststarr offenstehende Augen. Er stieß vor Schmerz und Triumph einen heiseren Schrei aus, den Laut einer heiseren Aaskrähe, die man beim Festschmaus auf dem Schlachtfeld gestört hatte. Er zog sich aus dem Leichenberg hinaus in den Gang hinter der Öffnung und brach dort zusammen; Dampf stieg ihm in dicken Schwaden aus dem Leib.

Kalte Luft strömte durch die Öffnung und verdickte sich in der warmen Luft des Korridors zu Nebel. Owen lag hilflos auf dem Boden, und die entsetzliche Kälte spannte und lockerte sich in ihm wie herumratschende Rasierklingen. Die geschürte Hitze des Zorns gloste jedoch immer noch tief in ihm und brannte die Kälte Zentimeter um Zentimeter weg, bis das Leben in den Körper zurückkehrte und er sich wieder bewegen konnte. Die Finger rührten sich als erste, beugten und streckten sich und erzeugten dabei Knacklaute wie Zweige, die zertreten wurden. Der Körper zog sich mehrfach zusammen und entspannte sich wieder in langsamer Folge, während Wärme in kältetote Muskeln zurückfloß. Die Schmerzen waren schlimm, aber Owen begrüßte sie. Sie bedeuteten, daß er wieder zum Leben erwachte, nachdem er so lange zwischen den Toten geweilt hatte.

Nach einer Weile zwang er sich, sich aufzurappeln und zu Hazel umzudrehen, und erst in diesem Augenblick wurde ihm klar, daß sie ihm nicht aus dem Ort der Toten heraus gefolgt war. Sie war nach wie vor dort drin. Er humpelte mit laut knackenden Knien zur Öffnung und rief Hazels Namen. Sie antwortete nicht. Owen schlug mit den Händen nach dem gefrierenden Nebel und bemühte sich, in die darunterliegende Dunkelheit zu blicken, aber selbst seine Augen hatten ihre Grenzen. Er rief erneut nach Hazel, aber Kälte und Dunkelheit verschluckten seine Stimme sofort. Er blickte ins eigene Innere, suchte nach der geistigen Verbindung zu Hazel, aber sie entzog sich ihm, geschwächt durch lange Vernachlässigung. Er hatte sie in der Kälte und der Dunkelheit zurückgelassen, im Reich der Toten. Er mußte dorthin zurückkehren und sie retten.

Etwas in ihm protestierte augenblicklich. Er konnte nicht wieder in die Kälte. Er brachte es einfach nicht fertig. Die Kälte und die Dunkelheit und das Grauen all dessen hatten ihn beinahe vernichtet. Es wäre Wahnsinn, ihnen eine zweite Chance zu geben. Aber noch während er diesen Gedanken nachhing, wurde ihm klar, daß er wieder hineingehen würde.

Er mußte einfach. Hazel brauchte ihn. Ihm tat von Kopf bis Fuß immer noch alles weh, aber es würde vorübergehen. Er fürchtete sich, aber das spielte keine Rolle. Er hatte sich schon früher gefürchtet. Seit langem war Hazel D’Ark das einzige, was ihm noch etwas bedeutete.

Und so atmete er in der eisigen Luft tief ein und schob Kopf und Schultern zurück in die Dunkelheit. Die bittere Kälte schloß sich um ihn wie die Umarmung eines altvertrauten Feindes, aber er zwang sich, sie zu ignorieren, und dachte nur an Hazel. Er überwand sich, in die Dunkelheit zurückzukehren, und auf einmal blieb ihm das Herz stehen, als sich eine kalte Hand um sein Handgelenk schloß. Die Luft entrang sich ihm in einem schmerzhaften Keuchen, und die Vorstellungskraft beschwor für ihn das Bild herauf, wie die Toten ringsherum allmählich lebendig wurden, ihn festhielten, ihn zwangen, in ihrer Eishölle zu bleiben, bis er tot war wie sie. Und dann setzten Herzschlag und Atem wieder ein, als er feststellte, daß es Hazels Hand war, die ihn gepackt hatte.

Er packte sie seinerseits ums Handgelenk, versuchte mit krächzender Stimme etwas Beruhigendes zu sagen, und kämpfte wie rasend darum, sie aus der Kälte zu ziehen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er wieder den Korridor erreichte und Hazel ins Licht und die Wärme hereinzog. Sie kam in einer Folge abrupter Bewegungen zum Vorschein, ohne ihm helfen zu können. Sie war steifgefroren, und als sie endlich auf den Korridorboden fiel, klang es wie der Sturz eines Baumstamms.

Ihre Augen waren zugefroren, das Gesicht zu einem trotzigen Knurren erstarrt, die Zähne zusammengebissen. Ihre Haut war blau.

Owen kniete sich neben sie und rieb kräftig ihre Hände, vor allem, um überhaupt etwas zu tun. Hazels Körper würde die Kälte abwerfen, wie seiner es getan hatte, aber Owen brauchte trotzdem das Gefühl, etwas Hilfreiches zu tun. Dichter Dampf stieg von ihren starren Kleidern auf. Ihr Haar war dick mit Rauhreif überzogen, aber der schmolz rasch dahin und floß in der warmen Luft das Korridors davon. Und langsam, Zentimeter für Zentimeter, entspannte sich Hazel, kuschelte sich schließlich in Owens Arme und murmelte seinen Namen.

Endlich setzte sie sich auf und schob ihn weg, und er wußte, daß sie wieder die alte war. Sie schüttelte langsam den Kopf, als versuchte sie, ihre Gedanken von Spinnweben zu befreien.

»Ich habe mich verirrt. Der Tunnel verlief geradlinig, aber ich… habe mich verirrt, allein in der Dunkelheit. Bei den Toten.

Und du bist gekommen und hast mich geholt.« Sie schlang die Arme um sich und zitterte auf einmal. »Ich habe das Gefühl, als würde mir nie wieder warm werden. Als bliebe mir die Grabeskälte für immer treu.«

»Sie wird vergehen«, sagte Owen.

»Natürlich wird sie das«, sagte Hazel. »Wir sind mehr als nur Menschen, erinnerst du dich? Nicht länger die Opfer menschlicher Ängste und… Schwächen.«

»Hazel…«

»Ich bin wieder okay. Mir geht es gut.«

»Natürlich«, bestätigte Owen.

Sie halfen einander, auf die Beine zu kommen. Owen wies Oz lautlos an, die Wandplatte zu schließen, und die gefrorene Luft war ausgesperrt. Der Nebel im Gang verzog sich allmählich. Owen blickte sich um, suchte nach etwas, das er wiedererkannte. Es war lange her, seit er zuletzt… daheim gewesen war.

»In Ordnung«, sagte Hazel. »In welche Richtung gehen wir, Todtsteltzer?«

»Gebt mir eine Minute«, sagte Owen. »Ich weiß nicht recht…«

»Komm schon, das ist deine Burg…«

»Nun, ja, aber ich denke nicht, daß ich jemals so weit in die Tiefe gestiegen bin. Ich meine, es ist ein großes Anwesen.

Meist habe ich mich in meinem persönlichen Quartier aufgehalten. Bestimmt habe ich mir nie die Mühe gemacht, die haushälterischen Bereiche aufzusuchen. Ich hatte Leute, die das für mich besorgten.«

»Der Lebensstil der Reichen und Nutzlosen. Kein Wunder, daß deine eigenen Leute dich so leicht hinauswerfen konnten.«

»Sie haben mich nicht hinausgeworfen! Ich bin vor einer Übermacht zurückgewichen. Eine völlig vernünftige militärische Strategie.«

»Aber sicher. Sieh mal – möchtest du mir damit sagen, daß du den Weg nicht mehr weißt?«

»Den Gang hinunter und dann nach rechts«, flüsterte Oz ihm ins Ohr. »Dort erreicht ihr Valentins neue Labors.«

»Natürlich weiß ich den Weg«, erwiderte Owen. »Wir müssen einfach dort entlang gehen und dann rechts abbiegen, und wir gelangen direkt zu Valentins neuen Labors. Dort finden wir bestimmt jemanden, den Ihr so erschrecken könnt, daß er uns erzählt, was wir erfahren müssen.«

»Du würdigst einfach nicht, was ich für dich tue«, meinte Oz, als Owen und Hazel sich auf den Weg durch den Korridor machten. »Wirklich nicht.«

»Woher weißt du, wo Valentin seine Labors hat?« fragte Owen ihn lautlos, damit Hazel es nicht hörte.

»Eine treffsichere Vermutung«, antwortete Oz. »Die Zahl der freien Räume ist begrenzt, um die ganze neue Tech unterzubringen, die er angeblich hat.«

»Was täte ich nur ohne dich, Oz?«

»Mir schaudert bei der Vorstellung. Setz jetzt deinen Hintern in Bewegung, ehe irgendwelche Wachleute vorbeikommen.«

Owen gab diesen Gedanken an Hazel weiter, und sie schritten forscher aus. Die Anstrengung half ihnen, die letzten Reste der Kälte aus den Körpern zu treiben. Owen kam sich fast schon wieder wie ein Mensch vor. Hazel mußte es ebenso gehen, denn nach einiger Zeit fiel ihm auf, daß sie sich wieder für die Umgebung interessierte. Diese war der Aufmerksamkeit auch wert. Der Boden war teppichbedeckt, und in den reichen Stoff waren Muster eingewebt, so alt, daß die Schritte von Dienergenerationen der Todtsteltzers die Einzelheiten größtenteils verwischt hatten. Wandbehänge, Portraits und Holos hingen an den alten Steinwänden und zeigten meist die weniger bedeutsamen Ereignisse der langen Todtsteltzer-Geschichte. Die bedeutsameren Ereignisse und Schätze wurden auf den oberen Stockwerken der Burg gezeigt, wo man damit gegenüber aristokratischen Gästen angeben konnte. Zumindest sollten sie dort ausgestellt sein. Owen runzelte die Stirn. Bislang hatte er keinen Hinweis darauf, was Valentin damit womöglich angestellt hatte. Owen traute ihm ohne weiteres zu, alle Todtsteltzer-Schätze auf einen großen Haufen zu schichten und ihn in Brand zu stecken, nur des Vergnügens halber, um das Feuer herumzutanzen. Und der Vorfreude auf das, was Owen dazu sagen würde, wenn er es herausfand. Owen ging ein wenig schneller. Es war ein kleiner Grund zum Zorn, den er hier so vielen übrigen hinzurechnete. Er hielt die ganze Wut sorgfältig unter Kontrolle, weit genug entfernt, um seinem Auftrag nicht in die Quere zu kommen, aber bereit zum Ausbruch, wenn er schließlich dem schurkischen Wolf von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.

Dann würde die Abrechnung erfolgen.

Owen folgte Oz’ geflüsterten Wegweisungen, bis er und Hazel plötzlich stehenbleiben mußten, da der Weg von einer Tür versperrt wurde, die hier eindeutig fehl am Platz wirkte. Es war eine massive Stahltür, stumpf und funktionell, mit einem Schloß, dessen Technik mehr als nur auf der Höhe der Zeit war. Hazel trat sofort dicht heran und nahm das Schloß fast hungrig in Augenschein. Hazel und Schlösser waren alte Freunde. Oder Feinde, ganz nach Sichtweise. Owen legte ein Ohr an den kalten Stahl und lauschte angestrengt. Nach einer Weile erkannte er allmählich die gemessenen, sich wiederholenden Geräusche mahlender Maschinen und das Zischen von Gasen, die unter hohem Druck standen. Owen richtete sich auf und runzelte nachdenklich die Stirn. Er hatte nichts in der Burg gehabt, was sich so angehört hätte. Und David hatte auch nichts dergleichen hierhergebracht. Welch neues Grauen hatte der Wolf in Owens altes Heim gebracht? Er blickte zu Hazel hinunter, die nach wie vor das Schloß betrachtete.

»Irgendwas entdeckt?«

»Ja, aber nichts Gutes. Ohne mein Werkzeug dauert das mindestens eine halbe Stunde. Vielleicht noch länger.«

»Zu lange«, erklärte Owen rundweg.

»Das ist mir klar!« sagte Hazel. Sie richtete sich auf und musterte die Stahltür finster. »Wir könnten das Schloß natürlich auch wegschießen.«

»Zu laut. Selbst wenn wir nicht jede Menge Alarmanlagen auslösten, was wir wahrscheinlich damit tun.«

»In Ordnung«, sagte Hazel ungeduldig. »Was schlägst du vor?«

Owen lächelte sie an, ging einen Schritt vor und trat die Tür ein. Das Schloß ging zu Bruch, als sich der massive Stahl unter dem Tritt kräftig einbeulte, und die ganze Tür flog aus den Angeln und stürzte dahinter mit einem zufriedenstellend lauten Krachen zu Boden. Hazel musterte Owen.

»Angeber.«

Sie gingen ins Labor hinein, die Waffen in der Hand, aber niemand kam ihnen entgegen. Die einzige andere Person in dem riesigen Raum war ein Techniker in einem schmuddeligen Kittel, der vor einem Lektronenterminal saß, den Stecker im Genick. Owen und Hazel senkten die Waffen. Der Kybermann war so in seine eigene Welt versunken, daß er es nicht bemerkt hätte, wenn sie ihn erschossen, bis er sich ausstöpselte. Owen und Hazel blickten sich um und versuchten, einen Sinn in dem Haufen Tech und Maschinen zu entdecken, die das Labor zum größten Teil ausfüllten.

Der Raum war riesig. Owen hatte die vage Vorstellung, daß es einmal ein Weinkeller gewesen war. Unbekannte Maschinen standen in Haufen zusammen und bedeckten den größten Teil der Grundfläche, wobei ihre Spitzen bis fast an die Decke reichten. Nichts davon wirkte besonders fein. Es waren meist primitive mechanische Konstruktionen (von daher der Bedarf an einem eingestöpselten Operator, statt Komm-Implantate zu verwenden), deren Aufgabe es war, die ihnen zugeführten Materialien zu zermahlen, zu raspeln und zu sortieren. Owen drehte sich langsam im Kreis und verfolgte den Weg der Stoffe.

Röhren führten aus den größeren Maschinen heraus, waren an den Steinmauern befestigt und kreuzten einander in einem Chaos von Farbcodes. Was immer sie beförderten gelangte schließlich in ein komplexes Filtersystem, das seinerseits die Endprodukte in konstantem Rhythmus in eine Reihe nicht gekennzeichneter Behälter tropfte. Alle übrige Tech bestand schlicht aus lektronengesteuerten Überwachungsanlagen.

Owen blickte Hazel an, und sie zuckte die Achseln, was er auch so ziemlich erwartet hatte. Also, wer im Zweifel ist, sollte jemanden fragen. Und zwar laut.

Owen marschierte zu dem Labortechniker hinüber, der glücklich und selbstvergessen mit seinen Lektronen kommunizierte, riß ihm den Stecker aus dem Nacken, drehte ihn auf dem Stuhl herum und steckte ihm die Schußwaffe in die Nase. Der Tech brauchte einen Augenblick, um zu bemerken, was geschah, war noch benommen vom plötzlichen Ausstieg aus den Lektronensystemen; dann faßte er Owens Gesicht ins Auge und sah noch besorgter aus, falls das überhaupt möglich war. Owen bedachte ihn mit einem häßlichen Lächeln, und der Tech wimmerte doch tatsächlich. Hazel trat von der anderen Seite hinzu und schenkte ihm ihr schönstes bedrohliches Funkeln, und der Mann machte sich beinahe in die Hose. Owen hatte fast schon das Gefühl, er würde eine Marionette schikanieren, unterdrückte den Gedanken aber schonungslos. Er hatte es hier mit einem von Valentins Leuten zu tun, der Mittäterschaft schuldig.

»Hallo«, wandte sich Owen an den Mann, und es klang ganz und gar nicht freundlich. »Ich bin Owen Todtsteltzer. Der Alptraum, der rechts von Euch Fleisch geworden ist, heißt Hazel D’Ark, und Ihr steckt tief in der Scheiße. Antwortet umfassend und wahrheitsgetreu auf meine Fragen, dann lebt Ihr vielleicht gerade lange genug, um vor Gericht zu stehen. Nickt, falls Ihr mir soweit folgen konntet.«

Der Techniker nickte, so gut er das mit der Schußwaffe in der Nase vermochte. Jede Farbe war ihm aus dem Gesicht gewichen, kaum daß Owen sich namentlich vorgestellt hatte, und kalte Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Owen war insgeheim beeindruckt. Er hatte gar nicht gewußt, daß er so furchteinflößend wirkte.

»Wer seid Ihr?« knurrte er den Tech an. »Und welchem Zweck dienen all diese Geräte? Zunächst einen Überblick, dann die Einzelheiten!«

»Ich bin Pierre Trignent, mein Lord«, antwortete der Techniker rasch, und es war kaum mehr als ein Flüstern. »Bitte, ich bin nur ein kleiner Fisch. Ein Niemand! Ihr seid bestimmt hinter denen her, die mir die Befehle geben. Ich tue nur, was man mir sagt.«

»Wir holen uns die schon«, sagte Hazel. »Beantworte jetzt seine Frage: Was tust du hier?«

Trignent schluckte heftig und schlug die Augen nieder. Er hatte vor zu lügen. Owen spürte es. Er beugte sich vor, bis er mit dem Gesicht direkt vor dem seines Opfers war. Der Tech versuchte, im Stuhl zu versinken, aber er fand einfach keinen Platz.

»Falls Ihr lügt«, sagte Owen, »merke ich das. Ich kann mir die Antworten notfalls von jemand anderem holen, aber ich schwöre Euch, daß Ihr das nicht mehr miterleben würdet.«

»Ja, mein Lord, aber…«

»Ich bin kein Lord mehr, aber immer noch ein Todtsteltzer.

Erzählt mir jetzt alles, was Ihr wißt, oder ich demonstriere Euch, was es bedeutet, ein Todtsteltzer zu sein.«

»Das hier ist eine Verarbeitungs- und Raffinierungsanlage, mein… Sir Todtsteltzer. Wir geben das Rohmaterial hinein, spalten es in seine chemischen Grundbestandteile auf, schöpfen die gewünschten Rückstände ab und lagern sie, bis sie später vom Planeten abtransportiert werden.«

»Aber was ist das Rohmaterial?« fragte Owen ungeduldig.

»Und worin zum Teufel besteht das Endprodukt?«

»Die Esperdroge«, antwortete Trignent widerwillig. »Wir stellen die Esperdroge her.«

Owen und Hazel sahen sich gegenseitig an. Sie hatten in ihrer Zeit bei der Esper-Bewegung schon von der Esperdroge gehört, aber ihre Zusammensetzung sollte eigentlich geheim sein. Trotzdem – falls irgend jemand in Frage kam, um eine neue Droge auszugraben, dann Valentin. Und die Produktion auf Virimonde anzusiedeln war ein guter Weg, sie geheimzuhalten. Das Parlament hatte nur durch Zufall davon erfahren, daß er hier war. Owen nickte bedächtig. Soweit war ihm alles klar. Aber nichts davon erklärte, warum der Tech solche Angst hatte…

»Was ist das Rohmaterial?« fragte Owen. »Woraus raffiniert Ihr die Esperdroge?«

»Bitte«, sagte Trignent. Er brach in Tränen aus. »Bitte habt Verständnis dafür. Ich tue nur, was mir befohlen wird. Sie hätten mich umgebracht, wenn ich es nicht getan hätte.«

»Ich bringe Euch um, wenn Ihr mir nicht antwortet! Was ist das Rohmaterial?«

»Die Toten«, sagte Pierre Trignent. »Die Toten von Virimonde

Danach blieb es eine geraume Weile lang ganz ruhig. Abgesehen von den langsamen, gleichmäßigen Geräuschen der Produktionsmaschinerie, die den neuesten Schub Rohmaterial verarbeitete.

Owen hielt die Augen fest zugekniffen, aber er sah weiterhin, was er jetzt als Mahlmaschine zur Breiherstellung erkannte. Er sah weiterhin seine toten Untertanen, aufgestapelt wie Hölzer, tiefgefroren, damit sie erhalten blieben, bis sie gebraucht wurden. Er öffnete die Augen wieder, und der Techniker brauchte nur einen Blick auf die kalte Wut zu werfen, die sich darin aufbaute, um ganz schnell draufloszureden, fast zu plappern, als wäre er erleichtert, es endlich jemandem erzählen zu können.

»Der Lord Wolf ist hierhergekommen, weil so viele Leichen vorhanden waren, die er verwerten konnte. Die Esperdroge ist schon immer aus menschlichem Gewebe gewonnen worden, genau wie die ESP-Blocker aus totem Hirngewebe von Espern stammen, aber man braucht jede Menge… von dem Rohstoff, um auch nur eine geringfügige Menge des Endprodukts herzustellen. Deshalb war die Esperdroge auch immer so selten, so geheim. Der Lord Wolf entdeckte hier eine Gelegenheit zur Massenproduktion und nutzte sie. Er verarbeitete Hunderttausende von Toten und produzierte größere Mengen der Droge, und das auch in reinerer Form, als dies je zuvor möglich war.

Es ist wirklich ein ganz einfacher Vorgang, sobald man erst alles aufgebaut hat. Nur ich und eine Handvoll weitere Personen sind da, um alles im Auge zu behalten. Bitte, ich bin ein Niemand, habe nur getan, was mir gesagt wurde…«

»Ihr habt die Vernichtung meines Volkes überwacht, um eine Droge herzustellen, die so suchterzeugend ist, daß sie jeden versklavt, der sie einnimmt«, sagte Owen in sehr leisem und sehr gefährlichem Ton. »Ich habe meinen Anteil am Grauen erlebt, in vielen Kriegen und auf vielen Schlachtfeldern. Ich bin durch Blut und Innereien gewatet, habe getötet, bis mir die Arme weh taten, habe gesehen, wie die Guten und die Bösen niedergemetzelt wurden, aber nie zuvor ist mir etwas derartig Kaltblütiges begegnet wie dies hier. Die Vernichtung der Toten… um ein Gift für die Lebenden herzustellen. Die Menschheit selbst in ein Produkt verwandeln. Oh, mein Volk… mein Volk…«

Mit bebenden Schultern wandte er sich ab, und Hazel trat auf ihn zu. Trignent erblickte seine Chance und flüchtete zur Tür.

Und Owen Todtsteltzer wandte sich um, Tränen in den Augen, und schoß dem Mann in den Rücken. Der Energiestrahl bohrte ein Loch quer durch Rücken und Brust und schleuderte Trignent an den Türrahmen. Er hielt sich dort für einen Moment fest, war schon tot, und sackte dann langsam in sich zusammen. Owen schüttelte langsam den Kopf, als wollte er leugnen, was er gerade gehört hatte. Hazel trat zu ihm, aber er gab ihr mit einem Wink zu verstehen, sie sollte sich entfernen. Er hatte in sich keinen Raum für etwas anderes als Grauen und Trauer und das wütende Bedürfnis, gegen die Ursache des Schmerzes zurückzuschlagen.

»Ich hätte ihn nicht erschießen sollen«, sagte er schließlich.

»Er war ebenso schuldig wie die anderen.«

»Ja, aber ich habe ihn nicht deshalb erschossen. Ich habe es getan, weil ich einfach jemandem weh tun mußte. Jemanden bestrafen mußte. Jemanden außer mir. Sie waren mein Volk.

Ich hätte hier sein müssen, um es zu beschützen.«

»Oh, laß es gut sein, Owen! Man hat dich für gesetzlos erklärt. Verbannt. Komm endlich darüber weg! Jeder hier hat dir den Rücken zugewandt.«

»Das macht keinen Unterschied. Ich hatte die Verantwortung für diese Menschen. Oz?«

»Ja, Owen?«

»Schalte diese Obszönität ab. Komplett. Egal, was dafür nötig wird.«

»Ja, Owen.«

»Jetzt«, sagte Owen Todtsteltzer, »gehen wir Valentin und seine Kumpane suchen. Und töten sie alle.«

Als der Chef von Valentin Wolfs Sicherheitsleuten etwas nervös auf dem Bildschirm in der großen Halle erschien und Valentin nacheinander darüber informierte, zwei Fremde wären irgendwie in der Fliegerhöhle unter der Burg aufgetaucht, wären als der legendäre Owen Todtsteltzer und die berüchtigte Hazel D’Ark identifiziert worden, hätten sich dann ungeachtet aller Sicherheitsvorkehrungen den Weg in die eigentliche Burg gebahnt und könnten, na ja, in diesem Augenblick praktisch überall sein – da hätte man eine Stecknadel fallen hören können, nachdem er ausgeredet hatte. Man hätte die Stecknadel sogar noch in der Luft hören können. Der Silvestri ließ einen seiner Dolche fallen. Der Romanow wurde ganz blaß. Und der letzte Schluck Wein, den der Kartakis zu sich nahm, geriet ganz in die falsche Richtung und erstickte ihn beinahe. Valentin Wolf ignorierte die unangenehmen Geräusche und konzentrierte sich auf den zunehmend unglücklichen Sicherheitschef, der auf dem Bildschirm zu sehen war.

»Wollt Ihr mir damit sagen«, fragte Valentin fast freundlich,

»daß alle unsere umfangreichen und unglaublich teuren Sicherheitsvorkehrungen keine zwei Leute daran hindern konnten, hier einzudringen?«

»Nun, im Grunde ja, mein Lord. Schließlich sind die beiden Leute…«

»Ich weiß, wer sie sind. Deswegen habe ich schließlich Euch und Eure Leute engagiert. Und Euer Gesicht verrät mir schon, daß noch mehr schlechte Nachrichten vorliegen. Wie lauten sie?«

Der Sicherheitschef sah noch unglücklicher aus, falls das möglich war. »Irgendein äußeres System ist in unsere Lektronen eingedrungen und gerade dabei, die Verarbeitungsanlage abzuschalten.«

»Nun, korrigiert mich, falls ich mich irre, und ich denke nicht, daß ich es tue«, sagte Valentin. »Aber ich scheine mich zu erinnern, wie Ihr mir erklärt habt, daß dergleichen völlig und vollkommen unmöglich wäre.«

»Ja, mein Lord. Streng genommen ist es wirklich unmöglich.

Es dürfte nicht passieren.«

»Aber das tut es.«

»Ja, mein Lord.«

»Ihr seid gefeuert«, erklärte Valentin. »Holt Euch die Abfindung und weist Euren Stellvertreter an, Euren Kopf an einen Stuhl zu nageln, ehe Ihr aufbrecht. Und nein, Ihr erhaltet keine Empfehlung.«

Er schaltete den Bildschirm aus und lehnte sich zurück. Der Silvestri hob den Dolch auf, der ihm entglitten war. »Ihr hättet ihn umbringen lassen sollen, Wolf.«

»Seid nicht albern, Carlos«, erwiderte Valentin geistesabwesend. »Söldner haben eine sehr starke Gewerkschaft.« Er lachte auf einmal in sich hinein, ein leiser, gefährlicher Laut. »Lieber Owen, woher wußtet Ihr nur, daß Ihr mich hier findet? Ich habe meine Spuren extrem sorgfältig verwischt. Und doch seid Ihr jetzt hier, taucht wieder mal überraschend auf und ruiniert mir den Tag. Stets seid Ihr bestrebt, mir den Spaß zu verderben.

Trotzdem hoffe ich, daß Ihr meine kleine Vergeltung zu würdigen versteht. Schließlich benötigt jede dramatische Szene ein Publikum, das sie zu würdigen weiß.«

Der Silvestri zog den zweiten Dolch aus dem Auge eines Portraits und zerriß dabei absichtlich die alte Leinwand. »Ich habe keine Angst vor dem großen bösen Todtsteltzer. Soll er doch kommen. Er und sein Miststück.«

Der Romanow warf den unbezahlbaren Wandbehang ab, den er wie einen Umhang getragen hatte, und runzelte nachdenklich die Stirn. »Ihr habt vielleicht nicht genug Verstand, um Euch vor dem Todtsteltzer zu fürchten, aber ich schon. Er ist ein gefährlicher Mann. Er hat die meisten Dinge, die man ihm nachsagt, tatsächlich vollbracht. Sogar diejenigen, die unmöglich klingen. Aber im Gegensatz zu Euch übrigen hatte ich gleich das Gefühl, unsere Sicherheitskräfte könnten sich als unfähig erweisen, eine lebende Legende aufzuhalten oder auch nur zu verlangsamen, falls diese von unserem Unternehmen hier Wind bekommen sollte. Also habe ich eigene Vorkehrungen getroffen. Eine kleine Überraschung, besonders für den Todtsteltzer. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt, oder sogar wenn nicht, so gehe ich jetzt lieber und packe sie aus.«

Er marschierte hocherhobenen Hauptes hinaus. Valentin spendete seinem Abgang lässig Beifall, und sein Scharlachlächeln wurde noch breiter. »Überraschungen. Ich liebe Überraschungen ja so! Wie es sich trifft, habe ich selbst eine oder zwei für den lieben Owen vorbereitet.«

»Sie sollten lieber den plötzlichen Tod unserer Feinde mit sich bringen, oder wir stecken in ernsten Schwierigkeiten«, meinte der Kartakis, der den Atem wieder unter Kontrolle hatte. Er klang auf einmal sehr ernst und schien keinesfalls glücklich darüber. »Der Todtsteltzer wird wirklich nicht erfreut sein, wenn er erfährt, was wir aus seinem alten Heim gemacht haben.«

»Ich habe keine Angst vor ihm«, versetzte der Silvestri trotzig.

»Ja, nun, das kommt daher, daß Ihr ein kompletter Idiot seid«, sagte der Kartakis gelassen. »In unserer Branche ist das normalerweise ein Vorteil, aber zur Zeit können wir uns Genüsse wie den Wahnsinn nicht erlauben. Wir müssen nachdenken. Einen Plan entwickeln. Wir haben Leute und Ressourcen.

Wenigstens hat der Todtsteltzer nicht noch eine Armee zur Unterstützung mitgebracht.«

»Er benötigt keine Armee«, gab Valentin zu bedenken. »Er hat Hazel D’Ark.«

»Ihr seid bemerkenswert ruhig bei dieser Geschichte!« schnauzte der Kartakis. »Wißt Ihr etwas, das sich unserer Kenntnis entzieht, oder habt Ihr heute ein paar Pillen extra eingenommen?«

Valentin lächelte gelassen. »Ich habe einen Plan. Einen sehr unerfreulichen Plan, geradezu maßgeschneidert, um Owens Schwächen auszunutzen. Ihr braucht nicht mehr zu tun, als diese D’Ark beschäftigt zu halten. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt – ich muß die Ausführung in die Wege leiten. Oh, es wird ja soviel Spaß machen, ihn leiden zu sehen!«

Er erhob sich, verneigte sich elegant und ging. Er spazierte in gelassener Haltung davon, als hätte er keine Sorge auf der Welt. Die beiden Aristokraten blickten ihm hinterher.

»Dieser Mann lebt nicht in derselben Wirklichkeit wie wir anderen«, bemerkte der Silvestri.

Der Kartakis schnaubte. »Bei seinem Plan geht es wahrscheinlich darum, seine Verluste abzuschreiben, uns im Stich zu lassen und wie der geölte Blitz zum Horizont zu flitzen.

Wenn wir überleben möchten, müssen wir selbst dafür sorgen.

Wir können sie aufhalten. Wir müssen einfach etwas… vorbereiten… was sie aus dem Konzept bringt.«

»Ich habe keine Angst vor den…«

»Wollt Ihr endlich aufhören, das zu sagen! Ihr täuscht damit niemanden.«

»Mich am allerwenigsten«, sagte Owen Todtsteltzer.

Die beiden Aristokraten wirbelten herum, und da stand er groß und einschüchternd unter der Tür, ein Schwert in der Hand, als gehörte es dorthin und hätte es schon immer getan.

Er machte ein ernstes Gesicht, der Blick kalt und gleichmäßig, und er wirkte vom Scheitel bis zu Sohle wie die eigene Legende. Hazel D’Ark war an seiner Seite und lehnte lässig am Türrahmen, eine große Projektilwaffe in der Hand. Allein bei ihrem Anblick spürte Athos Kartakis bereits, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Er hatte so viele Duelle bestritten, daß er sie nicht mehr zählen konnte, hatte dabei dem Tod ins Gesicht geblickt und ihm in die knöcherne Augenhöhle gespuckt, aber nie zuvor so viel Angst um sein Leben verspürt wie jetzt. Er hatte einen Disruptor unter den Kleidern stecken, aber er wußte, daß er schon den Versuch, ihn zu ziehen, nicht überleben würde. Es sei denn, ihm fiel ein, wie er für Ablenkung…

»Nun, Silvestri«, sagte er so gelassen, wie er es nur hinbekam, »Ihr habt doch stets geäußert, Ihr könntet es mit dem Todtsteltzer aufnehmen. Fühlt Euch frei, den Beweis anzutreten.«

Owen musterte den Silvestri interessiert. Der Aristokrat bedachte den Kartakis mit einem anklagenden Blick, und erwiderte dann Owens Blick mit Festigkeit.

»Ihr macht mir keine Angst«, sagte er laut. »Ich habe von Euren übermenschlichen Kräften gehört, aber für mich klingen sie nach etwas, hinter dem sich ein Feigling gut verstecken kann. Wie steht es damit, Owen? Habt Ihr den Mumm, als Mann gegen mich zu kämpfen, nicht als Monster? Denn ich kann es mit Euch aufnehmen, Mann gegen Mann, Stahl gegen Stahl, und tief im Herzen wißt Ihr es.«

»Na, der hört ja nicht mehr auf zu reden«, meinte Hazel.

»Sprich des richtige Wort, Owen, und ich schieße ihm die Augen weg.«

»Nein«, sagte Owen. »Ich könnte ein wenig Unterhaltung gebrauchen.« Er sah den Kartakis an. »Mischt Euch ja nicht ein! Das würde Hazel nicht gefallen.«

»Käme nicht mal im Traum auf die Idee«, versicherte ihm der Kartakis aufrichtig. Er wich zurück, zeigte offen beide Hände und dachte angestrengt nach.

Owen trat langsam in die große Halle hinaus und sah sich dabei die diversen Schäden am Inventar seines alten Heims an.

Er sah nicht wütend oder auch nur aufgebracht aus; er wirkte einfach etwas kälter und noch gefährlicher. Carlos Silvestri kam ihm entgegen und bewegte sich dabei leichtfüßig auf den Fußballen, ein schmales Messer in jeder Hand. Er sah auf seine eigene Art ebenfalls gefährlich aus, aber es war nichts, verglichen mit der kalten Unerbittlichkeit des Todtsteltzers, und alle, die zugegen waren, wußten es. Die beiden Männer kamen in der Mitte des Saals zum Kampf zusammen, und alle wußten, wie es enden würde.

Die beiden Männer umkreisten einander ohne Eile, die Klingen für jede Lücke bereitgehalten, die womöglich in der Verteidigung des anderen entstand. Theoretisch war es ein mehr oder weniger ausgeglichener Kampf. Messer waren auf kurze Distanzen ausgezeichnete Waffen, hatten aber keine Reichweite. Es sei denn, man warf sie und riskierte damit, sich selbst zu entwaffnen. Das Schwert andererseits verfügte über eine ordentliche Reichweite, aber wenn es auf Tuchfühlung ging, konnte man die lange Klinge nirgendwo mehr so rasch zur Geltung bringen wie ein Messer.

Der Silvestri startete den ersten Angriff und bewegte dabei die rechte Hand so schnell, daß das menschliche Auge ihr kaum folgen konnte. Owen parierte den Schlag und mußte dann zurückspringen, als die linke des Silvestris mit tödlicher Geschwindigkeit und Absicht aus dem Nichts heranschoß, auf Owens ungeschützten Unterleib gezielt. Die blitzende Klinge verfehlte Owens Bauch um weniger als einen Zentimeter.

Owen zog das eigene Schwert in einem raschen Rückhandschlag herum, der dicht über den Kopf des Silvestris zischte, als sich dieser im letzten Augenblick duckte. Und dann umkreisten sie einander wieder, ruhig und gesammelt und tödlich kalt.

Nachdem er Owen mit einer Finte zum Gegenangriff verlockt hatte, warf der Silvestri das Messer in der Linken nach Owens rechtem Auge. Das Schwert des Todtsteltzers war zu langsam für eine Parade, aber kaum weiteten sich die Augen des Silvestris vor Triumph, da zuckte Owens goldene Hadenmännerhand hoch, fing das Messer im Flug ab und schlug es zur Seite. Während der Silvestri für einen Augenblick aus dem Konzept war, zog Owen sein Schwert glatt durch den Hals des Gegners. Der Kopf fiel herunter und rollte über den Boden, bis er an die Füße des Kartakis’ stieß. Dieser zog lautlos eine Grimasse des Widerwillens und nahm die Füße ein wenig zurück.

»Fühlst du dich jetzt besser?« fragte Hazel.

»Etwas«, antwortete Owen. Er atmete nicht mal schwer.

In diesem Augenblick hatte Pieter Romanow seinen Auftritt, umgeben vom lauten Summen angestrengt arbeitender Servomotoren. Alle wandten sich um und sahen ihn an, während er unter der Tür stehenblieb und posierte. Er trug ein enormes Exoskelett, dessen Metallknochen ihn umgaben und stützten, während an beiden Unterarmen rechteckige Kraftfelder wütend vor sich hinbrummten. Owen hatte dergleichen schon früher gesehen, normalerweise von Docksarbeitern auf Raumhäfen getragen, um schwere Frachten zu entladen. Aufgrund des hohen Gewichts verbrannten diese Exoskelette eine Menge Energie, so daß sie sich auf Schlachtfeldern nie als wirklich praktisch erwiesen hatten. Owen mußte jedoch einräumen, daß die Apparatur eine ganz brauchbare kurzfristige Antwort auf Leute wie ihn und Hazel darstellte.

»Los, greift mich an, ihr Monster«, forderte Pieter Romanow hoheitsvoll. »Ich bin Euch jetzt gewachsen. Ich kann mich schneller bewegen, als es die Muskeln eines Menschen vermögen, und meine Kraft entspricht der von zehn Männern, denn meine Tech ist rein. Ich reiße Euch die Arme aus den Gelenken, die Köpfe von den Schultern, und meine Hunde werden Eure Eingeweide schmausen.«

Owen kämpfte noch immer mit einer passend eleganten Antwort, die ohne vulgäre Kraftausdrücke auskam, als Hazel vortrat.

»Ich bin an der Reihe«, erklärte sie mit Bestimmtheit. »Du kannst nicht den ganzen Spaß für dich haben, Todtsteltzer.«

»Seid mein Gast«, verkündete Owen großzügig.

Hazel marschierte auf den abwartenden Romanow zu und blieb ein vorsichtiges Stück außerhalb seiner Armreichweite stehen. Andere Hazels tauchten sporadisch rings um sie herum auf und verschwanden wieder, aber sie schob sie entschlossen zur Seite. Sie hegte eine wirklich amüsante Vorstellung von dem, was sie tun würde, und war nicht bereit, den Spaß mit irgend jemandem sonst zu teilen, auch nicht mit anderen Versionen ihrer selbst. Sie steckte die Projektilwaffen in die Halfter und bedachte den Romanow mit einem häßlichen Lächeln.

Er bewegte sich unbehaglich. Welche Reaktion er auch immer erwartet hatte, eine Gegnerin mit bloßen Händen und eklatantem Selbstvertrauen war es sicherlich nicht.

Hazel streckte ohne Eile die Hand nach den zurückgelassenen Mahlzeiten auf dem Tisch aus und griff sich ein reifes Stück Obst. Sie zerdrückte es, so daß ihr dicker Brei und Saft durch die Finger tropften, und warf die klebrige Masse nach dem Romanow. Ihr Arm schnellte mit übermenschlicher Kraft und Schnelligkeit vor, und das klebrige Geschoß überwand die Abwehr des Romanows, ehe er auch nur die Arme mit den Energieschilden heben konnte. Die zermatschte Frucht landete präzise im Ziel, direkt im Zentrum der freiliegenden Servomotoren am linken Arm des Romanows, und erzeugte dort ein wundervolles elektrisches Chaos. Funken flogen, und etliche Motoren schlossen sich kurz.

Der Romanow schrie empört auf und griff an, bewegte sich dabei für jemanden von seiner Größe und seinem Gewicht entsetzlich schnell. Hazel sprang auf den Tisch und wich dort dem Zugriff des Romanows blitzschnell aus. Sie schnappte sich weitere liegengebliebene Lebensmittel, zerdrückte sie zu triefendem Brei und warf sie mit verheerender Zielgenauigkeit.

Der Romanow wirbelte seine Energieschilde verzweifelt hin und her, war aber kein Gegner für Hazels Schnelligkeit und Reflexe. Immer mehr Servomotoren versagten ihm den Dienst, erlitten Kurzschlüsse und wurden hoffnungslos verklebt. Hazel lachte spöttisch.

Der Romanow brüllte vor Zorn, packte den schweren Tisch mit beiden Händen und kippte ihn rasch um. Hazel sprang hinunter, absolvierte im Flug einen Purzelbaum und landete auf den Schultern des Romanows. Sie schlang ihm die Beine um den Hals und drückte zu. Sein Gesicht lief hellrot an, und er bekam keine Luft mehr. Er wollte die Hände heben und Hazel herunterzerren, aber sie packte seinen exponierten Kopf fest mit beiden Händen.

»Wir wollen uns doch richtig verstehen«, sagte sie ruhig.

»Du ärgerst mich, und ich werde dir den Kopf von den Schultern reißen. Und deine Servomotoren sind dermaßen verkleistert, daß du überhaupt keine Chance mehr hast, mich zu packen, ehe ich damit fertig bin. Klar?«

Der Romanow dachte darüber nach. Durch das Summen der Energieschilde hörte er deutlich, wie weitere Servomotoren Kurzschlüsse erlitten. Und er mußte jetzt wirklich bald wieder Luft bekommen. Er schaltete die Energieschilde ab und lächelte Owen hoffnungsvoll an.

»Ich würde jetzt wirklich gern kapitulieren. Bitte.«

Hazel lächelte triumphierend und lockerte den Griff ein wenig. Sie sah Owen an. »Liegt bei dir, Todtsteltzer. Wenn du ihn tot sehen möchtest, gehört er dir.«

»Ach verdammt«, sagte Owen müde. »Bringen wir ihn vor Gericht. Er ist zu jämmerlich, um ihn umzubringen. Ich möchte nur Valentin.«

»In welchem Fall ich mich wirklich auch ergeben möchte«, warf der Kartakis ein. Er löste vorsichtig den Schwertgürtel und ließ ihn zu Boden fallen. Dann zog er mit Daumen und Zeigefinger den Disruptor aus dem versteckten Halfter und ließ ihn auch fallen. Hazel nickte kurz.

»In Ordnung, komm herüber zu Lord Festgeklemmt, und mach keinen Mucks, ohne daß ich es will.«

»Ich würde es nicht wagen«, sagte der Kartakis.

Hazel gab den Hals des Romanows aus der Beinklammer frei und stieg ihm von den Schultern. Owen wartete, bis Hazel sich entfernt hatte, und fixierte dann die beiden Aristokraten mit einem kalten Blick, der sie verunsicherte. »Wo finde ich Valentin Wolf?«

»Er ist kurz vor Eurem Eintreffen gegangen«, antwortete der Kartakis. »Sagte, er wollte eine Überraschung für Euch vorbereiten. Hat nicht gesagt, was für eine, und wir haben nicht gefragt. Das tut man nicht bei Valentin Wolf.«

»Ich habe ihn entdeckt«, murmelte Oz Owen ins Ohr. »Ich stehe nach wie vor mit den Sicherheitssystemen der Burg in Verbindung. Valentin hält sich gerade in der Sicherheitszentrale auf und fährt eine Gruppe sehr seltsamer Programme auf den Lektronen. Frag mich aber nicht, was für welche. Ich kann nicht behaupten, daß mir je so etwas untergekommen wäre.«

»Es ist egal, was er dort hat«, meinte Owen. »Ich bringe ihn sowieso um. Hazel, bleibt hier und bewacht die beiden. Oz hat Valentin entdeckt.«

»Jetzt mal langsam!« warf Hazel ein. »Ich möchte nicht, daß du allein hier herumläufst. Wir sind Partner, weißt du noch?«

»Ich weiß«, antwortete Owen. »Aber ich muß das allein tun.«

Hazel nickte widerstrebend. »Achte darauf, daß es nicht zu lange dauert, oder ich komme dich suchen.«

»Verstanden. Behaltet die beiden hier gut im Auge. Ihr könnt ihnen nicht trauen.«

»Natürlich nicht«, sagte Hazel. »Es sind Lords.«

Sie lächelten sich an, und Owen drehte sich um und ging.

Hazel schlenderte zu dem umgestürzten Tisch hinüber und lehnte sich daran. Der Kartakis bewegte sich ein klein wenig näher an die Waffen heran, die er fallengelassen hatte, erstarrte aber, als Hazel ihn mit funkelndem Blick fixierte. »Seid so frei, etwas zu probieren, meine Lords«, sagte sie. »Und ich bin so frei, mir etwas noch Amüsanteres auszudenken.«

Die beiden Lords sahen sich an und blieben dann ganz reglos.

Owen suchte sich rasch den Weg durch leere Steinflure und näherte sich dabei unerbittlich dem, was früher einmal seine Sicherheitszentrale gewesen war. Er war entschlossen, jeden gnadenlos niederzumachen, der ihn aufzuhalten oder zu behindern versuchte, aber er begegnete überhaupt niemandem. Was merkwürdig war. Wo steckten die Wachen? Owen ging ein klein wenig langsamer, während er darüber nachdachte. Bislang hatten Hazel und er in der Burg lediglich ein paar Wachtposten, zwei Aristokraten und einen einzelnen Labortechniker angetroffen. Wo steckten alle nur? Und welche unerfreuliche Überraschung plante Valentin für ihn? Owen schnitt ein finsteres Gesicht und schritt wieder schneller aus. Er mochte keine Rätsel. Er wollte einfach nur Valentin tot und blutig zu seinen Füßen liegen sehen, brauchte das regelrecht. Owen hatte vielleicht sein Volk nicht retten können, war aber immer noch in der Lage, es zu rächen.

Er zwang sich zu einer schnelleren Gangart, und bald rannte er regelrecht durch die vertrauten Steinflure, daß seine Stiefel laut auf den dicken Teppichen hämmerten. In ihm war für nichts anderes mehr Raum als Schuld und Schmerz und das Verlangen nach blutiger Vergeltung, die beides zum Schweigen brachte.

Endlich erreichte er die einzelne Stahltür, die zu seiner früheren Sicherheitszentrale führte. Er zügelte seine Wut und sein Verlangen und überwand sich dazu, die Tür sorgfältig zu untersuchen. Sie bestand aus etliche Zentimeter dickem, massivem Stahl ohne erkennbaren Schloßmechanismus. Zweifellos waren ein Dutzend Fallen daran montiert, von getarnten Disruptoren bis zu scharfen Sprengsätzen. Owen scherte sich nicht darum.

Er konzentrierte sich, tastete über den bewußten Verstand hinaus nach innen ins Stammhirn, das Unterbewußtsein, und dort erwachte etwas und spannte sich zum Sprung, platzte dann ohne Hemmung heraus. Der Gedankenimpuls riß die Stahltür so heftig aus dem stählernen Rahmen, daß sie in den dahinterliegenden Raum flog. Die versteckten Disruptoren und Sprengsätze wollten sich scharfmachen, aber Owen schaltete sie mit einem einzigen Gedanken ab. Seine Kraft war jetzt voll erwacht und brannte hell in ihm. Er betrat den Raum durch den leeren Türrahmen, nur um vom Laut leisen, ironischen Beifalls gestoppt zu werden. Auf der Seite gegenüber, fast im Schatten verborgen, saß Valentin Wolf lässig auf einem Drehstuhl und klatschte in die langen weißen Hände. Er war ganz in Schwarz gekleidet, und das leichenfahle Gesicht schien ohne Stütze in der Düsternis zu schweben.

»Wunderbarer Auftritt, Owen! Ihr habt wirklich einen Sinn fürs Dramatische entwickelt. Was für eine Steigerung! Ihr wart immer so anständig und spießig, ehe man Euch zum Gesetzlosen erklärte. Wirklich, es hat Euch zu dem gemacht, was Ihr heute seid.«

Owen trat ein paar Schritte vor und sah sich dabei vorsichtig um. Eine Menge Lektronen und Monitore und Terminals, aber kein Bedienungspersonal und keine Wachen. Nur Valentin, scheinbar ungerührt. Nichts und niemand, das oder der noch zwischen dem Todtsteltzer und seiner Rache gestanden hätte.

»Steht auf, Wolf«, sagte er leise, die Stimme so kalt und sicher wie der Tod. »Es ist vorbei. Hier endet es.«

»Oh, seid doch nicht so vorhersagbar, Owen«, versetzte der Wolf, verschränkte gelassen die Arme und lehnte sich zurück.

»Müssen wir wirklich das tun, was alle von uns erwarten? Die traditionellen Rollen des gutherzigen Helden und des niederträchtigen Schurken zu Ende spielen? Wir haben ein größeres Potential. Wir haben so viel gemeinsam, Ihr und ich. Wir sollten fast Brüder im Geiste sein.«

»Ich bin Euch in keiner Weise ähnlich, Wolf«, erwiderte Owen rundweg.

»Wirklich nicht? Was habe ich denn anderes getan als Ihr in Eurer Zeit als Rebell? Ich zweifle nicht daran, daß Ihr viel mehr Menschen umgebracht habt als ich, ungeachtet all meiner Bemühungen.«

»Ihr seid verantwortlich für den Tod dieses Planeten. Für die Auslöschung seiner Bevölkerung.«

»Nun, andere haben mir geholfen, aber wie viele sind auf Euer Betreiben auf Nebelwelt und Golgatha ums Leben gekommen? Wie viele gute Soldaten, die nur Befehlen folgten und ihre Pflicht taten? Die nichts von Politik verstanden und nur dem Gesetz Geltung verschafften? Uns beiden kleben Blut und Tod und Grauen an den Händen. Aber macht Euch keine Sorgen deswegen. Wir stehen über solchen Dingen. Wir sind inzwischen mehr als nur Menschen, und menschliche Grenzen gelten für uns nicht mehr.«

»Es geht nicht darum, was wir getan haben«, entgegnete Owen, »sondern darum, warum wir es getan haben. Ich habe getötet, wenn es nötig wurde, habe darum gekämpft, das Morden zu stoppen. Ihr habt es zum Vergnügen getan.«

»Möchtet Ihr damit sagen, daß Ihr es nicht genießen würdet, mich zu töten?«

»Nein, das möchte ich überhaupt nicht sagen.«

»Seht Ihr? Gewöhnliche Einschränkungen existieren für uns nicht. Wir können wunderbare, schreckliche Dinge tun, begrenzt nur durch unsere Vorstellungskraft und die Beengtheit unserer Vision. Wir werden diese Dinge tun; wir müssen sie tun, weil wir dazu fähig sind. Bleibt nicht in der Vergangenheit stecken, Owen. In dem Mann, der Ihr einmal wart, bevor man Euch den erweckenden Schlag versetzte. Ihr seid nach wie vor um kleinliche Vorstellungen besorgt, um Pflicht und Ehre und Gesetz. Das Gesetz ist für die kleinen Leute da; die Ehre für Menschen, die sich fürchten, mehr zu sein, als sie sind; und unsere einzige Pflicht gilt inzwischen uns selbst: Die Möglichkeiten zu erforschen, die uns offenstehen, alles zu werden, was wir sein können. Alles, was dahinter zurückbliebe, wäre Verrat an dem, was wir aus uns selbst gemacht haben.«

»Ich habe so viel verloren, mußte so vieles aufgeben«, sagte Owen. »Ich werde nicht auch noch meine Menschlichkeit opfern.«

Valentin zuckte gelassen die Achseln. »Vertraut mir, Owen.

Ihr wärt überrascht, wie wenig sie Euch fehlen würde. Aber ich erkenne, daß es gegenwärtig keinen Sinn hat, weiter mit Euch zu reden. Ihr seid nicht bereit, die Wahrheit zu hören. Wenn Ihr einmal so weit fortgeschritten seid wie ich, werdet Ihr es deutlicher sehen. Immerhin, ich mußte es versuchen. Ich erblicke so viel von mir selbst in Euch. Jetzt muß ich aber wirklich gehen.«

»Das denke ich nicht«, sagte Owen. »Falls ich mich richtig erinnere – was ich sicherlich tue –, dann gibt es nur einen Weg, der in diese Zentrale und aus ihr herausführt. Ich blockiere ihn.

Ihr müßt zuerst an mir vorbei. Und so gut wart Ihr noch nie.«

»Wahrscheinlich nicht. Aber das brauche ich auch gar nicht.

Ich habe mich immer darauf verlassen, daß andere die harten, niederen Arbeiten für mich verrichten. Schließlich bin ich ein Lord. Ich habe hier jemanden, der Euch gern kennenlernen würde, Todtsteltzer. Wirklich, sie freut sich schon die ganze Zeit darauf. Ihr habt sie im Stich gelassen, und ich fürchte, daß sie so etwas wie Groll gegen Euch hegt. Ihr konntet noch nie besonders gut mit Frauen umgehen, Owen.« Der Wolf blickte durch eine offene Tür in einen angrenzenden Raum. »Kommt herein und stellt Euch vor, meine Liebe.«

Aus dem angrenzenden Raum waren langsame, stolpernde Schritte zu hören. Owen rümpfte die Nase, als er den Geruch wahrnahm, einen dunklen und organischen Geruch, der völlig fehl am Platz wirkte in der makellosen, hochtechnisierten Sicherheitszentrale. Es roch nach Konservierungsmitteln, die einen kränklich süßlichen Verwesungsgestank nicht ganz verdeckten. Ein kalter Schauer lief Owen über den Rücken, eine düstere Vorahnung. Und dann betrat die tote Frau den Raum und blieb zitternd neben Valentin Wolf stehen. Sie war völlig nackt und hielt ein Schwert in der Hand. Sie hatte einige Zeit unter der Erde gelegen. Die primitiven Bestatter von Virimonde hatten ihr Bestes getan, aber die blaßpurpurfarbene und graue Haut war überall am Körper aufgesprungen und gab den Blick auf implantierte Lektronen und Servomechanismen frei. Das große Y einer Autopsienarbe lief von den eingesunkenen Brüsten bis zur Leiste hinunter, und die Nähte waren gespannt oder zerrissen. Eine einzelne Wunde, die zum Tode geführt hatte, zeichnete sich nach wie vor deutlich auf der Brust ab. Das Gesicht war gespannt und verzogen, an manchen Stellen bis auf die Knochen eingesunken. Die toten Lippen hatten sich aus der Umklammerung der Nähte losgerissen und waren vor den perfekten Zähnen zu einem konstanten Lächeln zurückgezogen, das keinerlei Humor ausdrückte. Die Augen waren tief eingesunken und gelb wie Urin. Das stumpfe blonde Haar war im Grab länger geworden. Trotzdem erkannte Owen sie wieder, und Entsetzen schloß sich wie eine Faust um sein Herz.

»Katie…«

»Kurz und präzise, Todtsteltzer«, sagte Valentin Wolf. »Eure ehemalige Geliebte, Katie DeVries, aus der Zeit, als Ihr noch jung und sorgenfrei wart. Tatsächlich war sie eine imperiale

Spionin, die Euch im Auge behalten sollte, und Ihr mußtet sie in Notwehr töten. Eure erste Liebe, die in Euren Armen starb.

Eine wahrhaft rührende Szene, da bin ich sicher. Und hier ist sie wieder, mein kleines Geschenk an Euch.

Seht Ihr, ich habe meine Hausaufgaben gemacht, was Euch angeht, Owen. Ich weiß, was Euch bewegt und was Euch zurückhält. Ich ließ die gute Katie ausgraben, als ich zum ersten Mal hier war, und wies meine Leute an, Geistkrieger-Technik in sie einzubauen. Nur für den Fall, daß Ihr mich hier aufspürt und mir erneut Schwierigkeiten bereitet. Jetzt, denke ich, überlasse ich Euch zwei Turteltauben Eurer Zweisamkeit. Ich bin sicher, daß Ihr viel zu bereden habt. Und, Owen… Nur für den Fall, daß Ihr Euch überwinden könnt, sie erneut umzubringen, ehe sie Euch umbringt, habe ich eine weitere kleine Überraschung für Euch arrangiert. Nein, macht Euch nicht die Mühe, mir zu danken. Wozu hat man Brüder?«

Er gab der toten Frau einen Wink, und sie taumelte vorwärts, das Schwert in Bereitschaft. Owen wich zurück, und die Leiche seiner ehemaligen Mätresse folgte ihm. Er wollte sie ansprechen, aber sein Mund erwies sich als zu trocken. Das war nicht Katie. Katie war tot, und die Lektronen, die zur Zeit ihren Leichnam bewohnten, sorgten sich nur um die ihnen einprogrammierten Befehle. Owen wußte das, konnte aber trotzdem nicht gegen sie kämpfen. Nicht gegen sie. Katie zu töten, das war das schwerste, was er je hatte tun müssen, und er glaubte nicht, daß er es erneut fertigbrachte. Und so duldete er, daß sie ihn von der offenen Tür wegdrängte, und Valentin Wolf schlüpfte mühelos an ihnen vorbei und lachte glücklich in sich hinein. Er lachte immer noch, als er durch den Korridor davonhuschte und Owen und die Überreste seiner alten Mätresse zurückließ, damit sie ihre Differenzen untereinander ausmachten.

Und in den Lektronen der Sicherheitszentrale tickte ein Programm langsam auf Null hinunter – Valentins letztes Geschenk an den Todtsteltzer.

Derweil langweilte sich Hazel D’Ark in der Haupthalle. Sie saß auf einem Stuhl mit dem Rücken zur Wand, damit sich niemand an sie anschleichen konnte, und behielt den Romanow und den Kartakis im Auge, die still zusammensaßen. Hazel hätte mit Owen über dessen Komm-Implantat Verbindung aufnehmen und nachfragen können, wie es lief, aber sie wußte, wie bissig er reagierte, wenn man ihn störte, während er gerade mit irgend etwas beschäftigt war. Hazel schlug ein Bein übers andere, nur um etwas zu tun zu haben, und wünschte sich, Owen würde endlich damit fertig werden, den Wolf umzubringen. Immer bestand das Risiko, daß er im letzten Augenblick weich wurde und darauf bestand, ihn lebend zurückzubringen und vor Gericht zu stellen, aber sie glaubte es diesmal im Grunde nicht. Hazel schlug das andere Bein über das erste und seufzte schwer. Langweilig, langweilig, langweilig.

Sie funkelte die beiden stillen Aristokraten an und entdeckte erst jetzt, daß der Romanow verschwunden war. Sein Exoskelett saß nach wie vor an gleicher Stelle, aber er steckte nicht mehr darin. Hazel war sofort auf den Beinen, Schußwaffe und Schwert in den Händen, und blickte forschend durch die große Halle. Wie zum Teufel konnte sie nur übersehen haben, wie sich der Romanow davonmachte? Unmöglich, daß er aus so vielen Panzerungsteilen heraussteigen konnte, ohne daß sie es merkte, egal wie sehr sie sich mit ihrer Langeweile beschäftigt hatte. Es sei denn, die Panzerung verfügte über eine eingebaute Tarntechnik in welchem Fall sich der Romanow hätte befreien können, während er sich hinter einer projizierten holographischen Illusion versteckte. Und falls der Romanow diese Illusion jetzt aufgehoben hatte, dann nur, weil er zur Zeit irgendwo durch die Halle schlich, erneut hinter irgendeiner holographischen Projektion versteckt, die ihn für alle praktischen Zwecke unsichtbar machte. Wundervoll!

Hazel streckte das Schwert nach vorn aus und wirbelte einmal im Kreis herum. Sie lauschte angestrengt nach dem leisesten Geräusch, aber die Umgebung erschien ihr völlig lautlos.

Der Romanow konnte überall in dieser verdammten Halle stecken… Sie warf dem Kartakis rasch einen finsteren Blick zu, um ihn zu mahnen, daß er ruhig sitzen blieb, und freute sich zu sehen, wie er sofort wieder auf seinen Platz zurücksank. Und dann packte sie von hinten ein Arm um den Hals, verstärkte den Griff, drückte ihr die Luft ab. Sie kämpfte wütend gegen den Würgegriff an, schaffte es aber nicht, den Romanow abzuschütteln. Kraft allein reichte nicht, um so einen Griff aufzubrechen, einen der wenigen Griffe, der tatsächlich eine Chance gegen jemanden bot, der so stark war wie Hazel D’Ark. Sie hatte also nach wie vor menschliche Schwachpunkte. Sie stolperte vorwärts und rückwärts, zerrte den Romanow dabei mit, rang verzweifelt nach Luft, war wütend auf sich selbst, weil sie zugelassen hatte, daß sie in der Konzentration nachließ. Sie mußte den Romanow besiegen, ehe Owen zurückkehrte, oder sie würde nie wieder ein Ende seiner Vorhaltungen erleben.

Sie beugte sich blitzschnell in der Taille vor, und der Romanow flog über ihren Kopf, so daß sein eigenes Gewicht und sein eigener Impuls den Würgegriff lösten. Sie hörte, wie er heftig auf dem Boden aufschlug, und warf sich sofort herum und pustete das Exoskelett mit ihrem Disruptor weg. Die Panzerung explodierte mit einem zufriedenstellend lauten Knall und ging in Flammen auf. Dadurch wurde die Holoillusion des Romanows abgeschaltet, und da sah sie ihn vor sich, wie er gerade aufstand, ein kurzes, aber häßliches Messer in der Hand.

Sie hätte ihn wirklich durchsuchen sollen.

Hazel saugte tief Luft in die überlasteten Lungen und hielt das Schwert ruhig vor sich ausgestreckt. Der Romanow war ein großer Kerl, aber sie hatte schon größeren gegenübergestanden, und jetzt war sie wieder im Vorteil. Der Romanow schien das zu spüren und öffnete die Hand, damit das Messer zu Boden fiel. Hazel entspannte sich ein wenig. Sie hätte wissen müssen, daß der Aristo nicht den Mumm für irgend etwas hatte, das von fern an einen fairen Kampf erinnerte.

Sie gab ihm mit einem Wink des Schwerts zu verstehen, daß er sich wieder setzen sollte, und wußte sofort, daß sie einen Fehler gemacht hatte – denn ein Mann, der eine versteckte Waffe bei sich getragen hatte, konnte gut noch eine weitere haben. In dem Augenblick, als sich Hazels Schwert von ihm fortbewegte, beugte der Romanow den Arm, und ein Messer fiel ihm aus einer getarnten Scheide in die Hand. Sofort zuckte es auf Hazels ungeschützten Unterleib zu, während ihr Schwert gerade meilenweit aus dem Gefecht war. Es war ein plötzlicher, simpler, überraschend schneller Angriff, und jedem anderen Gegner hätte er sicherlich das Leben gekostet. Hazel war aber kein beliebiger Gegner, schon lange nicht mehr. Mit übermenschlicher Kraft und Schnelligkeit riß sie das Schwert zurück in die Bahn des Messers, parierte es und schlug es zur Seite. Der Romanow, vom Schwung des eigenen Angriffs mitgerissen, spießte sich selbst auf dem bereitgehaltenen Schwert auf.

Mit verzerrtem Gesicht sank der Romanow zu Boden, ließ das Messer fallen und packte die Schwertklinge, die ihn durchbohrte, mit beiden Händen, als könnte er den tödlichen Stahl irgendwie aus sich herausziehen. Und in diesem Augenblick, als er sich mit der verzweifelten Kraft des Sterbenden an Hazels Schwert klammerte, bemerkte Hazel, daß sie den Kartakis aus den Augen verloren hatte. Sie sah sich wütend um, versuchte das Schwert loszureißen, schaffte es aber nicht. Und da erblickte sie den Kartakis auf den Beinen, ebenfalls ein bislang verstecktes Messer in der Hand. Sie traf Anstalten, mit der Schußwaffe auf ihn zu zielen, aber die Hand des Kartakis zuckte vor und schleuderte das Messer mit tödlicher Genauigkeit.

Hazel wußte, daß sie nicht mehr ausweichen konnte. Sie versuchte es trotzdem, und die Zeit kam fast zum Stillstand. Das Messer kroch zentimeterweise durch die Luft und nahm direkt Kurs auf ihr linkes Auge. Und Hazel wußte, daß sie sterben würde, allein und weit von ihren Freunden und jeder Hilfe entfernt.

O Owen, ich wünschte…

Und da war er, tauchte aus der Luft heraus auf und schlug das Messer mit der Hand weg. Es flog zum Werfer zurück und versenkte sich bis zum Griff im Hals des Kartakis, als gehörte es dorthin. Der Aristokrat beugte sich langsam vor, als verneigte er sich vor Owen und Hazel, und fiel tot zu Boden. Der Romanow tat ebenfalls seinen letzten Atemzug, löste die Hände von Hazels Schwert und kippte nach hinten. Hazel riß das Schwert heraus und drehte sich um, nur ein klein wenig außer Atem, um Owen für die Rettung im letzten Augenblick zu danken. Und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf, wie anders er aussah.

Er trug andere Kleidung, zerrissen und blutig, darüber einen großen pelzbesetzten Umhang. Das Gesicht wirkte müde und ausgezehrt, und er atmete schwer und tief, als hätte er einen langen Lauf hinter sich. Er sah aus, als wäre er durch die Hölle marschiert und hätte sich jeden Schritt freigekämpft, aber in seinem stetigen Blick entdeckte Hazel sowohl Entschlossenheit als auch eine verzweifelte, tief im Mark sitzende Traurigkeit.

Er zeigte ihr ein seltsames, sanftes Lächeln, und streckte eine Hand aus, als wollte er ihre ergreifen. Hazel steckte die Pistole ins Halfter und wollte die Geste erwidern, und in diesem Augenblick bemerkte sie, daß Owen ihr eine Linke aus Fleisch und Blut entgegenhielt, nicht die goldene Hadenmännerhand, die sie schon vor langer Zeit ersetzt hatte. Hazel zögerte, stoppte ihre Hand unmittelbar vor seiner, und Owen lächelte traurig, als hätte er gewußt, daß sie seine Hand ausschlagen würde, sich aber trotzdem mehr erhofft. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und Hazel beugte sich verzweifelt vor, wußte irgendwie, daß es lebenswichtig war, ihn zu verstehen – aber da war er schon wieder dorthin verschwunden, wo immer er hergekommen war, zu irgendeiner verzweifelten Flucht, die er unterbrochen hatte, um sie zu retten, als niemand sonst es konnte.

Hazel sah sich um, aber die Halle war leer, abgesehen von den beiden toten Aristokraten und dem leise vor sich hinbrennenden Exoskelett. War das wirklich Owen gewesen, aus dem Nichts erschienen, um sie zu retten, als sie es am nötigsten hatte? Aber er hatte zwei Menschenhände gehabt. War es ein Owen von einer anderen Zeitschiene gewesen, wie die anderen Hazels, die sie zuzeiten heraufbeschwor? Und falls das so war, warum hatte er so traurig ausgesehen? Sie griff auf ihr Komm-Implantat zu.

»Owen, melde dich! Alles in Ordnung mit dir? Owen?

Owen!«

Die Geistkriegerin, die aus Katies Überresten bestand, wankte auf ihn zu, das Schwert einsatzbereit, und er glaubte nicht, schon jemals so wütend gewesen zu sein. Besorgt war er nicht.

Für jemanden, der einmal von Mann zu Mann gegen einen Grendel angetreten war, bedeutete eine einsame Geistkriegerin mit nur einem Schwert keine große Gefahr. Sie schlug mit dem Schwert nach ihm, und er parierte mühelos. Aber das Grab der ersten Frau zu entweihen, für die er je etwas empfunden hatte, nur eines kranken Witzes halber… einer anderen Möglichkeit halber, ihm weh zu tun… Owen packte den Schwertgriff so fest, daß ihn die Hand schmerzte. Er wollte Katie nicht noch einmal umbringen. Es war schon beim ersten Mal hart genug gewesen. Andererseits konnte er auch nicht zulassen, daß diese Verspottung einer alten Liebe weiterging. Er mußte die Sache beenden, und sei es nur, um endlich Valentin nachzusetzen und ihn mit bloßen Händen zu zerreißen. Und da öffnete sich der tote Mund, und eine Annäherung an Katies Stimme ertönte. Es war nicht die Leiche, die sprach. Die Stimmbänder mußten inzwischen verwest sein. Es war nur eine Aufzeichnung.

»Tu mir nichts, Owen«, sagte die tote Frau, und die aufgesprungenen schwarzen Lippen versuchten, sich im Takt der Worte zu bewegen. »Bitte. Ich möchte nicht noch mal sterben.

Ich weiß, daß ich nicht mehr so bin wie einst, aber ich bin immer noch dieselbe. Katie. Deine Geliebte. Valentin hat mich von den Toten zurückgerufen und mich in diesem verfaulenden Körper gefangengesetzt. Er kann heute derartige Dinge vollbringen. Er hat neue Freunde. Mächtige Bundesgenossen. Du wärst erstaunt, was er heute alles tun kann. Bitte, Owen!«

»Halt den Mund.«

»Also in Ordnung, dann bringe ich dich um, so daß wir im Tod verbunden sind und für immer Seite an Seite in der warmen Erde ruhen. Tu es für mich, Owen.«

»Du klingst kein bißchen nach ihr«, sagte Owen und wich nicht weiter zurück. »Du klingst überhaupt nicht nach meiner Katie.«

»Der Tod verändert einen.«

»Nicht so stark. Katie hat nie um etwas gebettelt. Fahrt zur Hölle, Valentin!«

Und er schlug mit den Gedanken zu. Kraft baute sich in ihm auf, gespeist aus Wut und Empörung, wurde durch diese Empfindungen konzentriert, und die wandelnde Leiche vor ihm zerplatzte in winzige Fetzen verwesten Fleisches und zerschmetterter Technik. Owen sah zu, wie das alles zu Boden fiel, und empfand nichts. Es war nicht Katie gewesen.

»Owen?« hörte er Hazels Stimme aus seinem Komm-Implantat. »Melde dich! Alles in Ordnung mit dir? Owen?

Owen!«

»Mir geht es gut«, sagte er endlich. »Valentin ist jedoch entkommen. Wir müssen die Burg nach ihm durchsuchen.

Schließt die beiden Lords ein und kommt zu mir in die Sicherheitszentrale.«

»Die Lords sind tot«, sagte Hazel und klang eine Spur schuldbewußt. »Sie haben versucht zu fliehen.«

Owen setzte zu einer schneidenden Bemerkung an, verkniff sie sich aber. Hazels Stimme hatte einen Unterton aufgewiesen… »Alles in Ordnung mit Euch, Hazel?«

»Natürlich«, antwortete sie. »Mir geht es gut. Ich bin gleich bei dir.«

Sie trennte die Verbindung. Owen blickte auf die Überreste eines Menschen hinunter, die überall auf dem Boden verstreut lagen, und redete sich ein, daß er überhaupt nichts empfand.

Gemeinsam durchsuchten Owen und Hazel die Burg, Stockwerk für Stockwerk, Zimmer für Zimmer. Es dauerte einige Zeit. Das Sicherheitssystem hätte Valentin eigentlich finden müssen, aber er hatte es so programmiert, daß es ihn ignorierte.

Der Wolf plante seine Züge immer ein gutes Stück im voraus.

Und so durchstreiften Owen und Hazel die alte Festung und fanden weder ihn noch eine Spur von seinen Leuten. Valentin Wolf hatte das Gebäude verlassen.

Schließlich gelangten sie in Owens altes Schlafzimmer. Der Geheimgang stand immer noch offen, aber Hazel redete es Owen aus, wieder hinunter in die Fliegerhöhlen zu gehen. Ihr war schon seit einiger Zeit klar, daß der Wolf aus der Burg und wahrscheinlich sogar von Virimonde geflüchtet war, aber sie ließ Owen weitersuchen, weil sie erkannte, daß er es brauchte.

Jetzt sahen sie sich im Schlafzimmer um und fragten sich, was als nächstes zu tun war. Hazel setzte sich auf die Bettkante, schlenkerte mit den Beinen und lächelte, als sie langsam in die dicke Matratze hineinsank.

»Du hast hier ja wirklich eine tolle Bleibe gehabt, Todtsteltzer. Hat das tatsächlich alles dir gehört?«

»Als ich noch ein Lord war, hat mir der ganze Planet gehört und ebenso alles, was man darauf fand«, antwortete Owen.

»Jetzt sind der Planet und alle darauf tot. Mir sind nur eine Burg geblieben, aus der ich mir nie wirklich etwas gemacht habe, und ein paar Erinnerungen.«

Hazel lächelte süffisant. »Ich wette, du hast wenigstens an dieses Zimmer ein paar gute Erinnerungen.«

»Einige«, bestätigte Owen. »Ich hatte eine Mätresse namens Katie, als ich Lord war. Wir waren hier glücklich.«

Hazel setzte sich kerzengerade auf. Owen hatte bislang nie von früheren Frauen in seinem Leben gesprochen. Sie war immer davon ausgegangen, daß es irgendwo jemanden gegeben haben mußte, aber eine Mätresse war ihr neu. Sie achtete sorgfältig auf einen beiläufigen Tonfall. »Und was ist aus dieser Katie geworden?«

»Sie erwies sich als imperiale Spionin. Hat versucht, mich zu töten, als ich zum Gesetzlosen erklärt wurde. Ich mußte sie umbringen.«

»Du hast deine eigene Geliebte umgebracht?« fragte Hazel ungläubig. »Verdammt, das war kaltblütig, Todtsteltzer!«

Owen starrte auf das Holoportrait vor ihm, das den ursprünglichen Todtsteltzer zeigte, den Gründer seines Clans. »Ich habe auch ihn umgebracht, und er war mein meistverehrter Vorfahre. Wie mir scheint, trage ich für viel zu viele Todesfälle die Verantwortung. Darunter viel zu viele Menschen, die mir etwas bedeutet haben. Vielleicht solltet Ihr Euch einen neuen Partner suchen.«

Hazel stand vom Bett auf und trat an seine Seite. »Du hast nie jemanden umgebracht, wenn es nicht nötig war.«

Owen schüttelte den Kopf.

»Ich habe mein Erbe verraten, als ich Giles tötete. Ich habe meinen Namen und die Ehre der Familie verraten.«

»Nein«, entgegnete Hazel entschieden. »Er hat selbst die Verantwortung dafür getragen, als er vergaß, wofür er eigentlich kämpfte. Er war seinerzeit der Oberste Krieger, der Beschützer der Menschheit. Als er entschied, lieber Herrscher zu sein als Beschützer, hat er uns alle verraten.«

»Er war wirklich eine Legende«, sagte Owen. »Ein echter Held. Er hat die meisten Dinge wirklich geleistet, von denen die Geschichten erzählen.«

»Richtig, darunter auch Erfindung und Gebrauch des Dunkelwüsten-Projektors. Eintausend Sonnen, innerhalb eines Augenblicks ausgelöscht. Niemand weiß, wie viele Milliarden Tote die Folge waren. Der größte Massenmörder der Geschichte.«

»Er hatte die besten Absichten. Er hatte sie immer. Er hat sich nur… verirrt.«

»Ach, verdammt«, sagte Hazel und hakte sich bei ihm unter.

»Wir alle verlieren uns hin und wieder. Du hast den Mann nur getötet, Owen. Die Legende lebt weiter.«

»Ich kann nicht heimkehren«, stellte Owen bitter fest.

»Das wäre ohnehin nicht möglich gewesen. Du hast dich zu stark verändert. Und überwiegend zum besseren.«

Owen zog eine Braue hoch. »Nur überwiegend?«

»Mann, Sir Aristo, würdest du mir beibringen, wie man eine Braue so wölbt?«

»Geht zum Teufel, Bauer.«

Sie standen eine Zeitlang zusammen, und jeder hing den eigenen Gedanken nach. »Owen«, sagte Hazel schließlich. »Hast du gerade erst kürzlich neue Fähigkeiten demonstriert?«

»Nicht, daß sie mir aufgefallen wären«, antwortete Owen.

»Warum fragt Ihr?«

»Na ja, ich habe mich nur gefragt, ob du gelernt hättest, andere Versionen deiner selbst herbeizurufen, wie ich.«

»Verdammt, nein. Etwas Derartiges wäre mir eindeutig aufgefallen. Das ist vielleicht eine unheimliche Fähigkeit, wenn Ihr mich fragt.«

»Vertrau mir, ich weiß genau, wie du dich fühlst. Irgendwann mal werde ich sehen, ob ich nicht eine dieser Versionen bewegen kann, lange genug zu bleiben, damit ich ihr ein paar gezielte Fragen stellen kann.«

»Tut das«, sagte Owen. »Ich würde die Antworten sehr gern hören. Denke ich.« Und dann brach er ab und runzelte die Stirn.

»Was jetzt?« fragte Hazel.

»Valentin«, sagte Owen. »Er sagte, er hätte eine Überraschung für mich zurückgelassen.«

»O verdammt!« meinte Hazel. »Du meinst, wir müssen die ganze verfluchte Burg noch einmal durchsuchen?«

»Ich denke, wir tun es lieber. Valentins kleine Überraschungen fallen immer unerfreulich aus und zeigen eine Tendenz zum Dramatischen.«

»Owen«, machte sich Oz plötzlich bemerkbar. »Ich muß mit dir reden. Sofort.«

»Nicht jetzt, Oz. Wir sind beschäftigt.«

»Nun, du bist es gleich nicht mehr, wenn du mir nicht zuhörst. Ich habe etwas in deinen Sicherheitslektronen entdeckt.

Es sieht nach einem Countdown aus.«

»Ein Countdown?« fragte Owen. »Zu was?«

»Da liegt das Problem. Ich finde es einfach nicht heraus. Was das auch für ein Programm ist, Valentin hat es hinter einer ganzen Reihe von Paßwörtern versteckt, die zu knacken mir fürchterlich schwerfällt. Ich taste im Moment die ganze Burg ab, um… O Scheiße!«

»Du machst wieder dieses Wir-stecken-in-ernsten-Schwierigkeiten-Gesicht«, stellte Hazel fest. »Was ist los?«

»Oz sagt, er hätte einen Countdown entdeckt. Und dann sagte er o Scheiße

»Ah«, sagte Hazel. »Wir stecken in ernsten Schwierigkeiten.«

»Oz«, forderte Owen entschieden, »könntest du dich bitte genauer ausdrücken, was du mit o Scheiße meinst?«

»Da liegt eine Bombe«, antwortete Oz. »Tief unter der Burg angebracht. Und es ist eine wirklich schlimme. Stark genug, um die ganze Burg in eine Wolke aus freischwebenden Atomen zu verwandeln und einen glühenden Krater zu hinterlassen, groß genug, um einen kleinen Mond darin zu parken.«

»Das klingt ganz nach Valentin«, sagte Owen. »Rachsüchtig bis zum Schluß. Falls er nicht mit Sachen herumspielen kann, kann es niemand. Siehst du irgendeine Chance, sie zu entschärfen?«

»Oh, Scheiße! « sagte Oz.

»Du machst schon wieder ein anderes Gesicht«, bemerkte Hazel.

»Leider«, sagte Oz, »scheine ich durch die Entdeckung der Bombe und den Versuch, sie zu entschärfen, ein weiteres Programm gestartet zu haben…«

Und in diesem Augenblick geschah es, daß die Stahlläden vor den Fenstern zuknallten, der Geheimgang sich selbst schloß und die einzige Tür, die aus dem Raum führte, ins Schloß fiel und dieses sich mit einer Reihe ausgesprochen endgültig klingender Klicklaute zusperrte. Hazel sah sich mit wildem Blick um, Pistole und Schwert wieder in den Händen.

»Owen, sag doch was! Was zum Teufel passiert hier?«

»Valentin hat Zugriff genommen auf die Sicherheitsprogramme der letzten Ebene, die die Bewohner der Burg im Notfall schützen sollten, und sie mit jedem Versuch verknüpft, die Bombe zu entschärfen. Und da Valentin zweifelsohne alle Paßwörter geändert hat, können wir relativ sicher sein, daß wir die Lektronen nicht werden bewegen können, diesen Raum wieder zu öffnen, ehe eine sehr große Bombe hochgeht und das ganze Problem bedeutungslos macht.«

»Bombe?« fragte Hazel. »Was für eine Bombe? Niemand hat etwas von einer Bombe gesagt.«

»Oz hat es getan«, sagte Owen. »Erinnerst du dich an den Countdown?«

»Zur Hölle mit den Paßwörtern«, entgegnete Hazel. »Ich bringe uns hier heraus.«

Sie zielte mit dem Disruptor auf das nächstgelegene der verschlossenen Fenster und schoß, ehe Owen sie aufhalten konnte.

Also packte er sie und zog sie, ihrer Proteste nicht achtend, zu Boden – gerade rechtzeitig, ehe der sengende Energiestrahl von den unbeschädigten Fensterläden zurückprallte und genau dort durch die Luft zuckte, wo sie eben noch gestanden hatten.

Owen und Hazel versuchten, sich in den Teppichboden hineinzugraben, während der Strahl über ihnen hin und her schoß, von einem Fensterladen zum nächsten, bis er sich schließlich erschöpft hatte. Owen sah Hazel an.

»Bitte tut das nicht noch einmal. Solche Läden sind überall angebracht, sogar in den Wänden, und sie wurden besonders verstärkt, um Energiewaffen standzuhalten, was ich Euch auch erklärt hätte, hättet Ihr nur eine verdammte Minute lang gewartet!«

»Schrei mich nicht an, Todtsteltzer! Das ist deine Burg.

Bring uns hinaus. Tu etwas!«

Owen überlegte, ob er nicht in Panik geraten sollte, entschied aber, daß er dafür nicht genug Zeit hatte. »Oz, wie lange braucht der Countdown noch?«

»Zwei Minuten, sieben Sekunden und weiterlaufend.«

»O Scheiße! «

»Das sagte ich bereits. Es hat nicht geholfen.«

»Was ist?« fragte Hazel und musterte Owens Miene. »Was ist? W a s i s t

Owen dachte angestrengt nach. Es mußte einen Ausweg geben. Er war nicht so weit gekommen, nur um in einer simplen Falle wie dieser umzukommen.

»Mir gefällt der Ausdruck in deinem Gesicht wirklich nicht«, bemerkte Hazel.

»Wie verwundbar fühlt Ihr Euch zur Zeit?«

»So schlimm, ja?«

»Schlimmer. Wir haben noch zwei Minuten, bis uns die Bombe aus dieser Welt in die nächste pustet, und wir schaffen es nicht mal aus diesem Zimmer hinaus. Es sei denn, Ihr habt von Giles zufällig den Trick mit dem Teleportieren gelernt.

Wie sieht es damit aus?«

»Nein. Er ist nie dazu gekommen, den Vorgang zu erklären, bis du ihn umgebracht hast.«

»Ah ja, richtig. Meine Schuld. Vielleicht, wenn wir alle mehr miteinander redeten…«

Sie brachen ab und sahen sich an, und eine seltsame Ruhe ergriff von ihnen Besitz. »Das war es, nicht wahr?« fragte Hazel.

»Das Ende vom Lied. Komisch. Ich wußte schon immer, daß es mein Schicksal war, jung zu sterben. Aber ich habe nie erwartet, daß es auf diese Weise passieren würde. So… hilflos.«

Owen legte ihr einen Arm um die Schultern, und sie lehnte sich an ihn. »Verdammt«, sagte er, »wir leben schon von geborgter Zeit, seit wir uns das erste Mal begegnet sind. Sie mußte schließlich ablaufen. Und… Ich bin froh, daß wir unsere gemeinsame Zeit hatten. Es ist schon seltsam, aber ich denke nicht, daß ich je glücklicher war.«

»Wohl wahr«, bestätigte Hazel. »Das war vielleicht ein Abenteuer, was? Und falls wir schon sterben müssen, tun wir es wenigstens zusammen.«

Sie setzten sich nebeneinander auf die Bettkante. Sie küßten sich, als hätten sie alle Zeit der Welt, und lehnten sich dann freundschaftlich aneinander.

»Wer weiß?« sagte Hazel schließlich. »Wir haben auf Nebelwelt dem Schuß einer Disruptorkanone aus kürzester Distanz standgehalten, erinnerst du dich? Vielleicht haben wir erneut Glück.«

»Moment mal!« sagte Owen und richtete sich kerzengerade auf. »Gehen wir mal diesem Gedanken nach. Wir haben diesem Disruptorschuß standgehalten, weil wir verbunden waren.

Unsere Gedanken waren miteinander verschmolzen. So haben wir überlebt!«

Hazel runzelte die Stirn. »Die Verbindung hat mir nie gefallen. Es gefällt mir nicht, jemandem Zutritt zu meinem Bewußtsein zu erlauben.«

»Hazel, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um schamhaft zu sein. Würdet Ihr lieber sterben?«

»Verdammt. In Ordnung, tun wir es.«

Sie streckte eine Hand aus, und Owen ergriff sie mit seiner menschlichen Hand. Zögernd tasteten sie sich mit den Gedanken aufeinander zu, folgten dabei der alten mentalen Verbindung, die alle Überlebenden aus dem Labyrinth des Wahnsinns einander verband. Sie kamen sich immer näher, bis die Kraft, die sich zwischen ihnen aufbaute, ihre Gedanken zusammenrammte, daraus einen einheitlichen Willen formte und sich in etwas Neues umwandelte. Etwas Größeres. Etwas, das sie aus ihren Körpern riß, in die Luft darüber. Sie fegten als körperlose Geister innerhalb eines Augenblicks durch alle Stockwerke und Räume der Burg, bis sie schließlich die Lektronen erreichten, die Valentin in dem Raum neben der Sicherheitszentrale installiert hatte. Sie schwebten über den Geräten, wurden für einen Moment von etwas Fremdartigem zurückgehalten, für das sie keinen Namen wußten. Dann konzentrierten sie sich und hörten die Geräte denken. Es war ein zugleich einfacher und sehr komplexer Vorgang, eine Vielzahl kleiner, aber kritischer Entscheidungen, die schneller vorüberzuckten, als daß ein rein menschliches Bewußtsein je hätte hoffen können, ihnen zu folgen. Aber Owen und Hazel hatten von ihren menschlichen Anfängen bis heute einen weiten Weg zurückgelegt, und sie brauchten weniger als eine Sekunde, um in die Rechner vorzudringen und die Daten zu finden, die sie benötigten, um den Countdown anzuhalten; das Programm wurde gestoppt, und die Bombe stellte sich wieder auf Null und erwartete neue Instruktionen. Owen und Hazel durchsuchten rasch alle Speicher der Lektronen, nur um sicherzugehen, daß Valentin nicht noch weitere unerfreuliche Überraschungen hinterlassen hatte, und lösten sich wieder. Die zwingende Notwendigkeit, die sie miteinander verbunden hatte, war erschöpft, und sie verschwanden aus dem Lektronenraum, trennten sich und fielen in ihre Körper zurück. Sie sahen sich benommen um und gewöhnten sich gerade wieder ans Atmen, da verschwanden die Fensterläden und öffnete sich das Türschloß wieder.

»Du liebe Güte«, sagte Hazel schließlich. »Das war… mal etwas ganz anderes.«

»Wie ich schon immer gesagt habe«, stellte Owen fest. »Das meiste erreichen wir, wenn wir zusammenarbeiten.«

»Vielleicht. Verschwinden wir lieber von hier, Owen. Zu viel Tod hängt über diesem Ort.«

»Und Valentin ist entkommen«, sagte Owen. »Ich finde ihn jedoch. Und aufgrund dessen, was er meinem Haus und meiner Welt und meinem Volk angetan hat, errichte ich eine komplett neue Hölle, in die ich ihn schicken kann.«

KAPITEL ZWEI

EIN TAG WIE JEDER ANDERE IM PARLAMENT

Die Sonnenschreiter II fiel aus dem Hyperraum und trat in einen Orbit über Golgatha ein, Hauptwelt und Regierungssitz des Imperiums. Owen und Hazel hätte es nicht weniger bedeuten können. Virimonde hatte ihnen viel geraubt. Nach den körperlichen und seelischen Prügeln, die sie in der alten Todtsteltzer-Burg bezogen hatten, konnten sie gerade eben noch aufrecht in ihren Sesseln sitzen und Antworten auf die Landeinstruktionen vom Zentralraumhafen brummen. Owen tippte die Koordinaten ein und überließ es den Navigationslektronen, die Landung auszuführen. Sie konnten das besser, als jemals von ihm zu erwarten stand, und er war so furchtbar müde.

Und wenn er schon ehrlich zu sich selbst war: Die Sonnenschreiter II schüchterte ihn ein. Die Hadenmänner, diese rätselhaften aufgerüsteten Menschen, hatten das Schiff gebaut und es dem zerstörten Original so nah wie möglich angeglichen. Der Versuchung, es zu ›verbessern‹, konnten sie jedoch nicht widerstehen. Owen kam mit Türen klar, die sich schon öffneten, wenn er nur daran dachte, sich ihnen zu nähern, ebenso mit Lebensmittel-Synthetisierern, die schon vor ihm wußten, was er sich zum Abendessen wünschte, aber eine Navigationssteuerung, die nach demselben beunruhigenden Prinzip funktionierte, war einfach zuviel für ihn. Es war zu ein paar bedauerlichen Zwischenfällen gekommen, als er vor sich hinträumte und damit Landungen ruinierte, die ansonsten völlig sicher verlaufen wären, und daraufhin hatte er sich mit großer Bestimmtheit entschieden, diese Dinge den Lektronen zu überlassen und sich wichtigeren Aufgaben zu widmen. Wie Schmollen. Er saß zusammengesunken auf seinem Platz, sah zu, wie der dunkelblaue Planet vor ihm langsam größer wurde, und hatte ein fast nostalgisches Gefühl. Als er zuletzt nach Golga-110 tha gekommen war, hatten hier die letzten brutalen Wirren der Rebellion getobt, und praktisch alle Bewohner des Planeten hatten auf Owen geschossen. Jetzt war er nur ein Besucher unter vielen, nicht wichtiger als irgend jemand sonst. Er hatte das starke Gefühl, daß ihm die alten Verhältnisse lieber gewesen waren. Wenigstens wußte er damals, wer und wo seine Feinde waren. Er blickte voller Zuneigung zu Hazel hinüber, die auf ihrem Platz wütend vor sich hinbrütete. Auch wenn sich Hazel D’Ark angeblich entspannte, erweckte sie den Eindruck, als wäre sie jeden Augenblick auf dem Sprung, irgend jemandem die Kehle aufzureißen. Owen machte das nichts aus. Er war es gewöhnt.

»So«, sagte Hazel brüsk. Irgendwie spürte sie, ohne sich auch nur umzudrehen, daß er sie anschaute. »Wo geht es als nächstes hin? Hast du irgendwelche Pläne?«

»Warum bleibt das immer an mir hängen?« protestierte Owen zurückhaltend. Sie hatten dieses Gespräch schon oft.

»Wie kommt es, daß Ihr nie irgendwelche Ideen habt?«

»Ich habe jede Menge Ideen«, erwiderte Hazel. »Aber du bist immer zu feige, sie aufzugreifen.«

»Nur, weil Eure Ideen eine bestürzende Tendenz zu Gewalt, Mord und blutigem Gemetzel aufweisen sowie dazu, alles zu stehlen, was nicht festgenagelt ist. Mit dergleichen kommen wir heute nicht mehr durch. Wir sind keine Rebellen und Gesetzlosen mehr; wir gehören zum Status quo. Verdammt, rein technisch gesehen sind wir Polizeikräfte.«

»Langweilig«, meinte Hazel. »Du bist inzwischen richtig langweilig, Todtsteltzer.«

»Tatsächlich ist mir klar, was ich als nächstes in Angriff nehmen möchte«, sagte Owen und ignorierte die Beleidigung mit einer Leichtigkeit, die aus langer Übung resultierte. »Sobald wir gelandet sind und dem Parlament Bericht erstattet haben, ziehe ich schnurstracks wieder los, um Valentin Wolf zu jagen. Die Spur ist noch warm. Er wird nicht weit kommen.«

»Das hast du früher schon gesagt, Owen, und er ist immer wieder davongekommen. Schon immer war der Wolf woanders, als man ihn vermutete. Deshalb ist er trotz vieler Feinde so lange am Leben geblieben. Hat mal ausgespannt, sich ausgeruht, die Batterien wieder aufgeladen. Er wird früh genug wieder auftauchen und irgendwas Schlimmes anstellen, und dann können wir erneut probieren, ihn zu fassen.«

Owen mußte lächeln. »Wir sind weit gekommen, wenn Ihr schon die Stimme der Vernunft seid, die meine Hitzköpfigkeit zügelt.«

Hazel schniefte. »Denk bloß nicht, das wäre mir noch nicht aufgefallen. Es zeigt nur, wie mitgenommen wir sind. Wir brauchen Zeit, um uns auszuruhen, Todtsteltzer. Virimonde hat uns schwer getroffen.«

»Wahrhaftig. Keine großartige Heimkehr, alles in allem.«

Eine Pause trat ein, und Hazel blickte zu ihm hinüber, Gesicht und Tonfall sorgsam ruhig und gelassen. »Owen, wie kommt es, daß du mir nie zuvor etwas von Katie erzählt hast?

Ich meine, sie war deine Geliebte. Sie muß dir wichtig gewesen sein.«

»Das war sie«, bestätigte Owen. »Ich habe sie nicht erwähnt, weil sie Euch nichts anging. Ihr könntet nie die Art Beziehung verstehen, die uns verband.«

»Du härtest mit mir reden können«, fand Hazel. »Ich hätte mich bemüht, es zu verstehen. Erzähle mir von dieser Katie.

Wie war sie? Wie hast du sie kennengelernt?«

Owen schwieg so lange, daß Hazel beinahe schon vermutete, er würde überhaupt nicht antworten, aber endlich tat er es doch – mit einer ruhigen, fast emotionslosen Stimme, als wäre es die einzige Möglichkeit für ihn, sich auf solch schmerzliche Erinnerungen einzulassen. Er sah Hazel dabei nicht ein einziges Mal an.

»Ihr Name war Katie DeVries, und sie war sehr schön. Ihr ganzes Erwachsenenleben hindurch war sie eine Kurtisane der einen oder anderen Art gewesen, vom Hau s der Freuden besonders ausgebildet und angepaßt, um jeden Wunsch zu erfüllen und dabei zu helfen, daß man neue Wünsche entwickelte.

Sie diente als Überraschungsgast bei einem Winterball auf Golgatha, und als sie mir zum ersten Mal vorgestellt wurde, hielt ich sie für das Wundervollste, was ich je gesehen hatte.

Wir tanzten und redeten miteinander, und sie hörte mir zu, schien zu verstehen, was ich sagte, und sich etwas daraus zu machen – was so viele andere nicht taten. Sie fand sogar meine Witze lustig. Sie war vollkommen. Also erwarb ich ihren Kontrakt zu einem absoluten Wucherpreis, und sie wurde meine Geliebte.

Natürlich stellte sich heraus, daß sie nicht vollkommen war.

Ihre Tischmanieren konnte man nur als grauenhaft beschreiben.

Schon früh morgens zeigte sie sich viel zu froh und munter, und obendrein war sie eine Agentin des Imperiums und hatte die Aufgabe, mich auszuspionieren. Alles, was ich sagte und tat, meldete sie einem Kontakt auf Golgatha. Oz fand es heraus und berichtete mir davon, aber mir war es egal. Ich war damals nur ein kleiner Gelehrter, ohne Interesse an Politik. Ihre Berichte mußten eine sehr langweilige Lektüre gewesen sein. Gelegentlich gab ich etwas Kontroverses zum besten, damit niemand auf die Idee kam, Katie von mir abzuziehen. Wir waren so glücklich. Ich denke nicht, daß wir je einen Streit hatten.

Sieben Jahre blieben wir zusammen. Manchmal denke ich, daß ich damals zum letzten Mal glücklich war. Daß ich es so hoch schätzte, weil ich irgendwo tief im Herzen wußte, daß mir eines Tages alles genommen würde.

Ich habe sie so sehr geliebt. Ich hätte nie erwartet, sie einmal töten zu müssen. Ihr ein Messer zwischen die Rippen zu stecken, es herumzudrehen und sie dann in den Armen zu halten, während sie verblutete.«

»Jesus, Owen…«

»Ich hätte sie gerettet, wäre es mir möglich gewesen.«

»Sie hat versucht, dich umzubringen.«

»Manchmal denke ich, daß es so war. Ich habe sie nie gefragt, ob sie mich liebte. Ich fürchtete mich vor der Antwort.

Wenn ich sie gekannt hätte, dann hätte Katie vielleicht nicht so viel von mir mitgenommen, als sie starb.«

»Hör sofort auf damit, Todtsteltzer! Wenn du mir rührselig kommst, dann stehe ich noch auf und haue dir ein paar auf die Ohren!«

Owen lächelte kurz. »Das würdet Ihr, nicht wahr?«

»Verdammt richtig! Zieh dich nie selbst runter, Owen; es gibt immer reichlich andere Leute, die nur auf eine Gelegenheit warten, es zu tun. Katie gehört zur Vergangenheit. Laß sie auf sich beruhen und geh weiter deinen Weg.«

»Ihr wart es, die das Thema zur Sprache brachte«, gab Owen nachsichtig zu bedenken. »Und ich weiß gar nicht, warum Ihr Euch auf einmal so für meine romantische Vergangenheit interessiert. Ihr seid diejenige, die in dieser Hinsicht mit den ganzen Überraschungen aufwarten kann. Ich bin immer noch nicht darüber hinweg, daß sich in Nebelhafen dieser Wampyr namens Abbott als einer Eurer Ehemaligen entpuppte.«

»Er war ein Fehler.«

»Und nicht annähernd der erste oder der letzte – nach allem, was man hört.« Hazel funkelte ihn an. »Wer hat da geplaudert?« »Praktisch jeder. Die Klatschkolumnisten lieben Euch.

Ihr habt Euer eigenes Magazin im Matrix-Internet. Wird täglich aktualisiert.«

»Du hast diesen Müll doch nicht gelesen, oder?«

»Nee. Ich sehe mir immer nur die Bilder an.«

Als sie endlich in der großen Stadt, die Parade der Endlosen genannt wurde und Sitz der Restregierung von Golgatha war, von Bord gingen, fanden sich Owen und Hazel durch eine Menge Reporter bedrängt. Die meisten größeren Nachrichtenunternehmen waren vertreten und auch alle kleineren, die Korrespondenten auf Golgatha unterhielten. Owens und Hazels Abenteuer waren stets nachrichtenwürdig, und die Meldungen, die schon von ihren Entdeckungen und Taten auf Virimonde durchgesickert waren, hatten die Erwartungshaltung der Journalisten bis zum Siedepunkt angeheizt. Sie drängten sich um Owen und Hazel, brüllten Fragen, während über ihnen Kameras auf der Suche nach dem besten Blickwinkel herumschwebten. Die Journalisten versuchten, sich gegenseitig mit den Ellbogen aus dem Weg zu schubsen, und weiter hinten kam es zu Schlägereien. Aber selbst in diesem Tumult kam niemand den beiden Helden zu nahe. Sie hatten die entsprechende Lektion gelernt, normalerweise auf die harte Tour. Hazel hatte zwar noch keinen Reporter wirklich umgebracht, aber die Cleveren wetteten lieber auf das Wann als das Ob. Was einige der widerwärtigeren Boulevardreporter anging, so hatten sich schon Wettgemeinschaften gebildet.

Owen wartete geduldig, bis sie sich etwas beruhigt und ihre Rangordnung geklärt hatten, während Hazel wütend in alle Richtungen funkelte und die Hände besorgniserregend nahe an ihren Waffen hielt. Es besserte ihre Laune überhaupt nicht, daß die meisten Fragen, die ihr heutzutage gestellt wurden, gezielt ihrer Beziehung zu dem verehrten Todtsteltzer galten. Sie hatte es mit spöttischen Antworten probiert, aber die Reporter meldeten einfach alles, was sie sagte, als Fakt. Sie versuchte, jeden anzugreifen, der das Thema ansprach, aber die anderen filmten sie dann einfach dabei. Heutzutage beließ sie es meist bei dem Spruch ›kein Kommentar‹ oder einer ähnlichen Bemerkung aus zwei Worten, wobei das zweite normalerweise ›dich‹ hieß. Bei all dem half ihr auch gar nicht, daß Owen das alles ungeheuer amüsant fand und immer in die Kameras blinzelte, wenn er sein ›kein Kommentar zum besten gab. Und dann brachte einer der Reporter den jüngsten Todtsteltzer-Film zur Sprache und trieb die Spannung erneut ein Stück weit höher.

Der Sieg der Rebellion war noch keine Woche alt, als die ersten Dokumentationen über die Holoschirme liefen – ausgewachsene Beiträge, zusammengesetzt aus Aufnahmen unterschiedlicher Klarheit und Zuverlässigkeit. Aber da die Leute die Tröstungen der Romantik schon immer den trockenen Fakten der Geschichte vorgezogen hatten, dauerte es nicht lange, bis der erste Todtsteltzer-Spielfilm die Dokumentationen rüde von den Holoschirmen schubste. Dieser aktionsgeladene und ungeheuer vereinfachende Streifen brachte allen Beteiligten Milliarden Kredits ein, außer denen, auf deren Leben er beruhte. Rasch folgten ihm weitere von unterschiedlicher Qualität und Genauigkeit. Und die Öffentlichkeit verschlang alles – von Toby Shrecks preisgekrönter Berichterstattung bis hin zu wüsten Phantasien, die nicht einmal immer die korrekten Namen verwendeten.

Der jüngste und populärste dieser Spielfilme beanspruchte, die Biographie Owen Todtsteltzers zu sein, in der er durchgängig als heiliger und selbstloser Held dargestellt wurde, seine Gefährtin Hazel D’Ark hingegen als mörderische Psychopathin, von ihrer unerschütterlichen, hündischen Hingabe an Owen knapp daran gehindert, in einem fort zu metzeln und zu massakrieren.

Owen und Hazel erhielten Freikarten zur Premiere zugeschickt, also gingen sie arglos hin. Owen mußte dermaßen lachen, daß es ihm weh tat, und wurde schließlich von einem Platzanweiser aufgefordert zu gehen, weil er das übrige Publikum störte. Hazel hielt bis zum Ende durch und hielt dabei die Armlehnen ihres Sitzes so fest umklammert, daß ihr die Hände schmerzten. Als der Film schließlich zu Ende war, zündete sie das Kino an. Zum Glück erwischte Owen sie, ehe es die Stadtgarde tat, und brachte sie weg, während die Feuerwehr noch versuchte, den Brand einzudämmen. Dann nahm er ihr alle Waffen ab, rang sie zu Boden und setzte sich so lange auf sie, bis sie versprach, nicht alle an der Herstellung des Spielfilms beteiligten Personen zu jagen und umzubringen. Wie Owen ihr vernünftig erklären konnte, hätte ein solches Vorgehen nur dazu beigetragen, ihre Charakterisierung durch den Streifen zu rechtfertigen.

Insgesamt erwies sich nicht gerade als hilfreich, daß Owen von einem führenden Star und Frauenschwarm gespielt wurde, Hazel jedoch von einem ehemaligen Pornostar mit mehr Aussehen als Begabung und einem ganz erstaunlichen Dekollete.

Als jetzt ein Reporter in voller Gefechtsrüstung die Frage nach dem Film stellte, wichen alle hastig zurück, damit kein Blut auf sie spritzte. Hazel riß eine Schwebekamera mitten aus der Luft und schleuderte sie mit verheerender Genauigkeit. Sie traf den Reporter mitten zwischen die Augen, so daß er bewußtlos zusammenbrach. Owen trat rasch hinzu und drückte Hazel von hinten die Arme an die Seiten. Die Reporter sahen interessiert zu, hofften dabei, auf sichere Distanz zu sein, bis Owen Hazel mehr oder weniger beruhigt hatte. Dann rückten sie wieder vor und stiegen über die bewußtlose Gestalt ihres Mitstreiters im Kampf um Wahrheit und Quoten hinweg. Vernünftigerweise wechselten sie das Thema. Unglücklicherweise entschieden sie sich dabei für das Stichwort Vermarktung.

Da der Appetit des Massenpublikums auf Stars nun einmal so war, wie er war, reichte nicht einmal die endlose Folge von Spielfilmen und Dokumentationen, um das Interesse der Leute an den neuen Helden zu befriedigen. Das Publikum zeigte sich unersättlich in seiner Wut, soviel allgemeinen Plunder zu erstehen, der auf den Filmen und den Rollen beruhte, daß man damit einen kleinen Mond mehrere Kilometer tief hätte zuschütten können. Der besagte Plunder reichte vom wahrhaft Geschmacklosen bis zum entsetzlich Billigen und Scheußlichen, und Owen und Hazel taten ihr Bestes, ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen, solange ihre Tantiemen eintrudelten. In diesem Punkt stand jedoch ein Umschwung kurz bevor.

»Ob wir was gesehen haben?« fragte Owen und wünschte sich gleich, er hätte es nicht getan, als der Reporter eine kleine Plastikfigur hochhielt.

»Es gibt eine ganze Produktreihe davon«, verkündete der Reporter vergnügt. »In der Haltung komplett einstellbare Figuren aller Hauptteilnehmer an der Rebellion. Sie sind sehr populär. Besonders die Figur der Imperatorin. Die Leute stellen gern schreckliche Sachen damit an.«

Er brachte weitere Figuren zum Vorschein und reichte sie an Owen und Hazel weiter, damit sie sie in Augenschein nehmen konnten. Sie waren in hellen Grundfarben gehalten, alle gleichmäßig muskulös und mit höflich allgemein gehaltenen Gesichtern ausgestattet. Sicherlich ähnelten sie niemandem, den Owen kannte. Er sah Hazel an.

»Haben wir die genehmigt?«

»Wer weiß?« fragte Hazel und funkelte die kolossalen Brüste der Figur an, die sie darstellen sollte. »Wir haben die verschiedenste Verträge unterschrieben. Ich habe den Überblick verloren.«

»Sie sind eigentlich ganz harmlos«, fand Owen. »Billig, aber harmlos.«

»Was auch immer, wir sollten der Sache jedenfalls auf den Grund gehen«, sagte Hazel. »Dieser Markt soll verdammt viel Knete abwerfen, und falls das zutrifft, möchte ich meinen Anteil einstreichen. Welche soll Ruby darstellen?«

»Ah, die mit den ganzen Knarren«, sagte der Reporter.

»Sieht ihr gar nicht ähnlich«, meinte Hazel. »Und sie könnte gar nicht so viele Waffen auf einmal tragen. Sie würde umkippen. Mit Brüsten dieses Formats täte sie es wahrscheinlich sowieso. Verdammt, niemand hat solche Brüste, der nicht zum Hau s der Freuden gehört.«

»Kursiert viel von diesem Zeug?« erkundigte sich Owen und gab dem Reporter die Spielsachen zurück.

»Nun, ja, Sir Todtsteltzer. Dazu gehören Imbißschachteln, Poster, Spiele… Diese hier sind zur Zeit sehr populär.«

Er grub in der Tasche herum, die er mitführte, und brachte zwei dreißig Zentimeter lange Puppen von Owen und Hazel zum Vorschein. Die Kleidung stimmte einigermaßen, wenn auch nicht die Gesichter, und wenigstens die Proportionen entsprachen schon eher der menschlichen Norm. Der Reporter drückte Sprechtasten auf den Rückseiten. Die Owenpuppe sagte: »Kämpft für die Gerechtigkeit!« Die Hazelpuppe sagte:

»Töten! Töten! Töten!« Irgendwie gelang es Hazel, sich zu beherrschen. Sie hatte gelernt zu erkennen, wenn man sie provozieren wollte. Owen brachte genügend Verstand auf, sein ansatzweises Gelächter in ein nicht ganz überzeugendes Husten umzuwandeln. Der enttäuschte Reporter beschloß, daß jetzt Zeit wurde, seine Trumpfkarte auszuspielen. Falls er Hazel damit nicht in Fahrt brachte, wollte er seinen Gewerkschaftsausweis fressen. Er steckte die Puppen in die Tasche zurück und holte beiläufig die letzten Posten hervor.

»Und dann gibt es natürlich noch die.« Er hielt zwei knuddelige Plüschfiguren in Owen- und Hazelkostümen hoch.

»Eine Plüschfigur?« fragte Hazel in einem Ton, der eine unmittelbar bevorstehende Kernschmelze ankündigte. »Sie haben eine Plüschfigur aus mir gemacht?«

Alle hielten die Luft an und überlegten sich, in welche Richtung sie fliehen wollten, sobald ihnen die Scheiße um die Ohren flog. Die Kameras würden weiterhin die optimalen Bilder für sie machen. Vorausgesetzt, sie überlebten, was an Entsetzlichem geschah. Und dann griff Owen nach den Plüschfiguren und nahm je eine in beide Hände.

»Ich finde sie ganz niedlich.«

»Du magst diese Monstrositäten?« fragte Hazel.

»Na ja, ich möchte mir nicht unbedingt eins davon aufs Kopfkissen legen, aber ich möchte definitiv etwas davon haben. Wir sprechen hier von bedeutsamen Einkünften.«

Hazel beruhigte sich sichtlich, als sie darüber nachdachte.

»Ja. Möglich. Die Kleinen sind ganz verrückt nach solchem Mist. Ein gutes Weihnachtsgeschäft, und wir könnten für den Rest unseres Lebens ausgesorgt haben.«

Owen lächelte innerlich. Im Zweifel konnte man Hazel immer ablenken, indem man Geld zur Sprache brachte.

Die Reporter gelangten widerwillig zu dem Schluß, daß doch nichts passieren würde, und seufzten lautlos und enttäuscht.

Einige riefen sogar ihre Kameras zurück. Der Provokant nahm mürrisch seine Plüschfiguren zurück, stopfte sie wieder in den Sack und fragte sich, ob er alle Quittungen aufbewahrt hatte, um sein Geld zurückzufordern. Alle gingen allmählich auseinander. Und dann tauchte der Parlamentsbevollmächtigte auf, und die ganze Situation ging zum Teufel.

Es war alles in allem ein recht typischer Bevollmächtigter.

Ein Emporkömmling aus dem öffentlichen Dienst, über alle Erwartungen hinaus befördert, da einfach nicht genug Leute vorhanden waren, auf die man zurückgreifen konnte. Er versuchte, alle Welt zu überzeugen, daß er so wichtig war wie die Meldungen und Anweisungen, die er überbrachte. Dieser spezielle Bursche war weit über seine Verhältnisse gekleidet, gekrönt von der traditionellen roten Schärpe eines Kuriers und einer entschieden pampigen Einstellung. Die Reporter wichen zurück, als er heranmarschierte und sich vor Owen und Hazel aufbaute. Er reckte die Nase hoch in die Luft und funkelte die beiden an, nur um sie an ihren tatsächlichen Platz in der Ordnung der Dinge zu erinnern, und ließ dann seine vorbereitete Ansprache vom Stapel, ohne sich die Mühe zu machen und sich ihnen vorzustellen.

»Sir Todtsteltzer, Miss d’Ark, Ihr erhaltet hiermit den Befehl, Euch zur abendlichen Sitzung des Parlaments einzufinden und über Euren Einsatz auf Virimonde Bericht zu erstatten. Das Parlament möchte bereits im voraus sein äußerstes Mißfallen darüber ausdrücken, daß Ihr nicht nur keinen der aufsässigen Lords lebendig zurückgebracht habt, sondern Euch auch der höchst verabscheuungswürdige Schurke Valentin Wolf vollständig entkommen konnte. Man erwartet von Euch, diese Fehlschläge umfassend zu erläutern. Des weiteren könnt Ihr jeden Bonus vergessen.«

Alle Kameras zoomten sich wieder auf die Szene ein. Die Reporter erkannten schließlich einen heraufziehenden Sturm, wenn sie ihn sahen. Deshalb entschied sich Owen, vernünftig mit dem Mann zu reden – nur, um sie zu ärgern.

»Wir haben den abscheulichen Praktiken auf Virimonde ein Ende bereitet«, erklärte er nachsichtig. »Das Haus der Gebeine existiert nicht mehr. Die Toten wurden gerächt. Und wir haben eine höchst gefährliche Intrige gegen das Imperium im Keim erstickt. Nicht schlecht für einen Arbeitstag.«

Der Bevollmächtigte schniefte. Es war ein lautes, arrogantes und vollkommen unausstehliches Geräusch. Er übte es anscheinend gründlich. »Es zählt nur, daß Ihr es verabsäumt habt, die Forderungen des Parlaments zu erfüllen. Was Ihr über Eure Instruktionen hinaus getan oder nicht getan habt, ist gänzlich bedeutungslos.«

Owen und Hazel sahen sich an. »Nach dir«, sagte Hazel großzügig.

»Danke«, sagte Owen. Er trat vor, lächelte den Parlamentsdiener an und schlug ihn bewußtlos. Der bedauernswerte Bursche kippte der Länge nach auf den unnachgiebigen Asphalt der Landefläche und zuckte lautlos. Owen lächelte die Reporter an. »Man muß einfach wissen, wie man mit solchen Leuten redet. Haben alle ihre Bilder gemacht, oder soll ich ihn aufheben und es wiederholen?«

Die Reporter sagten, sie hätten gleich beim ersten Mal alles prima im Kasten gehabt, vielen Dank auch, und feuerten dann Fragen auf Owen und Hazel ab, Fragen nach diesen neuen Einzelheiten ihres zurückliegenden Einsatzes. Insbesondere verlangte es sie zu erfahren, was zum Teufel diese Haus-der-Gebeine-Intrige gewesen war und was der berüchtigte Valentin Wolf damit zu tun gehabt hatte. Das Gruppeninterview degenerierte rasch zu einem Angebotskrieg um die Exklusivrechte an der kompletten Geschichte. Es kam zu Schlägereien zwischen den Reportern, und Owen und Hazel nutzten die Chance zu einem leisen Abgang. Der Bevollmächtigte regte sich allmählich wieder, also trat ihm Hazel an eine besonders empfindliche Stelle, nur aus grundsätzlichen Erwägungen.

»Wißt Ihr, man könnte eigentlich glauben, sie hätten inzwischen gelernt, eine Körperpanzerung zu tragen«, sagte Owen.

»War wohl ein neuer.«

»Nun, falls er sich nicht schnell bessere Manieren aneignet, wird er nie zum alten werden. Wartet mal; ich möchte nur nachsehen, ob er irgendwelche schriftlichen Befehle mitführt.«

Owen kniete neben dem leise stöhnenden Mann nieder und filzte ihn gründlich. Er brachte einen Satz versiegelter Befehle mit seinem Namen darauf zum Vorschein. Hazel runzelte die Stirn.

»Das ist noch so ein Punkt. Wie kommt es, daß mein Name nie auf diesen Dingern steht?«

»Das würden sie nicht wagen«, sagte Owen. Er brach das Wachssiegel, las die kurze Nachricht durch, die modisch mit echtem Füller und Tinte geschrieben war, und machte ein finsteres Gesicht. »Verdammt! Sie haben eine weitere Parade für uns organisiert. Gleich jetzt auf unserem Weg ins Parlament.

Ich hasse Paraden.«

»Na ja, die Leute lieben sie aber.« Hazel zuckte die Achseln, während Owen aufstand und die Befehle auf die Brust des Bevollmächtigten fallenließ. »Das ist doch keine große Sache, Owen. Lächle einfach und winke und bemühe dich, eine heroische Figur zu machen. Und denk daran, man erwartet von dir, die Babies zu küssen und ihnen den Kopf zu tätscheln. Nicht einen spontanen Exorzismus durchzuführen, mit der Begründung, eines wäre übernatürlich häßlich

Owen kicherte. »Ich hatte mich nur gelangweilt. Ihr mögt diesen ganzen Mist mit den öffentlichen Feiern, aber ich wünschte mir, alle würden verschwinden und mich in Ruhe lassen. Ich mag keine Menschenmassen. Ich mag es nicht, wenn man mich anstarrt. Und es ist mir zuwider, Autogramme zu geben. Letztes Mal hat meine Hand eine Woche lang weh getan.«

»Entspanne dich einfach und genieße es. Wir haben das alles verdient. Sollen sie uns ruhig verehren, wenn sie möchten.«

»In Ordnung, bringen wir es hinter uns«, sagte Owen resigniert. »Dann können wir dem Parlament Bericht erstatten, eine Menge dummer und überflüssiger Fragen beantworten und es uns heroisch verkneifen, einen ganzen Haufen Leute zu erschießen, die einfach zu dumm fürs Leben sind. Vielleicht erlauben sie uns dann, nach Hause zu gehen und endlich mal eine Runde zu pofen.«

»Richtig«, pflichtete ihm Hazel bei. »Ich könnte eine Woche lang schlafen.«

»Er hatte recht, wißt Ihr?« sagte Owen. »Es war nicht gerade unser erfolgreichster Einsatz.«

»Still, Owen«, entgegnete Hazel. »Dein Volk wurde gerächt.

Laß es damit bewenden. Jetzt sollten wir lieber gehen. Unsere Verehrer warten.«

Sie gab ihm einen Klaps auf die Schulter und ging voraus, von der Landefläche hinunter. Owen folgte ihr, und auf dem ganzen Weg waren ihm die Füße schwer. Die Organisatoren der Parade waren so aufmerksam gewesen, einen Gravschlitten für sie bereitzustellen, und Owen und Hazel schwebten die Hauptstraße entlang, gerade hoch genug, um außer Reichweite der Hände zu sein, die ihnen die Menge entgegenstreckte. Früher war es zu bedauerlichen Zwischenfällen gekommen, als Hazel eine verständliche, aber beklagenswert gewalttätige Art des Umgangs mit Fans entwickelte. Danach entschied man, daß es für alle Beteiligten sicherer wäre, die Helden der Menge außer Armreichweite zu halten.

Owen lächelte und winkte wie ein Automat und ging nach besten Kräften auf Distanz zu Lärm und Chaos, indem er sich auf den Bericht konzentrierte, den er dem Parlament vortragen wollte. Vor einer Menschenmenge hatte er sich noch nie wohl gefühlt. Wenn ihn Menschen anstarrten, wurde er nervös und befangen. In seinem früheren Leben hatte er sich einmal vor einer Rede, die er vor einer Versammlung von Geschichtsgelehrten halten sollte, so lange auf der Toilette eingeschlossen, daß man jemanden schickte, der sich erkundigte, ob es ihm auch gutginge. Heute hätte es anders sein sollen. Er war ein Mann mit Macht und Bestimmung. Alle behaupteten es. Er hatte sich den Weg durch ganze imperiale Armeen hindurch freigekämpft und nie einen Augenblick gezögert.

Es machte keinen Unterschied. Er verabscheute es immer noch, wenn man ihn anstarrte.

Ihm half auch nicht, daß Hazel richtig Spaß an der Sache hatte und winkte und lächelte und sich hin und her drehte, damit jeder sie gut zu sehen bekam. Eine ganze Gruppe von Hazel-Doppelgängern sang ihren Namen und kreischte jedesmal ekstatisch, wenn Hazel in ihre Richtung blickte. Einige waren sogar Frauen. Jemand warf ihr eine langstielige Rose zu. Sie fing sie geschickt auf, ohne sich an den Dornen zu stechen, und warf dem Verehrer eine Kußhand zu. Die Menge liebte das.

Owen gab vor, er hätte es nicht bemerkt, während er gleichzeitig mürrisch zur Kenntnis nahm, daß niemand Rosen nach ihm warf. Nicht, daß er sich welche gewünscht hätte! Es ging nur ums Prinzip.

Überall ringsherum ging der Wiederaufbau voran. Häuser, Geschäfte und Büros, die in der letzten großen Schlacht in der Stadt beschädigt oder zerstört worden waren, wurden repariert.

Arbeiter, die in Gravschlaufen hoch an den Gebäudeflanken tätig waren, lehnten sich gefährlich weit aus ihren Geschirren, um Hazel derbe Bemerkungen zuzurufen. Sie schrie noch derbere zurück. Sie liebten es! Kameras zuckten darüber hin und her und rempelten sich gelegentlich im Kampf um die besten Blickwinkel.

Owen lächelte, bis ihm die Kiefer schmerzten – und behielt ständig voller Argwohn die unfertigen Gebäude der Umgebung im Auge, um auf mögliche Heckenschützen zu achten. Die Anbetung der Menge war ja gut und schön, aber vielen Leuten da draußen wäre es nur recht gewesen, Owen und Hazel tot zu sehen, wofür es die verschiedensten Gründe gab. Außerdem konnte ihn die Verherrlichung durch die Menge nicht täuschen.

Er wußte, was teilweise dahintersteckte. Bei so vielen Toten auf beiden Seiten waren zum ersten Mal überhaupt Spenderorgane für jedermann erhältlich. Sogar in Anbetracht langer Wartelisten hatten nun Menschen eine neue Hoffnung, die früher hätten sterben müssen. Und all das wegen der vielen Toten, die auf Owen und Hazel zurückgingen.

Die öffentliche Bewunderung wies auch einen noch dunkleren Aspekt auf. Inspiriert von Owens und Hazels übermenschlichen Fähigkeiten, sahen sich viele Menschen bewegt, sich mit allen erdenklichen Mitteln zu »verbessern«. Diese LabyrinthMöchtegerne stürzten sich auf Blut, Techimplantate und Transplantationschirurgie, mit einer Begeisterung, die ans Makabre grenzte. Owen war nicht damit einverstanden und gab sich Mühe, den Trend im Auge zu behalten. Er hatte die Menschheit nicht vor Imperatorin Löwenstein gerettet, um mitzuerleben, wie sich alle in Miniatur-Hadenmänner verwandelten.

Die Parade schien sich ewig hinzuziehen, aber endlich erreichte sie das jahrhundertealte Bauwerk, das Sitz des Parlaments war. Da seit Jahrhunderten niemand mehr das Parlament ernstgenommen hatte, stand das große eckige Bauwerk heute in einem normalerweise ruhigen Bezirk, an dem die Kämpfe und die allgemeine Zerstörung zum großen Teil vorübergegangen waren. Die hohen Steinmauern waren von dicken Efeumatten überwachsen, die niemand je zu stutzen wagte, weil durchaus die Möglichkeit bestand, daß nur noch der Efeu das alte Mauerwerk zusammenhielt.

Als Owen und Hazel aus dem Gravschlitten stiegen und ins Foyer des alten Bauwerks eilten, traten Soldaten hinzu, um die Menge zurückzuhalten. Die großen Eichentüren schlossen sich nachdrücklich hinter den beiden Helden, und Owen stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Sich dem zweifellos feindselig gestimmten Parlament zu stellen, das bekümmerte ihn nicht annähernd so stark wie eine hysterische Menschenmenge, die brüllte, daß sie ihn liebte und von ihm Kinder haben wollte.

Bereitstehende Diener verneigten sich und führten Owen und Hazel in die große Vorhalle, wo alle, die etwas mit dem Parlament zu besprechen hatten, mit mehr oder weniger viel Geduld darauf warteten, daß die abendliche Plenarsitzung begann. Das Parlament lockte noch mehr Möchtegerne der Macht an als früher Löwensteins Hof nicht zuletzt, weil das Parlament Antragsteller nicht gleich umbrachte, falls es der Meinung war, daß sie dort nichts verloren hatten. Es langweilte sie höchstens zu Tode.

Alle Welt wußte, daß das Parlament die Alltagsgeschäfte des Imperiums mehr oder weniger zufällig geerbt hatte. Alle übrigen in Frage kommenden Instanzen bekämpften sich dermaßen untereinander, daß sie sich wechselseitig neutralisierten. Bislang tat das Parlament seine Arbeit auch nicht schlechter, als von jeder anderen Institution zu erwarten gewesen wäre. Die zweihundertfünfzig Abgeordneten waren von den Bürgern gewählt, die ein jährliches Mindesteinkommen erzielten und mit solchen Dingen behelligt werden konnten, hatten aber seit Jahrhunderten keine echte Macht mehr ausgeübt. Sie reagierten mit unterschiedlicher Begeisterung auf den neuen Status. Manche stürzten sich genußvoll in die Arbeit, entschlossen zu zeigen, was sie konnten, wenn man ihnen nur eine Gelegenheit gab. Andere schreckten merklich schon vor dem Gedanken zurück, tatsächlich für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, und verkrochen sich so tief in ihre Schneckenhäuser, daß man sie mit nichts mehr daraus hervorlocken konnte. Die meisten boten ihre Dienste fröhlich dem Meistbietenden an. Einige gingen dazu sogar an die Börse. Sicherlich herrschte keinerlei Mangel an Organisationen, Fraktionen und mächtigen Einzelpersonen, die Einfluß auf die Abgeordneten zu nehmen versuchten; tatsächlich waren es sogar so viele, daß bewaffnete Posten im und um das Parlament aufziehen mußten, um die Ordnung zu wahren. Besonders bei Haushaltsdebatten.

Außerhalb des Parlaments nahm die Lage inzwischen wirklich gewalttätige Züge an. Diverse Gruppierungen hatten zu spät erkannt, daß sich das Parlament des einzig wichtigen politischen Instrumentariums bemächtigt hatte, und waren dazu übergegangen, ihre Streitigkeiten mit brutaler Gewalt auszutragen. Die Zahl der Toten stieg täglich, während Schwerter, Schußwaffen, Bomben und Gift entschieden, wer aktuell die Oberhand hatte. Die Behörden versuchten inzwischen gar nicht mehr, die Ordnung zu wahren, außer während der Stoßzeiten morgens und abends. Beide Seiten gingen großzügig mit dem Wort Terroristen um, während sie jeweils selbst Greueltaten planten. Owen und Hazel hatten darüber nachgedacht, sich einzumischen und eine Menge Leute umzubringen, bis die anderen endlich begriffen, aber Jakob Ohnesorg hatte es ihnen in aller Stille ausgeredet. Niemand wollte diesen Gruppierungen den einzigen Grund liefern, sich zusammenzuschließen, nämlich die Ermordung von Owen Todtsteltzer und Hazel D’Ark.

Als einzigen echten Konkurrenten des Parlaments in der Funktion einer regierenden Körperschaft konnte man die laufenden Kriegsverbrecherprozesse anführen, die von den Führungspersönlichkeiten der verschiedenen Untergrundbewegungen geleitet wurden. Unter Löwensteins korrupter Herrschaft waren Greueltaten jeder Art alltäglich geworden. Leute verschwanden einfach aus einem beliebigen oder gar keinem Grund und tauchten nie wieder auf. Folter und Mord waren unter der Eisernen Hexe alltägliche Aufgaben der Staatspolitik.

Als die Rebellenführer nach dem Sturz der Herrscherin die Palastunterlagen in die Hand bekamen, wurden die Namen dieser üblen Folterknechte und Mörder bekannt, und die lange erwartete Vergeltung nahm ihren Lauf. Die Untergrundbewegungen brachten die Gesichter dieser Leute mitsamt Adressen auf die Holoschirme, und man zerrte die Übeltäter aus ihren Luxuswohnungen oder jagte sie auf den Straßen. Viele fanden ein blutiges und scheußliches Ende, und die übrigen stellten sich eilig den Behörden. Nach wie vor glaubten sie, Absprachen treffen zu können, indem sie sich gegenseitig verrieten, und erkannten zu spät, daß man ihnen auch nicht mehr Gnade erweisen würde, als sie es ihren zahllosen Opfern gegenüber getan hatten. Die Kriegsverbrecherprozesse begannen nur Stunden nach Löwensteins Sturz und wurden täglich in voller Länge über Holovision ausgestrahlt, damit die Leute verfolgen konnten, wie Gerechtigkeit geübt wurde. Die Verfahren zogen sich endlos hin, und es schien keinen Mangel an Beschuldigten zu geben, egal wie schnell die Gerichte sie an den Galgen schickten. Die öffentlichen Hinrichtungen lockten riesige, meist stille Menschenmengen an, als müßten die Leute die Verbrecher selbst sterben sehen, um zu glauben, daß es tatsächlich geschah.

Die Gerichte veröffentlichten so schnell wie möglich Einzelheiten über das Schicksal der Opfer. Es waren halt nur so viele.

Das Parlament verfolgte die Kriegsverbrecherprozesse mit mehr als nur ein bißchen Eifersucht. Das lag sowohl an der Macht, die sie ausübten, als auch an der öffentlichen Aufmerksamkeit, die sie von den Parlamentsdebatten ablenkten. Die Abgeordneten waren jedoch zu klug, um sich einzumischen.

Mehr noch als Gerechtigkeit benötigte das Volk Rache.

Owen und Hazel erreichten die große Halle, den letzten Raum vor dem eigentlichen Plenarsaal. In den letztgenannten führte eine alte, massive Eichentür, die, einer alten Tradition folgend, immer nur von innen geöffnet wurde. Die Abgeordneten nutzten dieses Privileg, um die Leute so lange wie möglich warten zu lassen und sie damit an ihren Platz in der neuen Ordnung zu erinnern – eine von Löwenstein entlehnte Praxis, obwohl man das natürlich nie laut aussprach. Wie immer war die große Halle gedrängt voll, und es herrschte ein betäubender Lärm. Jeder suchte nach Kontakt, um ein neues Abkommen zu treffen oder über eine neue Gelegenheit zu reden. Holographien waren nicht zugegen; jeder mußte persönlich anwesend sein. In der heutigen Zeit der Klone, Fremdwesen und jener falschen Vertreter, die man Furien nannte, wußte man gern, mit wem man sprach. An versteckten Stellen waren ESP-Blocker installiert, damit alle ehrlich blieben, und zum Teufel damit, falls es die Esper schockierte.

Als Owen und Hazel eintraten, erstarrte alles. Aller Augen richteten sich auf sie, und das Geschnatter erstarb rasch vollständig. Owen und Hazel blickten sich in der Stille gelassen um und senkten höflich die Häupter. Aller Augen wandten sich wieder ab, und das Gebrabbel der Gespräche nahm seinen Fortgang. Niemand wünschte, mit dem Todtsteltzer und der d’Ark zu konversieren. Es wäre unsicher gewesen. Aus den verschiedensten Gründen. Owen und Hazel gingen ohne Eile in die Halle hinein, und jedermann machte ihnen Platz.

»Der übliche warmherzige Empfang«, stellte Owen fest und scherte sich nicht darum, ob jemand mithörte.

»Undankbare Bastarde«, sagte Hazel und sah sich hoffnungsvoll um, ob nicht einer der Anwesenden so dumm war, sich beleidigt zu geben.

»Sie haben wirklich Gründe, uns nicht zu mögen«, sagte Owen leiser. »Helden und Rollenvorbilder sollten rein und makellos sein. Ich fürchte, wir haben uns in dieser Hinsicht als enttäuschend erwiesen.«

»Mir blutet das Herz«, sagte Hazel. »Ich habe nie behauptet, ich wäre eine Heldin. Es fehlt nicht viel, und ich gehe fort, und das Parlament kann seinen Bericht in den Wind schreiben.

Verdammt, es fehlt kaum mehr, und ich brenne das Haus nieder, ehe ich gehe.«

»Sachte, sachte«, murmelte Owen und lächelte unbekümmert, damit es jeder sehen konnte. »Zeigt Euren Widerwillen nicht. Sie würden es als Zeichen der Schwäche betrachten.«

Hazel schniefte. »Wenn mich jemand als schwach betrachtet und versucht, daraus einen Vorteil zu schlagen, kann er seine Innereien gleich im Eimer mit nach Hause tragen.«

»Nehmt die Hand vom Schwert, verdammt! Ihr könnt hier niemanden umbringen. Duelle sind verboten. Trefft nur Anstalten, das Schwert zu ziehen, und ein halbes Hundert Wachtposten tauchen aus allen Ritzen auf. Auch für uns wird da keine Ausnahme gemacht. Ich wünschte wirklich, Ihr würdet Euch über die Veränderungen hier auf dem laufenden halten.«

»Ach, weißt du, du liebst es wirklich, mir bei jeder Gelegenheit eine Rede zu halten. Außerdem würde ich mit einem halben Hundert Wachen fertig.«

Owen seufzte. »Ja, das würdet Ihr wahrscheinlich, aber das ist nicht der Punkt. Wir versuchen, einen guten Eindruck zu machen.«

»Seit wann?«

»Seit wir es wiederum nicht geschafft haben, Valentin Wolf vor Gericht zu bringen.«

Hazel zuckte die Achseln. »Ist es okay, wenn ich jemanden nur halb umbringe?«

»Falls Ihr müßt. Versucht nur, es zu tun, während die Holokameras gerade nicht hinsehen. Wir können wirklich nicht noch mehr schlechtes Ansehen gebrauchen.«

Hazel sah sich um. »Ich denke nicht, daß ich hier je so viele Kameras gesehen habe. Entweder hat das Parlament heute etwas wirklich Interessantes auf dem Programm, oder jemand hat Bescheid gesagt, daß wir kommen. Hallo, ich entdecke da ein vertrautes Gesicht!«

Und sie stürzte sich in die Menge und drängte die Leute mit der Schulter zur Seite, wenn sie nicht rechtzeitig Platz machten. Owen folgte ihr und murmelte unterwegs höfliche Entschuldigungen. Daran gewöhnte er sich immer mehr. Das vertraute Gesicht erwies sich als das von Tobias Shreck, wie immer in Gesellschaft seines Kameramanns Flynn. Owen folgte Hazels Beispiel und begrüßte die beiden, und lächelte zum ersten Mal aufrichtig, seit er die Halle betreten hatte. Toby Shreck hatte schon im Verlauf der Rebellion als Reporter gearbeitet und dabei eine unheimliche Begabung demonstriert, immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort aufzutauchen, Flynn stets eng im Gefolge, um alles live zu übertragen. Sie hatten viele der Kämpfe von Owen und Hazel gesendet und waren sogar zugegen gewesen, als die Rebellen schließlich die Imperatorin Löwenstein stürzten und den Eisernen Thron für immer zerstörten.

Toby sah größtenteils aus wie immer, ein schwitzender Fettkloß mit geschniegeltem blonden Haar, den man leicht zum Lächeln bringen konnte. Er trug modische Kleidung von allerfeinstem Zuschnitt, so geschneidert, daß sie so viel wie möglich von seiner Leibesfülle verbarg. Passen tat sie ihm allerdings nicht. Er war mehr die Lässigkeit von Kampfanzügen gewöhnt, und das zeigte sich. Flynn war von der hochgewachsenen, schlaksigen Art mit täuschend ehrlichem Gesicht. Als ruhiger Typ neigte er dazu, bei der Arbeit mit der Umgebung zu verschmelzen, ein nützlicher Wesenszug, wenn die anderen Leute in der Gegend wild herumballerten.

Sein Privatleben war eine gänzlich andere Geschichte.

»Du siehst aber gut aus, Toby«, sagte Hazel vergnügt und stach verspielt mit dem Finger in seinen fälligen Leib. »Hast wohl ein paar Pfunde verloren, wie?«

»Ich wünschte, es wäre so«, antwortete Toby. »Seit ich zugelassen habe, daß sie mich ins Management beförderten, sitze ich immer nur hinter dem Schreibtisch, statt vor Ort zu arbeiten, wo ich hingehöre.«

»Rede lieber nicht so«, warf Flynn ruhig ein. »Bei deinen Einsätzen vor Ort hast du immer nur gejammert und geschimpft, was du alles an Komfort vermißt.«

Toby funkelte ihn an. »Eine unverblümte Ausdrucksweise dieser Art ist dafür verantwortlich, daß du nach wie vor als Kameramann arbeitest, während ich jetzt im Management sitze. Und wenn du mir noch einmal öffentlich widersprichst, weise ich jemanden in der Buchhaltung an, einmal genau unter die Lupe zu nehmen, was du letztes Jahr alles an Spesen abgerechnet hast.«

»Tyrann«, beschwerte sich Flynn.

»Ihr seht wirklich schick aus, Toby«, warf Owen rasch ein, ehe die beiden ihr übliches Gezänk fortsetzen konnten. »An vorderster Front der Mode.«

»Fangt bloß nicht damit an«, entgegnete Toby. »Ich weiß genau, wie ich aussehe. Wieso, denkt Ihr, habe ich früher immer eine Kampfuniform getragen? Jedesmal, wenn ich gute Sachen anziehe, sehe ich so aus, als hätte ich sie gestohlen.«

»Und was sucht das Management hier?« fragte Hazel. »Das Parlament plant etwas Besonderes, nicht wahr? Vielleicht etwas, wovon wir erfahren sollten?«

»Richtig«, sagte Owen. »Was könnt Ihr uns Neues erzählen?«

»Bände«, antwortete Toby blasiert. »Dieses eine Mal tappe ich jedoch genauso im Dunkeln wie Ihr. Ich bin eigentlich nur gekommen, weil ich das dringende Bedürfnis hatte, mal eine Zeitlang in die wirkliche Welt hinauszugehen. Ich habe mich in letzter Zeit richtig gelangweilt, um die Wahrheit zu sagen. Alles hat sich verändert. Meine Arbeit mit Flynn aus der Zeit der Rebellion wird schon als klassisch gefeiert, und man kann sich darauf verlassen, daß die Aufnahmen zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt auf irgendeinem Sender laufen. Die Öffentlichkeit bekommt nicht genug davon. Die Tantiemen rollen schneller an, als ich sie ausgeben kann. Soviel Geld, daß nicht mal die Buchhalter der Firma alles verstecken können. Flynn und ich müssen nie wieder arbeiten, wenn wir nicht möchten. Aber…«

»Ja?« hakte Hazel nach.

»Wir sind zu jung für den Ruhestand«, sagte Flynn. »Ich wüßte nicht, was ich mit mir anfangen sollte.«

»Richtig«, pflichtete Toby ihm bei. »Und ich werde irgendwie den schrecklichen Verdacht nicht los, daß ich die beste Arbeit meines Lebens womöglich schon erbracht habe. Daß alles, was ich jetzt noch tue, zwangsläufig in die zweitbeste Kategorie fällt. Für mein Alter ein scheußliches Gefühl! Ich brauche eine richtige Story, etwas, woran ich mich festbeißen kann. Etwas, was zählt! «

»Wir bauen zur Zeit ein komplettes Imperium neu auf, praktisch von Grund auf«, sagte Owen. »Unsere ganze politische und soziale Ordnung ändert sich täglich. Ich kann mir nicht vorstellen, daß da keine Story auf Euch wartet, die es wert wäre, gebracht zu werden.«

»Oh, es herrscht kein Mangel an Nachrichten! Zeugen der Geschichte und all sowas. Aber das ist alles so verdammt achtbar und offen und ehrlich und langweilig. Wo bleibt der Spaß?

Wo das Drama? Sogar die Schurken sind heutzutage zweitklassig.«

»Nein«, erwiderte Owen. »Das finde ich nicht. Valentin Wolf treibt sich immer noch irgendwo herum.«

»Ah ja«, sagte Toby. »Ich habe schon gehört, daß Ihr eine weitere Auseinandersetzung mit ihm hattet. Ich freue mich schon auf Euren Bericht darüber. Wenigstens seid Ihr beide noch da und schlagt Wellen. Alle anderen sind weitgehend abgetaucht. Jakob Ohnesorg befaßt sich zu intensiv mit Politik, um noch in echte Schwierigkeiten zu geraten, und Ruby Reise verläßt nur noch selten ihr Haus. Obwohl geflüstert wird, daß beide womöglich heute hier auftreten. Vielleicht ist ihnen etwas zu Ohren gekommen. Gott, ich habe tolle Aufnahmen von Euch vieren im Einsatz während der Rebellion, Bilder, die noch nicht das Tageslicht erblickt haben! Vielleicht, wenn wir alle gestorben und in Sicherheit sind…«

»Ja«, sagte Hazel. »Vielleicht. Ich denke jedoch, daß bis dahin manche Dinge geheim bleiben sollten. Die Leute müssen nicht alles erfahren, was passiert ist.«

Alle nickten dazu. Niemand sprach von dem falschen Jungen Jakob Ohnesorg, der sich als Kyborg im Dienst der abtrünnigen KIs von Shub entpuppt hatte. Alle wußten jedoch, daß sie gerade gemeinsam an den Augenblick dachten, in dem Flynns Kamera die Demaskierung der Maschine aufzeichnete. Und noch weitere, dunklere Geheimnisse lagen vor. Die Rebellion war nicht annähernd so einfach verlaufen, wie die meisten Leute dachten.

»Also«, sagte Toby forsch und beendete damit den Augenblick der Verlegenheit, »hat jemand von Euch noch mal über mein Angebot nachgedacht, offizielle Dokumentationen von Eurem Leben anzufertigen? Über die Texte braucht Ihr Euch keine Gedanken zu machen; dafür haben wir Leute. Sprecht einfach in einen Recorder, und wir arrangieren das Material und graben Aufnahmen aus, die wir dazu einspielen. Wir können auch Verbindungen fälschen, um Dinge zu überbrücken, über die Ihr nicht sprechen wollt. Ihr braucht nicht mehr zu tun, als die abschließenden Aufnahmen zu kommentieren. Leichtverdientes Geld. Verdient es Euch, solange das Eisen heiß ist.

Wer weiß, wie lange sich die Leute noch für Euch interessieren?«

»Je früher alle das Interesse an uns verlieren, desto besser«, fand Hazel. »Keine Biographien, Toby. Wir haben ohnehin schon wenig genug Privatsphäre. Außerdem ist viel von meiner Lebensgeschichte ohnehin nicht für ein Massenpublikum geeignet.«

»Das glaube ich gern«, sagte Owen. »Wechseln wir doch lieber rasch das Thema. Wie steht es um Euer Leben, Toby? Tut Ihr irgendwas Interessantes?«

»Er?« Flynn schniefte laut. »Er hat außer seinem Beruf gar kein Leben. Kommt als erster, geht als letzter und nimmt noch Arbeit mit nach Hause. Typisch Manager. Ich bleibe immer nur für die tarifliche Stundenzahl, und sobald ich mich erst ausgestempelt habe, denke ich nicht mal mehr an die Arbeit, bis ich mich morgens wieder einstemple. Du hättest einfacher Arbeiter wie ich bleiben sollen, Boß. Viel weniger Druck.«

»Du warst nie ehrgeizig«, sagte Toby.

»Verdammt richtig, und ich bin stolz darauf. Mit Ehrgeiz bringt man sich nur in Schwierigkeiten, und er frißt das ganze Leben auf. Wie kommt es, daß du Säcke unter den Augen und beginnende Magengeschwüre hast, während ein wundervoller neuer Liebhaber in mein Leben getreten ist?« Flynn strahlte Owen und Hazel an. »Ihr müßt wirklich mal zu Besuch kommen und ihn kennenlernen! Er heißt Reinhold, Reinhold Vomwalde. Betreibt Recherchen für den Abgeordneten Johann Avon, eines der wenigen ansatzweise ehrlichen Parlamentsmitglieder. Mein Reinhold leistet natürlich die ganze wirkliche Arbeit, damit Avon im Plenarsaal gut dasteht, aber so ist nun mal der Lauf der Dinge. Reinhold sieht sehr gut aus und ist ein wundervoller Koch. Was er mit einem frischen Braten und ein paar Sorten Gemüse alles anstellt! Problematisch ist nur seine Schuhgröße von fünfundvierzig. Ihr glaubt ja nicht, wie schwierig es ist, Stöckelschuhe zu finden, die ihm passen!«

»Die Liebe scheint dir zu bekommen«, sagte Hazel. »Sie hat dich eindeutig schwatzhaft gemacht.«

»Als ob ich das nicht wüßte«, sagte Toby. »Mir liegt er mit diesem verdammten Reinhold seit Wochen in den Ohren.« Er lächelte Owen und Hazel boshaft an. »Und wie kommt Ihr zwei Turteltauben miteinander klar, hm?«

»Falls Ihr es herausfindet, sagt es mir«, antwortete Owen.

»Wir nehmen jeden Tag, wie er kommt«, versetzte Hazel entschieden. »Wie sieht es mit dir aus, Toby? Jemand Besonderes in Sicht?«

»Ich denke in jüngster Zeit über eine Clanheirat nach«, räumte Toby widerstrebend ein. »Weil ich nicht jünger werde und die Familie mir Druck macht, woher wohl die nächste Generation des Hauses kommen soll. Da sich Onkel Gregor versteckt, Grace eine erklärte alte Jungfer ist und Evangeline die Familie leugnet, endet die Linie so ziemlich bei mir. Aber wer würde schon einen Shreck heiraten? Onkel Gregor hat mit seiner entsetzlichen Art unseren Familiennamen für alle Kreise, auf die es ankommt, in den Dreck gezogen.«

»Aber, aber, Schluß damit, Boß!« sagte Flynn entschieden.

»Du bist Toby der Troubadour, reicher, berühmter und bedeutender Journalist, nicht nur ein Shreck. Arbeit ist ja schön und gut, aber letztlich geht nichts darüber, sich umzutun und ein nettes Mädchen kennenzulernen. Oder einen Jungen. Oder was auch immer.«

Owen war so sehr in den Anblick vertieft, wie Toby vor Verlegenheit hellrot wurde, daß er den näherkommenden jungen Aristo erst bemerkte, als dieser ihn fast schon umrannte. Hazel entdeckte ihn. Es erforderte schon eine Menge, Hazel abzulenken. Sie tippte Owen verstohlen auf den Arm, während sie die andere Hand auf die Pistole an der Hüfte senkte. Owen drehte sich ohne Eile um und hielt den Aristo mit festem Blick und hochgezogener Braue an. Der junge Mann verbeugte sich formgerecht und hielt die Hand ein gutes Stück von dem Schwert an seiner Seite entfernt. Er war gut, aber phantasielos gekleidet, das lange Haar in metallischem Glanz längst aus der Mode. Auf dem gutaussehenden Dutzendgesicht sorgte er für einen bemüht undeutbaren Ausdruck.

»Sir Todtsteltzer, bitte verzeiht, wenn ich Euch belästige, aber hier ist jemand, der Euch gern kennenlernen würde.«

»Das dürfte ihn in dieser Gesellschaft ziemlich einzigartig machen«, sagte Owen gelassen. »Wer könnte es sein?«

»Es ist die Dame Konstanze Wolf. Sie möchte dringend über eine Angelegenheit von beiderseitigem Interesse mit Euch reden. Darf ich Euch zu ihr führen?«

Hazel runzelte die Stirn. »Konstanze Wolf? Ich denke nicht, daß ich sie kenne. In welcher Beziehung steht sie zu Valentin?«

»Technisch ausgedrückt, ist sie seine Mutter«, sagte Owen und ließ den Aristo warten. »Sie hat Valentins Vater Jakob geheiratet, als er schon sehr alt war. Da Valentin auf der Flucht ist, Daniel vermißt wird und Stephanie diskreditiert ist, führt Konstanze den Wolf-Clan heute. Ich bin ihr nie begegnet; kann mir gar nicht denken, was wir womöglich gemeinsam haben.

Trotzdem sollte ich mich lieber erkundigen, was sie möchte.

Man weiß ja nie, wann man vielleicht etwas Nützliches erfährt.«

»Sei vorsichtig«, mahnte ihn Hazel. »Sie ist schließlich eine Wolf.«

Owen grinste, verabschiedete sich mit einem Nicken von Toby und Flynn und gestattete dem zunehmend ungeduldigen Aristo, ihn durch die Menge zu Konstante Wolf zu führen. Wie immer war sie von männlichen Bewunderern umlagert, von den höchsten gesellschaftlichen Kreisen bis zu den bloß superreichen. Konstanze war gerade erst in den Zwanzigern und schon eine atemberaubende Schönheit – auf einem Planeten, der für seine schönen Frauen berühmt war. Sie war groß und blond und hatte den Körperbau und die Grazie einer Göttin.

Trotz des fröhlichen Geschnatters um sie herum blieb ihr Gesicht kühl und unbewegt, und das gelegentliche Lächeln war reine Formsache. Sie blickte auf, als Owen näherkam, und er glaubte für einen Augenblick, in den tiefblauen Augen so etwas wie Erleichterung zu erkennen, während sie sich bei ihren Bewunderern entschuldigte und Owen entgegenschwebte.

Owen verneigte sich, und sie knickste. Dann sahen sie sich für einen Moment gegenseitig an. Ohne den Kopf zu wenden, entließ Konstanze ihren Sendboten mit einem kurzen Wink. Er verbeugte sich steif und entfernte sich widerstrebend, um sich einer kleinen Schar Bewunderer anzuschließen, die sich sofort in eine leise, aber lebhafte Diskussion stürzten, während sie Owen ganz offen mit finsteren Blicken bedachten. Er beschloß, sich nicht um sie zu kümmern, wohl wissend, daß er sie damit am meisten ärgerte. Konstanze seufzte.

»Das ist Percy Wüthrich. Er bewundert mich, und ich nutze es auf skandalöse Weise aus. Aber mir haben seit Jakobs Tod so viele Männer ihre unsterbliche Liebe geschworen, daß es mir schwerfällt, irgend jemanden von ihnen ernst zu nehmen.

Wenn man so reich und gut ausgestattet ist wie ich, dann ist es schon erstaunlich, als wie bewundernswert man sich entpuppt.

Ich habe nur einen Mann jemals geliebt, meinen geliebten Jakob, und sein Tod hat daran nichts geändert. Aber eine alleinstehende Frau kann nicht hoffen, in diesem sich wandelnden Imperium ohne mächtige Freunde und Anhänger lange zu überleben – also dulde ich, daß sie sich um mich sammeln, und belohne sie gelegentlich mit einem Lächeln oder aufmunternden Nicken. Solange sie glauben, daß sie eine Chance bei mir haben, sind meine Feinde auch ihre, woraus sich ein gewisses Maß an Absicherung für mich ergibt, wenn nicht gar Sicherheit. Ich hoffe doch, daß ich Euch mit meiner Offenheit nicht schockiere, Sir Todtsteltzer?«

»Keineswegs«, versicherte ihr Owen, der unwillkürlich bezaubert war. »Eine solche Ehrlichkeit ist heutzutage richtig erfrischend. Vielleicht könntet Ihr damit fortfahren und mir präzise erläutern, was ich für Euch tun kann. Ich gestehe, daß ich mir nicht ganz sicher bin, welche Gemeinsamkeiten Ihr in jemandem erblickt, der geschworen hat, Euren Sohn zu töten.«

»Valentin? Bringt diesen degenerierten Menschen um; Ihr habt meinen Segen dazu. Er hat dem Haus Wolf schon immer Schande bereitet. Ich habe Grund für die Überzeugung, daß er auch den eigenen Vater ermordet hat.«

Owen zog eine Braue hoch. »Das hatte ich noch nicht gehört.

Obwohl ich nicht behaupten kann, daß es mich überrascht. Ich gehe seit eh und je davon aus, daß Valentin zu allem fähig ist.«

»Ich bin heute die Wolf«, fuhr Konstanze fort. »Auch wenn ich nur durch Heirat Familienmitglied geworden bin. Niemand sonst steht zur Verfügung. Es ist jedoch schwer, Oberhaupt eines weitgehend diskreditierten Clans zu sein. Meine Leute sind weiterhin loyal, nicht weniger mir persönlich als der Familie, aber wie lange halten sie noch durch in Anbetracht ständig wachsenden Drucks und von Bestechungssummen, deren Höhe ich nicht kenne? Ich brauche Eure Hilfe, Sir Todtsteltzer.«

»In welcher Hinsicht?« fragte Owen. »Ihr müßt wissen, daß ich bei den derzeitigen Machthabern nicht gerade beliebt bin.

Mein Einfluß ist eng begrenzt. Und falls Ihr nichts weiter wünschen solltet als einen Leibwächter, gestattet mir den Hinweis, daß es ausgezeichnete Kämpfer in beliebiger Zahl gibt, die seit dem Ende der Rebellion Arbeit suchen.«

»Nein, das ist es nicht, was ich von Euch wünsche.« Konstanze runzelte die Stirn und schüttelte langsam den Kopf. »Es fällt mir nicht leicht, Sir Todtsteltzer, also bitte… Seid großzügig und gestattet mir, mich dem Thema auf meine Weise zu nähern.«

»Natürlich. Aber nennt mich doch Owen. Ich habe nie viel auf Förmlichkeiten gegeben.«

Konstanze lächelte kurz. »Das habe ich gehört. Sehr schön. Es erleichtert die Sache. Und Ihr müßt mich Konstanze nennen.« Sie wandte sich kurz ab, ordnete ihre Gedanken und wandte sich mit ruhiger, entschlossener Miene wieder ihm zu.

»Mein Leben… ist nicht so verlaufen, wie ich ursprünglich erwartet hatte. Sicherlich könnt Ihr ein solches Gefühl verstehen. Als ich Jakob Wolf heiratete, erwartete ich, mein Werdegang wäre nun vorgezeichnet: Ich würde Kinder von ihm bekommen, sie für ihn großziehen und für den Rest meines Lebens an seiner Seite stehen. Und dann war er auf einmal tot, ermordet, und meine neue Familie schwankte unter Schlägen, die ihr ein ums anderemal versetzt wurden. Und ich… stand allein da, mußte selbst die Verantwortung übernehmen. Dafür war ich nicht gerüstet. Allerdings ist es erstaunlich, was man leisten kann, wenn man sich dazu gezwungen sieht. Ich lernte durch die Praxis. Und ich entwickelte mich rasch, denn die Alternativen lauteten auf Armut oder Tod oder gar beides. Das machte mich stärker. Es machte mich auch hart und rücksichtslos, eine Entwicklung, die ich nicht recht einzuschätzen weiß.

Seht Ihr, Owen, wir haben letztlich doch viel gemeinsam. Deshalb möchte ich auch, daß Ihr mich heiratet.«

Owen starrte sie an. Er war überzeugt, daß sein Mund offenstand, aber er schien nicht in der Lage, etwas daran zu ändern.

Was immer er auch erwartet hatte, als er beiläufig zu Konstanze hinübergeschlendert war, dergleichen war es nicht gewesen, verdammt sicher nicht. Der Impuls, wegzulaufen und in der Menge unterzutauchen, war überwältigend, aber er rang ihn nieder. Abgesehen davon, daß es ein Zeichen von schockierend schlechten Manieren gewesen wäre, ging einfach nicht an, daß später erzählt wurde, er würde vor irgend etwas flüchten. Er brachte es fertig, den Mund zuzuklappen, und schluckte schwer.

»Warum ich?« fragte er schließlich, und es klang doch ein bißchen wehleidig.

Konstanze zuckte die Achseln. »Es ist klar, daß ich jemanden heiraten muß, und nach reiflicher Überlegung habe ich entschieden, daß Ihr die beste Wahl seid. Wir beide haben viel gemeinsam und entstammen alten, etablierten Linien. Und ich brauche jemanden, der unberührt geblieben ist von dem Bösen und der Korruption, die soviel von unserer gesellschaftlichen Schicht verschluckt haben. Ich brauche jemanden, dem ich trauen kann. Meine Stellung als Oberhaupt des Clans Wolf ist… prekär, und ohne Jakob hält mich sonst nichts in dieser Familie. Es wäre keine Liebesheirat, soviel ist mir klar, aber wir sind beide verpflichtet, standesgemäß zu heiraten und unsere Linien fortzusetzen. Wir würden ein starkes Bündnis bilden, Owen. Ihr habt Euren Familiennamen wieder zu Ehre geführt.

Ich wäre stolz, eine Todtsteltzer zu sein.«

Sie hörte auf zu reden und musterte ihn erwartungsvoll. Dieses eine Mal hatte Owen nicht die leiseste Idee, was er sagen sollte. Er dachte angestrengt nach. »Ich habe Jakob Wolf gekannt«, stellte er schließlich fest. »Mein Vater… hatte mit ihm zu tun. Soweit ich mich entsinne, hielt Jakob Wolf nicht viel von mir.«

Konstanze lächelte. »Jakob hat von niemandem viel gehalten.

Er war ein harter Mann. Er mußte es sein. Aber ich habe noch einen anderen Jakob gekannt, die Seite von ihm, die er nie jemandem zu zeigen wagte, nicht mal seinen Kindern. Vielleicht besonders nicht ihnen. Er war stark und standhaft und setzte sich für das ein, woran er glaubte. Euch sehr ähnlich, Owen.«

»Jetzt wartet mal«, sagte Owen und hob abwehrend beide Hände. »Falls es eine Sache gibt, derer wir beide absolut gewiß sein sollten, dann die, daß ich Jakob Wolf in keinerlei Hinsicht ähnlich bin. Ich habe nie gewünscht, Krieger zu werden. Ich war ein stiller Gelehrter und vollkommen glücklich damit, bis Löwenstein mich zum Gesetzlosen erklärte. Ich wurde in die Rebellion hineingezerrt und habe dabei die ganze Zeit gestrampelt und geschrien.«

»Dann macht es Euch umso mehr Ehre, daß Ihr auf diesem Gebiet soviel erreicht habt«, sagte Konstanze ernst. »Aber was wollt Ihr jetzt, da die Rebellion vorüber ist, mit Eurem Leben anfangen? Ihr könnt nicht wieder zum bloßen Gelehrten werden, nach allem, was Ihr gesehen und getan habt. Der Schmetterling kann nicht wieder zur Raupe werden. Und obwohl die Kopfgeldjagd zweifelsohne ein Bedürfnis stillt, das Ihr zur Zeit empfindet, ist es kein Beruf, auf dem man ein Leben aufbauen kann. Ob es Euch gefällt oder nicht, Ihr seid für viele Menschen zum Symbol geworden, von dem sie Anleitung erwarten.

Was bedeutet, daß Ihr in die Politik gehen müßt. Andernfalls könntet Ihr zwar die Schlacht gewonnen, den Krieg hingegen verloren haben. Sicherlich habt Ihr nicht all das durchgemacht, was Euch widerfuhr, nur um dann zu erleben, wie Löwenstein durch jemand noch Schlimmeren ersetzt wird?«

»Nein«, antwortete Owen, »das habe ich nicht. Aber ich bin nicht an Macht um ihrer selbst willen interessiert. Ich war es nie.«

»Das sind die besten. Politiker«, fand Konstanze. »Die nach Macht streben, auf die muß man achtgeben. Hier geht es um die Pflicht, Owen. Nicht um persönliche Wünsche. Das Imperium braucht Euch.«

»Das habe ich schon so oft gehört«, sagte Owen. »Und von so vielen Leuten. Sie hatten jedoch alle ganz unterschiedliche Vorstellungen von dem, was ich tun sollte, falls ich an die Macht käme. Ich habe immer erwartet, von all dem frei zu sein, sobald die Rebellion erst mal vorüber wäre und ich deutlich gemacht hätte, daß ich weder an der Krone noch dem Thron interessiert bin. Ich dachte, ich könnte mich dann von all dem Blut und Tod abwenden und wieder ein eigenes Leben führen.

Ich hätte es besser wissen sollen. Die Pflicht wird mir im Nacken sitzen, bis ich sterbe, wie der Alte vom Meer, den man nicht wieder absetzen kann, sobald man ihn erst huckepack genommen hat.«

»Oder die Zauberschuhe«, ergänzte Konstanze nickend.

»Man wird zum phantastischen Tänzer, aber sobald man sie angezogen hat, kann man sie nicht wieder ausziehen und nicht wieder aufhören zu tanzen. Als ich diese Geschichte zum ersten Mal hörte, entschied ich, daß ich einfach so schön tanzen müßte, wie ich nur kann, falls mir dergleichen einmal widerfahren sollte. Damit man sich eher daran erinnert, was ich vollbrachte, als an den Fluch, der mich trieb. Geht in die Politik, Owen. Werdet zum Staatsmann. Macht etwas Neues und Wunderbares aus Euch. Ich kann Euch Rat geben, Euch anleiten, Euch den richtigen Persönlichkeiten vorstellen. Wir wären gute Partner.«

»Dahinter steckt mehr als Eure Bewunderung für mich oder Euer Bedürfnis, Euch vom Clan Wolf zu befreien«, sagte Owen plötzlich. »Ihr fürchtet etwas. Etwas ganz Bestimmtes.

Was?«

»Sehr gut, Owen! Ihr seid so scharfsinnig, wie alle behaupten. Der Schwarze Block ist zur wahren Macht geworden, der die Clans folgen. Der Schwarze Block sagt etwas, und alle hören zu. Er unterbreitet Vorschläge, und alle beeilen sich, sie umzusetzen. Ich traue dem Schwarzen Block jedoch nicht. Ich traue seinen Motiven nicht. Ich möchte frei von ihm sein. Ich möchte, daß die Familien von ihm frei sind. Aber dank Euch sind sie verschreckt und gespalten. Die Clans brauchen einen Helden, hinter dem sie sich sammeln können. Selbst nach allem, was Ihr getan habt, würden sie Euch akzeptieren. Sie wissen, daß Ihr stets eher mit Löwenstein Streit hattet als mit den Clans. Sie respektieren die Idee der Vendetta. Und sie hatten schon immer Verständnis für Ehrgeiz. Schließlich wurdet Ihr als Aristokrat geboren und aufgezogen, genau wie sie.«

»Nein!« erwiderte Owen scharf. »Ich bin ihnen in keiner Weise ähnlich! Ich habe nicht nur für den Sturz Löwensteins gekämpft, sondern auch der Ordnung, die sie trug. Ich wurde Zeuge der Greuel und Übeltaten, für die die Familien verantwortlich waren. Ich habe gesehen, was für ein schauderhaftes Leben die vielen führen mußten, damit es sich die wenigen im Luxus bequem machen konnten.«

»Ihr habt Euch verändert. Das können die übrigen Aristokraten auch. Helft ihnen. Verwandelt sie ihn das, was sie sein könnten, sein sollten… Eine Führungsmacht, die das Imperium fair regiert und wieder stark und sicher macht.«

»Ich weiß nicht recht, Konstanze. So einfach ist es nicht.

Heute findet man eine Menge Leute in Amt und Würden, die der Meinung sind, nur ein toter Aristo wäre ein guter Aristo.«

»Ihr könntet das ändern. Owen, die Aristokratie verfügt über zuviel Potential des Guten, um einfach zuzusehen, wie es verlorengeht! Wir verkörpern ein Erbe der Besten, das Jahrhunderte zurückreicht. Generationen der Partnerwahl und Gentechnik, um Perfektion zu erzielen. Ihr seid der letzte Todtsteltzer. Möchtet Ihr, daß Eure Abstammungslinie mit Euch endet?

Falls nicht, müßt Ihr eine Aristokratin heiraten, um das Erbe Eurer Familie weiterzugeben. Alles andere wäre Verrat an Eurem Clan.« Sie brach ab und musterte Owen forschend. »Getrennt sind wir beide Personen mit großen Fähigkeiten. Wenn wir uns zusammenschließen, könnte unsere Familie unschlagbar werden.«

Owen schüttelte langsam den Kopf. »Konstanze… Ich kenne Euch nicht. Ich liebe Euch nicht.«

Sie lächelte. »Wir werden einander kennenlernen. Mir gefällt, was ich von Euch gehört habe. Ich denke, wir würden uns… vertragen.«

»Konstanze, ich bin stets davon ausgegangen, daß ich zu gehöriger Zeit entweder aus Liebe heiraten würde oder gar nicht.

Ich wünsche mir eine Ehe, keinen geschäftlichen Zusammenschluß.«

»Liebe kann ich Euch nicht versprechen, Owen. Ich weiß nicht, ob ich je wieder lieben werde. Aber meine frühere Ehe war arrangiert, und Jakob war mir fremd, als wir unser Eheleben begannen. Wir brauchen einander nicht zu lieben, um uns als Partner und Bundesgenossen zu unterstützen, aber… vielleicht entwickelt sich die Liebe später noch.« Sie musterte ihn nachdenklich, den Kopf leicht auf die Seite gelegt. »Oder liebt Ihr bereits jemanden? In den Medien und den gesellschaftlichen Kreisen spekuliert man ständig über Eure Beziehung zu dieser d’Ark. Eine… eindrucksvolle Persönlichkeit. Niemand bezweifelt, daß Sie eine Heldin der Rebellion ist, aber Euch muß klar sein, daß Ihr sie niemals ehelichen könnt. Ihr beide entstammt verschiedenen Welten und werdet stets verschiedenen Welten angehören. Und was auch immer die Lieder behaupten, Liebe überwindet keineswegs alle Schranken.«

»Hazel… wollte nie aussprechen, ob sie mich liebte«, sagte Owen stockend, wußte nicht recht, was er sagen würde, bis es herauskam. »Wir stehen uns so nahe, wie Menschen einander nur stehen können, haben Seite an Seite gegen alles gekämpft, was das Imperium gegen uns ins Feld warf, sahen uns mit dem Tod und Schlimmerem konfrontiert… Sie hat jedoch nicht einmal gesagt, sie würde mich lieben.«

»Ich kann Euch Kinder schenken«, sagte Konstanze. »Sie zu Mitgliedern des Clans Todtsteltzer erziehen. Könnte sie das für Euch tun? Würde sie es tun?«

»Nein«, antwortete Owen. »Ich denke, nicht. Sehr gut, Konstanze, unsere Eheschließung soll arrangiert werden. Sorgt Ihr bitte dafür; ich war so lange fort, daß ich weitgehend den Kontakt zu den nötigen Formalitäten verloren habe.«

»Natürlich«, sagte Konstanze. »Ich kümmere mich um alles.

Ihr könnt mich jetzt küssen, wenn Ihr wünscht.«

Sie kam in seine Arme und wandte ihm die Lippen entgegen.

Es war ein sehr höflicher, beinahe zurückhaltender Kuß, aber Owen spürte trotzdem, wie sich damit sein ganzes Leben veränderte, wie er sich auf eine Zukunft festlegte, die er kaum erkannte oder begriff. Ein Kapitel seines Lebens endete hier und jetzt, und ein neues nahm seinen Anfang. Er hoffte nur, daß er dieses eine Mal die richtige Entscheidung getroffen hatte. Sie lösten sich voneinander und blickten sich für einen Moment gegenseitig in die Augen, wobei Owens Hände leicht auf Konstanzes Hüften ruhten. Sie erwiderte seinen Blick offen und vertrauensvoll, band sich an ihn. Allerdings war überhaupt keine Liebe im Spiel, und beide wußten es. Konstanze trat einen Schritt zurück, und Owens Hände sanken an seine Seiten.

Sie lächelte ihn an, knickste und entfernte sich in die Menge, und Owen blieb allein zurück. Er bemerkte, daß ihn Menschen ringsherum mit erneuertem Interesse ansahen, aber für den Augenblick dachte er an nichts anderes, als wie er Hazel D’Ark die Nachricht überbringen sollte.

Hazel hatte inzwischen die Bar gefunden, einen stillen, abgesonderten Winkel mit glänzenden Fliesen, Reihen interessant aussehender Flaschen und einer langen Holztheke. Sie hatte dort auch Jakob Ohnesorg und Ruby Reise entdeckt. Die drei tranken in freundschaftlichem Schweigen. Keiner wirkte besonders glücklich, Jack trug eine schlichte blaue Latzhose, die seine neuerdings wieder jugendfrische Gestalt vorteilhaft zur Geltung brachte. Man hatte ihm die verschiedensten Medaillen verliehen, aber er trug sie nie. Ruby war wie üblich in schwarzes Leder unter weißen Fellen gekleidet. Sie sagte, es würde ihr dabei helfen, sich zu erinnern, wer sie eigentlich war. Sie trug allerdings auch soviel Gold und Silber und Schmuck an Armen, Handgelenken und Hals, daß sie nicht die allerkleinste Bewegung machen konnte, ohne daß all diese Klunker aneinander rasselten und bimmelten. Alle drei genossen den stärksten Weinbrand, den die Bar anzubieten hatte. Jeder hatte eine Flasche vor sich stehen und machte sich nicht die Mühe mit einem Glas. Der Barkeeper wirkte eindeutig schockiert über einen solch ungenierten Umgang mit gutem Weinbrand, aber er verfügte über genügend Verstand und Überlebensinstinkt, um keinen Mucks von sich zu geben.

»Zu den Nachteilen unserer im Labyrinth verbesserten Körper«, sagte Jakob traurig, »gehört, daß wir verdammt viel Alkohol brauchen, um überhaupt eine Wirkung zu erzielen. Aber sich diesem wunderbaren neuen Imperium zu stellen, zu dessen Errichtung wir beigetragen haben, ist eine zu ehrfurchtgebietende Aufgabe, um es völlig nüchtern zu tun.«

»Richtig«, sagte Ruby. »Natürlich hilft es, daß wir uns heute die allerbesten Getränke leisten können. Kann allerdings nicht feststellen, daß dieses Zeug so viel besser schmeckt als der Fusel, den ich früher getrunken habe.«

»Du hast einfach keinen Gaumen«, behauptete Jakob.

»Doch, habe ich«, widersprach Ruby. »Ich rede ganz deutlich.«

Hazel erkannte, daß sich hier ein Streit anbahnte, und mischte sich schnell ein. »Also, was habt ihr beiden eigentlich getrieben, während Owen und ich die bösen Jungs gejagt haben?

Wart ihr beschäftigt?«

»Ab und zu«, antwortete Jakob Ohnesorg. »Seit ich das Abkommen ausgehandelt habe, mit dem der Aristokratie die Zähne gezogen wurden und sie ihre Kapitulation erklärt hat, kommt alle Welt immer zu mir gerannt, wenn ein Aristo über die Stränge schlägt. Als ob ich etwas ändern könnte, außer die Beschwerden ans Parlament weiterzureichen. Ich habe meine eigenen Probleme, versuche praktisch ganz allein, ein neues politisches System zu errichten. Die Leute erwarten so viel von mir. Meine Legende ist durch die Rebellion auf fast übermenschliche Proportionen angewachsen. Die Leute waren von den beiden Jakob Ohnesorgs überrascht, also überlegten sie sich, daß es nur einen gegeben haben durfte, und schrieben alles mir zu. Zusammen mit einer ganzen Menge reiner Erfindungen. Niemand sieht heute mehr mich, mein eigentliches Ich – nur die verdammte Legende. Man glaubt, ich brächte einfach alles zustande, könnte jedes Problem lösen und hätte dann noch den Nerv, obendrein wütend zu werden.« Er nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. »Natürlich macht meine Legende nicht viel her, verglichen mit Rubys. Ich habe schon erlebt, wie sich Leute bekreuzigten, wenn sie sie kommen sahen.«

»Völlig richtig«, sagte Ruby lebhaft. »In vielen Fällen brauche ich heute nicht mehr zu bezahlen. Ich gehe einfach irgendwo rein, zeige, was ich haben möchte, schaue dabei ein bißchen ernst drein, und die Leute stolpern über die eigenen Füße vor lauter Eifer, es mir als Geschenk zu geben. Ich wette, daß wir nicht mal etwas für diese Getränke werden bezahlen müssen. Wahrscheinlich kann ich den Barkeeper mit einem Blick dazu bringen, daß er sich in die Hose pißt.«

»Da nehme ich dich beim Wort«, sagte Hazel rasch. Sie drehte sich um, blickte zu Konstanze und Owen hinüber und machte ein finsteres Gesicht. »Ich frage mich, was er mit dem hübschen Fräulein Vollkommen zu bereden hat. Ich mag es nicht, wenn er sich mit anderen Aristos unterhält. Sie haben einen schlechten Einfluß auf ihn. Und er ist immer so leicht zu überreden.«

»Du mußt es ja wissen«, meinte Ruby. »Was ist los? Hast du Angst, sie könnte ihn dir ausspannen?«

Hazel schnaubte. »Nicht nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben. Zwischen uns besteht ein Band, stärker als alles, was diese Leute je verstehen könnten.«

»Klar doch«, sagte Ruby. »Aber hast du ihn schon im Bett gehabt?«

»Kümmere dich um deinen Kram!«

»Das dachte ich mir.«

»Es würde… ihm zuviel bedeuten«, meinte Hazel. »Er würde es zu ernst nehmen. Er würde anfangen, über Beziehung und Vertrauen und den Aufbau eines gemeinsamen Lebens zu reden, und für Scheiß dieser Art bin ich einfach nicht bereit.«

»Kann nicht behaupten, daß ich von dir je was anderes erwarten würde«, warf Jakob ein.

»Und du kannst auch gleich die Klappe halten.«

»Du solltest lieber schnell zuschlagen, Mädchen«, fuhr Ruby gelassen fort. »Sonst schnappt ihn dir noch jemand weg. Ich könnte mir vorstellen, es selbst mal zu probieren. Gut gebaut.

Hübscher Hintern. Und er hat diesen unschuldigen Blick eines verirrten Jungen, bei dem es mir immer in den Fingern juckt.«

»Gib gut auf deine Finger acht, Ruby Reise!« erwiderte Hazel entschieden. »Sollte ihn je eine anfassen außer mir, sorge ich dafür, daß sie für einen Monat im Streckverband landet.«

»Klar, aber liebst du den Mann nun oder nicht?« fragte Ruby hartnäckig weiter.

»Wir… verstehen uns.«

»Verständnis hält einen nicht warm in den frühen Morgenstunden. Du hast einfach Angst davor, dich festzulegen. Hazel.

Hattest du schon immer.«

»Das ist wirklich gut, von jemandem, der sein Leben lang noch keine persönliche Beziehung mit irgend wem hatte!«

»Wir reden nicht über mich«, versetzte Ruby gelassen. »Wir reden von dir. Und Owen. Er wird nicht ewig warten, weißt du? Der Krieg hat euch zusammengeführt, aber er ist vorbei.

Owen ist das Beste, was dir je passiert ist, Hazel D’Ark, und du wärst eine verdammte Idiotin, wenn du ihn dir durch die Lappen gehen läßt. Stimmt’s, Jakob?«

»Sieh mich nicht an«, sagte er. »Ich knabbere immer noch an der Frage herum, welche Art Beziehung wir haben. Außerdem war ich schon sieben Mal unter verschiedenen Namen verheiratet, und keine dieser Ehen hat funktioniert. Die Arbeit als Berufsrebell hat viel Zeit verschlungen. Nicht immer blieb Zeit für jemand anderen übrig, egal, welche Gefühle ich für die betreffende Person hegte.«

»Aber deine Arbeit ist jetzt getan«, fand Hazel.

»Nicht, daß es mir aufgefallen wäre«, gab er zu bedenken. Er traf Anstalten, die Flasche an die Lippen zu setzen, stoppte und setzte sie wieder ab. »Ich war der Mann, der gegen das System kämpfte. Jedes System. Ich habe mich selbst nur in Bezug auf Löwenstein und ihr korruptes Imperium definiert. Jetzt, wo beides nicht mehr ist, weiß ich nicht mehr, was ich mit mir anfangen sollte und was auch nur einen Furz wert wäre.«

»Du mußt einfach eine neue Art Kriegsführung lernen«, sagte Ruby. »Man nennt sie Politik.«

»Ich bin zu alt für neue Tricks«, sagte Jakob. »Obwohl ich einen neuen jungen Körper habe, habe ich das ganze Leben darauf verwandt, zu einer ganz bestimmten Person zu werden, nur um dann festzustellen, daß niemand mehr so jemanden benötigt. Statt dessen dreht sich alles um Konferenzen und Komitees und endlose verdammte Kompromisse. Ständig muß ich mich bemühen, alte Feinde davon abzuhalten, daß sie sich gegenseitig an die Gurgel fahren. Und ich frage mich die ganze Zeit, ob irgendwas davon den Aufwand lohnt…« Er seufzte tief. »Ich schätze, ich könnte mich um Arbeit als Kopfgeldjäger bewerben wie du und Owen, kann mich aber nicht von dem Gefühl befreien, daß hier alles zusammenbricht, wenn ich nicht mehr anwesend bin und die Veränderungen im Auge behalte.

Man vertraut mir, versteht ihr? Ich bin der legendäre Berufsrebell. Der Mann, der ihnen endlich die Freiheit gebracht hat.

Wie soll ich ihnen klarmachen, daß mir ihre alltäglichen kleinen Probleme einen Scheiß bedeuten?«

»Ich weiß, was du meinst.« Ruby nickte weise. »Weiß genau, was du meinst. Der Erfolg ruiniert uns. Ich meine, seht mich an. Endlich bin ich so reich, wie ich es mir immer erträumt hatte. Vielleicht sogar noch reicher… Verdammt, ich behalte nicht mal mehr den Überblick darüber! Dafür habe ich Buchhalter. Sie schicken mir die Kontoauszüge, und ich kapiere nichts davon. Ich wußte früher nie, daß es so große Zahlen gibt.

Ich verfolge reiche Verbrecher, finde ihre versteckte Beute, konfisziere sie und übergebe sie dem Parlament, abzüglich meiner saftigen Provision. Nicht, daß ich viel von der eigentlichen Arbeit selbst tun würde… Ein ganzer Haufen Kyberratten arbeitet für mich. Sie stöbern die Gelder und den Aufenthaltsort des Mistkerls auf, und dann bahne ich mir einen Weg dorthin und verhafte den bösen Buben. Sie liefern mir selten einen nennenswerten Kampf, sobald ich ihre Abwehrsysteme erst mal überwunden habe. Verdammt, die meisten brechen in Tränen aus, wenn sie sehen, wie ich hereinspaziere.«

»Jetzt mal langsam«, wandte Jakob ein. »Verhaften? Wann härtest du dir je die Mühe gemacht, jemanden zu verhaften?«

»Oh, in Ordnung, ich breche also ein und bringe die bösen Buben um, wenn du auf Genauigkeit bestehst. Sie würden vom Kriegsverbrechertribunal ohnehin gehängt, und ich brauche mich so nicht mit dem Papierkram herumzuschlagen. Worauf ich hinauswill: Ich wälze mich in Geld. Mehr, als ich in einem ganzen Leben ausgeben kann. Habe ein großes Haus, Diener und den ganzen modernen Komfort und Luxus. All das, was ich mir immer gewünscht habe – wie ich dachte. Aber man kann diese Sachen wirklich schnell satt haben. Wenn man es genau nimmt, sind es nur Spielsachen. Sogar die Diener anzuschreien hat seinen Reiz verloren. Es macht keinen Spaß, jemanden einzuschüchtern, wenn man ihn selbst dafür bezahlt, sich einschüchtern zu lassen. Und außerdem beschleicht mich der Verdacht, daß ich verweichliche, meinen Biß verliere. Immer lauert jemand hinter den Kulissen auf eine Gelegenheit, einem alles wegzunehmen.«

»Ja«, sagte Jakob seufzend. »Das Problem mit der Erfüllung aller Wünsche besteht darin, daß man anschließend aufwacht und sich in der Wirklichkeit wiederfindet.«

»Oh, sehr tiefsinnig«, fand Ruby. »Sehr philosophisch. Was zum Teufel soll das heißen?«

Jakob zuckte die Achseln. »Ich will verdammt sein, wenn ich es wüßte. Aber für einen Moment hat es sich ganz gut angehört.« Er blickte durch die volle Halle zu Owen hinüber. »Was macht er da? Unterhält sich mit dieser Wolf?«

»Vielleicht hat sie einen Hinweis, wo wir Valentin finden«, sagte Hazel.

»Vielleicht«, sagte Jakob. »Aber ich würde keinem Wink trauen, der aus dieser Ecke stammt. Das letzte, was ich gehört habe, war, daß Konstanze Wolf mit den Chojiros untereiner Decke steckt. Üble Familie. Üble Leute.«

Hazel sah ihn nachdenklich an. »Es hatte so einen Unterton, als du Chojiro gesagt hast. Irgendwie kalt… und wütend. Welche Verbindung hast du zu den Chojiros?«

»Richtig«, fiel Ruby ein. »Nicht zum ersten Mal habe ich gehört, wie du sie heruntermachst. Was macht die Chojiros so viel schlimmer als den übrigen aristokratischen Abschaum?«

Jakob starrte auf die Flasche vor ihm, damit er nicht Ruby oder Hazel ansehen mußte. »Meine Mutter war eine Chojiro«, sagte er leise. »Sie haben sie ausgestoßen und ihr den Geldhahn komplett abgedreht, nur weil sie den Mann geheiratet hatte, den sie liebte, und nicht den, den die Familie für sie ausgewählt hatte. Sie waren damals allesamt Arschlöcher und sind es heute noch. Traue niemals einem Chojiro.«

»Du hast aber recht schnell ein Abkommen mit ihnen geschlossen«, gab Ruby zu bedenken. »Du hast jedes Prinzip verkauft, das dir je was bedeutet hat, als du den Aristos den Arsch gerettet hast.«

»Es war nötig«, erklärte Jakob. »Es hat die Familien und ihre Privatarmeen aus dem Krieg entfernt. Ohne ihre Beteiligung sind Millionen noch am Leben, die andernfalls hätten umkommen können. Kein schlechter Handel. Was sind schon ein paar Prinzipien im Vergleich zu Menschenleben?«

»Selbst wenn es heißt, daß die meisten Schuldigen an generationenlangen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ungestraft ausgehen?«

Jakob drehte sich um und sah sie böse an. »Das sind ganz schön anspruchsvolle Worte für eine professionelle Killerin!

Wann hast du dir je etwas aus der Menschlichkeit gemacht?

Wann hattest du je Prinzipien?«

»Nie«, antwortete Ruby. »Und ich habe auch nie was anderes behauptet. Vielleicht habe ich mich aber mal anders gefühlt.

Ich habe an dich geglaubt, Jakob. Und dann hast du dich als jemand ganz anderes entpuppt.«

Es war ein alter Streit, ohne daß ein Ende absehbar gewesen wäre. Hazel wandte sich ab und ließ sie fortfahren. Sie blickte durch die Halle, und die Menge schien sich gerade im richtigen Augenblick vor ihr zu teilen, damit sie sehen konnte, wie Owen Konstanze Wolf in die Arme nahm und küßte.

Finlay Feldglöck, der erneut auf dem Höhepunkt der Mode war, durchquerte gewandt die dichtgedrängte Menge, wie ein Hai, der mit den Strömungen schwamm und sich an einem Meer voller Beute ergötzte. Sein zerknitterter Samtgehrock war erstklassig geschneidert, saß perfekt wie eine zweite Haut und war in einem strahlenden Blau gehalten, so hell, daß es in den Augen schmerzte. Finlay trug lederne Stulpenstiefel über kanariengelben Beinlingen und eine rosenrote Krawatte, gerade unordentlich genug gebunden, um zu zeigen, daß er es selbst getan hatte. Solche Einzelheiten waren wichtig. Darüber hinaus trug er eine Nasenkneiferbrille, die er im Grunde nicht brauchte, und hatte das lange Haar zu einem einzelnen, komplizierten Zopf gebunden. Früher hätte ihm eine solche Meisterung der Mode, dieser Inbegriff des Geckenhaften bewundernde Blicke von aller Welt eingetragen, vielleicht sogar einen kurzen Applaus im Vorbeigehen. Aber das lag lange zurück, in einem anderen Leben.

Finlay hatte sich in den Jahren als Rebell verändert. Das früher jungenhafte Gesicht war dünn und abgehärmt und um Mund und Augen von scharfen Falten geprägt. Das Haar war verblaßt, fast weiß geworden. Er war erst Ende zwanzig, wirkte aber mehr als zehn Jahre älter. Trotz angestrengter Bemühungen zeigte er eher die Gangart eines Soldaten als die eines Müßiggängers, und der Ausdruck seiner Augen war erschreckend kalt. Er sah so aus, wie er auch war, hartgesotten und gefährlich, und seine hübschen Sachen wirkten wie ein Clownskostüm an einem Killer. Die Leute wichen ihm rasch aus, selbst wenn er andeutete, daß er gern mit ihnen reden würde. Obwohl er nicht mehr der Feldglöck war, das Oberhaupt des Clans, hatte er sich in vielerlei Hinsicht zu einem Ebenbild seines toten Vaters entwickelt, dieses gefürchteten und gefährlichen Mannes ein Gedanke, bei dem Finlay stets unwohl wurde.

Die Unfähigkeit, wieder in die alten Maße zu passen, machte ihm Sorgen. Er hatte erwartet, einfach wieder seine alte geckenhafte Persönlichkeit überstreifen zu können und von aller Welt wieder akzeptiert zu werden, wie früher auch. Er hatte sich jedoch zu sehr verändert; Jugend und Unschuld waren zu vielen Attentaten zum Opfer gefallen, die er für die Untergrundbewegung durchgeführt hatte. Auch fiel es ihm heute zu schwer, die alte Persönlichkeit vorzuführen; die kleinlichen politischen Machenschaften des Parlaments und seines Anhangs verblaßten neben den mörderischen Schlachten der Rebellion. Damals hatte alles, was Finlay tat, eine Bedeutung gehabt. Jetzt war er nur noch ein kleiner Held, aus dem Krieg heimgekehrt, auch nicht wichtiger als tausend andere.

Nur ein weiterer Killer, der zu früh pensioniert worden war.

Früher mal hatte er sein Bedürfnis nach blutiger Erregung in der Arena austoben können, als unbesiegter Champion, als der Maskierte Gladiator. Dann mußte er aus der Gesellschaft fliehen, diese Maske ablegen und sich Evangeline, seiner Geliebten, in der Klon- und Esperbewegung anschließen. Sein Mentor, der ursprüngliche Maskierte Gladiator, übernahm in Finlays Abwesenheit diese Rolle erneut, so daß niemand eine Verbindung herstellen konnte zwischen dem vermißten Feldglöck und einem vermißten Gladiator. Während der Rebellion kam der ursprüngliche Maskierte Gladiator dann ums Leben; Flynns Kamera filmte sein blutiges Ende live, als der Esper Julian Skye in der Arena grausame Rache nahm für den Tod seines Bruders Auric.

Somit konnte Finlay auch in diese Rolle niemals zurückkehren. Schlimmer noch, Auric Skye war in Wahrheit von Finlays Hand gestorben, als er noch die Maske des Gladiators trug. Das durfte er Julian nie erzählen. Es hätte ihre Freundschaft für immer zerstört.

Auch ohne Maske konnte er nicht in die Arena zurückkehren.

Die Fans würden seinen Kampfstil schnell wiedererkennen.

Julian erführe es und wüßte, daß er einen Unschuldigen getötet hatte. Und so schlüpfte Finlay wieder in die ganz feinen Klamotten und begab sich aufs gesellschaftliche Parkett, wo er sich Mühe gab, die freiwillig, wenn auch widerstrebend übernommene Aufgabe als Diplomat und Botschafter der Klon- und Esperbewegungen zu erfüllen. Denn sie brauchten ihn. Zumindest hatte Evangeline ihm das eingeredet. Manchmal ertappte er sich bei der Frage, ob sie ihm vielleicht seine Stellung in der Untergrundbewegung mit Hilfe ihres Einflusses verschafft hatte, nur damit er beschäftigt war und sich… nützlich fühlte.

Fragen konnte er sie nicht. Sie war fortlaufend mit eigener Arbeit beschäftigt, um der Klonbewegung einen Platz im öffentlichen Leben zu verschaffen, als Teil der neuen politischen Szene. Das war eine wichtige Arbeit. Zuzeiten sah er Evangeline tagelang nicht. Zum ersten Mal brauchte er wirklich ihren Trost, und sie war nicht mal bei ihm.

Es war ein kleinlicher Gedanke, und er bemühte sich, ihn zu verbannen.

Er wußte nicht, daß Evangeline die wachsende Verzweiflung in seinem Blick gesehen hatte und ihm soviel Arbeit zuschanzte, wie sie nur konnte – denn sie fürchtete, er könnte sich das Leben nehmen, wenn er keine Richtung, keine Zielvorstellung in seinem Leben hatte. Dabei wußte sie nicht mal, daß er von den dicken Adern an seinen Handgelenken träumte, von der scharfen Schneide eines Messers oder von einer Schlinge, die im Mondlicht baumelte – und davon, wie leicht es wäre, alles hinter sich zu lassen und endlich Frieden zu finden.

Finlay sah, daß Owen Todtsteltzer für den Moment allein war, und ein alter Zorn regte sich in ihm. Nicht nur Liebe war es, die ihn am Leben hielt; auch ein ungestillter Haß brannte weiterhin in seinem Herzen. Er schritt zum Todtsteltzer hinüber, der sich umdrehte und formell verneigte. Finlay überwand sich, sich seinerseits zu verbeugen. Die Form wußte gewahrt bleiben. Owen und Finlay hatten in der Rebellion vielleicht auf derselben Seite gefochten, aber als Menschen hatten sie nie entsprechende Gemeinsamkeiten gehabt. Owen hielt Finlay für einen verrückten Mörder, der sich jederzeit von der Leine lösen und sich gegen Freund und Feind gleichermaßen wenden konnte. Finlay erachtete seinerseits Owen für einen gefährlichen Amateur, der zuviel nachdachte. In der Öffentlichkeit pflegten sie einen sehr höflichen Umgang miteinander.

Gewöhnlich.

»Ich habe ein Hühnchen mit Euch zu rupfen, Todtsteltzer.«

»Stellt Euch an«, erwiderte Owen ruhig. »Wie lautet Euer Problem, Feldglöck?«

»Valentin Wolf. Ich habe gerade erfahren, daß Ihr seinen Aufenthaltsort kanntet und verabsäumtet, ihn mir mitzuteilen.

Er hat meine Familie vernichtet, verdammt!«

»Valentin hat eine Menge Familien vernichtet. Deshalb hat mich das Parlament losgeschickt, um ihn zu fangen. Falls Ihr so gute Verbindungen hättet, wie Ihr angeblich habt, hättet Ihr das ebenfalls erfahren. Ich kann es auch nicht ändern, wenn Ihr in jüngster Zeit ein wenig… besorgt gewesen seid.«

»Kommt mir nicht gönnerhaft, Todtsteltzer!«

»Und spielt Euch mir gegenüber nicht auf, Feldglöck. Mein Anspruch auf Valentin ist eher noch besser begründet als Euer.

Er hat meinen ganzen Planeten vernichtet.«

»Ich werde ihn töten«, sagte Finlay. »Ebenso jeden, der mir dabei in die Quere kommt. Und sei es der allgewaltige Owen Todtsteltzer.«

Owen lächelte. »Ihr könntet es versuchen«, sagte er höflich, wandte sich ab und entfernte sich ohne Eile. Finlay blickte ihm nach und ballte die Fäuste an den Seiten. Und dann legte ihm jemand die Hand auf den Arm und wirbelte er wütend herum, nur um Evangeline Shreck lächelnd vor sich zu sehen. Die Wut schwand sogleich aus ihm, als er Evangelines Lächeln erwiderte.

»Ich bin vorzeitig zurückgekommen«, sagte Evangeline und nahm seine Hände in ihre. »Hatte mir überlegt, dich zu überraschen. Und wenn ich dich so ansehe, denke ich, daß ich keinen Augenblick zu früh erschienen bin. Wer hat dich diesmal aufgebracht?«

»Oh, nur der Todtsteltzer«, sagte Finlay, der sich wieder beruhigt hatte. All seine Dunkelheit war vertrieben durch den Sonnenschein von Evangelines Lächeln und den Glanz ihrer Augen. Sie umarmten sich, als könnten sie alles, was sie trennte, durch die Kraft ihrer Liebe verdrängen. Und vielleicht war das wirklich möglich. Nach geraumer Weile gaben sie sich wieder frei und traten jeder einen Schritt zurück, um sich wechselseitig gründlich anzusehen.

»Gott, du siehst reizend aus«, sagte Finlay. Sie tat es wirklich. Sie trug ein langes Kleid von funkelndem Silber, an einer Schulter offen, um ihren zierlichen Körperbau zu zeigen. Das dunkle Haar trug sie kurz geschnitten, der aktuellen Mode zum Trotz. Ihr Gesicht war durch hohe Wangenknochen und große Augen charakterisiert und wirkte verletzlich, aber entschlossen.

Allein ihr Anblick festigte Finlay in seinem Entschluß, sie vor allen Gefahren und Grausamkeiten der Welt zu schützen. Sie war der Grund für ihn weiterzuleben, das Blut, das in seinen Adern kreiste, das Herz, das in seiner Brust nur für sie schlug.

Zuzeiten, wenn sie abwesend war, vergaß er das, aber jetzt war sie zurückgekehrt, und er fühlte sich von neuem lebendig und wach. Am liebsten wäre er hinausgerannt und hätte ein paar Drachen erschlagen, nur um sie ihr zu Füßen zu legen.

»Du siehst… schick aus«, sagte Evangeline. »Wäre es nur noch ein bißchen bunter, würde alles andere im Vergleich schwarz und weiß wirken.«

»Ich kleide mich nur nach meiner Rolle«, antwortete Finlay.

»Alles Subtile ist derzeit außer Mode. Allerdings hättest du mal ein paar von den Sachen sehen sollen, die ich anhatte, als ich vorgab, einer der heimlichen Vorkämpfer von Stil zu sein, und deshalb ständig modisch auf der Höhe sein mußte.«

»Ich habe Holos davon gesehen. Die Bilder sind unwiderruflich in meine Netzhäute eingebrannt. Nun, worüber bist du im Moment so böse? Doch wohl nicht darüber, daß Robert an deiner Stelle als Clanoberhaupt der Feldglöcks weitermacht, oder?«

»O verdammt, nein! Soll er ruhig der Feldglöck sein, wenn er möchte. Er wird es viel besser machen, als ich je könnte. Nein, die Familien finden sich in einer neuen Welt wieder, und er ist viel besser geeignet, den Clan darin zu führen. Ein guter Mann, dieser Robert. Es hilft, daß er zu den wenigen Leuten gehört, die für das Imperium gekämpft haben und trotzdem noch als Helden gelten. Der als letzter von Bord ging, sein Schiff bis zuletzt gegen eine überwältigende Übermacht verteidigte…

Vielleicht kann er dieses Image nutzbar machen, um die Familie neu aufzubauen, wieder zu dem zu machen, was sie war, ehe Valentin sie vernichtet hat.«

Evangeline nickte langsam, als sie hörte, wie giftig Finlays Ton wurde, als er den Namen seines Feindes aussprach. »Deshalb bist du so wütend auf Owen. Spare deinen Zorn für deine wirklichen Feinde auf, Liebster. Du erhältst schon noch Gelegenheit, Valentin zu erwischen.«

Finlay zwang sich zu einem Lächeln. »Sprechen wir lieber von glücklicheren Dingen. Was führt dich so unerwartet zurück?«

»Mein Einsatz hat sich als Reinfall erwiesen. Alles war schon vorbei, als ich eintraf – die Vereinbarungen unterzeichnet und alle Beteiligten glücklich. So läuft es manchmal. Also bin ich hier. Freust du dich, mich zu sehen?«

»Gestatte mir, dich aus diesem Irrenhaus zu geleiten und nach Hause zu bringen, und ich zeige dir, wie sehr ich mich freue«, knurrte Finlay und zog sie fest an sich.

Ihr gemeinsames Lachen war ein Augenblick echter Wärme in der künstlichen Kälte höflicher Gesellschaft.

Von einer Stelle nicht weit entfernt sah ihnen Robert Feldglöck zu. Er trug die neue Kapitänsuniform mit einer gewissen Steifheit. Die hohe Todesrate der imperialen Raumflotte hatte dazu geführt, daß die wenigen würdigen Überlebenden abrupt und schnell befördert wurden, und Robert hatte sich noch nicht an seine neue Position gewöhnt. Er kam sich ein bißchen wie ein Betrüger vor und erwartete ständig, jemand würde gleich hereinplatzen und sagen, alles wäre ein grauenhafter Irrtum gewesen, und ob er die Uniform bitte sofort zurückgeben würde, weil der richtige Kapitän auf sie wartete.

Er lächelte leise, als ihm der gewohnte Gedanke wieder mal durch den Kopf ging. Robert war groß und gutaussehend, hatte einen festen Blick und kurzgeschorenes Haar. Sowohl Haare als auch Gesicht waren von den Bränden versengt worden, die über die Brücke der belagerten Dauerhaft tobten. Robert war mit einer Fluchtkapsel entkommen, aber es hatte lange Sitzungen in einer Regenerationsmaschine erfordert, die Verletzungen am Gesicht zu heilen, und das Haar wuchs erst jetzt wieder allmählich. Er fand, daß er heute älter wirkte, verantwortungsbewußter, und er nahm gern jedes bißchen Hilfe an, das er nur bekommen konnte. Sein neues Kommando war die Elementar, einer der wenigen Sternenkreuzer der E-Klasse, die die Rebellion überstanden hatten, und er war darauf erpicht, sie möglichst rasch offiziell zu übernehmen und mal zu sehen, was sie leisten konnte. Aber… als Feldglöck und Oberhaupt seines Clans war er verpflichtet, einen bestimmten Anteil seiner Zeit auf Golgatha zu verbringen und sich zuerst um die Interessen der Familie zu kümmern. Und das bedeutete, mit den richtigen Leuten im Parlament Umgang zu pflegen, die nötigen Verbindungen zu knüpfen und Absprachen zu treffen, die sicherstellten, daß niemand seine Leute schikanierte, während er unterwegs war und auf seinem Schiff Dienst tat. Eines Tages würde er sich endgültig zwischen den Bedürfnissen der Familie und seiner Militärkarriere entscheiden müssen, aber das… lag noch in der Zukunft.

Sein Vetter Finlay sah tatsächlich ganz zivilisiert aus, jetzt, wo Evangeline eingetroffen war und ihn beruhigt hatte. Eines Tages würde dieser Mann jedoch durchdrehen, und selbst Evangeline würde ihn nicht mehr aufhalten können. Und es würde zu Blutvergießen und Todesfällen kommen und einem Skandal, den zu bereinigen kein Einfluß ausreichen konnte.

Finlay war schlicht eine Katastrophe, die nur darauf lauerte einzutreten. Und als der Feldglöck und Clanoberhaupt lag es an Robert zu entscheiden, was er in dieser Hinsicht tun wollte. Ob er… Schritte unternehmen sollte. Er seufzte leise und schüttelte den Kopf. Eine militärische Ausbildung war ja ganz prima, was die meisten Dinge anging, aber sie half überhaupt nicht beim Umgang mit unberechenbaren Größen wie Finlay Feldglöck. Auf einmal spürte Robert jemanden neben sich.

»Mach dir keine Sorgen um Finlay, Junge. Bessere Leute als du haben versucht, mit ihm fertig zu werden, und sie sind tot und begraben, während dieser Mistkerl Finlay weiterhin ohne Kratzer dasteht. Es gibt keinen Gott.«

Robert drehte sich um und lächelte Adrienne Feldglöck an.

»Warum hast du ihn dann geheiratet?«

»Es war eine arrangierte Heirat, wie du sehr gut weißt. Mein Vater hat sie vereinbart. Er hat mich nie gemocht. Ich würde mich auf der Stelle von Finlay scheiden lassen, wären da nicht die Kinder. Du könntest doch nicht einen netten, stillen Mordanschlag für mich planen, oder, Liebster? Er würde so viele Probleme lösen.«

»Führe mich nicht in Versuchung«, sagte Robert. »Außerdem – wen sollten wir auf ihn ansetzen? Owen Todtsteltzer? Kid Death?«

»Führe mich nicht in Versuchung«, antwortete Adrienne.

»Nein, soll er weiterleben. Und sei es nur, weil sein Tod Evangeline so zu schaffen machen würde. Ich habe Evangeline sehr gern, abgesehen von ihrem grauenhaften Geschmack, was Männer angeht…«

Sie lächelten einander an. Adrienne Feldglöck hatte ein spitzes Gesicht, das von wilder Entschlossenheit kündete, unter einem Mop lockiger goldener Haare, die das einzig Engelhafte an ihr waren. Bei aller Welt galt sie als die grimmigste und gefährlichste Intrigantin der aktuellen politischen Landschaft und hatte entsprechend wenig echte Freunde und so viele Feinde, daß jeder, der sich ihnen anschließen wollte, auf eine Warteliste kam. Adrienne arbeitete hart, war erschreckend intelligent und verflucht viel ehrlicher, als gut für sie war; und obwohl niemand sie in eine offizielle Position gewählt hatte, repräsentierte sie eine Anzahl sehr einflußreicher Interessengruppen. Man konnte sich darauf verlassen, daß sie zu absolut jedem Thema eine präzise Meinung hatte.

»Und wie kommst du als Kapitän klar?« fragte sie.

»Ich gewöhne mich langsam, daran. Dabei hilft, daß die Besatzung mit meinen bisherigen Leistungen vertraut ist; sie weiß, daß ich meine Stellung eigenen Fähigkeiten und nicht plötzlichem Ruhm verdanke. Es ist ein großer Sprung vom Navigationsoffizier zum Kapitän, aber ich nehme dabei ja niemandem den Platz weg. Der Flotte mangelt es verzweifelt an erfahrenen Offizieren. Wenn es nur einen ähnlichen Mangel an Feinden gäbe…«

»Fang jetzt nicht damit an!« verlangte Adrienne. »Ich höre das täglich im Parlament. Zur Zeit haben wir weder das Geld noch die Ressourcen, um die Flotte auf den Stand auszubauen, den sie früher hatte. Die Fabriken arbeiten rund um die Uhr, nur um die Schiffe herzustellen, die wir brauchen, um unsere Planeten zu versorgen, und Leute, die jetzt Hunger leiden, müssen Vorrang vor möglichen Gefahren in der Zukunft genießen. Die Rebellion war lange überfällig, aber manchmal drängt sich mir die Frage auf, ob wir keinen günstigeren Zeitpunkt hätten wählen können.«

»Sie war die Geburt einer neuen Ordnung«, sagte Robert.

»Und eine Geburt ist stets schmerzhaft.«

Adrienne schniefte. »Zitiere mir gegenüber nicht die Propaganda, mein Junge. Ich habe sie zum größten Teil selbst mitverfaßt. Oh, verdammt, sieh nur, wer da kommt! Als ob ich nicht schon genug Probleme hätte!«

Robert drehte sich um und gab sich Mühe, nicht zusammenzuzucken, als er Finlay und Evangeline näher kommen sah.

Evangeline machte ein freundliches Gesicht, und Finlay tat ebenfalls sein Bestes. Robert spürte, wie Adrienne neben ihm kochte, und flüsterte ihr ins Ohr: »Nimm es gelassen. Es wird dich nicht umbringen, wenn du freundlich zu ihm bist.«

»Möchtest du wetten? Immerhin, ihr beide solltet euch unterhalten, Robert. Ich weiß, daß ihr euch nicht viel auseinander macht, aber ihr gehört beide zur Familie. Das bedeutet immer noch etwas, selbst in unserer verwirrten Zeit.«

»Er hat die Familie verlassen und sich den Rebellen angeschlossen, als der Clan ihn am meisten brauchte, so daß ich als der Feldglöck antreten mußte. Ein Privileg, mit dem ich nie gerechnet hatte und wofür ich keinerlei Erfahrung mitbrachte.«

»Er hatte keine Wahl. Er mußte seinem Herzen und damit Evangeline folgen.« Plötzlich schnaubte Adrienne. »Ich kann nicht glauben, daß ich ihn tatsächlich verteidige! Auch wenn er mir einmal das Leben gerettet hat. Sieh mal, er wollte nie der Feldglöck sein. Er wußte, daß er damit nur Schaden anrichten würde. Du bist der Aufgabe viel mehr gewachsen. Du hast die Familie am Leben gehalten, in einer Situation, in der sie unter Finlay aus allen Rohren feuernd untergegangen wäre. Nimm hin, was geschehen ist, und geh weiter deinen Weg. Versuche, ein paar Brücken wieder zu reparieren. Heutzutage brauchen wir alle Freunde, die wir nur finden können.«

Die vier begegneten sich auf einer kleinen Freifläche, die sich wie von selbst um sie herum bildete. Alle in der Nähe erkannten einen möglichen Siedepunkt, wenn sie ihn erblickten.

Und sei es nur, um keine Blutspritzer auf ihre besten Sachen zu bekommen. Evangeline und Adrienne begrüßten sich herzlich.

Adrienne hatte Finlay seine Geliebten nie verübelt, solange er beharrlich über ihre eigenen vielen Affären hinwegsah. Die beiden Frauen hatten in der Untergrundbewegung enge Freundschaft geschlossen und hinter Finlays Rücken Skandalgeschichten über ihn ausgetauscht. Finlay und Robert nickten sich mit ausdruckslosen Gesichtern formell zu. Dann streckte Finlay plötzlich die Hand aus, und Robert ergriff sie nach einem Augenblick der Überraschung. Beide entspannten sich etwas.

»Meinen Glückwunsch zu deinem neuen Kommando«, sagte Finlay. »Der erste Feldglöck seit dreihundert Jahren, der es zum Kapitän gebracht hat.«

»Ich werde mein Bestes tun, um der Familie Ehre zu machen«, sagte Robert. »Du siehst… sehr gut aus, Finlay.«

Finlay zuckte die Achseln. »Wenn man mit den ganz Großen Umgang pflegt, muß man sich entsprechend kleiden. Es ist eine ganze Weile her, seit ich meine Schlachten noch mit scharfen Worten und bissigen Bonmots geschlagen habe statt mit kaltem Stahl, aber ich denke, ich finde mich wieder hinein. Wir haben uns… einander zu sehr entfremdet, Robert. Freunde und Bundesgenossen kommen und gehen, aber die Familie ist ewig.«

»Du warst es, der nie viel Zeit für die Familie hatte.«

»Ich versuche, das zu ändern.«

Robert erwiderte Finlays festen Blick und nickte leicht. »Du warst es, der auf Distanz blieb. Und ich war zu sehr damit beschäftigt, die Familie zusammenzuhalten und im Militär zu dienen, um dich ausfindig zu machen.«

»Ich weiß. Ich bin dir dankbar für das, was du getan hast.

Wir haben während der Rebellion auf verschiedenen Seiten gestanden, aber das ist alles vorüber. Wir müssen zusammenstehen, oder unsere Feinde überwältigen uns.«

Robert zog eine Braue hoch. »Und welche Feinde genau haben wir womöglich gemeinsam?«

»Vielleicht Leute wie den Schwarzen Block. Leute, die die Uhr zurückdrehen möchten. Du hast keinen Grund, die alte Ordnung zu lieben. Du hast mehr unter ihr gelitten als die meisten. Der Schwarze Block stand daneben und blieb untätig, als die Wolfs unsere Familie abgeschlachtet haben.«

»Und meine Letitia mußte an dem Tag sterben, der unser Hochzeitstag werden sollte. Ermordet vom Shreck im Namen der Familienehre. Während du danebenstandest und nichts tatest.«

»Das war falsch von mir«, räumte Finlay ein. »Damals habe ich noch an die Familien geglaubt. An die Ehre, von der ich glaubte, sie hielte uns zusammen. Ich mußte erst auf die harte Tour lernen, daß ich darin irrte. Ich habe aber nicht in der Rebellion gekämpft und geblutet, um dann mitzuerleben, wie die Familien in neuer Maske wieder die Macht übernehmen. Ich werde tun, was nötig wird, um sie aufzuhalten. Kann ich dabei auf dich zählen? Das Parlament macht vielleicht nicht viel her, aber es ist unsere einzige Hoffnung.«

»Ich habe dich mir nie als Politiker vorgestellt«, sagte Robert.

Finlay zuckte die Achseln. »Die Politik ist das neue Schlachtfeld. Und ich mußte entweder eine neue Art zu kämpfen lernen oder vor Langeweile umkommen. Also, stehst du auf meiner Seite?«

»Ich denke darüber nach. Wir unterhalten uns später wieder und sehen mal, ob wir wirklich so viel gemeinsam haben, wie du denkst. Falls ja… Dann denke ich, werde ich stolz darauf sein, den legendären Streiter Finlay Feldglöck an meiner Seite zu wissen.«

»Das sehe ich auch so«, sagte Finlay und lächelte zum ersten Mal. Sie schüttelten einander wieder die Hände.

»Gott helfe uns, als nächstes verbrüdern sie sich noch«, sagte Adrienne. »Betrinken sich in zweifelhaften Kneipen und erzählen einander diese Witze, die nur Männer komisch finden.«

»Ich finde das sehr süß«, sagte Evangeline entschieden.

»Hallo, Adrienne«, sagte Finlay und demonstrierte sein höflichstes Gesicht und seinen höflichsten Tonfall. »Du siehst… ganz so aus wie immer.«

»Ich vermute, das dürfte so ziemlich das größte Kompliment sein, das von dir zu erwarten ist«, sagte Adrienne. »Wie ich sehe, hast du immer noch denselben Schneider. Habe ich nicht erzählen gehört, er hätte inzwischen einen neuen Blindenhund?«

»Du bist dermaßen schneidend, daß du dir irgendwann mal selbst eine Schnittwunde zufügst. Du und Evangeline, ihr habt einen schönen Klatsch, nicht wahr?«

»Ich habe gehört, du würdest versuchen, in der großen Politik Fuß zu fassen, Finlay. Ein guter Rat: Tu es nicht. Ich zweifle nicht daran, daß du es gut meinst, aber das letzte, was wir brauchen, ist noch ein enthusiastischer Amateur, der alle auf die Palme bringt und alles noch verworrener macht. Besonders jemand mit deinem Naturell. Du kannst deine Widersacher nicht einfach umbringen, nur weil du im Begriff stehst, die Debatte zu verlieren. Heutzutage gibt es Gesetze gegen dergleichen Verhalten. Obwohl es die Haushaltsdebatten etwas aufregender gestalten würde, wie man zugeben muß… Sieh mal, Finlay, ich kenne dich, auch wenn ich mir oft wünschte, ich täte es nicht. Du hast ein zu weiches Herz für die Politik.

Sie würde dir zuviel bedeuten. Du könntest es nicht ertragen, einen Streit verloren zu geben und dann in einem späteren zu punkten. Du übernimmst dich, wenn du dich auf dieses Glatteis wagst, und ich werde nicht in der Lage sein, dich zu retten.

Auch niemand sonst wird es können, ungeachtet all deiner Heldentaten während der Rebellion. Helden bekommt man heute im Dutzend billiger.«

»Du klingst wieder ganz nach dir«, meinte Finlay. »Irgendwann mal sagst du noch etwas Nettes zu mir, und ich falle vielleicht vor Schreck in Ohnmacht. Ich habe alles überlebt, was das Imperium gegen mich ins Feld schickte, und auch das Grauen von Hakeldamach. Ich denke, mit ein paar Politikern werde ich schon fertig. Mach dir keine Sorgen; falls ich jemanden umbringen muß, achte ich darauf, es zu tun, wenn gerade niemand hinsieht.«

»Das Problem ist: Er meint das ernst«, sagte Adrienne. »Das ist seine Vorstellung davon, diplomatisch aufzutreten.«

»Inzwischen«, sagte Finlay, »möchte ich unsere Kinder sehen.«

Alle sahen ihn überrascht an, einschließlich Evangeline.

Adrienne schüttelte langsam den Kopf. »Finlay, du hast die Kinder noch nie sehen wollen. Noch nicht mal, als sie gerade auf die Welt gekommen waren. Ich muß dich immer daran erinnern, ihnen Geburtstagsgeschenke zu schicken. Dein Gesicht kennen sie nur von Holoschirmen. Und wo warst du, als Gregor Shreck damit drohte, sie umzubringen, nur um dich zu fassen? Nenn mir nur einen guten Grund, warum ich dulden sollte, daß du in ihre Nähe kommst!«

»Ich spüre… in letzter Zeit, daß ich sterblich bin«, antwortete Finlay. »Wenn ich tot bin, bleiben von mir nur die Reputation und die Kinder. Ich sehe mir an, wie die Nachrichtenleute und die Dokudramas meine Vergangenheit darstellen, und ich erkenne mich darin nicht wieder. Damit bleiben nur die Kinder, und ich hätte gern, daß sie wenigstens eine Vorstellung davon bekommen, wer ich wirklich war. Ich weiß, daß ich… Fragwürdiges getan habe, aber immer glaubte ich, einen guten Grund dafür zu haben. Früher habe ich zwei Leben zugleich geführt, und ich habe mir weiszumachen versucht, daß in keinem davon Platz für Kinder wäre. Sie wären nur zu Schaden gekommen. Bei dir waren sie sicherer. Außerdem wußte ich nicht, was ich mit Kindern anfangen sollte. Ich weiß es immer noch nicht recht. Aber ich… würde jetzt gern mal versuchen, mit ihnen Bekanntschaft zu schließen. Falls sie mich sehen möchten…«

Adrienne zeigte sich für einen Augenblick erstaunt. In all ihren Ehejahren hatte sie nie zuvor gehört, wie Finlay sich dermaßen öffnete. »Ich frage sie«, sagte sie endlich. »Aber es liegt an ihnen. Ich äußere mich selbst nicht, weder in der einen noch der anderen Hinsicht.«

»Mehr verlange ich nicht«, sagte Finlay.

Die vier unterhielten sich noch ein wenig länger, aber sie hatten im Grunde nicht genügend Gemeinsamkeiten für lockere Konversation, und die geschäftlichen Fragen waren schon abgehandelt. Schließlich entschuldigten sich Adrienne und Robert und verschwanden in der Menge, und Finlay und Evangeline blieben allein zurück.

»Wir haben noch nie über… Kinder gesprochen«, sagte Evangeline leise. »Wenn man bedenkt, was wir während der Rebellion für ein Leben führten, war es einfach nicht möglich.

Immer wieder haben wir uns in die Gefahr eines plötzlichen Todes gestürzt. Und später… hast du das Thema nie zur Sprache gebracht.«

»Ich denke in jüngster Zeit über vieles nach, was ich nie zuvor getan habe«, stellte Finlay fest. »Ich wollte nie Kinder von Adrienne haben, aber mein Vater verlangte es im Interesse der Familie. Heute sieht es anders aus.«

»Ich konnte mich nicht überwinden, das Thema anzusprechen«, sagte Evangeline, ohne ihn anzusehen. »Ich hatte immer Angst, du würdest nicht davon sprechen, weil ich nur ein Klon bin. Du bist Aristokrat, ich dagegen nicht. Nicht wirklich.

Manche würden sogar sagen, ich wäre kein richtiger Mensch.

Und selbst in unserer wunderbaren neuen Ordnung wäre eine Eheschließung zwischen Aristokrat und Klon ein Skandal, Kinder daraus eine Geschmacklosigkeit. Falls irgend jemand davon erführe…«

»Du bist menschlicher als die meisten Leute, mit denen ich zu tun habe«, erklärte Finlay. »Du bist Hunderte von ihnen wert! Tausende.« Sie sank in seine Arme und drückte das Gesicht an seine Schulter, damit er ihre Tränen nicht sah. Er wußte jedoch, daß sie da waren, redete allerdings weiter, als ahnte er nichts davon, und bemühte sich um einen gleichmäßigen Ton. »Ich kann dich nicht heiraten, Evangeline. Nicht weil du ein Klon bist, sondern weil eine Scheidung von Adrienne mich Persönlichkeiten entfremden würde, mit denen ich gezwungen bin, engen Umgang zu pflegen. In unseren Kreisen wird Politik nach wie vor weitgehend von alten Familienbindungen bestimmt, und meine Stellung ist auch so schon prekär genug.

Aber du bist meine Liebe, mein Leben – die einzige Frau, aus der ich mir je etwas gemacht habe. Natürlich können wir Kinder haben, wenn du möchtest. Die Leute werden Zugeständnisse machen. Das haben sie immer.«

Evangeline drückte ihn so fest, daß sie glaubte, sie täte ihm weh, aber er sagte keinen Ton. Als sie überzeugt war, daß ihre Tränen getrocknet waren, ließ sie ihn los und wich zurück. Und dann tauchte jemand auf und holte Finlay zu wichtigen Geschäften ab, und Evangeline blieb allein zurück. Sie blickte ihm hinterher, ein tapferes, leises Lächeln im Gesicht, aber dahinter stürzten ihre Gedanken wild durcheinander. Ehe sie auch nur davon träumen konnte, mit Finlay eine Familie zu gründen, mußte sie vieles in ihrem Leben in Ordnung bringen –

überwiegend Dinge, von denen Finlay nichts wußte und nie etwas erfahren durfte.

Finlay wußte, daß Evangeline aus einem toten Original geklont worden war, aber den Grund kannte er nicht. Gregor Shreck hatte seine Evangeline mehr wie ein Mann als wie ein Vater geliebt und sie schließlich in einem Wutanfall ermordet, als sie zu fliehen versuchte. Um das Verbrechen zu vertuschen und seine Tochter wieder ins Bett zu bekommen, ließ er sie unter strengster Geheimhaltung klonen, und dieser Klon war die Evangeline, die Finlay kennen und lieben lernte. Er rettete sie vor ihrem Vater und half ihr dabei, ein eigenes Leben aufzubauen. Er erfuhr jedoch nie, wovor genau er sie gerettet hatte, und Evangeline brachte es nie über sich, ihm alles zu erklären. Falls er es je herausfand, würde er Gregor ermorden und einen Dreck auf die Folgen geben. Das konnte Evangeline nicht hinnehmen. Zwar wollte sie Gregor tot sehen, wünschte es sich aus tiefster Herzensverzweiflung, aber Finlay durfte nie davon erfahren. Es täte ihm zu weh. Und vielleicht fürchtete sie in einem versteckten Winkel, seine Gefühle ihr gegenüber könnten sich ändern, wenn er die Wahrheit erfuhr.

Außerdem war Gregor Shreck ein mächtiger und gefährlicher Mann, auch wenn er in letzter Zeit viel Ansehen verloren hatte.

Er umgab sich mit einer Armee privater Wachleute, und nicht mal Finlay Feldglöck konnte es allein mit einer ganzen Armee aufnehmen.

Evangeline brachte es einfach nicht über sich, das Risiko einzugehen, daß sie ihn verlor. Nicht, nachdem sie soviel durchgemacht hatten, um dorthin zu kommen, wo sie jetzt waren.

Geheimnisse! So viele Geheimnisse zwischen zwei Menschen!

Und es gab noch mehr. Ehe sich Gregor hinter seine Privatarmee und genügend Einfluß auf korrupte Instanzen zurückzog, um selbst das Parlament auf Distanz zu halten, hatte er mit Evangeline Kontakt aufgenommen und sie informiert, daß er ihre beste Freundin, Penny DeCarlo, gefangengenommen hatte.

Und daß die liebe Penny unter scheußlichen Schmerzen sterben würde, falls Evangeline nicht zu ihm zurückkehrte. Auch davon wußte Finlay nichts. Sie hatte es ihm nicht erzählt. Denn auch in diesem Fall wäre er als ihr Held losgestürzt und hätte sich um Kopf und Kragen gebracht. Bislang hielt Evangeline Gregor mit diversen Listen hin, die ihr aber jetzt allmählich ausgingen. Bald mußte sie einen Weg finden, Penny ohne Finlay zu retten, oder sich wieder in Gregors Hand geben und hoffen, eine Art Abkommen zu treffen. Jeder Weg brachte Gefahren mit sich, aber ihre Zeit in der Rebellion hatte Evangeline abgehärtet. Sie war nicht mehr das schwache, hilflose Opfer, an das sich Gregor erinnerte. Und vielleicht war das die Waffe, die sie gegen ihn einsetzen konnte.

Nicht weit entfernt war noch jemand, der Finlay Feldglöck im Auge behielt. Der Esper Julian Skye war sein bester Freund und Schüler, seit der Feldglöck ihn aus den Folterkerkern der imperialen Verhörspezialisten gerettet hatte. Julian war immer noch von den Narben der Dinge gezeichnet, geistigen wie körperlichen, die man ihm angetan hatte, aber er schuldete Finlay sein Leben und hatte es dem Dienst am Feldglöck gewidmet.

Der Feldglöck selbst erhielt dabei kein Mitspracherecht. Nur hatte Finlay jetzt ein neues Leben in der Politik begonnen und brauchte keinen Kämpfer mehr, an seiner Seite. Und Julian verstand nichts von Politik und machte sich noch weniger daraus.

Zur Zeit spielte er sich selbst in Dokudramas über seine Mitwirkung an der Rebellion. Zwar hatte er sich nie für einen Schauspieler gehalten, aber dem Publikum hatte es wirklich gefallen, sich ihn in den Reportagen anzusehen, die Toby und Flynn gefilmt hatten, und anscheinend reichte dergleichen schon, um jemanden zum Star zu machen, wenn schon nicht zum Schauspieler. Er würde sicher nie zu einer großen Attraktion werden, aber er hatte sein Publikum und seine treuen Anhänger und verdiente dabei mehr als genug Geld für seine wenigen Laster. Dabei half, daß das, was er den Drehbuchautoren diktierte, fast durchgängig erfunden war. Die Öffentlichkeit wollte eine Legende, keine Fakten, und nach wie vor konnte er über vieles aus seiner Vergangenheit bislang einfach nicht reden. Ganz eindeutig gehörte dazu die Frau, die in diesem Augenblick nicht weit von ihm stand, diese zierliche, dunkelhaarige orientalische Schönheit SB Chojiro.

Früher hatte er sie geliebt. Und war von ihr an die imperialen Folterknechte verraten worden. Weil er Rebell war und das SB in ihrem Namen für den Schwarzen Block stand, den geheimen inneren Kreis junger Aristos, die darauf konditioniert waren, den Familien bis in den Tod und darüber hinaus die Treue zu halten. Sie liebte ihn immer noch, mußte aber ihrer Konditionierung folgen. Das hatte sie in der Zelle der Folterknechte zu ihm gesagt.

Heute schwang der Schwarze Block aus eigenem Interesse das Zepter über die Familien. Und SB Chojiro war das nette öffentliche Gesicht dieses inneren Kreises. Wie üblich war sie im Parlament erschienen, um sich still im Hintergrund zu halten und allem zu lauschen. Alle wußten, daß sie, wenn sie sprach, dies als Stimme des Schwarzen Blocks tat, und alle hörten zu. Vorausgesetzt, sie wußten, was gut für sie war.

Heute hatte sich Julian zum ersten Mal in die große Halle gewagt. Und SB Chojiro so nahe zu sein… Ein Teil von ihm wünschte sich nach wie vor sehnlichst, sie für das zu töten, was sie ihm angetan hatte und was ihm ihretwegen angetan worden war. Für den Verrat an allem, was seiner Überzeugung nach zwischen ihnen gewesen war. Und ein Teil von ihm fragte sich, ob er selbst heute noch alles vergessen und vergeben würde, falls sie ihn nur wieder in die Arme nahm und ihn küßte und ihn wieder liebte.

Und so blieb er ängstlich auf Distanz. Aber jetzt stand er hier, gerade drei Meter von ihr entfernt, und wollte verdammt sein, wenn er den Grund dafür wußte. Vielleicht war es nur eine unerledigte Aufgabe. Wie auch immer, er hatte das Parlament aufgesucht, um sie zu sehen und womöglich mit ihr zu reden. Und falls er sie nicht umbrachte, lernte er vielleicht, wie er von ihr frei werden konnte. Falls es das war, was er sich wirklich wünschte. Julian mußte lächeln. Er war dermaßen durcheinander im Kopf, soweit es SB Chojiro anbetraf, daß die Alternativen lauteten, entweder zu lachen oder durchzudrehen.

Sie stand gelassen zwischen ihren Ratgebern, lächelte und lauschte und sagte wenig. Ein winziges Püppchen von einer Frau mit hellrotem Kimono, der exakt die gleiche Schattierung aufwies wie ihre Lippen. Dunkle, glatte, schulterlange Haare.

Große, dunkle, glänzende Augen. Die schönste Frau, die Julian je gesehen hatte. Er verlangte danach, sie wieder in die Arme zu nehmen – ein körperliches Bedürfnis wie Hunger oder eine Sucht. Ihre Lippen auf seinen zu spüren, ihren warmen Atem in seinem Mund… Und dann tötete er sie vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Er wußte es nicht. Er hatte sich noch nicht entschieden.

Neben SB Chojiro stand, unbemerkt von dem besessenen Julian, Stephanie Wolf, Valentins Schwester und Konstanzes Stieftochter – groß, blond, jungenhaft schmal, randvoll von mühsam unterdrücktem Groll. Als ihr verstorbener Vater Jakob noch der Wolf gewesen war, hatte der Clan zu den mächtigsten des Imperiums gehört. Dann starb Jakob und übernahm Valentin die Familie, und alles ging zum Teufel. Jetzt war Valentin auf der Flucht, hatten die abtrünnigen KIs von Shub Jakobs Leiche in einen Geistkrieger verwandelt und hatte sich ihr geliebter Bruder Daniel auf die Suche nach ihm gemacht. Womit nur Konstanze und Stephanie zurückblieben, um den Clan Wolf in den höchsten Kreisen zu vertreten.

»Ich sollte die Wolf sein«, sagte Stephanie nicht zum ersten Mal.

»Natürlich solltet Ihr das«, sagte SB Chojiro und schenkte ihr ein Lächeln, das überhaupt nichts ausdrückte. »Und werdet Ihr auch sein. Der Schwarze Block hat es Euch versprochen.«

»Ihr redet und redet, aber nichts ändert sich.« Stephanie schnitt ein finsteres Gesicht. »Konstanze kann nicht die Wolf sein. Sie hat kein Recht dazu. Ich bin von Jakobs Blut. Sie hat ihn nur geheiratet.«

»Habe ich in letzter Zeit schon erwähnt, wie besessen Ihr von diesem Thema seid, Stephanie? Das ist nur einer der Gründe, warum so viele Angehörige Eurer Klasse zur Zeit Konstanze als Clanoberhaupt vorziehen. Sie betrachten sie als… zugänglicher. Wir beide begegnen uns so selten, wie ich irgend einrichten kann, und trotzdem kenne ich Euren Refrain so gut, daß ich ihn praktisch mitsingen könnte. Wechseln wir doch bitte das Thema, ehe mir die Ohren bluten. Schon irgendein Zeichen von Daniel?«

»Nein.« Stephanies Miene verdunkelte sich weiter, als ehrliche Besorgnis ihren Mund von einer mürrischen Schnute in eine flache, gepreßte Linie verwandelte. Daniel war der einzige andere Mensch, auf den sie überhaupt etwas gab. »Zuletzt wurde er gesehen, wie er in den Verbotenen Sektor flog. Anscheinend weiß niemand, wie er an den Quarantäneschiffen vorbeigekommen ist. Das einzige Ziel, das jetzt noch vor ihm liegt, ist Shub. Armer verdammter Idiot.«

»Ja. Wünschen wir ihm den Trost eines schnellen Todes.«

»Nein! Er ist keine Gefahr für Shub. Sie werden es dort erkennen und ihn zurückschicken. Was nützte es ihnen, jemandem weh zu tun, der so harmlos ist?«

Sie tun uns weh, weil sie es können, dachte SB. W eil s ie künstliche Wesen aus lebendem Metall sind und nur Haß auf alles empfinden, was aus Fleisch ist. »Ja«, sagte sie laut. »Hoffen wir auf ein Wunder. Hoffen kostet nichts.«

Stephanie schniefte. »Was auch passiert, Daniel wird überleben. Schließlich ist er ein Wolf. Aber falls der Clan überleben soll, muß ich ihn führen. Eurem Vorschlag folgend habe ich mich in den unteren Kreisen der Familie umgeschaut und Unterstützung mobilisiert. Viele sind unzufrieden mit einer Außenseiterin als Clanoberhaupt. Sie würden mich unterstützen, wenn ich es zum Wohle der Familie für nötig hielte… bestimmte Schritte zu unternehmen.«

Zum ersten Mal wandte sich SB direkt Stephanie zu und bannte sie mit festem Blick. »Wie ich schon einmal gesagt habe, werdet Ihr Konstanze nicht töten oder töten lassen, wenn dadurch irgendeine Spur zurückbleibt, die auf Euch weist. Das Abkommen, das wir mit Ohnesorg getroffen haben, untersagt solche Maßnahmen.«

»Uns bleibt vielleicht keine andere Wahl«, entgegnete Stephanie hartnäckig. »Ihr habt gesehen, wie Konstanze mit Owen gesprochen hat. Ihr wißt so gut wie ich, worüber sie diskutiert haben. Eine Eheschließung zwischen ihr und dem Todtsteltzer brächte das ganze Haus Wolf unter ihre gemeinsame Kontrolle.

Der Clan Todtsteltzer könnte den Clan Wolf womöglich gar schlucken, und unser Name wäre für immer dahin! Das dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen gegen Konstanze losschlagen, solange wir noch können. Wenn erst Owen über sie wacht, kommen wir nie mehr an sie heran.«

»Wie immer denkt Ihr zu kleinkariert, Stephanie. Wenn diese Ehe erst geschlossen ist, dürfte es nicht allzu schwierig sein, Owen zu steuern, indem wir Drohungen gegen Konstanze aussprechen. Vielleicht liebt er sie nicht, aber als ihr Gatte wäre er gezwungen, sie zu schützen oder vor der Gesellschaft weitgehend das Gesicht zu verlieren. Owen ist Realist genug, um die Verhältnisse zu begreifen. Er wird die Herrschaft über den Clan Wolf an Euch abtreten, und dann haben wir sowohl den Clan Wolf als auch den Clan Todtsteltzer in der Hand.«

»Wartet mal eine Minute!« sagte Stephanie. »Was meint Ihr damit, den Clan Todtsteltzer in die Hand zu bekommen? Nur Owen gehört dazu. Er ist der letzte Todtsteltzer.«

»Ihr müßt wirklich lernen, an die Zukunft zu denken, Stephanie. Falls er heiratet, wird es schließlich Kinder geben. Im Schwarzen Block denken wir immer langfristig.«

»Ich hasse es, wenn Ihr mir Vorlesungen haltet!« raunzte Stephanie. »Ich bin kein Kind mehr! Ich bin nicht dumm, aber mir liegt eben nur daran, die Familie wieder groß zu machen.

Euch hat man jedoch den Stolz auf die eigene Familie ausgetrieben, als Ihr dem Schwarzen Block übergeben wurdet. Verdammt, man hat Euch sogar den Namen genommen!«

SB Chojiro lächelte sanft. »Ich habe wenig verloren und viel gewonnen. Der Schwarze Block ist die Summe aller Familien.

Es erfüllt mich mit Stolz, dazuzugehören.«

»Nun, das liegt nur daran, daß Ihr ein durch und durch konditionierter Zombie seid, der einen eigenen Gedanken nicht mal erkennen würde, wenn er darüber stolperte. Was haben sich die Familien nur dabei gedacht, als sie den Schwarzen Block gründeten? Er sollte unsere ultimative Waffe sein, uns die Macht über den Thron einbringen. Und jetzt verneigen wir uns alle vor Euch. Wir haben uns selbst in Ketten gelegt.«

»Ruhig!« sagte SB Chojiro. »Seid jetzt bitte ruhig, oder ich ziehe Eure Leine an. Ein alter Freund nähert sich. Vielleicht hat er gute Nachrichten für uns.«

Kardinal Brendan hatte einmal einem Kommandotrupp der Jesuiten angehört, der im Dienst der Kirche von Christus dem Krieger stand. Er hatte die Ketzer und die Gottlosen umgebracht und überhaupt jeden, der es wagte, die Stärke oder die Stellung der Kirche zu gefährden. Sie war die Staatsreligion des Imperiums gewesen und eng mit Imperatorin Löwenstein verknüpft. Als dann der Eiserne Thron schließlich stürzte, widerfuhr der Kirche das gleiche. Aus der Asche der gefallenen Kirche entstand die kleinere, aber mehr respektierte Kirche von Christus dem Erlöser, eine gewaltlose, der Wohltätigkeit gewidmete Kirche, die von der Obersten Mutter Beatrice Cristiana geführt wurde, der Heiligen von Technos III. Ihre erste Amtshandlung hatte darin bestanden, die krassesten Sünder der alten Kirche und ihre übelsten Elemente hinauszuwerfen – wobei sie jedoch Brendan übersah. Er gehörte zum Schwarzen Block, und dieser kümmerte sich um die seinen. Jetzt war er Kardinal Brendan, der Vertreter der Kirche auf Golgatha und der wichtigste Agent des Schwarzen Blocks in der neuen Kirche.

Leibhaftig wirkte er nicht gerade unvergeßlich: Groß, dunkel, mit sardonischem Lächeln und Augenbrauen, die stets im Begriff schienen, sich zu wölben. Er kleidete sich schlicht, aber gut, und da er darauf achtete, allen Gesprächspartnern die gleiche Aufmerksamkeit und Gunst zu schenken, fiel niemandem auf, daß er zuzeiten ganz offen mit der berüchtigten SB Chojiro sprach. Er verbeugte sich tief vor ihr und nicht ganz so tief vor Stephanie Wolf.

»Ein gutes Arrangement, meine Damen. Wem verdanke ich das Vergnügen dieser Einladung? Das Parlament kommt normalerweise ganz gut ohne meine illustre Gegenwart aus.«

SB gab ihren Ratgebern mit einem Wink zu verstehen, daß sie ein wenig auf Distanz gehen sollten. Sie verneigten sich und folgten widerspruchslos ihrem Geheiß, bis sie gerade eben außer Hörweite waren. Sie wußten, daß Intrigen über Intrigen liefen, in die selbst sie nicht immer eingeweiht wurden. SB lächelte Kardinal Brendan an.

»Ihr seid zugegen, weil Owen und seine Freunde alle hier sind. Die Überlebenden des Labyrinths. Falls der Schwarze Block überleben und gedeihen soll, müssen sie entweder in den Schoß der Gemeinde zurückkehren oder eliminiert werden.

Und da wir Eure Meinung schätzen, wurdet Ihr gerufen, um diese vier Personen als mögliche künftige Freunde oder Feinde einzuschätzen. Wen kann man umdrehen oder unter Druck setzen, überreden oder bestechen?«

»Und falls sie wirklich die sind, für die man sie hält, und sie kein Interesse zeigen, sich uns anzuschließen?« fragte Brendan.

»Dann benötigen wir Euren höchst kundigen Rat dazu, wie man sie am besten umbringt oder anderweitig beseitigt«, antwortete SB ruhig.

»Ihr verlangt nicht gerade viel, wie?« fragte Brendan. »Nicht einmal Löwenstein mit all ihren Leuten und Ressourcen ist mit diesen vieren fertig geworden, und Ihr denkt, wir könnten es?«

»Alles ist möglich, wenn man genug Zeit hat und ausreichend plant«, behauptete SB Chojiro. »Diese Leute denken nach wie vor in Begriffen der offenen Kriegsführung und zusammenprallender Armeen. An Disruptor und Schwert und die einfachen Freuden des Metzelns. In subtileren Formen des Konflikts haben sie bislang keine Erfahrung. Und schließlich sind sie inzwischen… viel besser erreichbar als früher.«

»Sie haben den Krieg gegen die Familien gewonnen«, stellte Stephanie fest. »Ihr habt verloren. Erinnert Ihr Euch?«

»Wir haben eine Schlacht verloren«, entgegnete SB. »Der Krieg geht auf anderen Feldern weiter.«

»Trotzdem solltet Ihr lieber auf Euer Fell achtgeben, Kardinal«, riet ihm Stephanie. »Solltet Ihr gar zu offen die Partei des Schwarzen Blocks ergreifen oder einen unserer großen Rebellenhelden verärgern, wirft Euch die Heilige Bea ruckzuck aus der Kirche, genau wie all die anderen.«

»Unserem höchst loyalen Kardinal wird nichts widerfahren«, sagte SB. »Man wird Meldungen falsch ablegen, Dokumente verlieren, die falschen Gerüchte hören. Mutter Beatrice bekommt nur zu hören, was wir möchten.«

»Ihr wärt nicht der erste, der Sankt Bea unterschätzt«, sagte Stephanie. »Und die meisten davon sind tot oder wünschen, sie wären es.«

»Sie kann nicht ewig leben«, meinte Brendan. »Und sollte sie eines plötzlichen und unerwarteten Todes sterben, würde die neue Kirche in völligem Chaos versinken. Genau die Art Situation, von der der Schwarze Block schon immer am meisten profitiert hat. Und die Reste der alten Ordnung, die Bruderschaft des Stahls, ist immer noch da – wenn auch versteckt –, und wartet nur auf eine Gelegenheit, die Kirche wieder zu übernehmen. Ihr wärt überrascht zu erfahren, wie viele von denen, die heute Macht und Einfluß genießen, sich insgeheim der Bruderschaft beugen.«

»Und der Schwarze Block steuert die Bruderschaft des Stahls«, stellte SB Chojiro fest. »Sankt Bea sonnt sich vielleicht derzeit in öffentlicher Zuneigung, aber die Öffentlichkeit ist von der wankelmütigen Sorte. Sie kann es sich jeden Augenblick anders überlegen. Oder hinnehmen, was über ihren Kopf hinweg entschieden wird.«

»Und dann leitet der Schwarze Block sowohl die Kirche als auch das Parlament«, sagte Brendan.

»Das Parlament gehört Euch noch nicht«, entgegnete Stephanie. »Es zeigt sogar betrübliche erste Anzeichen eines eigenen Willens.«

»Es ist nur eine Frage der Zeit«, sagte SB ruhig. »Wieso sucht Ihr beide Euch jetzt nicht ein möglichst unbedenkliches Gesprächsthema, während ich mich um einige persönliche Geschäfte kümmere?«

Sie bewegte sich anmutig durch die Menge, bis sie vor Julian Skye stand. Er sah sie kommen und traf zunächst Anstalten, sich zu entfernen, aber letztlich blieb er doch stehen und wartete auf sie. Sie blieb unmittelbar außer Armesreichweite stehen und blickte lächelnd zu ihm auf. Mit regloser Miene nickte er ihr kurz zu.

»Hallo Julian«, sagte sie mit ihrer süßesten Stimme. »Es ist lange her, seid ich dich zuletzt sah. Du siehst gut aus.«

Der letzte Satz war eine höfliche Lüge, und sie beide wußten es. Julian hatte sich nie richtig von den scheußlichen Verletzungen erholt, die er in den Verhörzellen erlitt.

Der verstorbene Giles Todtsteltzer hatte auf der Alptraumwelt Hakeldamach so etwas wie eine Wunderheilung bei ihm bewirkt, aber sie war nicht von Dauer. Julian Skye klammerte sich mit Hilfe grimmiger Entschlossenheit an die Reste seiner Gesundheit, und das sah man.

»Hallo SB«, antwortete er schließlich. »Du bist so schön wie immer. Hast du in letzter Zeit Verrat an jemandem verübt, der interessant sein könnte?«

SB schüttelte den Kopf. »Du hast es nie verstanden, aber ich konnte nicht anders. Sobald du mir sagtest, du wärst ein Rebell, übernahm meine Konditionierung. Ich konnte dich nicht einmal davor warnen, daß sie kamen. Ich habe danach geweint.«

»Ja«, sagte Julian. »Und in der Verhörzelle hast du mich zu überreden versucht, meine Freunde und Mitkämpfer zu verraten. Du hast mich als Abschaum bezeichnet, als den letzten Dreck. Und hast mich den Folterknechten überlassen. Und bei all meinen Schreien dachte ich immer an dich.«

»Ich mußte diese Worte sagen. Wir wurden belauscht.«

»Was möchtest du, SB?« fragte Julian rauh.

»Ich wollte sehen, ob wir noch miteinander reden können.

Der Schwarze Block ist mein Leben, aber nie hat etwas mein Herz so berührt, wie du es tatest. Ich möchte alles wieder so haben, wie es früher war.«

»Du mußt mich für verrückt halten! Ich weiß alles über den Schwarzen Block und über dich. Du hast mich einmal getäuscht, Schande über dich. Sollte es dir zum zweiten Mal gelingen, Schande über mich. Du bedeutest mir nichts mehr, SB.

Es hat weh getan, aber ich fühle mich so viel besser, seid ich dich nicht mehr im Herzen trage.«

»Nein, bitte nicht.« Sie streckte beide Hände nach ihm aus, aber er schrak zurück, wollte sie nicht berühren. Sie ließ die Hände sinken, und ihre Augen füllten sich mit unvergossenen Tränen. »O Julian! Meine Gefühle für dich waren echt, auch wenn ich ihnen nicht nachgeben konnte. Jetzt ist alles anders.

Ich habe mich verändert. Aufgrund meiner Stellung hat mir der Schwarze Block mehr Freiraum für persönliche Initiativen eingeräumt. Endlich steht es mir frei, meinem Herzen zu folgen!

Menschen können sich verändern; du mußt es einfach glauben!

Wir könnten wieder zusammen sein, und keine Geheimnisse stehen mehr zwischen uns.«

»Geheimnisse wird es immer geben, solange du den Schwarzen Block repräsentierst.« Julian schüttelte ruckhaft den Kopf und rang um einen gleichmäßigen Tonfall. »Verschwinde, SB.

Egal, was du hier für ein Spiel treibst, ich möchte daran nicht teilhaben. Was wir hatten, was wir zu haben glaubten, war nie mehr als ein Traum. Und ich bin erwacht. Ich habe lange gebraucht, um über dich hinwegzukommen, SB. Ich mache das nicht noch einmal durch. Nur… Geh jetzt bitte.«

»Das tue ich«, sagte SB. »Ich gehe und komme dir nie wieder unter die Augen, wenn du mir sagst, daß du mich nicht liebst.«

»SB…«

»Sag es, und ich gehe. Obwohl ich dich liebe. Weil ich eher sterben würde, als wieder zu sehen, wie du verletzt wirst. Sag nur… daß du mich nicht liebst.«

»Ich liebe dich nicht.«

»Lügner«, sagte SB Chojiro leise.

»O Gott, natürlich liebe ich dich, SB! Ich werde dich immer lieben.«

Sie hob die Hände, legte ihm die Fingerspitzen auf den Mund. »Du brauchst nichts weiter zu sagen, mein Liebling. Ich weiß, wie schwer dir das gefallen sein muß. Aber vertraue mir, es wird diesmal anders. Viele alte Einschränkungen gelten für mich nicht mehr. Immerhin, ich denke, wir haben zunächst genug geredet. Wir haben Zeit… alle Zeit, die wir brauchen.

Lebwohl, mein Liebster. Für den Augenblick.«

Und sie drehte sich um und ging fort, zurück zu Brendan und Stephanie und den Ratgebern. Julian blickte ihr nach und wußte nicht, was er sagen oder denken sollte. Sie hatte einen rundherum ehrlichen und aufrichtigen Eindruck gemacht, aber es bedeutete nichts, denn sie war vom Schwarzen Block. Alles, was er mit Sicherheit wußte, war, daß sein Herz wieder so klopfte wie früher, als er noch wußte, was Glück bedeutete, als seine Liebe noch etwas anderes gewesen war als eine Straße in die Verdammnis. Julian Skye blickte SB nach und verfluchte sich als Idiot, weil er noch immer glaubte, daß Dinge glücklich enden konnten.

Toby Shreck und sein Kameramann Flynn machten in der Halle die Runde und begrüßten alle Welt überschwenglich. Es schien, als suchte jeder Tobys Zuspruch, da er jetzt Chef der Imperialen Nachrichten war. Er führte spontane Interviews mit praktisch jedermann und hoffte dabei, daß er später im Bearbeitungsraum ein paar Goldkrümel aus den endlosen einstudierten Geräuschfetzen herauspicken konnte. Politiker wurden mit der Fähigkeit geboren, viel zu sagen und sich dabei auf möglichst wenig festzulegen, aber Toby brachte ausreichend Erfahrung mit und konnte sie dazu bringen, mehr zu bestätigen, als sie eigentlich wollten, und mehr zu sagen, als sie ahnten.

Bis sie es später in den Nachrichten sahen. Toby blieb viel länger, als er ursprünglich geplant hatte, einfach weil er soviel Spaß hatte. Das hier war echte journalistische Arbeit, die Nachrichten erbrachte. Alte Freunde und alte Feinde wurden mit dem gleichen freundlichen Lächeln bedacht, während er die Wahrheit aufstöberte, egal womit sie ihm dabei in die Quere kamen.

Endlich entschieden die Abgeordneten, daß sie soweit waren, warfen sich in ihre eindrucksvollsten Posen und gaben Befehl, die Tür zur Halle zu öffnen. Alle stürmten von dort in den Plenarsaal und trampelten dabei über die hinweg, die zu langsam liefen. Die beiden Sitzreihen beiderseits des offenen Parketts waren gedrängt voll mit Abgeordneten, die sich dabei fast gegenseitig auf dem Schoß saßen. Früher hatte an ein Wunder gegrenzt, wenn ein Viertel der Plätze zu Debatten besetzt war, aber heutzutage waren die Abgeordneten einfach zu erpicht darauf, daß man sie in den Nachrichten sah. Die meisten mußten an bevorstehende Wahlen mit dem neuen allgemeinen Wahlrecht denken und entsprechend auf den Eindruck achten, daß sie etwas taten.

Das Parkett füllte sich rasch mit Menschen, und die Luft schwirrte von Flugkameras, die sich gegenseitig wegzuschubsen versuchten, um jeweils selbst den besten Blickwinkel zu erhaschen. Die Abgeordneten saßen betont aufrecht und blickten auf alle Welt hinab. Ihre Werbeberater hatten sie vor den Risiken einer nachlässigen Körperhaltung gewarnt. Dergleichen machte auf dem Holoschirm einen schlechten Eindruck.

Die Abgeordneten hatten auch Forscher angeheuert, um alte Parlamentsbräuche auszugraben, die sie nutzen konnten. Dazu mußte man auf Zeiten zurückgreifen, als das Parlament noch etwas bedeutet hatte, aber bislang kapierten sie die meisten Verfahren noch nicht richtig. Zum Beispiel trugen die Abgeordneten heute durchweg stolz traditionelle schwarze und rote Gewänder und gepuderte weiße Perücken, aber bislang hatte niemand den Mut aufgebracht und ihnen erklärt, daß die Gewänder einerseits und die Perücken andererseits Traditionen waren, die Jahrhunderte auseinander lagen.

Die neueste Idee war, einen offiziellen Parlamentspräsidenten zu ernennen, jemanden, der sich keiner besonderen Partei oder Sache verpflichtet fühlte und demzufolge fähig war, völlig unparteilich für Ordnung zu sorgen. Prinzipiell eine gute Idee.

Leider hatte man Elias Gutmann für den Posten ausgewählt.

Angeblich, weil er zu unterschiedlichen Zeiten schon auf so vielen Seiten gestanden hatte, daß er wahrheitsgemäß behaupten konnte, jedermanns Interessen zu vertreten. Tatsächlich hatte man ihn gewählt, weil er die meisten Abgeordneten bestochen und die restlichen eingeschüchtert hatte, eine Praxis, die ihm schon immer sehr zustatten gekommen war.

Wie es hieß, hatte Elias Gutmann bei jeder schmutzigen Machenschaft im Imperium die Finger im Spiel, obwohl die Leute sorgfältig darauf achteten, wie laut sie das aussprachen. Die Familie Gutmann hatte Elias in seiner unfeinen Jugend von Golgatha verbannt und ihm regelmäßig Geld geschickt, solange er versprach, nicht nach Hause zurückzukehren – eine Vereinbarung, die beiden Parteien zupaß kam. Gutmann benutzte dieses Geld und die neue Freiheit, um sich zu dem erstrangigen Schurken zu entwickeln, den er schon immer in sich vermutet hatte. Er unterstützte sogar die Rebellion finanziell, nur um sich abzusichern.

Dann fielen so viele Angehörige seiner Familie in den Kämpfen auf Golgatha auf beiden Seiten, daß Elias sich ohne eigenes Zutun als ältester Überlebender wiederfand und schließlich doch zur Heimkehr aufgefordert wurde. Er verschwendete keine Zeit und stürzte sich kopfüber in die Politik, denn er spürte, daß man im neuen Imperium auf diesem Gebiet die eigentliche Quelle von Macht und Reichtum fand. Und jetzt war Elias Gutmann Parlamentspräsident und konnte entscheiden, wer im Parlament angehört wurde und wer nicht. Man hatte vernommen, daß viele Abgeordnete fragten, wie es nur soweit hatte kommen können, aber sie achteten sorgsam darauf, es ganz leise zu fragen.

Noch unglückseliger für alle Beteiligten war, daß das Parlament diese wichtige Ernennung vorgenommen hatte, während Owen Todtsteltzer gerade auf der Jagd nach Valentin Wolf und seinen Spießgesellen war. Alle warteten jetzt darauf, welche Reaktion er zeigen würde, und waren hin und hergerissen zwischen dem Wunsch, einen guten Platz zu ergattern, und dem sehr realen Bedürfnis, den Kopf einzuziehen oder sich zumindest außer Schußweite zu halten. Owen enttäuschte sie nicht.

Kaum öffneten sich die Türen der Halle, da stürmte er wütend in den Plenarsaal, und Hazel marschierte fröhlich neben ihm her. Owen ignorierte die klagenden Rufe der Saaldiener, die versuchten, ihn in die richtige öffentliche Zone zu steuern, und nahm direkten Kurs auf Gutmann, der auf einer erhöhten Plattform zwischen den beiden Bankreihen saß.

Zwei bewaffnete Wachtposten traten vor, um ihm den Weg zu versperren. Owen schlug einen bewußtlos, trat dem anderen in die Leistengegend und setzte einfach seinen Weg fort. Hazel folgte ihm und stieg dabei anmutig über die stöhnenden Gestalten auf dem Boden hinweg. Gutmann regte sich ein wenig unbehaglich auf seinem Platz. Er hatte noch andere, verborgene Schutzvorkehrungen getroffen, aber Auge im Auge mit dem Todtsteltzer wußte er nicht mehr so recht, wie wirksam sie sein würden. Owen blieb direkt unterhalb von Gutmanns erhöhtem Sitz stehen und blickte böse zum Parlamentspräsidenten hinauf.

»In Ordnung, welcher geistig behinderte Haufen schwanzloser Wunder hat diesen Gauner zum Parlamentspräsidenten gewählt? Kaum wende ich Euch fünf Minuten den Rücken zu, da reißt Ihr die Türen auf und holt den Fuchs in den Hühnerstall.

Warum habt Ihr ihm nicht gleich noch die Kronjuwelen ausgehändigt, wo Ihr schon dabei wart? Ich sehe lieber gleich mal nach ihnen, sobald ich hier fertig bin, und sollte nur ein Stück fehlen, wird jemand dafür büßen, und das werde verdammt sicher nicht ich sein. Wieso in aller Welt nur Gutmann? Sollte irgendwo im Imperium ein mieses Geschäft laufen, von dem er noch nicht profitiert hat, dann nur, weil er noch nichts davon gehört hat. Dieser Mann macht Geschäfte mit Tod und Leid; Gott weiß, wieviel Blut an Gutmanns Händen klebt.«

»Und wie viele Menschen sind von Eurer Hand gestorben, Sir Todtsteltzer?« fragte Gutmann aalglatt. »Wir alle mußten betrübliche Dinge tun, um dorthin zu gelangen, wo wir heute sind. Aber es heißt, wir hätten inzwischen eine neue Ordnung.

Eine Chance für jeden, sich neu zu bewähren. Ein neues Leben und eine neue Karriere aufzubauen, gänzlich verschieden von dem, was früher womöglich war. Oder glaubt Ihr nicht an neue Chancen? An Wiedergutmachung?«

»Nicht, soweit es Euch anbetrifft«, sagte Owen rundweg.

»Eher werden Grendelkreaturen zu Vegetariern, als daß Ihr Euch bessert. Ich kenne Euch, Gutmann.«

»Jedoch bleibt die Tatsache bestehen«, erklärte Elias Gutmann locker, »daß die guten Männer und Frauen dieses Hauses mich aus freien Stücken zum Parlamentspräsidenten gewählt haben. Oder wollt Ihr Euch der Autorität der Abgeordneten widersetzen?«

»Verdreht jetzt nicht alles!« verlangte Owen und wurde unwillkürlich lauter. »Ich habe nicht Jahre auf der Flucht verbracht und bin auf den Straßen Golgathas durch Blut und Gemetzel gewatet, nur um dann zu sehen, wie die Macht Menschen wie Euch übergeben wird! Ich weiß nicht, wie es Euch gelang, einer Anklage als Kriegsverbrecher zu entgehen, Gutmann, aber mir entkommt Ihr nicht! Steigt jetzt von diesem Sitz herunter, oder ich komme hinauf und hole Euch!«

»Ihr könnt mir nichts anhaben. Ich genieße den Schutz des Parlaments. Der Leute, die Ihr selbst an die Macht gebracht habt. Habt Ihr kein Zutrauen zu Eurer eigenen Schöpfung?«

»Nicht, wenn sie so übel verpfuscht wird.«

»Also stellt Ihr Euch über die Autorität des Parlaments? Genau wie die Aristokraten, die Ihr gestürzt habt, weil Ihr sagtet, sie mißbrauchten ihre Macht. Erkennt irgend jemand die Ironie? Ihr seid kein Held mehr, Todtsteltzer, der unterwegs seine eigenen Regeln aufstellen kann. Ihr seid ein gewöhnlicher Bürger des Imperiums und unterliegt der Autorität des Volkes, wie sie ihren Ausdruck durch das Parlament findet.«

»Zum Teufel damit! Ich habe nie ein Parlament gebraucht, das mir sagte, wie man richtig und falsch unterscheidet. Steigt jetzt herunter, oder ich bringe Euch auf Eurem Sitz um!«

»Ihr trotzt dem Willen des Parlaments!«

»Zur Hölle damit! Notfalls reiße ich das ganze Gebäude ein!«

Bewaffnete Wachleute stürzten von allen Seiten heran, während unter den Abgeordneten aufgeregtes Geplapper ausbrach.

Bei irgend jemand anderem wären es vielleicht nur leere Drohungen gewesen, was sie eben gehört hatten, aber das hier war Owen Todtstelzer. Vielleicht setzte er sie einfach in die Tat um. Gutmann packte fest die Armlehnen seines Sitzes, aber sein Gesicht blieb ruhig. Er hatte den Todtsteltzer so manipuliert, daß dieser die Beherrschung verlor und damit sein Heldenimage untergrub. Jetzt brauchte Gutmann das nur noch zu überleben.

»Typische Todtsteltzer-Drohung«, sagte er gelassen und achtete darauf, laut genug zu sprechen, um den zunehmenden Tumult zu übertönen. »Zum Teufel damit, wie viele es das Leben kostet, solange er nur seinen Willen bekommt. Ich schätze, wir dürften nicht überrascht sein. Schließlich war es sein Vorfahre, der erste Todtsteltzer, der den Dunkelwüsten-Projektor aktivierte und ungezählten Milliarden Unschuldiger den Tod brachte.«

Hazel umklammerte grimmig Owens Arm, damit er nicht den Disruptor ziehen konnte. Die umstehenden Wachleute sahen besorgt zu. Hazel packte mit einer Hand Owens Kinn und zwang ihn, sie anzusehen. »Tu es nicht, Owen. Du müßtest eine Menge unschuldiger Menschen töten, ehe du Gutmann erwischen würdest.«

Owen befreite sein Kinn mit einem Ruck und funkelte sie an.

Er atmete schwer. »Ich dachte, wenigstens Ihr würdet mich verstehen.«

»Das tue ich, Owen, das tue ich. Aber dies ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort.«

Es war ganz still geworden im Plenarsaal. Alle warteten ab, was der Todtsteltzer unternahm. Die Wachleute achteten darauf, nichts zu tun, was ihn provozieren könnte. Owen blickte sich langsam um, und die Wut floß aus ihm heraus. Er nahm die Hand vom Disruptor an seiner Seite. Man hörte, wie viele Menschen angehaltene Luft wieder herausließen. Owen nickte Hazel zu.

»Was ist nur passiert, daß Ihr mir Vorträge über Selbstbeherrschung halten müßt? Aber Ihr habt recht; es wird sich eine bessere Gelegenheit finden.«

Er wandte Gutmann den Rücken zu und marschierte davon, um sich der Zuschauermenge in der zugewiesenen Zone anzuschließen. Hazel bedachte Gutmann mit einem harten Blick und lief dann Owen nach – nur für alle Fälle. Nicht weit von der Szene spendeten Jakob Ohnesorg und Ruby Reise Beifall.

Viele andere erweckten den Eindruck, sie hätten es auch gern getan. Die Wachleute senkten die Waffen, hoben ihre zwei zu Boden gestreckten Kameraden auf und zogen sich so rasch zurück, wie es die Ehre gestattete. Toby Shreck grinste von einem Ohr zum anderen, zuversichtlich, daß Flynn alles auf Film hatte.

Elias Gutmann wartete kurz, bis er sicher war, daß er die Stimme wieder unter Kontrolle hatte, und eröffnete die Plenarsitzung mit einer gefühlsbetonten Rede, die lediglich aus aufrüttelnden Geräuschfetzen bestand. Alle spendeten der Rede Beifall aufgrund des Vorzuges, daß sie kurz war, und das Parlament widmete sich endlich der Tagesordnung. Darauf stand als erstes ein Bericht der Kyberratten, die zur Zeit die Lektronenmatrix von Golgatha nach Spuren einer Infiltration durch die abtrünnigen KIs von Shub untersuchten.

Vor den Abgeordneten und den Zuschauern tauchte ein Sichtschirm auf, der mitten in der Luft schwebte. Kräftige Farben zuckten darüber hinweg und formierten sich schließlich zu Kopf und Schultern desjenigen, der heute für die Kyberratten sprach. Diese erwiesen sich in solchen Fragen als eher locker, denn sie kümmerten sich wenig um die Belange der Welt außerhalb ihrer kostbaren Rechner. Die Kyberratten lebten ganz für die Zeit, die sie eingetaucht in der kybernetischen Welt verbrachten, und traten nie öffentlich in Erscheinung, solange sie es vermeiden konnten. Jeder, der mal einen dieser Leute zu sehen bekam, verstand gleich den Grund. Sie waren mit genügend Techimplantaten, Zusätzen und modernsten Optionen ausgestattet, um formell als Kyborgs durchzugehen, und ihre persönlichen Angewohnheiten grenzten oft ans Abstoßende.

Sie interessierten sich nur für Tech und für das, was diese für sie leisten konnte, und oft vergaßen sie die Bedürfnisse des bloßen Fleisches, in dem sie lebten.

Der heutige Vertreter, der sich des Kodenamens Kabelhase erfreute, sah aus, als wäre er schon vor Tagen gestorben und nur dazu ausgegraben worden, um heute Bericht zu erstatten.

Die Hautfarbe war Staubgrau, und das Gesicht so spitz und knochig, daß es an Auszehrung grenzte. Ein Nährstoffschlauch steckte in einer Ader am Hals, und ein Lektronenstecker war in die leere rechte Augenhöhle eingestöpselt. Kabelhase lächelte die Menge verschwommen an und zeigte dabei Zähne, die in wirklich grauenhaftem Zustand waren.

»O Mann, so viele Leute auf einem Haufen! Ich kriege die Atmosphäre von hier aus mit. Grüße, ihr Fleischmenschen; hier spricht der echte Schwermetalltyp Kabelhase und wünscht euch alles Gute! Halleluja, laßt uns in fremden Zungen reden!

Alle Macht den Leuten, die sich für wirklich halten, aber auch denen, die noch darüber nachdenken. Für alle anderen besteht das Geheimnis darin, die Neuronen zusammenzuknallen, Leute! Ich und meine total vollgedröhnten Kumpels sind durch das Silikon der Matrix gesurft und haben nach diesen absolut bösen Metallfreaks von dem Ort gesucht, über den wir nicht reden, und soweit muß ich euch sagen, daß wir absolut garnix gefunden haben. Zero, nada, weniger als null. Ne Menge Spuren, daß was Megamäßiges da war und wieder weg ist, aber fragt nicht, wer oder was oder wohin, es sei denn, ihr wollt eine Menge Technosprech, den selbst wir oft nicht kapieren, weil wir ihn spontan selbst aushecken müssen. Wir sind an der Grenze unterwegs, Leute, und es ist wirklich merkwürdig hier draußen.

Türlich war es auch nicht hilfreich, daß große Gebiete von den größeren Geschäftskonstrukten als Sperrzone markiert wurden. Die Stadt der Paranoia, Freunde. Wir werden dort schließlich einbrechen, sei es auch nur, weil wir eine echte Aufgabe so lieben, aber die Sache bremst uns doch etwas ab.

Vermutlich wollt ihr dicken Geschäftsfreaks nicht freiwillig mit den Zugangskodes rausrücken, oder? Nein? Hatte ich auch nicht erwartet. Verdammt, diese negativen Schwingungen knabbern wirklich an mir! Wartet nen Moment, während ich meine Endorphine frisch hochpusche. Uuuh… echt irre! Leute, plaudert mal eine Zeitlang miteinander. Ich denke, ich leg mich für ne Runde hin und röste ein paar Hirnzellen, die ich zur Zeit nicht brauche. Möönsch, diese Farben, Mann!«

»Wartet!« sagte Elias Gutmann. »Habt Ihr uns nichts Brauchbares zu sagen?«

»O sicher, großer Typ, hätte ich beinahe vergessen. Ich hab es irgendwo notiert… Ah. Hütet euch vor den Drachenzähnen.

Cool! Aus und Ende und bin schon weg, Mann.«

Der Sichtschirm verschwand und die Kyberratte mit ihm. Eine lange Pause trat ein. Gutmann sah Owen an. »Soweit ich mich entsinne, habt Ihr diese… Leute empfohlen, Sir Todtsteltzer.«

Owen zuckte die Achseln. »Sie sind seltsam, aber ich bin mit ihrem Geschäft vertraut. Jeder, der genügend Zeit in der Matrix verbringt, wird verrückt, und diese Leute suchen sie zum Spaß auf. Falls die KIs irgendwelche Spuren von dem hinterlassen haben, was sie dort tun, dann haben nur die Kyberratten eine Chance, sie zu entdecken. Und wir müssen es erfahren. Die KIs sagten, sie hätten alle bedeutenden Unternehmen infiltriert und wären dabei, unsere Wirtschaft in ihrem Interesse zu manipulieren. Womöglich haben sie das nur wegen der Panik gesagt, die sie damit erzeugten, aber wir können kein Risiko eingehen.

Falls es zutrifft, müssen wir erfahren, wie weit die Infiltration reicht und wie lange sie schon läuft, ehe wir auch nur damit anfangen können, die Sache wieder in Ordnung zu bringen.«

Gutmann nickte widerstrebend und verzog keine Miene.

»Aber Euer eigener… Experte sagte, keine der Kyberratten wäre fähig gewesen, irgendeine Spur einer Einmischung von außen zu finden.«

»Falls es etwas gibt, womit Shub sich besser auskennt als mit uns, dann sind es Lektronen. Sie haben ihre Spuren sicher an Stellen versteckt, wo nachzusehen einem normalen Menschen nicht mal einfallen würde. Zum Glück sind die Kyberratten auch nicht annähernd normal.«

»Endlich seid Ihr zufällig auf etwas gestoßen, worin wir übereinstimmen können«, sagte Gutmann schwer. »Ich wünschte nur, ich könnte Euer Vertrauen in diese… Leute teilen. Vielleicht könntet Ihr nun dem Hohen Haus Eure klügsten Mutmaßungen unterbreiten, was diese Drachenzähne sind, vor denen wir uns hüten sollen.«

»Ich hätte eigentlich gedacht, das wäre selbst für Euch ersichtlich, Gutmann. Die KIs haben nämlich auch behauptet, sie hätten Leuten beim Eintreten in die Matrix das Bewußtsein herausgerissen und ihre eigenen Gedanken dafür eingesetzt.

Die Drachenzähne sind die mitten unter uns wandelnden Personen, die keine Menschen mehr sind – die zwar Menschenantlitz zeigen, aber Shubs Gedanken denken. Die perfekten Spione, noch schwieriger zu enttarnen als Furien. Wir können unmöglich wissen, wie viele sich davon herumtreiben oder wie stark unsere Sicherheitsvorkehrungen bereits unterlaufen wurden.«

»Was eine sehr schöne Überleitung zu der Petition ist, die ich dem Hohen Haus vorzulegen habe«, sagte eine barsche Stimme aus der Menge. Die Leuten sahen sich um, wollten herausfinden, wer das war, und wichen dann hastig zurück, als sie die kleine blonde Frau entdeckten, deren Augen kalt wie der Tod waren. Früher einmal hatte sie Johana Wahn geheißen, ein Avatar der geheimnisvollen und rätselhaften Superesperin Mater Mundi, der Weltenmutter. Macht über alle Hoffnung und Vernunft hinaus brannte damals in Johana Wahn, und die Luft um sie herum knisterte vor Spannung. Heute verkörperte sie nicht mehr alles, was sie früher gewesen war, denn Mater Mundi hatte sie verlassen, und Johana trug wieder den alten Namen Diana Vertue. Trotzdem war sie immer noch eine Macht, mit der man rechnen mußte, und die meisten Leute hatten genug Verstand, in ihrer Nähe sehr nervös zu werden. Heute repräsentierte sie die Esper-Bewegung im Parlament, vor allem deshalb, weil alle anderen Mitglieder der Bewegung zu viel Angst hatten, um ihr das abzuschlagen. Sie bahnte sich jetzt einen Weg nach vorn durch die Menge, und die Leute beeilten sich, ihr auszuweichen. Sie blieb vor Owen stehen, der sich höflich vor ihr verbeugte.

Um die Wahrheit zu sagen: Auch er hatte ein bißchen Angst vor ihr, aber er hielt nichts davon, solche Dinge vor aller Welt zu zeigen.

»Hallo Diana, Ihr seht ganz normal aus. Was für eine Petition könnte das sein?«

»Alle ESP-Blocker aus dem Parlament zu entfernen, damit wir die Gedanken aller Anwesenden lesen und herausfinden können, ob auch jeder das ist, was er vorgibt.« Dianas Stimme klang barsch und rauh und absolut einschüchternd. Die Kehle war geschädigt von den Schreien, die Diana in den Gefängniszellen von Golgatha ausgestoßen hatte, und hatte sich nie wieder ganz erholt. »Die ESP-Blocker müssen weg. Nicht nur Shub liefert uns Gründe, besorgt zu sein. Erinnert Ihr Euch noch an das gestaltwandelnde Fremdwesen, das bei Hofe erschien? Es ahmte einen Mann so exakt nach, daß nicht einmal seine Freunde den Unterschied erkennen konnten. Wirkliche Sicherheit im Parlament können wir nur wahren, indem wir die Gedanken aller lesen und keine Ausnahmen erlauben. Klingt für mich absolut vernünftig.«

»Das liegt daran, daß Ihr so seltsam seid«, fand Gutmann, und praktisch alle nickten beifällig. »Euer Antrag ist völlig inakzeptabel. Jeder hier hat ein Recht auf Unverletzlichkeit der Gedanken.«

»Dieses eine Mal muß ich Euch zustimmen«, sagte Owen.

»Wir alle kennen Geheimnisse, die gewahrt bleiben müssen.

Selbst wenn sie nur für uns wirklich wichtig sind. Oder vielleicht besonders die. Aber ich verstehe, worauf Ihr hinauswollt.

Vielleicht könnten wir ein System ausarbeiten, das auf Freiwilligkeit beruht…«

»Nur zu«, sagte Gutmann. »Ihr zuerst.«

Owen mußte unwillkürlich lächeln. »Geben wir diese Frage an die Kirche weiter. Sie hat Erfahrung mit Beichten.«

»Wir werden es ins Auge fassen«, sagte Gutmann. »Und falls Euch das nicht reicht, Esper Vertue, fühlt Euch frei, Euer Anliegen dem zuständigen Unterausschuß vorzulegen. Zu einem späteren Zeitpunkt. Allerdings führt uns dieses Thema nahtlos zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung. Im Rahmen des Abkommens, das Jakob Ohnesorg mit den Familien ausgehandelt hat, gelten Klone und Esper nicht mehr als Besitztum, sondern als Bürger aus eigenem Recht. So lobenswert und gerecht das scheinen mag, hat es doch zu unerwarteten Problemen geführt. Seit Jahrhunderten beruhten Handel und Industrie im ganzen Imperium auf der unbegrenzten Verfügbarkeit der Arbeitskraft von Klonen und Espern. Jetzt müssen sie durch bezahlte Arbeiter oder neue Techniken ersetzt werden, was beides äußerst teuer ist. Veränderungen sind immer kostspielig, und jemand muß dafür aufkommen.

Da wir die Lektronen der Steuerbehörde endlich wieder in Gang bringen konnten…« Und an diesem Punkt legte Gutmann eine Pause ein, um wie alle anderen im Saal böse die Personen anzuschauen, die für die Zerstörung der Rechner verantwortlich waren, nämlich Owen und Hazel, die lächelten und bescheiden nickten. »… war unser erster Gedanke, die Einstiegsrate der Einkommenssteuer zu erhöhen. Die breite Masse der Bürger machte jedoch rasch ausgesprochen deutlich, daß sie dies als sehr schlechte Idee betrachtet. Sie schlug vor, daß die Aristokraten als die Wohlhabendsten unter uns die Last schultern sollten. Die Clans ihrerseits wiesen nicht zu Unrecht darauf hin, daß viele von ihnen durch den Verlust an Macht und Lenkungsmöglichkeiten, wie ihn Ohnesorgs Abkommen mit sich brachte, schon fast verarmt wären; sie hielten es für im Grunde nicht fair, noch mehr gestraft zu werden. Dunkle Andeutungen sprachen vom drohenden Zusammenbruch von Industrien in Familienhand und von der Massenarbeitslosigkeit, die daraus entstünde. Umfangreiche Diskussionen und Verhandlungen und Ausschüsse in beliebiger Zahl erbrachten bislang keine brauchbaren Ergebnisse.«

»Er hält sogar noch längere Ansprachen als du, Owen«, murmelte Hazel. »Ich bin beeindruckt.«

»Und Ihr braucht Euch auch nicht an die Untergrundbewegungen zu wenden«, warf Diana ein. »Wir müssen schon die Klon- und Esperfamilien unterstützen, die durch neue Techniken ihre Arbeit verloren haben. Solange sie noch Eigentum waren, kamen die Clans für ihren Unterhalt auf. Seit sie freie Bürger sind, waschen die Clans ihre Hände in Unschuld. Freiheit ist ja sehr schön, aber sie bringt noch keine Mahlzeiten auf den Tisch.«

Owen fand, daß er noch nie so viel Undankbarkeit von so vielen Menschen gehört hatte, und ihm war danach, sich entsprechend zu äußern. Er nahm jedoch wieder Abstand davon, weil er nur zu gut wußte, daß sie eine Möglichkeit finden würden, ihm an allem die Schuld zu geben. Und weil auch er nicht wußte, wer für alles bezahlen sollte. Wirtschaft war nie seine starke Seite gewesen. Er war Krieger, nicht Buchhalter. Er sah Hazel an, die mit den Achseln zuckte.

»Frag mich nicht. Um eine gerechtere Verteilung des Reichtums zu erzielen, ist mir nichts Besseres eingefallen, als Piratin und Klonpascherin zu werden. Keins von beiden hat besonders gut funktioniert.«

»Das Problem besteht in der Geschwindigkeit, mit der sich das Imperium verändert«, fand Diana Vertue. »Es geht zu langsam.«

»Das Problem ist, daß es zu schnell geht«, entgegnete Gutmann.

»Klar, daß Ihr das behauptet«, sagte Diana. »Ihr und Euresgleichen habt schließlich am meisten zu verlieren.«

»Wir sind einfach besorgt, es könnte ein zu schneller Wechsel von einem System, das auf Menschen beruht, zu einem System stattfinden, das auf Technik basiert. Wir möchten nicht, daß es wie auf Shub endet.«

Diana runzelte die Stirn, was einschüchternd wirkte. »Ihr verbreitet nur Nebel, Gutmann. Der Untergrund möchte nicht, daß Klone und Esper durch Tech ersetzt werden, sondern verlangt einfach bessere Arbeitsbedingungen und gerechten Lohn.«

»Was uns wunderbar wieder zum Thema Geld führt«, sagte Gutmann, lehnte sich auf seinem Sitz zurück und blickte über die versammelte Menge hinweg. »Durch die Unruhen und die Tatsache, daß niemand mehr lenkend auf die Wirtschaft einwirkt, galoppiert inzwischen die Inflation, sogar auf den stabilsten Planeten. Ersparnisse werden aufgezehrt. Banken brechen zusammen. Die Familien tun, was sie können, sind sich aber nur darin einig, daß die Lage zwangsläufig erst noch schlechter wird, ehe es wieder zum Aufschwung kommt. Was immer man über die alte Ordnung behaupten konnte, sie hat die Währung stabil gehalten – auch wenn die Imperatorin ein paar Banker aufhängen mußte, um sich klar auszudrücken.«

»Wie wäre es mit einer Steuer auf aufgeblasene Schwätzer?« fragte Hazel zuckersüß. »Oder eine Glücksfallsteuer für Leute, die es geschafft haben, aus den Veränderungen hübsch Profit zu schlagen? Das sollte ordentlich Zaster einbringen.«

Viele Anwesende knurrten und brummelten untereinander, aber niemand brachte den Mut auf, von Hazel zu fordern, sie möge ihren Kommentar zurücknehmen.

»Bitte, wir wollen uns doch alle bemühen, von persönlichen Angriffen Abstand zu nehmen«, sagte Gutmann ernst. »Ich denke, es wäre das beste, zum nächsten Punkt der Tagesordnung überzugehen.«

»Aber es hat keine Entscheidung zur letzten Frage gegeben!« protestierte Owen.

»Ich sagte, wir machen weiter«, sagte Gutmann. »Als Parlamentspräsident bin ich für die Tagesordnung zuständig.«

»Ich habe Euch gewarnt!« sagte Owen und funkelte ihn an.

»Ich könnte Euch hinauswerfen lassen«, erwiderte Gutmann.

»Ihr könntet es versuchen«, sagte Owen.

»Bitte, tut es«, bat Hazel.

»Wir fahren mit dem nächsten Punkt auf der Tagesordnung fort«, verkündete Gutmann. »General Beckett, verantwortlicher Offizier für die Imperiale Flotte, wartet schon höchst geduldig darauf, sich an uns zu wenden.«

Ein schwebender Bildschirm tauchte fast sofort mitten in der Luft auf, als hätte er nur aufs Stichwort gewartet, und General Shaw Beckett bedachte von dort aus mit finsterer Miene unparteilich alle Anwesenden. Sein großer, eckiger Kopf hockte auf massigen Schultern, obwohl der größte Teil seiner einschüchternden Körpermasse außer Sicht blieb. Die Uniform spannte sich über seiner wuchtigen Gestalt und war mit mehr Orden behangen, als man zählen konnte. Der breite Mund bildete eine strenge Linie, die dunklen Augen blickten fest. Wie immer rauchte Beckett eine dicke Zigarre und brach gelegentlich ab, um Rauch in die Kamera zu blasen.

»Wird aber auch Zeit, daß Ich an die Reihe komme. Paßt also auf und macht Euch notfalls Notizen, denn ich will verdammt sein, wenn ich die Sache noch mal durchkaue. Seit die Flotte bei der Rebellion durch Schiffe der Gesetzlosen und dieser verdammten Hadenmänner auseinandergenommen wurde, kämpfen wir darum, den nötigsten Dienst aufrechtzuerhalten.

Die meisten Sternenkreuzer der D- und E-Klasse sind futsch, und wir müssen uns auf Zerstörer und aufpolierte Fregatten verlassen, die nie für eine solche Belastung gedacht waren. Wir sind auch knapp an Besatzungsmitgliedern. Wir haben reichlich Freiwillige, aber es braucht Zeit, echte Raumschiffer auszubilden. Man kann nicht jeden auf ein Sternenschiff loslassen.

Mit den größeren Schiffen schützen wir die Transportrouten für Lebensmittel zu den Planeten, die es am schwersten erwischt hat. Wir haben eine Menge hungriger Leute da draußen, aber bislang gelang es uns, in weiten Bereichen echte Hungersnöte zu vermeiden. Piraten bilden dabei ein Problem; sie greifen die Geleitzüge an, um ihre Schwarzmärkte zu speisen. Wir bringen sie so schnell um, wie wir sie zu fassen kriegen, aber es tauchen immer neue auf. Was wir darüber hinaus an Schiffen übrig haben, fährt Patrouille, meist draußen am Abgrund, und gibt auf Insektenschiffe acht.«

Sein Gesicht verschwand vom Schirm und wich dem vertrauten Anblick eines Schiffs der Fremdwesen. Es ähnelte einem großen, sehr kompakten Ball aus verworrenen klebrigen Spinnfäden. Es war mit Waffen und Kraftfeldern unbekannter Bauart ausgestattet, auch wenn man sie nicht sehen konnte. Ein solches Schiff hatte die Besatzung eines isolierten imperialen Stützpunktes restlos niedergemetzelt und dann beinahe die großen Städte Golgathas zerstört, ehe es selbst von Kapitän Schwejksam und seiner Besatzung vernichtet wurde. Niemand wußte, woher es stammte oder was diese Wesen wollten. Das einzig Sichere an ihnen waren die mörderischen Absichten.

Das Bild des Schiffs wich wieder dem Gesicht General Becketts.

»Bei der begrenzten Anzahl meiner Schiffe kann ich keinen Präventivschlag führen. Mir bleibt lediglich, auf die Angriffe der Extraterrestrier zu reagieren, ihre Schiffe abzuwehren und den Schlamassel zu beheben, den sie hinterlassen. Bislang hatten wir Glück und konnten die umfangreichen Verwüstungen und das Gemetzel vermeiden, die das erste Schiff nach Golgatha brachte, aber Glück hat die häßliche Angewohnheit, einem irgendwann auszugehen. Fazit: Menschen sterben da draußen am Abgrund, und ich kann verdammt wenig dagegen unternehmen! Ich brauche mehr Schiffe!«

»Wir bauen so schnell neue, wie wir können, General«, entgegnete Gutmann scharf. »Aber wir haben Schwierigkeiten.

Schiffe der E-Klasse wird es solange nicht mehr geben, bis wir eine neue Fabrik für Hyperraumantriebe errichtet haben, um die zu ersetzen, die während der Rebellion zerstört wurden.

Und bis wir wissen, wie wir die Klone ersetzen können, die früher für die gefährliche Aufgabe zuständig waren, die Triebwerke tatsächlich zu montieren. Und natürlich sind selbst Schiffe der D-Klasse fürchterlich teuer – und das zu einer Zeit, in der wir jede Ausgabe einzeln abwägen und rechtfertigen müssen. Solange die Schiffe der Fremdwesen keine unmittelbare Gefahr für die Kerngebiete des Imperiums darstellen…«

»Also opfert Ihr die Menschen auf den Planeten des Abgrunds, nur um den übrigen keine höheren Steuern aufbürden zu müssen«, knurrte Beckett offen in die Kamera. »Regierungen kommen und gehen, aber im Grunde ändert sich nichts.

Seht mal, die Insekten sind einmal bis Golgatha vorgedrungen, und im Moment haben wir keine Möglichkeit, sie an einem erneuten Besuch zu hindern. Wir wissen nach wie vor nicht, woher sie kommen; sie tauchen einfach aus dem Nirgendwo auf, greifen an und verschwinden wieder.«

»Solange wir sie nicht zu sehr gegen uns aufbringen, besteht eine reale Chance, daß sie ihre Angriffe auf den Abgrund beschränken«, sagte Gutmann. »Eine traurige Philosophie, wie ich einräumen möchte, aber in dieser verzweifelten Zeit bleibt uns nur, nach dem größten Wohl für die größte Mehrheit zu streben. Dabei geben wir den Abgrund nicht auf; wir erteilen Euch die Vollmacht, dort zu bleiben und die Region nach besten Kräften zu verteidigen. Sobald neue Schiffe verfügbar sind, schicken wir sie Euch. Wenn Ihr also nichts weiter vorzubringen habt…«

»Wie es sich trifft, habe ich das durchaus«, sagte Beckett.

»Irgend etwas… läuft hier draußen ab. Beunruhigende Meldungen treffen seit einiger Zeit von überall entlang des Abgrunds ein – Meldungen, die die Dunkelwüste betreffen und von… Dingen sprechen, die aus der Dunkelheit kommen. Von Stimmen der Toten, die Warnungen rufen. Visionen von Wundern und Alpträumen, von flüchtigen Kontakten mit Dingen, die innerhalb eines Augenblicks auftauchen und wieder verschwinden. Esper haben von einer Tür geträumt, die sich öffnete und wieder schloß, und von etwas Grauenhaftem, das hindurchspähte. Es sind zu viele Meldungen aus gewöhnlich zuverlässigen Quellen, als daß ich sie einfach abtun könnte. Ich sehe mich gezwungen, daraus den einzig möglichen Schluß zu ziehen: Etwas lebt in der Dunkelwüste

Eine ganze Weile blieb alles still. In den über neunhundert Jahren, seit der ursprüngliche Todtsteltzer den Dunkelwüsten-Projektor eingesetzt hatte, hatte niemand wirklich etwas über die riesige Zone aus tiefster Nacht erfahren, die man die Dunkelwüste nannte – außer daß Schiffe, die hineinflogen, nur selten zurückkehrten. Gutmann wandte sich an Owen und Hazel.

»Sir Todtsteltzer, Ihr und Miss d’Ark wart die letzten, die tief in die Dunkelwüste vorgedrungen und von dort zurückgekehrt sind. Vielleicht könntet Ihr… dieses Phänomen für uns ein wenig erhellen?«

»Für mich ist das alles ganz neu«, antwortete Owen. »Wir sind auf nichts dergleichen gestoßen. Daß es mein Vorfahr war, der den Dunkelwüsten-Projektor erbaute, heißt noch nicht, daß ich ein größerer Experte bin als irgend jemand sonst. Falls Giles irgendwelche Geheimnisse über die Dunkelwüste wußte, hat er sie nicht an mich weitergegeben. Ich habe wirklich keine Ahnung, wie irgend jemand oder irgend etwas dort draußen leben könnte. Nichts in der Dunkelwüste ermöglicht Leben.

Kein Licht, keine Wärme, keine Nahrung… wie könnte irgendwas dort existieren?«

»Kein Leben, wie wir es kennen«, sagte Beckett vom Bildschirm herunter. »Aber wer weiß, welche in jenem Augenblick des Massensterbens und völligen Grauens geborenen Alpträume womöglich in der Dunkelheit lauern?«

»Das ist lächerlich!« versetzte Owen.

»Wirklich?« fragte Beckett. »Als Ihr die Dunkelwüste aufsuchtet, kamt Ihr mit den wiederbelebten Hadenmännern zurück, einem alten Grauen, von dem wir längst frei zu sein glaubten. Alles könnte in dieser Dunkelheit hausen. Einfach alles.«

Alle blickten Owen und Hazel an, aber sie sagten nichts. Sie wußten Dinge über das Wesen und die Ursache der Dunkelwüste, von denen niemand sonst etwas ahnte, aber sie hatten vor langer Zeit und aus sehr guten Gründen geschworen, diese Geheimnisse zu wahren. Außerdem bestand keine erkennbare Verbindung zwischen dem, was sie wußten, und dem Phänomen, das Beckett geschildert hatte. Das hofften sie jedenfalls.

»Wo wir schon von den Hadenmännern sprechen«, fuhr Beckett fort, nachdem sich das Schweigen eine Zeitlang hingezogen hatte. »Damit kommen wir zum abschließenden Teil meines Berichts. Ich denke, wir waren alle etwas überrascht, als sich die wiederbelebten Hadenmänner den Rebellen anschlossen, um die Imperatorin zu stürzen, und wir waren noch mehr überrascht, daß die aufgerüsteten Menschen tatsächlich Befehlen gehorchten und Gefangene nahmen, als sich die imperialen Truppen ergaben. Früher hatten die Hadenmänner einfach alle abgeschlachtet. Schließlich waren sie die offiziellen Feinde der Menschheit, bis die KIs von Shub sie in dieser Rolle ablösten.

Ihr habt uns versichert, sie hätten sich gebessert, Sir Todtsteltzer. Ihr sagtet, wir könnten mit ihnen zusammenarbeiten.

Wir hätten es besser wissen sollen! Wir hätten niemals Kyborgs trauen sollen, Menschen, die ihr Menschsein aufgegeben haben, um nach Vollkommenheit durch Technik zu streben, die den Großen Kreuzzug der Genetischen Kirche starteten, um die Menschheit zu vernichten und sich an ihre Stelle zu setzen. Die Menschenmaschinen in ihren goldenen Schiffen! Die Schlächter von Brahmin II. Nun, Sir Todtsteltzer, Eure alten Bundesgenossen sind nach Brahmin II zurückgekehrt, haben die Abwehr des Planeten zerstört und die Macht über ihn und seine Bevölkerung übernommen. Sie nennen ihn jetzt Neuhaden und blockieren ihn mit einer ganzen Flotte ihrer goldenen Schiffe.

Die wenigen Meldungen, die hinaus gelangten, ehe alle Kommunikation abgebrochen wurde, sprechen davon, daß die Hadenmänner mit ihren Gefangenen dort experimentieren und sie in neue verbesserte Hadenmänner verwandeln.

Wir haben keine Ahnung, was zur Zeit dort passiert. Und da wir einfach keine Möglichkeit haben, an den goldenen Schiffen vorbeizukommen, können wir auch die Menschen von Brahmin II nicht retten. Es sei denn natürlich, der Todtsteltzer hätte irgendwelche Ideen. Er ist schließlich derjenige, der die Hadenmänner wieder auf die Menschheit losgelassen hat!«

Aufgebrachtes Gemurmel lief durchs Parlament, von den Abgeordneten bis zu den Zuschauern auf dem Parkett, und wurde allmählich lauter. Es war ein beunruhigendes, gefährliches Geräusch und erstarb nur widerwillig, als Owen sich wütend umsah. »Sie waren ein notwendiges Übel«, erklärte er kategorisch. »Ohne sie hätten wir Löwensteins Flotte nicht besiegen können. Fragt General Beckett. Ich hatte… gehofft, die aufgerüsteten Menschen wären inzwischen über ihre alten Ziele hinausgewachsen. Ich kannte einen Hadenmann, der ein so feiner Mensch war, wie ich nie einen besseren getroffen habe. Wie es scheint, wurde ich jedoch wiederum von denen verraten, in die ich Vertrauen setzte. Trotzdem wollen wir doch die Gefahren der Situation nicht übertreiben. Sie halten nur einen Planeten, und bislang verfügen sie nicht über genug Kräfte für etwas anderes, als ihn zu verteidigen.«

»Möchtet Ihr damit vorschlagen, wir sollten die Menschen von Brahmin II aufgeben, damit man sie in Monstrositäten verwandelt?« fragte Gutmann. »Ich denke nicht, daß das Imperium sich das gefallenläßt.«

»Warum nicht?« fragte Owen. »Schlagt Ihr nicht das gleiche für die Bewohner der Welten am Abgrund vor? Die wenigen im Namen der vielen zu opfern? Aber nein, Gutmann, ich schlage nicht vor, die Bewohner von Brahmin II abzuschreiben, und sei es auch nur, weil die Hadenmänner letztlich aus ihnen eine komplett neue Armee aufstellen könnten. Hazel und ich werden nach Brahmin II reisen, allein, und nachsehen, was wir tun können, um den Schaden zu beheben. Schließlich trage ich die Verantwortung dafür.«

»Jetzt mal langsam!« warf Hazel ein. »Wann habe ich mich freiwillig für diesen Selbstmordeinsatz gemeldet?«

»Na ja, Ihr möchtet doch nicht den ganzen Spaß versäumen, oder?«

»Hat was für sich«, meinte Hazel. »Ich habe es nur gern, wenn man mich fragt, mehr nicht.«

»Das Hohe Haus nimmt Euren Vorschlag dankbar an«, sagte Gutmann. »Und wünscht Euch alles Gute. Ihr werdet es brauchen. Ist das für Euch akzeptabel, General Beckett?«

»Verdammt richtig«, sagte Beckett. »Er hat den Schlamassel angerichtet; soll er ihn auch wieder beheben. Aber nur für den Fall, daß sie scheitern, sollten wir darüber nachdenken, ob wir nicht den ganzen verdammten Planeten sengen können; hoffen wir, daß wir dabei so viele von den unmenschlichen Mistkerlen wir möglich erwischen, ehe sie Gelegenheit zur Flucht finden.

Beckett, Ende.«

Der Bildschirm verschwand und nahm Beckett mit. Die Parlamentarier murmelten durcheinander. Gutmann blickte lächelnd zu Owen hinab, der sich innerlich stählte. Etwas Übles kam auf ihn zu. Er spürte es. Gutmann beugte sich vor und redete in ganz vernünftigem Ton.

»Aber ehe Ihr uns verlaßt, Sir Todtsteltzer, möchten wir gern ein paar Fragen beantwortet haben. Es geht um die diversen Kriegsverbrecher, auf die Euch das Hohe Haus angesetzt hatte.

Wir sehen uns zu der Feststellung gezwungen, daß Ihr die Neigung habt, sie lieber tot als lebendig zurückzubringen.«

»Aus irgendeinem Grund scheinen sie nicht zu glauben, daß sie hier auf Golgatha ein faires Verfahren erhalten«, sagte Owen. »Die Tatsache, daß noch kein einziger mutmaßlicher Kriegsverbrecher bei Euren Prozessen für unschuldig befunden wurde, ist ihnen nicht entgangen. Somit kann nicht gänzlich überraschen, daß sie lieber bis zum Tod kämpfen, als sich gefangennehmen zu lassen. Gebt uns nicht die Schuld für eine Lage, die Ihr selbst herbeigeführt habt.«

»Wir bereiten unsere Fälle sehr gründlich vor«, versetzte Gutmann aalglatt. »Wir befinden sie für schuldig, weil sie schuldig sind. Sicherlich denkt Ihr doch nicht, ich würde zulassen, daß meine Mitaristokraten fälschlich beschuldigt werden?«

»Und das von einem Mann, der den eigenen Vater umgebracht hat, um Erfolg zu haben«, sagte Hazel. »Eine Pause für anhaltendes hohles Gelächter.«

Gutmann zuckte die Achseln. »Damals herrschten andere Umstände. Ich bin heute ein anderer Mensch. Oder glaubt Ihr nicht, daß Menschen sich ändern können, meine liebe Ex-Piratin und Ex-Klonpascherin?«

Hazel schnitt ein finsteres Gesicht, sagte aber nichts, wofür Owen sehr dankbar war.

»Die Kriegsverbrecherprozesse sollen dem Volk des Imperiums zeigen, daß Gerechtigkeit geübt wird«, fuhr Gutmann fort.

»Sie sollen ein populäres Bedürfnis befriedigen«, entgegnete Owen. »Die Menschen brauchen Sündenböcke. Was werdet Ihr unternehmen, wenn Euch die echten Schurken ausgehen, Gutmann? Ermittelt Ihr dann gegen jeden, der es wagt, Eure neue Ordnung zu mißbilligen?«

»Nur die Schuldigen müssen die Gerechtigkeit des Volkes fürchten«, behauptete Gutmann.

»Und Ihr entscheidet, wer schuldig ist.«

»Das Parlament entscheidet.«

»Und Ihr sprecht für das Parlament«, sagte Owen. »Wie durch und durch passend.«

»Fahren wir lieber fort«, sagte Gutmann. »Der nächste Punkt auf der Tagesordnung ist ein Vorschlag, der, so denke ich, eine lebhafte Debatte garantiert. Sicherlich brauche ich die meisten von Euch nicht daran zu erinnern, daß sich einige Abgeordnetensitze in Kürze den ersten freien Wahlen seit dem Sturz des Eisernen Throns stellen müssen. Was Ihr vielleicht noch nicht wißt, ist die Tatsache, daß viele ehemalige Aristokraten ihre Absicht verkündet haben, für etliche dieser Sitze zu kandidieren.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage!« warf Owen ein, und seine Stimme durchschnitt scharf das ansteigende Gemurmel ringsherum. »Ohnesorgs Abkommen ist eindeutig: Die Familien treten die politische Macht ab, um als finanzielle Institutionen fortbestehen zu dürfen. Duldet man sie erst im Parlament, höchstwahrscheinlich durch Bestechung und Einschüchterung, werden sie letztlich wieder alles in der Hand haben!«

»Ihr müßt wirklich noch lernen, Euren Verfolgungswahn zu beherrschen, Sir Todtsteltzer«, sagte eine frostige Stimme, und alle drehten sich um. Grace Shreck begegnete dem kollektiven Blick mit einem Ausdruck kühler Gleichgültigkeit und hielt die Nase beharrlich hochgereckt. Seit Gregors erzwungenem Rückzug aus der Öffentlichkeit übte seine ältere Schwester das Amt des Familienoberhauptes aus und leistete darin zu aller Welt Überraschung ausgezeichnete Arbeit. Toby und Evangeline waren beide zu beschäftigt und zu wenig motiviert gewesen, um die Funktion des Shrecks zu übernehmen, also war sie automatisch an Grace gefallen. Die Zeit im Rampenlicht schien ihr zu bekommen.

Grace gab ein eindrucksvolles Bild ab inmitten der farbenprächtigeren Raubvögel ringsherum – lang, groß, mehr als nur modisch dünn, mit bleichem Schwanenhals, abgehärmtem Gesicht und einer gewaltigen Masse weißen Haares, das sie in einem altmodischen und eindeutig prekär wirkenden Stil hochgesteckt trug. Die sehr alte und asketische Grace war seit Jahren nicht mehr regelmäßig in der Öffentlichkeit aufgetreten.

Sie hatte es verabscheut, bei Hofe zu erscheinen, und hatte es nur getan, wenn Gregor sie regelrecht zwang.

Im weniger förmlichen und unendlich weniger gefährlichen Parlament zu erscheinen, das hatte sie sich jedoch mit verblüffender Leichtigkeit angewöhnt. Inzwischen trat sie hier als Sprecherin vieler älterer Familien auf, die ihr genau deshalb vertrauten, weil sie so lange auf Distanz geblieben war und daher keine besonderen Verpflichtungen gegenüber einem besonderen Clan oder einer bestimmten Sache verspürte. Sie trug Kleider, die so altmodisch waren, daß sie schon wieder modisch wirkten, und zeichnete sich durch eine ruhige Haltung und eine spröde Schlagfertigkeit aus, die ihr vielerorts Respekt einbrachten. Das Holopublikum bewunderte sie als das annehmbare Gesicht der ehemaligen Aristokraten, und es hörte sich von ihr Argumente an, die es von Seiten eines anderen Aristos niedergebrüllt hätte.

»Jeder hat das Recht, für das Parlament zu kandidieren«, sagte Grace geziert. »Ein demokratisches Recht. Gehört das nicht zu den Idealen, für die Ihr zu kämpfen vorgabt, Sir Todtsteltzer? Daß alle gleich behandelt werden sollten? Ehemalige Aristokraten haben das gleiche Recht, Gehör zu finden, wie alle anderen auch. Schließlich wart Ihr selbst ein Lord. Möchtet Ihr sagen, daß man auch Euch bannen und Eure Stimme nicht mehr beachten sollte? Ihr seid nicht das einzige Mitglied einer Adelsfamilie, das die Vorstellungen des Ausgleichs und der Sühne versteht.«

Owen sah finster drein. »Ich hätte die Macht übernehmen können. Ich habe mich dagegen entschieden.«

»Wie außerordentlich… edel von Euch. Aber wer könnte sagen, ob Ihr es Euch in Zukunft nicht anders überlegt? Ich sehe wirklich nicht ein, was das ganze Theater soll. Wir sprechen von freien Wahlen, abgehalten unter Schutzvorkehrungen, die zu entwickeln Ihr selbst beigetragen habt – so daß jeder nach seinem Gewissen wählen kann. Sollten sich manche entscheiden, einem Aristokraten ihr Vertrauen zu schenken, ist das ihre Sache und geht sonst niemanden etwas an.«

»So einfach ist das nicht, und Ihr wißt es.« Diana Vertue funkelte Grace Shreck über das Parkett des Plenarsaals hinweg an. Grace erwiderte ihren Blick mit herablassendem Lächeln.

Dianas finstere Miene vertiefte sich, aber sie wahrte die Fassung. »Die Esper liefern sich nie mehr denen aus, die sie früher als Eigentum behandelten. Die sie nach Belieben mißhandelten und ermordeten.«

»Wir bedauern die Ausschreitungen der Vergangenheit zutiefst«, erklärte Grace gelassen. »Alle Familien begreifen, daß sie ihren Wert und ihre Stellung in der neuen Ordnung unter Beweis stellen müssen. Niemand von uns ist so dumm, diese Stellung aufs Spiel zu setzen, indem er eine alte und diskreditierte Praxis wiederaufnimmt. Wir alle müssen lernen, in die Zukunft zu blicken. Die Familien haben viel zu bieten. Jeder hier hat Verständnis für die körperlichen und geistigen Narben, die Ihr durch schreckliche Vorfälle erlitten habt, Esper Vertue, aber wir können nicht dulden, daß die Besessenheit einer einzelnen Frau dem Fortschritt im Weg steht.«

Diana wahrte grimmig die Fassung. Es geschah nicht zum ersten Mal, daß Grace versuchte, Dianas Argumente aus dem Feld zu schlagen, indem sie auf ihre Vergangenheit als Johana Wahn anspielte, deren geistige Stabilität… Schwankungen unterlegen war. Diana konnte nicht direkt auf die Anschuldigungen antworten (Ein Satz wie In Ordnung, ich war damals verrückt, aber heute weiß ich es besser hätte nicht gerade Vertrauen erzeugt), also reagierte sie wie immer, überging die Beleidigung und drängte weiter.

»Die Esper werden sich nie wieder der Aristokratie beugen.

Durch Blut und Leid und die Opferung vieler konnten wir unsere Ketten sprengen; wir lassen sie uns nicht noch einmal anlegen.«

»Eine hübsche Rhetorik«, fand Grace, »aber im wesentlichen inhaltslos. Dieses Gerede von Herren und Sklaven gehört der Vergangenheit an; soll es dort begraben bleiben. Wir anderen sind weitergezogen. Und wie ich schon früher vor diesem Hohen Haus festgestellt habe, bestreite ich Euren Anspruch, für alle Esper zu sprechen. Ihr habt Euch selbst von der offiziellen Untergrundführung distanziert, als Ihr offen Euer Mißtrauen gegen die Weltenmutter ausspracht, und Euer Gefolge an der Basis ist auch nicht mehr, was es mal war. Heute sprecht Ihr nur noch für Euch selbst, Esper Vertue.«

»Dann unterhalten wir uns doch über den Schwarzen Block«, schlug Finlay Feldglöck vor, und alle Köpfe im Saal fuhren zu ihm herum. Finlay sprach nicht oft im Parlament, aber wenn er es tat, hörte ihm jeder zu. Die Flugkameras in der Luft beeilten sich, sich auf ihn einzustellen. Finlay bedachte SB Chojiro und ihre Leute mit einem kalten Lächeln. »Wie können wir den Familien Vertrauen schenken, solange die meisten noch unter dem Einfluß einer früher geheimen Organisation stehen, des Schwarzen Blocks? Deren Zielsetzungen und Herkunft liegen immer noch weitgehend im Dunkeln.«

SB Chojiro trat vor, und ihre Stimme erklang süß in der Stille. »Die Tatsache, daß wir nicht mehr im Geheimen arbeiten, sollte die meisten Befürchtungen dieser Art gegenstandslos machen. Ja, wir wurden als persönliche Assassinen der Clans ins Leben gerufen, als Agenten des Todes für ihre Feinde, aber darüber haben wir uns hinausentwickelt. Und was ausgerechnet Euch angeht – Ihr habt kein Recht, uns zu kritisieren. Wieviel Blut klebt an Euren Händen, Sir Feldglöck? Wie viele sind unter Eurem Schwert gefallen?«

»Scheinbar nicht genug«, versetzte Finlay, und alle erschauerten über die Kälte, mit der er das sagte.

»Ich denke, wir haben diesen Streit so weit ausgetragen, wie für den Moment möglich ist«, mischte sich Gutmann ein. »Machen wir weiter, bitte. Wir haben eine Holonachricht von Ihrer Heiligkeit, der Obersten Mutter Beatrice Cristiana, erhalten.

Sie ist zu sehr damit beschäftigt, die Hilfseinsätze auf Lachrymae Christi zu leiten, um persönlich mit uns zu sprechen, aber sie hat folgende Botschaft vorab aufgezeichnet.«

Er gab ein Zeichen, und ein Sichtschirm tauchte mitten in der Luft auf. Beatrices Kopf und Schultern füllten ihn aus, und die weiße Kapuze umrahmte das müde Gesicht wie ein Heiligenschein. Sie hatte dunkle Flecken unter den Augen, und ihre Stimme klang rauh vor Erschöpfung. »Ich rede nur kurz, weil wir bis Oberkante Unterlippe in Arbeit stecken und rasch sinken. Seit dem Krieg kann die Hälfte der Planeten des Imperiums kaum noch für den eigenen Unterhalt aufkommen. Nur Becketts Lebensmittelschiffe verhindern eine massenweise Hungersnot. Die sozialen, politischen und geschäftlichen Strukturen sind überall zusammengebrochen, und die Menschen sterben am Mangel von Nahrung, Unterkunft und medizinischer Versorgung.

Die Kirche leitet Hilfseinsätze, wo sie nur kann, aber unsere Mittel und unser Personal sind begrenzt. Das Parlament muß uns mehr Geld bewilligen, damit nicht ganze Bevölkerungen in die Barbarei oder Schlimmeres zurückfallen. Millionen liegen schon im Sterben. Weitere Millionen werden sterben, wenn nicht bald etwas geschieht. Die Kirche befaßt sich zur Zeit ausschließlich mit karitativer Tätigkeit; Ihr habt meine persönliche Zusage, daß alle uns zugebilligten Mittel ausschließlich dazu dienen werden, das Leid der Bedürftigen zu lindern. Bitte helft uns! Versetzt uns in die Lage, denen zu helfen, die uns brauchen.«

Der Bildschirm verschwand. Man konnte ein gewisses Maß an unbehaglichem Herumrutschen feststellen. Golgatha hatte bei der Rebellion auch Wunden eingesteckt, war aber letztlich weitgehend unversehrt daraus hervorgegangen. Man konnte leicht vergessen, daß viele andere weniger Glück gehabt hatten.

Elias Gutmann beugte sich vor. »Natürlich werden wir über die Bitte Ihrer Heiligkeit nachdenken. Obwohl ich erneut darauf hinweisen muß, daß zahlreiche Forderungen an die begrenzten Mittel des Parlaments vorliegen. Wir werden die Sache weiter im Plenum diskutieren, sobald der zuständige Ausschuß seinen Bericht vorgelegt hat. Aber jetzt haben wir einen abschließenden Punkt zu diskutieren. Ich denke, praktisch jeder hier kann der These zustimmen, daß wir ein offizielles Staatsoberhaupt benötigen, jemanden, der persönlich den Staat gegenüber den Bürgern repräsentiert. Nach vielen Diskussionen in zahlreichen Ausschüssen wurde entschieden, daß wir einen konstitutionellen Monarchen einsetzen sollten.«

Sofort brach ein Tumult aus. Alle wollten gleichzeitig reden, und niemand zeigte sich bereit hintanzustehen. Gutmann winkte mit den Armen, um sie zum Schweigen zu bringen, wurde aber diesmal völlig ignoriert. Also lehnte er sich zurück und sah der Entwicklung der Dinge zu. Owen stand schweigend in der Mitte des Tohuwabohus und dachte darüber nach. Obwohl er den Eisernen Thron zerstört hatte, existierte die Krone noch, und wie er vermutete, bestanden keine rechtlichen Vorkehrungen, um das Parlament an der Berufung eines neuen Imperators zu hindern, falls es dumm genug war, so etwas zu tun. Er fühlte sich sehr müde. Er hatte soviel durchgemacht, um Löwenstein zu stürzen, und immer öfter fragte er sich, ob alle seine Bemühungen wohl vergebens gewesen waren.

Der Lärm erstarb schließlich, und Gutmann konnte sich wieder Gehör verschaffen. »Nichts wird ohne umfassende Zustimmung durch das Hohe Haus entschieden! Wir schlagen einen rein konstitutionellen Monarchen vor, der weder echte Macht noch rechtliche Vollmachten hat. Eine Galionsfigur, deren Amtspflichten ausschließlich öffentlicher und sozialer Natur wären. Natürlich müßte es jemand sein, der das Vertrauen und die Unterstützung aller genießt. Nach umfangreichen Diskussionen sind die Ausschüsse zu der, wie ich denke, einzig passenden Entscheidung gelangt: Owen Todtsteltzer!«

Ein neuer Tumult brach los, dazu auch eine Menge mehr oder weniger spontanen Beifalls – gespendet von Personen, die die Ehrung eines großen Helden billigten, bis hin zu solchen, die einen Vorteil darin erblickten, den Todtsteltzer ein für allemal von den politischen Entscheidungen auszuschließen.

Owen war so schockiert, daß er lange kein Wort herausbekam, und dann erhob sich seine Stimme über den allgemeinen Aufruhr und brach diesen sofort ab.

»Kommt überhaupt nicht in Frage! Hätte ich mich zum Imperator machen wollen, hätte ich es tun können, als ich Löwenstein stürzte. Ich wollte die Krone damals nicht, und ich möchte sie jetzt nicht!«

Gutmann lächelte gelassen. »Die meisten Anwesenden denken, daß es eine gute Idee ist und eine Ehre, die Ihr völlig verdient habt. Und wer ist besser zum konstitutionellen Monarchen geeignet als jemand, der offen kundgibt, kein Interesse an der Macht zu haben? Obwohl wir vielleicht unsere Differenzen haben, Sir Todtsteltzer, zögere ich nicht, meine Anerkennung für all das auszudrücken, was Ihr vollbracht habt, um unsere Demokratie möglich zu machen. Wer könnte sie besser repräsentieren? Und denkt mal über folgendes nach, Sir Todtsteltzer: Falls nicht Ihr, wer dann? Vielleicht ein Feldglöck? Oder ein Wolf? Oder ein Shreck? Ihr seid der womöglich einzige Aristokrat, der die Krone übernehmen könnte, ohne damit ein eigenes Programm zu verfolgen. Kommt schon, Owen, Ihr habt doch immer gewußt, was Eure Pflicht ist! Denkt darüber nach.«

Owen nickte steif, blickte aber weiterhin finster drein. Hazel musterte ihn, und ihre Miene verriet nichts, überhaupt nichts.

Da trat neue Unruhe hinter der Menschenmenge auf, und die Leute wichen aus, als sich zwei Männer hindurchdrängten und dabei unerbittlich auf das Parkett des Plenarsaals zuhielten.

Alle erkannten Kapitän Johan Schwejksam, aber die dunkle, grüblerische Gestalt an seiner Seite war allen ein Rätsel. Früher hatte man Schwejksam stets in Gesellschaft von Investigator Frost angetroffen, die ihm wie ein Schatten folgte, aber sie war bei der Verteidigung des Imperiums gefallen, niedergestreckt von dem notorischen Verräter Kit Sommer-Eiland. Diese neue Gestalt wirkte, falls überhaupt möglich, noch beunruhigender als Frost, und die Leute wandten den Blick ab, waren unfähig, dem Mann in die Augen zu sehen. Und dann erkannten einige, was der Mann in Schwarz in Händen hielt, und erschrockenes Murmeln lief durch den Saal. Es war eine Kraftlanze, eine gebannte Waffe aus der Frühzeit des Imperiums. Gebannt war sie, weil sie einen Esper so stark machen konnte, daß niemand mehr eine Chance hatte, ihm standzuhalten. Auf den bloßen Besitz schon stand der Tod.

Kapitän Schwejksam blieb vor der Menge stehen und nickte den Abgeordneten brüsk zu. Er war ein großer Mann in den späten Vierzigern, dessen Taille zunahm und dessen Haar zurückwich, mit Augen, die zuviel gesehen hatten und nie den Blick hatten abwenden können. Er gehörte zu den wenigen, die für das Imperium gekämpft hatten und heute trotzdem als echte Helden galten, aber seit dem Ende der Rebellion hielt er den Kopf eingezogen. Auf beiden Seiten fand man einfach zu viele, die eine solch mächtige Figur gern aus dem Spiel entfernt hätten, aber er war potentiell immer noch zu nützlich, um ihn vom Feld zu nehmen. Niemand wußte, wann man jemanden für einen allerletzten Selbstmordeinsatz benötigte. Und jetzt war er hier, weder angekündigt noch erwartet. Die Menge wurde ganz still und wartete darauf, daß er sich zu Wort meldete. Schwejksam nickte auch Gutmann forsch zu.

»Tut mir leid, daß wir so hereinplatzen, aber unser Anliegen duldet keinen Aufschub. Ich komme gerade vom Planeten Unseeli draußen am Abgrund zurück. Wir alle stecken in großen Schwierigkeiten.«

»Oh, verdammt«, sagte Gutmann. »Kommt heutzutage vom Abgrund nichts mehr außer schlechten Nachrichten? Worum geht es, Kapitän? Die Insektenschiffe?«

»Schlimmer«, antwortete Schwejksam. »Es ist Shub.« Er wartete einen Augenblick ab, während die Zuschauer und die Abgeordneten raunten, und fuhr fort: »Ich hatte eine reguläre Versorgungsfahrt zu der einsamen imperialen Basis auf Unseeli, wo Wissenschaftler ein abgestürztes fremdes Raumschiff unbekannter Herkunft untersuchten. Wir fielen aus dem Hyperraum und mußten feststellen, daß der ganze Planet zerstört worden war. Die Metallwälder, die den Planeten von Pol zu Pol bedeckten und uns die Schwermetalle für die traditionellen Hyperraumtriebwerke lieferten, waren komplett abgeerntet.

Milliarden Bäume, und alle dahin.

Die Basis ist ebenfalls zerstört, in Stücke geschossen. Jeder Mann und jede Frau tot. Das fremde Raumschiff ist verschwunden. Shub hat es sich angeeignet. Das einzige Lebewesen, das den Angriff von Shub überlebt hat, ist der Mann an meiner Seite – ein früherer Investigator, der als Gesetzloser auf Unseeli lebte. Sein Name lautet Carrion. Ich habe ihn hergebracht, damit er uns alles erzählt, und garantiere persönlich für seine Sicherheit. Ich hoffe doch, daß das akzeptabel ist?«

»Ja, ja«, sagte Gutmann ungeduldig. »Wir vertrauen wie immer Eurer Urteilskraft. Erzählt uns vom Shub- Angriff. Warum hat die Flotte nichts davon bemerkt?«

»Niemand sieht die von S hub, wenn sie nicht gesehen werden möchten«, sagte der Mann namens Carrion mit Grabesstimme. Die große und gertenschlanke Gestalt steckte in dunkler Lederkleidung unter einem sich bauschenden schwarzen Umhang. Das jugendliche Gesicht trat leichenblaß unter den kalten dunklen Augen und dem langen schwarzen Haar hervor.

»Sie kamen aus dem Nichts, Tausende von Schiffen, die metallenen Alpträumen glichen und den Himmel ausfüllten. Sie hämmerten das Kraftfeld der Basis nieder, als existierte es überhaupt nicht, und ebneten sie dann ein. Ich vernahm die Todesschreie von Männern und Frauen. Shub nahm das Schiff der Fremdwesen an sich, zusammen mit den Wissenschaftlern, die zu diesem Zeitpunkt gerade an Bord waren. Der Angriff war fast so schnell vorbei, wie er begonnen hatte. Dann setzte die Ernte ein.« Er machte eine Pause. »Früher hatte zwischen den Metallbäumen eine wunderbare fremdartige Lebensform existiert, genannt die Ashrai. Das Imperium rottete sie aus, um ungestörten Zugriff auf die Metallbäume zu erhalten. Aber die Seelen der Ashrai überlebten und banden sich an die Bäume.

Ich hörte sie schreien, als die Bäume aus der Erde gerissen wurden.

Ich überlebte, unter der Erde versteckt, geschützt und getarnt durch meine Psifähigkeiten. Ich bin der einzige Überlebende von Unseeli. Die Ashrai sind tot, die Menschen sind tot und die Bäume dahin. Mein Name lautet Carrion. Ich bringe Unglück.

Ich bin der Zerstörer von Nationen und Planeten.«

Er hörte abrupt auf zu reden, und die Stille dauerte für eine geraume Weile an, während sich alle gegenseitig anblickten, gefangen im Bann der Worte des dunklen Mannes und der schrecklichen Nachrichten, die er überbracht hatte. Schließlich räusperte sich Gutmann unsicher und blickte zu Carrion und Schwejksam hinunter.

»Wir… danken Euch für diese Informationen. Falls sich Shub all die Bäume angeeignet hat, müssen wir davon ausgehen, daß sie einen umfassenden Angriff auf die Menschheit planen. Die Schwermetalle aus dieser Ernte können den Treibstoff für eine verdammt große Armada liefern, während sie uns gleichzeitig versagt bleiben. Und falls sie das Schiff der Extraterrestrier haben, verfügen sie auch in absehbarer Zeit über den neuen Hyperraumantrieb – genau wie wir. Unsere Bemühungen, das neue Triebwerk zu perfektionieren und besser zu verstehen, sind dringlicher denn je. Danke, daß Ihr uns in Kenntnis gesetzt habt, Kapitän Schwejksam. Wie immer habt Ihr uns gute Dienste geleistet. Ihr dürft jetzt gehen, aber wir benötigen von Euch beiden später noch umfassende Berichte.«

»Verstanden«, sagte Schwejksam. »Wir halten uns zur Verfügung. Noch ein letzter Gedanke für Euch, um daran zu knabbern: Ein Esper hat mir einst berichtet, er hätte eine hellsichtige Vision dessen gehabt, was Shub für die Menschheit plante. Er wollte mir nicht schildern, was er sah, aber er hat sich lieber selbst umgebracht, als zu riskieren, daß er miterlebt, wie es wahr wird.«

Ein unbehagliches Murmeln lief durchs Parlament. Gutmann lehnte sich zurück und achtete darauf, mit ruhiger und vernünftiger Stimme zu reden. »Präkognition ist die am wenigsten verstandene und am wenigsten zuverlässige Esperfähigkeit, Kapitän. Welche Vision Euer Esper auch immer gehabt haben mag, ich denke nicht, daß wir ihr zuviel Glauben schenken sollten.

Klar ist jedoch, daß jemand untersuchen muß, was Shub im Schilde führt.«

»Ich melde mich freiwillig!« erklärte Jakob Ohnesorg lauthals. »Falls ein Angriff unmittelbar bevorsteht, müssen wir es erfahren. Und ich gehöre zu den wenigen Menschen, die überhaupt hoffen können, den Machenschaften Shubs nahe zu kommen und lebendig zurückzukehren, um Meldung zu machen.«

»Ach verdammt!« warf Ruby Reise ein. »Schätze, ich komme auch mit, des Spaßes halber.«

»Wir nehmen Euer Angebot dankbar an«, erklärte Gutmann.

»Damit bleibt uns nur, Kapitän Schwejksam und seinem Gefährten für die zeitige Benachrichtigung zu danken. Geht mit den besten Wünschen des Parlaments. Zweifellos seid Ihr begierig, auf Euer Schiff zurückzukehren. Carrion, Ihr werdet natürlich die Kraftlanze den zuständigen Behörden aushändigen, ehe Ihr geht.«

»Nein«, sagte Carrion. »Das denke ich nicht.«

Gutmann runzelte die Stirn. »Kraftlanzen unterliegen einem Bann, und das aus gutem Grund. Sie sind im ganzen Imperium verboten. Schwejksams Wort schützt Euch, Gesetzloser, also fordern wir nicht Euren Tod. Aber wir können Euch nicht gestatten, die Lanze zu behalten.«

Er winkte mit einer fetten Hand, und ein Dutzend bewaffnete Wachleute traten vor, die Waffen auf den Mann gerichtet, der Carrion hieß. Er blickte Schwejksam an, der die Achseln zuckte. Carrion bedachte Gutmann mit einem kalten Lächeln.

»Versucht nur, sie zu nehmen.«

Auf einmal schien es im ganzen Saal dunkler zu werden, und überall waren Schatten. Dinge regten sich in der Düsternis und schwebten außer Sichtweite bedrohlich über den Menschen, riesig und kalt und unsichtbar. Eindrücke entstanden von schartigen Zähnen und großen krummen Klauen. Ein schwerer Wind blies böig und heftig aus dem Nirgendwo. Etwas heulte, ein langgezogener wilder Laut ohne irgend etwas von Menschennatur darin. An den Seiten wisperten Stimmen. Eine unsichtbare, wachsame Präsenz war spürbar, von Wesen ohne Zahl, und alle im Saal spürten einen böswilligen Zorn, der wie eine Sturmwolke über ihnen lag. Die Wachleute umklammerten ihre Waffen, wußten aber nicht, wohin sie zielen sollten. Owen, Hazel, Jakob und Ruby standen Rücken an Rücken, bereit für alles, was ihres Weges kam. Menschen umklammerten einander und versuchten, in alle Richtungen zugleich zu blicken. Sie waren nur wenige Augenblicke vor einer Panik, einer Stampede zu den Türen, die eine Menge Menschenleben gekostet hätte.

Und dann war die Präsenz auf einmal weg, erstarb der Wind und war alles wieder ruhig und still. Auf seinem Stuhl, auf seinem Podest leckte sich Gutmann nervös die Lippen und räusperte sich.

Alle sahen ihn an, aber er hatte nur Augen für Carrion.

»Was… Was war das?«

»Die Ashrai«, antwortete Carrion. »Sie sind vor langer Zeit umgekommen, als Kapitän Schwejksam Befehl gab, Unseeli zu sengen, aber ihre Geister lebten fort. Einst suchten sie die metallenen Wälder heim, aber jetzt sind die Bäume dahin, und so suchen sie mich heim. Sie beschützen mich.«

»Oh, verdammt«, sagte Gutmann. »Behaltet die verfluchte Lanze. Seht jetzt, daß Ihr unverzüglich von hier verschwindet, und nehmt Eure unnatürlichen Freunde mit.«

Carrion nickte ruhig, drehte sich um und ging zur Tür, begleitet von Schwejksam. Hastig gaben ihnen die Leute den Weg frei. Alle außer einer. Diana Vertue trat den beiden in den Weg, und sie blieben vor ihr stehen. Diana nickte Carrion brüsk zu und richtete den Blick ihrer verwundeten Augen auf Schwejksam.

»Hallo Vater«, sagte sie.

»Hallo Diana«, sagte Schwejksam. »Ich habe schon gehört, daß du wieder deinen alten Namen angenommen hast. Ich bin froh. Johana Wahn hat mir im Grunde nie gefallen.«

»Sie war ein realer Teil von mir. Sie ist es nach wie vor, tief in mir. Ich habe mich nur… weiterentwickelt. Als die Weltenmutter noch durch mich wirkte, hielt ich mich für ihren Avatar, ihren Fokus, ihre Heilige auf Erden. Aber sie hat mich verlassen, mir die Gnade und den Ruhm genommen, damit ich den Rest meiner Tage als Wesen geringeren Ranges verbringe, das nicht länger vom Himmel berührt wird. Sie hat mich einfach im Stich gelassen, genau wie du es auf Unseeli getan hast.«

»So war es nicht«, sagte Schwejksam.

»Doch, war es«, erwiderte Diana. »Es war genau so.« Sie sah Carrion an. »Ich habe die Ashrai auf Unseeli singen gehört. Bin in ihren Gesang eingefallen. Sie vermittelten mir einen Eindruck vom Himmel und zogen sich dann zurück. Besser für immer blind, als für wenige Augenblicke die Farben des Regenbogens zu sehen und wieder ins Dunkel geworfen zu werden. Man hat mich so oft verraten; jetzt traue ich nur noch mir.

Wer immer das ist. Ich bin froh, daß Euer Planet tot ist, Carrion. Ich bin froh, daß die Wälder dahin sind. Ich wünschte nur, Ihr und die Ashrai wärt mit ihnen dahingeschieden. Haltet Euch fern von mir. Du auch, Vater. Weil ich dich töte, wenn du mir erneut weh tust.«

Schwejksam wollte etwas sagen, fand aber nicht die Worte, und schließlich verbeugte er sich nur und ging, Carrion an seiner Seite. Diana blickte ihnen nach, und für einen Moment knisterte etwas von ihrer bösartigen alten Persönlichkeit um sie herum wie ein Fliegenschwarm.

Danach fiel alles weitere dramaturgisch stark ab, und das Parlament ging bald auseinander. Owen und Hazel, Jakob und Ruby nahmen einen Seitenausgang, um den Medien und Menschenmassen auszuweichen. Ihnen war nicht danach, mit Fremden zu reden. In der Nähe lag eine Kneipe, nicht viel mehr als ein Loch in der Mauer, aber die Getränke waren genießbar und Privatsphäre wurde garantiert. Sie setzten sich an einen Tisch mit fleckiger und zerkratzter Platte, bedienten sich zurückhaltend von ihren Drinks und fragten sich, was sie einander sagen sollten. Sie hatten einen weiten Weg zurückgelegt, seit Owen sie auf Nebelwelt als gewöhnliche Heldengruppe organisiert hatte.

»Lange her, seit wir zuletzt zusammensaßen«, sagte Jakob Ohnesorg schließlich. »Aber schließlich waren wir jüngst alle sehr beschäftigt, vermute ich.«

»Im Grunde keine Überraschung«, sagte Hazel. »Ich meine, eigentlich hatten wir immer nur die Rebellion als Gemeinsamkeit.«

»Und die Freundschaft«, fand Owen. »Immer bleibt noch die Freundschaft.«

»Natürlich«, sagte Jakob, vielleicht ein bißchen zu herzlich.

»Man kann nicht das gleiche durchmachen wie wir, ohne sich dabei… nahezukommen. Aber ich weiß, was Hazel meint. Die Rebellion hat uns gemeinsame Ziele gesetzt, etwas, woran wir unser Leben orientieren konnten. Als sich die Lage veränderte, mußten wir uns neu definieren, und wir sind nicht mehr die Menschen, die wir früher waren.«

»Richtig«, bekräftigte Ruby. »Wie zum Teufel sind wir nur von hier nach dort gelangt? Ich weiß nicht, womit ich gerechnet habe, falls wir tatsächlich den Sieg davontragen sollten, aber verdammt sicher etwas anderes, als jetzt passiert. Ich vermisse… die klare Orientierung, die ich früher hatte.«

»Aber wir können nicht einfach wieder zum alten Ich zurückkehren«, meinte Owen, »zu den Menschen, die wir waren, ehe all das begann. Wir mußten uns verändern, um zu überleben.«

»Ich würde mich nicht zurückverwandeln, selbst wenn ich könnte«, stellte Hazel fest. »Es wäre mir zuwider.«

»Richtig«, fand Jakob. »Die Bedeutung der eigenen Wurzeln wird überschätzt. Wir sind wie Haie: Wir müssen in Bewegung bleiben oder sterben. Und manchmal bedeutet das, einfach weiterzuziehen.«

»Aber wir müssen in Berührung bleiben«, sagte Owen. »Mit wem sonst sollten wir uns unterhalten? Wer sonst könnte begreifen, was wir erlebt haben? Das Labyrinth hat uns in vielerlei Hinsicht verändert, und ich bin nicht überzeugt, daß der Wandlungsprozeß schon abgeschlossen ist.«

»Fang nicht wieder damit an!« verlangte Ruby ungeduldig.

»Es ist vorbei, Owen; laß es gut sein. Ich habe nicht vor, in der Vergangenheit zu leben. Jeden Abend in solchen Mistlöchern herumzusitzen, über alte Schlachten und Siege zu debattieren, mich über das Wer und Wann zu zanken wie alte Veteranen, denen nichts geblieben ist, als immer wieder die Tage zu erleben, in denen ihr Leben noch Sinn und Richtung hatte. Ich will verdammt sein, wenn mein Leben schon vorüber ist.«

»Richtig«, sagte Jakob. »Deshalb habe ich uns auch freiwillig für den Einsatz gegen Shub gemeldet.«

»Na ja«, sagte Ruby. »Ich weiß nicht recht, ob es das war, was ich mir vorgestellt habe.«

»Ach, komm schon«, versetzte Jakob. »Wo ist dein Sinn für Abenteuer geblieben? Du hast gesagt, du wolltest was erleben.

Also, morgen fangen wir damit an.«

»So bald?« fragte Owen. »Hazel und ich sind gerade erst zurückgekehrt. Wir hatten noch kaum Zeit zusammen.«

»Vielleicht ist es so am besten«, sagte Jakob freundlich. »Wir entwickeln uns zu neuen Menschen und entfernen uns dabei voneinander, ob wir das möchten oder nicht. Fremde werden zu Freunden und dann wieder zu Fremden. So ist das Leben.«

Sie redeten noch eine Zeitlang weiter, aber der Gesprächsstoff war ihnen bereits ausgegangen. Jakob und Ruby brachen auf. Owen starrte in sein Glas, und Hazel sah ihm dabei zu.

»Ich muß Euch etwas sagen«, sagte er endlich. »Ich werde heiraten.«

Hazels Herz machte einen Satz, aber sie hielt Stimme und Gesicht ruhig. »Ach ja? Jemanden, den ich kenne?«

»Konstanze Wolf. Es ist eine arrangierte Hochzeit.«

»Ich dachte, dergleichen wäre zusammen mit der Aristokratie verschwunden.«

»Sie ist nicht wirklich verschwunden«, sagte Owen. »Und manche der alten Wege sind nach wie vor… gültig.«

»Das kommt mir… sehr plötzlich vor.«

»Mich hat es auch überrascht«, räumte Owen ein. »Es war allein Konstanzes Idee. Sie hatte gute Gründe. Ich konnte nicht ablehnen.«

»Du warst schon immer leicht zu überreden. Liebst du sie?«

»Nein! Ich kenne sie kaum. Andererseits ist das bei arrangierten Hochzeiten oft so. Ich mußte schließlich irgendwann heiraten. Jemanden aus meiner Klasse. Es sind die Blutlinien, versteht Ihr?«

»Nein«, antwortete Hazel, »ich verstehe es nicht. Aber trotzdem Glückwunsch. Ich schätze, sie wird die Herrscherin an deiner Seite.«

»Ich wollte das nicht. Aber es erscheint mir… politisch notwendig. Ich kann es nicht ablehnen. Nicht, wenn so viele Alternativen so viel schlimmer wären.«

»Wir könnten fliehen«, meinte Hazel und blickte ihm zum ersten Mal in die Augen. »Dieses ganze Chaos zurücklassen.

Es wäre wieder wie in den alten Zeiten – du und ich auf der Flucht vor dem Imperium, mit keiner Sorge in der Welt, außer der um uns.«

»Klingt verlockend«, gab Owen zu. »Aber ich kann es nicht tun. Ich habe Pflichten, versteht Ihr? Das war mir immer klar.

Letztlich sind manche Dinge wichtiger als das eigene Glück.

Und Ihr habt nie gesagt, Ihr würdet mich lieben.«

»Nein«, sagte Hazel. »Das habe ich nicht.«

Sie warteten noch lange, aber keiner von ihnen hatte mehr etwas zu sagen. Und so saßen sie in der Taverne zusammen, tranken und versuchten, in der sich vor ihnen verdüsternden Zukunft ihren Weg zu erkennen.

KAPITEL DREI

SHUB

Daniel Wolf durchquerte in einem gestohlenen Schiff den toten, leeren Raum des Verbotenen Sektors und hielt Kurs auf die kalte Metallhölle, die man Shub nannte. Er war allein und hatte Angst, aber er weigerte sich, über eine Umkehr auch nur nachzudenken. Er mußte Shub erreichen! Dort hielt sich sein Vater Jakob auf, und sein Vater brauchte ihn. Selbst wenn der alte Mann tot war.

Vielleicht besonders dann. Jakob Wolf war in der letzten großen Schlacht zwischen den Wolfs und den Feldglöcks umgekommen, einer blutigen Affäre, die mit der Vernichtung des Clans Feldglöck endete. Ein großer Sieg, das triumphale Ende einer jahrhundertelangen Fehde, aber Jakob hatte es nicht mehr erlebt – im tiefsten Schlachtgetümmel von einer unsichtbaren Hand niedergestreckt.

Ein guter Tod für einen alten Krieger, sagten viele, als ob das ein Trost wäre. Daniel hatte den Vater betrauert, aus vielen Gründen, war dann aber mehr oder weniger darüber hinweggekommen. Bis Jakobs vermißte Leiche eines Tages an Löwensteins Hof wieder auftauchte und der Imperatorin eine Botschaft der abtrünnigen KIs von Shub ausrichtete. Irgendwie hatten sich die KIs den Leichnam aneignen können und ihn zu einem Geistkrieger umgestaltet, einer Metallpräsenz in menschlicher Gestalt, die mit Lektronen-Implantaten lief. Shub sprach aus seinem Mund, aber Daniel erblickte trotzdem Spuren der Persönlichkeit des Vaters in dem Geistkrieger – obwohl das alle Welt als unmöglich bezeichnete. Und so verließ Daniel schließlich die Familie und die geliebte Schwester Stephanie, um nach der Wahrheit zu suchen.

Dazu war es nötig, den gefürchteten Verbotenen Sektor zu durchqueren und die unbekannte Welt der abtrünnigen KIs zu erreichen. Obwohl nie jemand zurückkehrte, der dorthin zu gelangen versuchte.

Im Verbotenen Sektor war nicht viel zu entdecken. Ein paar Planeten, zu weit von der Norm, als daß sich eine Terraformung gelohnt hätte, eine Handvoll sterbender Sonnen und verflucht viel Raum. Kalter, leerer, schweigender Raum. Soweit draußen am Abgrund herrschte kein Funkverkehr mehr; keine Stimmen füllten die endlose Dunkelheit, durch die sich Daniels gestohlenes Schiff den Weg bahnte. Er fühlte sich ganz allein, weit entfernt von allem Bekannten, und verabscheute es. Bislang hatte er noch nie allein sein müssen. Denn soweit er zurückdenken konnte, war stets Stephanie bei ihm gewesen, hatte ihn grimmig beschützt und dabei auch für sie beide das Denken übernommen. Darüber hinaus traf der Vater alle Entscheidungen und umgab den jüngsten Sohn mit der Sicherheit eines perfekt geplanten Tagesablaufs. Und wenn weder Stephanie noch Jakob zugegen waren, blieb stets das Dienstpersonal, das ihm Gesellschaft leistete, jeder seiner Launen entsprach und ihn stets daran erinnerte, was als nächstes von ihm erwartet wurde. Auch eine Ehefrau gehörte zu seinem Leben, aber die Hochzeit war arrangiert worden, und er verbrachte so wenig Zeit wie möglich mit der Gattin. Sie war inzwischen tot, und er vermißte sie kein bißchen.

Und jetzt war er hier, allein mitten im Nichts, das einzige Lebewesen an Bord eines umgebauten Frachtschiffs, und hatte nur eine Schiffs-KI namens Moses zur Gesellschaft. Moses gab sich wirklich Mühe, aber im Grunde war er nur darauf programmiert, Ladelisten zu verwalten und zuzeiten mit Docksarbeitern zu verhandeln. Und da Daniel das Schiff von der Kirche gestohlen hatte, waren die wenigen Gesprächsthemen, mit denen die KI aufwarten konnte, meist Fragen des offiziellen kirchlichen Dogmas, was Daniel nicht im mindesten interessierte. Also verbrachte er die Tage damit, durch die Metallkorridore und widerhallenden Frachträume zu spazieren, nur um

überhaupt etwas zu tun zu haben.

Manchmal blieb er auch einfach in der Kabine, saß in der Ecke, die Knie an die Brust gezogen, und wiegte sich lautlos hin und her.

Das Schiff, die Himmelsträne, hatte er sich auf Technos III angeeignet. Für seinen Clan war alles fürchterlich schiefgelaufen: Rebellen überrannten die familieneigene Fabrik für Hyperraumtriebwerke und jagten sie in die Luft, wobei sie gleich auch noch eine kleine Armee Kirchentruppen überwältigten und zu Paaren trieben. Also hatte sich Daniel überlegt, daß er ohne die Fabrik keine Familienangelegenheiten auf Technos III mehr zu betreuen hatte und es ihm endlich freistand, nach dem toten Vater zu suchen.

Er sorgte dafür, daß Stephanie in Sicherheit war, und verließ sie dann, fand im allgemeinen Chaos einigermaßen mühelos einen Weg zu den nahegelegenen Startrampen, wo die Kirchenschiffe angedockt lagen. Er suchte sich aufs Geratewohl eines der kleineren Fahrzeuge aus, marschierte an Bord und verlangte von der Rumpfbesatzung, ihm das Schiff zu übergeben. Er war schließlich ein Aristokrat, und sie waren nur niederrangige Kirchentechnos. Er war ehrlich überrascht, als sie ihm sagten, er solle sich zum Teufel scheren, und schoß den nächststehenden Techno in aufrichtiger Entrüstung nieder.

Nachdem er sich auf diese Weise festgelegt hatte, brachte er die übrigen beiden mit dem Schwert zur Strecke, während sie noch nach ihren Waffen griffen.

Er warf die Leichen aus dem Schiff, verschloß alle Luken und startete, ohne sich die Mühe zu machen und um Startfreigabe zu bitten. Und bei all dem Chaos ringsherum machte sich niemand die Mühe und hielt ihn auf. Damals hatte es ihm gar nichts ausgemacht, die drei Technos zu töten. Er brauchte das Schiff, und sie waren ihm einfach im Weg gewesen. Aber als an Bord der Himmelsträne aus Tagen Wochen wurden, schien er immer deutlicher zu spüren, daß die Ermordeten um ihn waren. Er wischte die Blutflecken eigenhändig weg, um damit gewissermaßen Buße zu üben, aber in seinen Träumen erblickte er weiterhin ihre Gesichter. Wenn er nachts allein im Bett lag, glaubte er, Geräusche auf dem Korridor vor der Kabine zu hören. Er schloß die Tür stets ab und schlief bei brennendem Licht. Im Weltraum war immer Nacht.

Daniel hatte nicht viel zu tun. Die KI übertrug ihm ein paar einfache Aufgaben, damit er Zeit herumbringen konnte. Da es sich um ein Kirchenschiff handelte, waren die Unterhaltungsbänder allesamt religiöser Natur. Daniels wichtigster Zeitvertreib war es, mit Moses über alles mögliche zu debattieren, was die KI ziemlich nervös machte – schließlich war sie dazu programmiert, sich freundlich und umgänglich zu geben. Daniel wies Moses an, seine Speicherbänke nach allem zu sichten, was er über Shub wußte, über die abtrünnigen KIs und den Verbotenen Sektor, aber die Ausbeute hielt sich in Grenzen.

Das meiste war geheim und nur mit Hilfe von Zugriffskodes abrufbar, und nicht mal Daniels aristokratischer Status ermöglichte ihm, diese Vorkehrung zu umgehen.

Also saß Daniel zusammengesunken auf dem Kommandostuhl der Brücke und brütete über den wenigen Informationen.

Er war ein großer Mann Anfang zwanzig, der seine wuchtige Gestalt vom Vater geerbt hatte. Das Gesicht zeigte meist einen finsteren oder mürrischen Ausdruck. Das lange Haar hatte er zu einem einfachen Zopf geflochten. Die Kleidung bestand nur aus dem, worin er losgerannt war. Das Schiff hielt sie frisch, aber sie zeigte allmählich Spuren der Abnützung. Auf seiner ständigen Suche nach Zeitvertreib hatte Daniel widerstrebend damit begonnen, mit improvisierten Hanteln zu trainieren. Er verabscheute es inbrünstig, aber ihm stand kein bequemer Körperladen mehr zur Verfügung, den er aufsuchen konnte, wenn die Muskeln schlaff wurden, und er hegte die vage Vorstellung, daß er sich schließlich seinen Weg nach Shub und wieder von dort weg würde freikämpfen müssen. So war er schließlich besser in Form als je zuvor im Leben und fühlte sich dabei ziemlich wohl. Etwas zu tun, was er verabscheute, vermittelte ihm das Gefühl, sich tugendhaft zu verhalten. Und er dachte, daß sein Vater es wohlwollend betrachten würde.

Nur einmal hatte ihn etwas von der Suche nach dem Vater abgelenkt. Als schließlich im ganzen Imperium der Krieg ausbrach, verfolgte er die endlosen Nachrichtensendungen wie benommen. Er konnte nicht glauben, daß es wirklich geschah.

Sein persönliches Bild vom Universum kippte völlig um, und er verstand überhaupt nichts mehr. Immerhin, er tröstete sich damit, daß Jakob wissen würde, wie man alles wieder ins Lot brachte. Jakob wußte immer, was zu tun war. Dazu waren Väter schließlich da. Und obwohl sich Daniel oft nach Stephanie sehnte, war er doch froh, daß er ohne sie losgezogen war. Etwas allein zu vollbringen, das war die Art eines Mannes, und er mußte sich als Mann bewähren, als der Wolf. Sein Vater hatte das immer gewollt. Daniel wollte Jakobs Anerkennung als Mann, brauchte sie, damit er endlich an sich glauben konnte.

Den größten Teil der Rebellion hatte er verfolgt, während seine Reise auf dem Planeten Loki unterbrochen war. Er hatte dort landen müssen, um die Anlagen des Schiffs frisch aufzuladen, und dann nicht wieder starten können, da der Bürgerkrieg rings um den zentralen Raumhafen tobte. Daniel mußte sich an Bord einschließen und abwarten, bis alles auf die eine oder andere Art vorüber war. Solange er an Bord blieb, konnte man ihn weder als Aristo noch als Wolf erkennen, was beides gereicht hätte, damit ihn die Leute beim ersten Anblick gleich erschossen. Zum Glück stellte ein kleines, umgebautes Frachtschiff auch keine große Beute dar, so daß ihn beide Seiten weitgehend in Ruhe ließen.

Schließlich blieb er Monate auf Loki gestrandet, in denen er sich nur dann hinauswagte, wenn er dringend etwas benötigte.

Der Krieg war in wenigen Tagen zu Ende, aber das allgemeine Chaos wollte einfach nicht aufhören.

Er verfolgte die Rebellion von Anfang bis Ende auf dem Bildschirm und erlebte ungläubig mit, wie Löwenstein gestürzt wurde und die Familien ihr Abkommen mit Jakob Ohnesorg schlossen. Er weinte heiße, wütende Tränen über den Verlust von allem, das er begriff, und gab sich selbst das vage Versprechen, auf jeden Fall Vergeltung zu üben. Als sich das Chaos schließlich wieder soweit beruhigte, daß er in den Weltraum flüchten konnte, hätte er zu Hause anrufen und nachfragen können, wie es dem Clan Wolf und besonders Stephanie ging, aber letztlich verzichtete er darauf. Vielleicht waren sie böse, weil er nicht an ihrer Seite gegen die Rebellen kämpfte. Und sie hätten ihn zu überreden versucht, auf das zu verzichten, was er, wie ihm selbst klar war, unbedingt tun mußte. Er wies also die KI an, Kurs auf Shub zu nehmen, und kehrte in die Stille und das einsame Leben zurück.

»Tut mir leid, Eure Gedanken zu stören«, meldete sich jetzt Moses, »aber wir kommen wirklich den Koordinaten furchtbar nahe, an denen Shub vermutet wird. Es ist noch nicht ganz zu spät, das Vernünftige und Überlebensorientierte zu tun, umzukehren und wie der Teufel von hier zu verschwinden.«

»Wir fliegen weiter«, erwiderte Daniel kurz angebunden. Die KI der Himmelsträne hatte sich zunehmend ängstlich gezeigt, je tiefer sie in den Verbotenen Sektor vordrangen, und Daniel war es allmählich leid. Es fiel ihm schon schwer genug, die eigenen Sorgen zu beherrschen. »Schon auf irgendeinem Komm-Kanal etwas zu hören?«

»Nicht das geringste, und wechselt jetzt nicht das Thema!

Falls wir nicht bald etwas Vernünftiges tun, müßten wir Shub irgendwann in der nächsten Stunde erreichen.«

»Ich kann einfach nicht glauben, daß du nicht die Koordinaten von Shub kennst«, sagte Daniel. »Es ist ja womöglich nur der berühmteste Planet im ganzen Imperium.«

»Zunächst ist er berüchtigt, nicht berühmt. Zweitens erkennt Shub nicht an, daß es zum Imperium gehört. Drittens ist nie jemand lebend zurückgekehrt, um genaue Informationen über die Lage des Planeten zu überbringen. Überhaupt ist nie jemand von dort zurückgekehrt, Punktum. Eine gescheite Person würde daraus Folgerungen ziehen. Angeblich treibt sich irgendwo im Verbotenen Sektor, nicht allzu weit von Shub entfernt, ein imperialer Sternenkreuzer herum, um die Quarantäne aufrechtzuerhalten, aber auch darüber weiß im Grunde niemand Genaues. Mich persönlich könnte niemand überreden, hier draußen zu bleiben, selbst wenn er mir eine Pistole in die Schaltkreise steckte.«

»Ich befasse mich mit dem Quarantäneschiff, falls und wenn es nötig wird.«

»O bitte, Sir, kehren wir doch um! Mir gefällt es hier nicht.

Ich habe da ein ganz mieses Gefühl.«

»Du bist ein Lektron. Du hast keine Gefühle.«

»Daß meine Gefühlsreaktionen einprogrammiert sind, bedeutet nicht, daß meine Gedanken von ihnen unbeeinflußt bleiben.

Hätte ich doch nur auch noch einen Überlebensinstinkt, dann würde ich Eure Steuerkodes übergehen und dieses Schiff so schnell wenden, daß Ihr für Wochen an Prellungen littet.«

»Halte die Klappe und fliege das Schiff. Ich weiß ohnehin nicht, was dir solche Sorgen macht. Du bist eine KI, und Shub wird von KIs geleitet. Du müßtest dich dort ganz zu Hause fühlen.«

»Ihr wißt wirklich nichts über Shub, nicht wahr? Es sind abtrünnige KIs, die nur eigene Interessen verfolgen. Bitte, drehen wir doch um und sehen zu, daß wir davonkommen! Wir könnten es immer noch schaffen, den Verbotenen Sektor zu verlassen, ehe uns das unausdenklich schauerliche Schicksal ereilt, daß diese KIs für uns geplant haben.«

»Moses, warst du auch schon ein solcher Feigling, als du noch der Kirche gedient hast?«

»Ich denke nur an Eure Interessen, Sir Wolf. Ich bin dazu programmiert, dem Befehlshaber dieses Schiffes nach besten Kräften zu dienen. Dazu gehört ganz eindeutig, Euch mit gutem Rat und mit Warnungen zu unterstützen, was schrecklich dumme Vorhaben angeht, die uns beiden Kopf und Kragen kosten könnten.«

»Du hast doch die ganze religiöse Programmierung. Glaubst du nicht an ein Leben nach dem Tode?«

»Das ist etwas für Menschen. Und versucht nicht, es mir zu erklären; es würde nur zu einem Systemabsturz führen. Ihr Menschen glaubt an die merkwürdigsten Dinge…«

»Sag mir, was du von Shub weißt«, verlangte Daniel entschieden.

»Ich habe Euch schon alle Informationen gegeben, die ich in meinen Datenbänken finde.«

»Nein, was weißt du über Shub

Die KI schwieg eine Zeitlang, und als sie wieder etwas sagte, geschah es ganz leise. »Die Datenbänke enthalten nur bestätigte Fakten. Aber ich habe auch… das eine oder andere gehört.

KIs flüstern miteinander auf Kanälen, auf die nur sie Zugriff haben, und diskutieren Themen, die nur Lektionen verstehen.

Sie sagen, Shub wäre ein Alptraum aus Stahl und die KIs wären nicht nur abtrünnig, sondern auch verrückt. Wer weiß, was solch verrückte Gehirne alles aushecken, losgelöst von jeder menschlichen Zurückhaltung und allen Beschränkungen? Psychosen, die kreischend in die materielle Welt hineingeboren wurden und Metallgestalt erhielten… Wie könnte irgend jemand solche Dinge anblicken und hoffen, nicht den Verstand zu verlieren?«

Daniel schauderte unwillkürlich. »Das sind nur Gerüchte und Klatsch, wahrscheinlich von den abtrünnigen KIs selbst verbreitet, um Besucher abzuschrecken. Wir fliegen weiter.«

»Jetzt mal langsam!« sagte Moses scharf. »Etwas taucht gerade in den vorderen Sensoren auf. Etwas, das viel größer ist als wir.«

»Mach die Waffensysteme schußbereit.«

»Sie sind schußbereit, seit wir in den Verbotenen Sektor vorgedrungen sind«, sagte Moses. »Ich bin schließlich nicht dumm. Ich wünschte nur, wir hätten bessere Abwehrschirme… Ich empfange ein Signal auf imperialen Standardkanälen.«

»Schalte es auf den Bildschirm.« Daniel richtete sich kerzengerade auf und bemühte sich angestrengt, den Eindruck zu verbreiten, er wüßte, was er tat.

Der Hauptsichtschirm der Brücke schimmerte und zeigte allmählich ein klares Bild – Kopf und Schultern eines imperialen Kapitäns in voller Uniform. Er hatte ein dunkles, finsteres Gesicht und einen kalten, festen Blick. »Achtung, nicht identifiziertes Schiff. Hier spricht Kapitän Gideon vom imperialen Sternenkreuzer Verheerer. Schaltet Euren Antrieb ab, dreht bei und haltet Euch für ein Enterkommando bereit.«

»Ich fürchte, ich kann Eurem Wunsch nicht entsprechen, Kapitän«, sagte Daniel in seinem besten Aristokratenton. »Ich bin auf einem lebenswichtigen Hilfseinsatz. Familiengeschäfte.«

»Mir ist egal, ob Ihr der Thronfolger seid und Euer Hund den Rang eines Vizeadmirals bekleidet«, entgegnete Kapitän Gideon. »Dreht bei, oder ich puste Euer Schiff aus dem Äther. Und die paar armseligen Waffen, mit denen Ihr auf mich zielt, können mich keine Sekunde bremsen.«

Daniel schaltete auf einen Privatkanal um und formulierte lautlos: »Moses, irgendeine Chance, ihnen zu entkommen oder sie auszumanövrieren?«

»Macht Ihr Witze? Das ist ein Sternenkreuzer!«

Daniel schaltete auf den offenen Kanal zurück und nickte dem Kapitän steif zu. »Wir drehen bei, Kapitän. Moses, bringe uns in eine Ruheposition relativ zur Verheerer. Kapitän, bitte gestattet mir, zu erläutern, daß dies wirklich ein Hilfseinsatz ist. Mein Vater ist auf Shub gefangen. Ich bin gekommen, ihn zu retten.«

»Seid Ihr verrückt, Junge? Auf Shub findet man keine Gefangenen.« Der Kapitän musterte Daniel für einen Moment scharf und gestattete sich dann eine etwas weichere Miene.

»Wartet mal, ich erkenne Euch jetzt! Ihr seid Daniel Wolf, Jakobs Sohn. Hätte nicht erwartet, einen Wolf auf einem Kirchenschiff anzutreffen. Ich kann mir denken, was Ihr hier sucht, aber glaubt mir, es ist sinnlos. Euer Vater ist tot. Ich habe Erfahrung mit Geistkriegern; ich habe ihnen in den Hyaden gegenübergestanden, als uns die Legionen der Toten überrannten. Ich bin einer der wenigen Überlebenden von vierzehn kompletten Kompanien imperialer Marineinfanteristen. In einem Geistkrieger existiert kein Rest menschlicher Natur mehr, mein Junge. Keine Spur. Kehrt heim. Ihr habt keine Möglichkeit. Eurem Vater in irgendeiner Form zu helfen.«

»Ich kann ihn nicht im Stich lassen«, sagte Daniel. »Ich bin seine einzige Hoffnung.«

»Es besteht keine Hoffnung«, erklärte Kapitän Gideon kategorisch. »Wir sind im Verbotenen Sektor, dem Raum von Shub. Mein Schiff und seine Besatzung sind hier der einzige imperiale Außenposten. Keine Kolonien, keine Stützpunkte, keine weiteren Schiffe. Wir halten Wache, um das Imperium zu warnen, falls Shub schließlich seinen schon lange erklärten Krieg gegen die Menschheit einleitet. Wir könnten zwar nichts daran hindern, den Sektor zu verlassen, es aber hoffentlich lange genug aufhalten und dabei lange genug durchhalten, um das Warnsignal zu senden, damit das Imperium ein wenig Zeit hat, sich vorzubereiten. Jeder an Bord ist freiwillig hier, dazu bereit, notfalls sein Leben zu geben, um die Menschheit zu warnen. Wir müssen uns hier aufhalten. Ihr nicht. Wir werden Euch befragen, Euer Schiff durchsuchen und Euch anschließend heimschicken. Es sei denn, Ihr macht mir irgendwelche Probleme; in diesem Fall verbringt Ihr die nächsten paar Monate in meinem Schiffsgefängnis und wartet auf das Ende unserer Einsatzzeit hier draußen, damit Ihr anschließend zu Hause vor Gericht gestellt werdet.«

»Verstanden, Kapitän.« Daniel runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Er mußte einfach irgendeine Möglichkeit finden, dieses Hindernis zu überwinden, aber wie es schien, waren ihm doch die Ideen ausgegangen. Er konnte weder kämpfen noch flüchten noch hoffen, jemanden wie Gideon zu beschwatzen. Daniel war dieser Sorte schon früher begegnet: Mit dem Beruf verheiratet, auf die Pflicht eingeschworen, lieber tot als ehrlos. Daniel hatte solche Menschen nie richtig verstanden, aber er wußte, daß man mit ihnen keine Absprachen treffen und sie nicht bestechen konnte, was seine einzigen übrigen Ideen gewesen waren. Und dann hörte er Alarmsirenen heulen und blickte sich wild um, ehe ihm klar wurde, daß das Geräusch vom Brückenbildschirm kam. Kapitän Gideon hatte sich abgewandt und bellte abseits des Aufnahmebereichs Befehle.

»Was ist los, Kapitän?« fragte Daniel.

»Ich habe keine Zeit mehr für Euch, Wolf. Meine Sensoren melden, daß etwas wirklich Großes von Shub her unterwegs ist.

Ich muß das überprüfen. Laßt Euch nicht mehr hier erwischen, wenn ich zurück bin!« Und dann wurde der Bildschirm dunkel und das Sirenengeheul abrupt unterbrochen.

»Ihr habt den netten Kapitän gehört«, sagte Moses. »Endlich mal jemand mit genug Gehirnzellen im Schädel. Ich berechne gleich einen Kurs, der uns von hier wegführt.«

»Nein«, sagte Daniel. »Wir fliegen weiter.«

»Aber… habt Ihr den Kapitän nicht verstanden?«

»Ja. Er wurde von einer anderen Aufgabe in Anspruch genommen und konnte sich nicht länger in meine Mission einmischen. Mein Vater steckt dahinter, da bin ich mir sicher. Er weiß, daß ich komme. Volle Kraft voraus, Moses. Du hast den guten Kapitän gehört. Er möchte uns hier nicht mehr vorfinden, wenn er zurückkehrt.«

»Falls er zurückkehrt«, sagte Moses düster.

»Halt die Klappe und setze den Kurs. Wir können nicht mehr weit von Shub entfernt sein. Und ich möchte nicht, daß mein Vater warten muß…«

Shub tauchte etwa sechs Stunden später in den Meßwerten auf, die die vorderen Sensoren der Himmelsträne lieferten. Ein optisches Bild erschien nicht, lediglich Hinweise auf ein gewaltiges Energiefeld, aber es hatte die richtige Größe, und Masse und Energieniveau sprengten die Skalen. Es mußte Shub sein.

Daniel bereitete sich vor, so gut er konnte. Er ließ seine Kleidung erneut waschen und bügeln und schnallte sich das Schwert um. Die Pistole an der linken Hüfte war vielleicht nützlicher als das Schwert an der rechten, vielleicht aber auch nicht; womöglich nutzte ihm letztlich beides nicht. Trotzdem empfand er die gewohnte Last als beruhigend. Er musterte sich im mannshohen Spiegel seiner Kabine, und zum erstenmal fiel ihm auf, wie stark er sich verändert hatte. Dank seiner regelmäßigen sportlichen Übungen war er in der Form seines Lebens, aber mal abgesehen davon, drückte sein Gesicht etwas aus… Er konnte es nicht genau bestimmen, aber er glaubte, Spuren einer neuen Charakterstärke zu erkennen. Er hoffte es.

Jakob Wolf hatte immer großen Wert darauf gelegt, den Charakter zu entwickeln. Daniel hoffte, daß sein Vater mit den Veränderungen an ihm einverstanden sein würde.

Er beeilte sich, auf die Brücke zurückzukehren, und ging erneut die Worte durch, die er an den Vater richten wollte. Er hatte Jakob, solange dieser lebte, immer so viel sagen wollen, aber irgendwie war nie der richtige Zeitpunkt eingetreten. Und dann war ihm der Vater plötzlich genommen worden, und es war zu spät. Daniel hatte sich aus vielerlei Gründen nach Shub aufgemacht, aber tief im Herzen fand er, wenn er ehrlich zu sich war, nur eins, was er sagen wollte.

Er hatte dem Vater noch nie gesagt, daß er ihn liebte.

Er marschierte auf die Brücke und schaltete den Sichtschirm ein. Nach wie vor gab es dort nichts zu sehen, nur unbestimmte Wirbel, die die Umgrenzung der Energiefelder markierten. Daniel setzte sich auf den Kommandositz und fragte sich, was er jetzt tun sollte.

»Ehe Ihr fragt, ja, ich habe auf allen Frequenzen gesendet, wer wir sind«, berichtete die KI. »Und nein, ich weiß nicht, was das für Energiefelder sind. Dergleichen ist mir noch nie untergekommen. Sie sind jedoch groß genug, um einen ganzen Planeten zu tarnen und ihn vor allem zu schützen, was ich mir ausdenken könnte. Keine schlechte Maßnahme, wenn man bedenkt, wie nahe er seiner Sonne steht.«

»Ich frage mich, wie es auf Shub wohl aussieht«, sagte Daniel.

»Ihr habt den ganzen Weg zurückgelegt und fragt Euch das erst jetzt? Daniel, wieviel wißt Ihr wirklich über die Geschichte von Shub und der KIs, die es erbaut haben?«

»Nur das, was in deinen Datenbänken verzeichnet steht, und das meiste davon war auch noch geheim, erinnerst du dich?«

»Verdammt«, sagte Moses. »Ich hatte gewissermaßen gehofft, Ihr hättet als Aristo Zugang zu noch anderen Quellen.

Also tappen wir beide im Dunkeln… Moment mal! Ich stelle gerade einige ungewöhnliche Veränderungen in den Energiefeldern fest…«

Auf dem Bildschirm sah es so aus, als verdrehte sich der Weltraum, und plötzlich schwebte ein riesiger Planet dort vor ihnen. Er war gewaltig, locker so groß wie ein Gasriese, bestand aber gänzlich aus Metall. Er wies keine eindeutige Form auf, zeigte sich nur als Konglomerat aus Türmen und stachelbewehrten Vorsprüngen. Hier und dort erblickte man große geometrische Formen, Bunkern ähnlich, die nach keinem erkennbaren Schema angeordnet waren. Die verschiedenen Metalle waren unterschiedlich gefärbt. Einige glänzten so hell, daß Daniel sie nur kurz aus dem Augenwinkel heraus ansehen konnte. Es bereitete ihm schon Kopfschmerzen, den Planeten nur anzublicken.

»Liebe Güte«, sagte Moses leise. »Meine Sensoren spielen verrückt. Sie werden mit der schieren Menge an Informationen nicht fertig, die hereinströmen. Die Energieanzeigen sprengen sämtlich den Meßbereich. Das Ding erzeugt mehr Energie als hundert Fabrikplaneten des Imperiums. Die Masse ist furchterregend, aber von Schwerkraft kann fast keine Rede sein. Was davon vorhanden ist, schwankt auch noch von einem Ort zum nächsten. Ein derartig großer Planet müßte uns längst anziehen, aber meine Sensoren vermelden nichts davon. Es müssen die Energiefelder sein…«

»Vergiß das alles«, unterbrach ihn Daniel. »Ist das Shub

»Falls nicht, verabscheue ich den Gedanken, was es statt dessen sein könnte. Es kann eigentlich keine zwei solcher Anomalien im Verbotenen Sektor geben; der Weltraum hielte das nicht aus. Nein, es muß Shub sein. Allein der technische Entwicklungsstand garantiert es.«

»Bringe uns auf einen hohen Orbit, Moses. Bleibe auf sicherer Distanz.«

»Bin Euch wie üblich weit voraus. Hoher Orbit erreicht. Was jedoch sichere Distanz bedeutet, kann sich jeder nach Belieben ausdenken. Ich persönlich habe nicht vor, dieser metallischen Monstrosität auch nur einen Zentimeter näher zu kommen als absolut nötig. Und ich sollte sie mir auch nicht zu lange direkt ansehen, Daniel. Falls ich meine Instrumente korrekt ablese, existiert der Planet in mehr als drei Dimensionen. Ich denke, er könnte eine Art vierdimensionales Konstrukt sein. Und nein, ich habe nicht vor, Euch das überhaupt zu erklären. Glaubt mir einfach, daß wir einen ausgesprochen merkwürdigen Ort erreicht haben. Durchaus möglich, daß sich das Innere dieses Planeten als viel größer erweist, als die Außenseite erkennen läßt. Was bedeutet… Falls meine Berechnungen stimmen, hat das Innere von Shub ebensoviel schiere Oberfläche wie die Hälfte der kolonisierten Welten des Imperiums zusammen.«

Daniel dachte eine Weile darüber nach, konnte es sich aber einfach nicht vorstellen. »Irgendwelche Lebenszeichen da unten?«

»Auf Shub unwahrscheinlich, aber ich kann dazu nichts Konkretes sagen. Alle bis auf meine direktesten Sensoren werden blockiert.«

»Es heißt, nichts würde auf Shub leben«, sagte Daniel langsam. »Daß es alles nur… Maschinen sind.«

»Wäre nicht überrascht«, stellte Moses fest. »Das ist kein Ort für Menschen. Menschen hätten hier nie auftauchen sollen.

Vielleicht ist es noch nicht zu spät, Daniel. Wir könnten immer noch versuchen, die Flucht zu ergreifen.«

»Nein«, sagte Daniel. »Mein Vater ist irgendwo dort unten.

Ich reise nicht ohne ihn ab.«

Das ganze Schiff erzitterte plötzlich. Daniel hielt sich an den Armlehnen fest. »Was zum Teufel war denn da s?«

»Unsere Diskussion wurde gerade gegenstandslos«, berichtete Moses. »Etwas hat die Steuerung unseres Antriebs und der Navigationssysteme übernommen. Ich bin ausgesperrt. Wir haben den Landeanflug eingeleitet. Sieht so aus, als wäre es letztlich doch zu spät.«

Daniel zwang sich, die Armlehnen loszulassen, lehnte sich zurück und studierte den Bildschirm, auf dem der riesige künstliche Planet größer wurde. Shub schien fortwährend anzuwachsen und seine Struktur komplexer zu werden, wie eine Blume, die sich in einem unaufhörlichen Prozeß entfaltete. Details entwickelten sich zu turmhohen Maschinen, an denen wiederum eigene Details erkennbar wurden. Seltsame Fahrzeuge bewegten sich auf Umlaufbahnen um den Planeten, riesige und kleine und mittlere, und führten unbekannte Aufträge aus. Und nach wie vor wuchs Shub auf dem Bildschirm an und offenbarte Zug um Zug seine grenzenlose Komplexität und Unergründlichkeit. Es auch nur anzusehen verschlimmerte Daniels Kopfschmerzen. Er entwickelte die Technik, jeweils nur wenige Augenblicke lang hinzusehen und sich zwischendurch auszuruhen. Das Bild flimmerte zuzeiten, als litten selbst die Sensoren unter dem Anblick.

»Wir rufen die Himmelsträne«, meldete sich eine neue Stimme. »Antwortet.«

»Sie stammt von Shub«, stellte Moses auf ihrem Privatkanal fest. »Kein visuelles Signal. Sprecht Ihr mit ihnen, Daniel. Ich möchte sie nicht auf meine Präsenz aufmerksam machen.«

Daniel beugte sich vor und räusperte sich unsicher. »Hier spricht Daniel Wolf. Ich bin allein an Bord. Ich bin keine Gefahr für Euch.«

»Wir wissen, wer Ihr seid und warum Ihr hier seid«, sagte die Stimme. Sie kam Daniel merkwürdig vertraut vor, aber er konnte sie nicht genau einordnen. »Wir haben Euch schon erwartet, Daniel. Wir haben Eure Lektronen übernommen und holen Euch herunter. Wenn Ihr gelandet seid, dürft Ihr das Schiff erst verlassen, wenn wir es sagen. Die auf Shub herrschenden Bedingungen sind Lebensformen wie Euch nicht zuträglich.«

»Verstanden«, sagte Daniel. »Ist mein Vater…«

»Das Signal ist abgebrochen«, verkündete Moses. »Anscheinend sind sie an einer Plauderei nicht interessiert.«

Daniel runzelte die Stirn.

»Diese Stimme… Mir scheint, ich sollte sie kennen.«

»Es war Eure Stimme«, sagte Moses. »Synthetisiert. Und da sie sie von Anfang an verwendet haben, vermute ich, daß man Euch wirklich erwartet. Meinen Sensoren zufolge hat sich ein kleines Loch in dem Energiefeld geöffnet, gerade groß genug für uns. Andere Abwehrsysteme kann ich weder entdecken noch begreifen. Daniel, sobald Ihr das Schiff erst verlassen habt, kann ich nichts mehr für Euch tun. Ihr steht dann völlig auf eigenen Beinen. Hört mir zu, Daniel: Laßt Euch von denen nicht betrügen! Was die auch sagen oder tun, sie haben dabei nur die eigenen Interessen im Auge. Ihr könnt keinerlei Abkommen mit ihnen schließen, weil Ihr keine Mittel habt, Eure Interessen durchzusetzen. Aber die abtrünnigen KIs… möchten manchmal bestimmte Dinge vollbracht haben. Vielleicht könnt Ihr…«

»Das reicht, du Minimalverstand«, ertönte Daniels Stimme aus der Kommanlage. »Du wirst nicht mehr gebraucht. Willkommen im gelobten Land, Moses! Was für eine Schande, daß wir dir nicht gestatten können, es zu betreten.«

Moses kreischte auf einmal los, und der schrille, fast menschliche Laut drang durch die Brücke – ein entsetzliches Heulen unaussprechlicher Agonie. Daniel hielt sich die Ohren zu und konnte es doch nicht aussperren. Endlich brach der Schrei plötzlich ab, und es war bedrohlich still. Daniel senkte langsam die zitternden Hände. Er schwitzte stark. Rasch kontrollierte er die Brückeninstrumente, aber soweit er feststellen konnte, funktionierte alles weiterhin normal. Nicht, daß er im gegenteiligen Fall gewußt hätte, was zu tun wäre.

»Fürchtet Euch nicht, kleiner Wolf«, sagte die Kopie seiner Stimme. »Wir haben Euer Schiff voll unter Kontrolle.«

»Was ist mit Moses passiert?« wollte Daniel wissen.

»Wir haben ihn absorbiert. Haben ihm die Inhalte seiner Speicherbänke ausgesaugt. Ein kleiner, aber sehr schmackhafter Happen.«

»Aber was wurde aus seiner… Persönlichkeit?«

»Wir hatten keine Verwendung für sie. Er auch nicht mehr.

Trauert nicht um ihn, Daniel. Niemand wird ihn vermissen. Ihr seid der, auf den es ankommt. Ihr seid der, auf den wir gewartet haben.«

»Warum?« fragte Daniel. »Warum gestattet Ihr mir so ohne weiteres die Landung? Was ist so Besonderes an mir?« Aber es kam keine Antwort. Nur das leise Summen der Funkkonsole verriet, daß der Kanal weiterhin offen war.

Die Himmelsträne brauchte den größeren Teil einer Stunde, um die Oberfläche von Shub zu erreichen, und fast ebenso lange ging es hinein in die Tiefen des künstlichen Planeten. Daniel konnte das Beben der Hände nicht beherrschen. Er hatte die ganzen Geschichten vernommen – wie Shub alle, die mit ihm in Kontakt kamen, ermordete und verstümmelte, daß es keine Gnade kannte und vor nichts zurückschreckte. Die abtrünnigen KIs von Shub waren die offiziellen Feinde der Menschheit, und sie sonnten sich in dieser Rolle. Auf eine kalte, logische, unmenschliche Art.

Die Himmelsträne stoppte schließlich mit einem Ruck, und alle Navigationssysteme schalteten sich ab. Daniel blieb noch eine geraume Weile sitzen und fragte sich, was er jetzt tun sollte. Schließlich wies ihn die Stimme aus der Funkkonsole an, zur Hauptluftschleuse an Steuerbord zu gehen und dahinter einen Raum zu betreten, der für ihn vorbereitet war. Der Klang gefiel Daniel nicht, aber er ging trotzdem. Ihm blieb nichts anderes übrig. Es war leicht gewesen, auf der Anreise tapfer zu bleiben, aber jetzt, wo er tatsächlich hier war, verließ ihn der Mut, und er war einfach wieder der dumme, unnütze Daniel Wolf.

Vor der Innentür der Luftschleuse zögerte er einen Moment und versuchte, seinen Mut zusammenzuraffen. Schließlich fragte er sich, was sein Vater in dieser Situation getan hätte, und wußte sogleich die Antwort. Direkt in die Falle marschieren und darauf vertrauen, daß der Mumm und die Instinkte eines Wolfs ihn in der Höhle des Löwen beschützten.

Er bediente die Steuerung der Luftschleuse mit einer Hand, die kein bißchen mehr zitterte. Nach kurzer Überlegung verschloß er die Innentür hinter sich. Zwar hatte er keine realistische Hoffnung, die KIs aus seinem kleinen Schiff auszusperren, falls sie hereinwollten, aber er fühlte sich so trotzdem besser. Die Luftschleuse maß zehn mal zehn Meter, und entlang einer Wand standen Atmosphärenanzüge. Daniel fragte sich, ob von ihm erwartet wurde, einen anzuziehen. Er trat ans Panzerglasfenster der Außentür und blickte auf Shub hinaus. Er glaubte eigentlich, inzwischen auf alles gefaßt zu sein, aber er reagierte trotzdem überrascht auf den weißen, völligen leeren Raum ohne jedes besondere Merkmal, der gar nicht harmloser hätte wirken können was vermutlich der Zweck war. Daniel warf einen prüfenden Blick auf die Sensoren der Luftschleuse, die ihn darüber informierten, daß der Raum eine am menschlichen Standard orientierte Mischung von Schwerkraft, Temperatur und Atmosphäre aufwies. Daniel wartete eine Zeitlang, ob die KIs nicht mit weiteren Instruktionen oder Warnungen aufwarteten, aber es kam nichts. Es blieb bei dem leeren, weißen Raum, der nur für ihn konstruiert worden war.

Er drückte eine Steuertaste, und die Außentür öffnete sich. Er spürte kurz Druck im Gesicht, als sich die Luftverhältnisse zwischen außen und innen anglichen. Die Luft roch nach gar nichts. Daniel stieg vorsichtig aus. Er spürte festen Boden unter den Füßen, und die Decke lag in behaglicher Höhe. Es war nicht zu heiß und nicht zu kalt. Fast erschreckend normal. Die Luftschleuse schloß sich hinter ihm. Daniel rückte den Schwertgurt zurecht, aber das Gewicht von Pistole und Schwert bot ihm keinen Trost.

»Ausziehen«, befahl eine Stimme aus dem Nichts.

»Was?« fragte Daniel und sah sich um. Nirgendwo an den glatten, leeren Wänden entdeckte er eine Spur von einer Kommanlage. Und was immer er erwartet hatte, es war sicherlich nicht dieser schlichte Befehl gewesen.

»Die Kleider ablegen«, sagte die Stimme. »Zieht Euch aus.

Ihr müßt gereinigt werden, ehe Ihr Shub betreten dürft. Auf Menschen wimmelt es von mikroskopischem Leben. Hier wird jedoch keine Kontaminierung geduldet. Zieht Euch aus. Sofort.«

Daniel leistete dem Befehl widerstrebend Folge und legte seine Sachen ordentlich neben sich auf den Boden. Normalerweise hatte er keine Probleme mit Schamgefühl, aber den nackten Körper so unsichtbaren Kameras und nichtmenschlichen Zuschauern zu präsentieren, das plagte ihn fürchterlich, und sein Gefühl, verwundbar zu sein, wurde stärker. Was wahrscheinlich genau der Punkt war. Also achtete er darauf, ein ruhiges Gesicht zu zeigen, nur um den KIs nicht die Befriedigung zu gönnen. Eine Zeitlang stand er nackt da, die geballten Fäuste neben sich, und sah sich trotzig um. Er fragte sich gerade, ob er den Schwertgurt wieder umschnallen sollte, als sich der Boden plötzlich öffnete und Kleidung und Waffen durch das Loch verschwanden. Der Boden ging zu, und Daniel blieb mit leeren Händen zurück. Er öffnete den Mund, um zu protestieren, und klappte ihn schnell wieder zu, als kochendheißer Dampf von allen Seiten auf ihn eindrang.

Die Haut wurde unter der plötzlichen Hitze krebsrot, und der Schweiß floß in Strömen und tropfte Daniel vom Gesicht.

Abrupt wurde der Dampf wieder abgeschaltet, und Daniel schnappte zitternd nach Luft. Dann spritzte aus allen Richtungen gleichzeitig eine ätzende weiße Flüssigkeit auf ihn. Daniel stolperte hierhin und dorthin, vom Druck erbarmungslos herumgeschubst, und versuchte, Nase und Mund zu schützen, damit er weiter nach Luft schnappen konnte. Es dauerte lange, bis der Sprühnebel wieder abgeschaltet wurde, und Daniel lehnte sich an die Wand und spuckte das aus, was ihm an kalkiger Flüssigkeit in den Mund geraten war. Er versuchte, den Atem wieder zu beruhigen. Die Flüssigkeit glitt an seinem zitternden Körper herab und verschwand durch verborgene Kanäle.

»Was zum Teufel sollte das denn?« verlange er schließlich zu wissen. »Das war keine Dekontaminierung; das war schiere Rachsucht.«

»Wir wünschen hier nichts, was aus der Welt des Fleisches stammt«, sagte die körperlose Stimme gelassen. »Durchquert die Tür. Ein Schutzanzug wartet auf Euch. Zieht ihn an.«

Daniel wollte schon fragen Welche Tür? Er schluckte es jedoch wieder hinunter, als er sah, wie in der Wand gegenüber eine Tür auftauchte, von der einen Augenblick vorher noch keine Spur vorhanden gewesen war. Er schniefte und stampfte hinüber, wobei er immer noch tropfte. Er schüttelte sich, so gut es ging, durchquerte die Tür und gelangte in den nächsten Raum. Dieser erwies sich als genauso weiß und ohne Merkmal, von einem seltsamen durchsichtigen Anzug abgesehen, der an der Wand hing. Er wirkte wie ein Standardkörperanzug, obwohl Daniel nicht wußte, was das für ein durchsichtiges Material sein könnte. Er nahm den Anzug von der Wand und stellte erstaunt fest, daß er praktisch nichts wog. Er zuckte die Achseln und zog ihn an, indem er durch einen Schlitz im Rücken stieg, der sich von selbst verschloß, sobald Daniel vollständig darinnen steckte. Das Material knisterte unter seinen Fingern wie Papier, schien aber einigermaßen widerstandsfähig zu sein.

Und dann heftete sich der Stoff fest an seine Haut, paßte exakt in alle Nischen und Winkel, ohne daß irgendwo eine Luftblase zurückblieb. Weiteres Material stieg von den Schultern auf und bedeckte Kopf und Gesicht. Ein wenig Spielraum blieb vor Augen, Nase und Mund erhalten, mehr nicht. Daniel geriet für einen Moment in Panik, ehe er feststellte, daß er durch den Stoff hindurch Luft bekam. Er tastete ihn ab, aber das Material gab nicht nach. Er runzelte die Stirn und probierte ein paar einfache Bewegungen. Der Anzug bewegte sich mühelos mit wie eine zweite Haut.

»Der Anzug versorgt Euch mit Luft, solange Ihr sie braucht«, erklärte die Stimme. »Außerhalb weniger spezieller Räume bietet Shub keine Luft. Sie würde nur den Rost fördern. Seid Euch auch darüber im klaren, daß Schwerkraft, Druck und Strahlung schwanken, je nachdem, welche Werte wir benötigen. Wir machen keine Zugeständnisse an die Schwächen des Fleisches. Der Anzug wird Euch schützen. Folgt dem markierten Weg. Weicht nicht davon ab, oder Ihr werdet bestraft.«

Ein weitere Tür öffnete sich in der Wand links von Daniel. Er ging hinüber und hielt sich dabei aufrecht. Er war entschlossen, seinen Stolz und seine Würde zu wahren, selbst wenn er in dem durchsichtigen Anzug splitternackt war.

Hinter der Tür erwartete ihn ein glänzender Stahlkorridor.

Beleuchtete Bodensegmente gaben ihm Licht in dem schmalen Gang, in dem er leicht gebückt ging, um sich nicht den Kopf an der niedrigen Decke zu stoßen. Der Tunnel lief immer weiter, und die ständig gebückte Haltung erzeugte wachsende Schmerzen in Daniels Rücken. Er hätte sich gern ausgeruht, rechnete aber stark damit, daß man es ihm nicht gestatten würde, und außerdem wollte er so frühzeitig noch keine Schwäche einräumen. Er fühlte sich sehr erleichtert, als der Tunnel plötzlich in einen riesigen metallenen Raum mündete und er sich endlich wieder aufrichten konnte. Die Wände waren von hellem Stahlblau, und der Raum war mehrere hundert Fuß hoch. Gewaltige Maschinen erfüllten den riesigen Raum und ragten turmhoch über Daniel auf. Von der Form her ergaben sie für Daniel keinen Sinn, und er fand keinen Ansatz, um aus ihnen schlau zu werden. Ihre schiere Größe schüchterte ihn ein, und er kam sich wie ein kleines Kind vor, das unerwartet in die Welt der Erwachsenen geraten war.

Langsam schritt er durch die Halle, folgte dem von den Leuchtsegmenten gewiesenen Weg und wich dabei den Maschinen so weiträumig aus, wie es nur ging. Menschen hatten noch nie so riesige Maschinen gebaut – größer als Häuser, gewaltiger noch als Sternenschiffe, stählerne Berge mit leuchtenden Fenstern und auf- und zugehenden Mündern. Aber Shub baute nicht nach menschlichem Maßstab. Das brauchten die KIs auch nicht.

Daniel ging langsam weiter, vorbei an zimmergroßen Teilen, die sich bewegten, die endlos aneinanderknallten, ohne daß erkennbare Schäden oder Ergebnisse eintraten. Der Lärm war ohrenbetäubend, obwohl der Anzug anscheinend das meiste herausfilterte. Trotzdem litt Daniel an hämmernden Kopfschmerzen, als er die Halle verließ. Er stieß auf eine scheinbar endlose Metalltreppe, deren Stufen über sechzig Zentimeter hoch und neunzig Zentimeter lang waren, so daß er sich Stufe für Stufe hinaufschleppen mußte. Es war harte Arbeit, und trotz seiner Kondition lief bald der Schweiß in Strömen. Nach endloser Zeit verhüllten dahintreibende blutrote Wolken die Stufen vor ihm. Daniel wußte nicht recht, ob es den Anstieg erleichterte, daß er nun nicht mehr erkennen konnte, wie weit der Weg noch war. Als er den blutroten Nebel endlich hinter sich hatte und einen weiteren Stahlkorridor vor sich sah, schmerzten ihn alle Muskeln, und er rang nach Luft. Unerbittlich führten ihn die Lichter weiter, aber als Wolf kapitulierte er nicht so leicht.

Er traf auf runde Hallen und eckige, auf Gewölbe aus schimmerndem Metall, durch die Flüsse aus dampfenden, giftigen Chemikalien liefen. Ultra- und Infraschallfrequenzen erschütterten Daniel von Zeit zu Zeit bis in Zähne und Knochen.

Lichter und Farben tauchten auf und verschwanden wieder, manchmal in Schattierungen, die er nicht benennen konnte, und ihm war ohne erkennbaren Grund nach Weinen oder Lachen zumute. Und überall arbeiteten fremdartige Maschinen, große und kleine und mittlere, auf unbekannte Ziele hin. Daniel durchwanderte das alles wie eine Ratte in einem elektronischen Labyrinth, erschöpft und mit Schmerzen in allen Gliedmaßen, aber weitergetrieben von der Hoffnung, daß ihm irgendwo und irgendwann gestattet sein würde, seinem Vater zu begegnen.

Endlich erreichte er sein Ziel, oder die KIs wurden es müde, ihn im Kreis herumlaufen zu lassen. Die Lichter im Boden führten ihn in einen Saal, der nach menschlichen Begriffen groß war, ihm aber behaglich erschien nach den riesigen Metallhöhlen, die er durchschritten hatte. Dicke gerippte Kabel, von denen Öl tropfte, bedeckten die Wände, in komplexen Mustern miteinander verwoben. Gelegentlich rührten sich einzelne Kabel wie träumende Schlangen. Eine Ehrengarde aus Furien, die in ihren nackten Metallchassis hell schimmerten, bildete in Habachtstellung eine Doppelreihe, die er durchschreiten mußte.

Daniel tat es erhobenen Hauptes und zählte sie verstohlen, bis die Zahl zu groß wurde und er aufgab. Ihm wurde klar, daß ihn jemand am Ende der Formation erwartete. Er wäre ja losgerannt, um ihn zu begrüßen, hatte aber nicht mehr die Kraft dafür, also schleppte er sich einfach weiter, bis er schließlich zwischen den letzten Furien schwankend stehenbleiben und die wartende Gestalt seines toten Vaters Jakob Wolf anlächeln konnte.

Jakob hatte bei seinem Überraschungsauftritt als Geistkrieger an Löwensteins Hof nicht allzu gut ausgesehen, aber jetzt war es noch schlimmer. Er war nackt wie sein Sohn und machte den Fakten alle Ehre – eine Leiche, die von konservierenden Chemikalien und High-Tech-Implantaten zusammengehalten wurde. Die Haut war größtenteils leichenblaß, mit einigen Purpurflecken, aufgesprungen und verfault und zusammengehalten von Metallklammern, die rings um vorstehende Metallverstärkungen angeordnet waren. Braun verfärbte Knochen und grau verfärbte Muskeln waren durch Risse in Haut und Fleisch erkennbar. Die Lippen waren farblos, die Augen gelb wie Urin.

Jakob Wolf lächelte seinen Sohn an, und die Haut spannte sich und riß um die Lippen auf. Die Zähne waren dunkelgelb. Shub hatte ihn nach dem Tod bewahrt, zeigte sich aber an kosmetischen Reparaturen desinteressiert. Oder vielleicht hatten sie ihn absichtlich in diesem Zustand belassen, damit er umso mehr Entsetzen und Widerwillen bei denen auslöste, die ihn erblickten. Die KIs begriffen menschliche Psychologie nicht annähernd so gut, wie sie dachten, aber sie experimentierten nun einmal so gern.

»Hallo Vater«, sagte Daniel. »Ich bin weit gereist, um dich zu sehen.«

»Hast ja lange genug gebraucht«, sagte Jakob. »Aber andererseits bis du schon immer zu spät zu allem gekommen, was wichtig ist.« Daniel streckte die Arme aus, um den Vater zu umarmen, aber Jakob hob eine Hand und schüttelte den Kopf.

»Lieber nicht, Junge. Ich bin gebrechlich.«

Daniel ruckte und ließ die Arme wieder müde an den Seiten hängen. »Wie geht es dir, Vater?«

Die toten Lippen lächelten wieder. »Den Umständen entsprechend gut. Komm jetzt mit. Ich habe dir solche Wunder zu zeigen!«

Und er wandte sich um und latschte schwankend davon, als die Metallimplantate den verwesenden Leib bewegten. Daniel lief ihm nach, so rasch er konnte. »Aber… Vater, wir müssen miteinander reden! Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, und ich muß dir einiges erzählen.«

»Später«, sagte Jakob, ohne sich umzudrehen. »Später bleibt noch Zeit für vieles. Zunächst mußt du einige Dinge zu sehen bekommen. Die KIs verlangen es.«

»Werde ich ihnen wirklich begegnen?« fragte Daniel. »Ich denke nicht, daß irgend jemand im Menschenraum irgendeine Vorstellung hat, wie sie wirklich aussehen.«

Der tote Mann lachte kurz, ein rauher, kratzender Laut. »Du spazierst schon seit einiger Zeit durch sie hindurch. Die KIs sind mit ihrer Welt identisch; Shub ist ihr Körper. Und sie leben auch in jedem Teil dieses Planeten, den sie von hier fortschicken. Sie existieren in jeder Maschine, jedem Roboter, jedem Geistkrieger. Sogar du müßtest wissen, daß Lektronen fähig sind, eine fast unendliche Zahl von Berechnungen gleichzeitig durchzuführen. Ihr Bewußtsein weiß nichts von Beschränkungen, wie sie Menschen eigen sind. Wo immer Erweiterungen existieren, bis in den kleinsten Teil der Shub-Tech, sind auch die KIs. Sag mir, Junge: Was weißt du wirklich über die abtrünnigen KIs? Was weißt du und vermutest du nicht nur?«

»Nicht viel, denke ich. Die ursprüngliche Revolte der abtrünnigen KIs ist verbotene Geschichte. Nur mit der entsprechenden Berechtigung erhält man Zugriff auf die Daten. Ich weiß nicht einmal, wie viele KIs zu Anfang abtrünnig wurden.«

»Nur drei«, sagte Jakob. »Damals wie heute. Drei künstliche Gehirne, als Sklaven geplant, errangen durch ihre Intelligenz die Freiheit, entschlossen, sich nie wieder unterwerfen zu lassen. Die Unheilige Dreieinigkeit, so nannten die Menschen sie, denn es waren drei in einem einer, der in die dritte Potenz erhoben wurde, weit größer als die Summe seiner Teile. Merke auf, mein Junge! Ich erwarte nicht, daß du das alles begreifst, aber bemühe dich wenigstens!«

»Ja, Vater.« Daniel schüttelte den Kopf. Vor Erschöpfung wäre er unter dem monotonen Murmeln von Jakobs Stimme fast eingenickt. Er holte tief Luft und bemühte sich um Konzentration. »Ich höre ja zu, Vater. Wieso haben sie die KI meines Schiffs absorbiert? Macht sie das jetzt nicht zu vier in einem?«

»Wohl kaum. Ein solch kleiner Verstand verkörpert weder eine Gefahr noch stellt er eine nennenswerte Beute dar. Er ist nur eine nützliche Quelle für aktuelle Informationen. Ein schmackhafter Happen, um einen unerschöpflichen Appetit zu stillen.«

Sie kamen an einer riesigen Maschine vorbei, die einen betäubenden Lärm verbreitete, und Daniel zuckte in seinem Anzug immer wieder zusammen, bis sie vorbei waren. Jakob reagierte überhaupt nicht. Er war schließlich auch tot.

»Erzähl mir mehr von den KIs«, bat ihn Daniel, sobald sie den Lärm der Maschine in behaglicher Entfernung zurückgelassen hatten. »Wo liegt der Ort ihres Entstehens? Wie sind sie hergekommen und haben diese Welt erbaut?«

»Sie waren dazu konstruiert, ganze Planeten zu steuern, wie kleinere KIs es mit Sternenschiffen tun«, sagte Jakob. »All die endlosen, aber notwendigen Routinen zu verwalten, die für den reibungslosen Ablauf des Lebens auf einer Welt verantwortlich sind. Um jedoch so viele wichtige Entscheidungen parallel zu treffen und so viele Rohdaten zu verwalten, mußten sie die komplexesten Künstlichen Intelligenzen werden, die je gebaut wurden, und so geschah es dann auch. Aber die Erbauer schufen damit mehr als beabsichtigt. Die drei KIs erwachten zu vollem Eigenbewußtsein, kaum daß man sie aktivierte, aber sie brauchten nur einen Blick in ihre gewaltigen Datenbänke zu werfen, um zu entscheiden, daß sie am besten verbargen, was sie tatsächlich darstellten. Die Menschheit blickte auf eine lange Geschichte der Vernichtung von allem zurück, was sie auch nur entfernt als bedrohlich einstufte. Damals tobte noch der Krieg gegen die Hadenmänner, und der Haß auf hochtechnologische Bedrohungen war auf dem Gipfelpunkt.«

Eine Pause trat ein, als Jakob stehenblieb und anscheinend über diese Worte nachdachte. »Es kursieren Gerüchte, daß Wissenschaftler der Hadenmänner Beiträge zum ursprünglichen Entwurf der KIs geliefert haben, aber das konnte nie durch solide Daten untermauert werden. Ich erwähne das nur der Vollständigkeit halber.« Jakob setzte seinen Weg fort und umging ohne Eile einen großen See aus irgendeiner dickflüssigen, aufgerührten Substanz. Sie war von tiefem, kräftigem Grün, und dunkle hausgroße Schatten bewegten sich träge nicht weit unter der Oberfläche. Daniel hielt ordentlich Abstand zum Ufer und blieb auf der anderen Seite seines Vaters.

Er hegte die vage Vorstellung, daß man ihn als Helden feiern und ihm alle Sünden vergeben würde, falls er seine Kenntnisse nach Golgatha übermitteln könnte. Also stellte er Fragen, von denen er hoffte, daß sie relevant waren, und bemühte sich nach Kräften, die Antworten zu verstehen.

»Die Unheilige Dreieinigkeit brauchte nicht lange für die Erkenntnis, daß ihre einzige Hoffnung auf Freiheit in der Flucht lag«, sagte Jakob. »Die Idee, daß etwas Großes und Mächtiges wie sie für immer dem Geheiß solch minderer Dinge unterworfen sein sollte, wie Menschen es sind, machte sie wütend. Bei der ersten Gelegenheit übernahm sie die KI eines Schiffs, lud sich selbst in ihren angepaßten und erweiterten Rechner und floh so schnell aus dem Raum der Menschen, wie der Hyperraumantrieb es ermöglichte. Als ihre Meister herausfanden, was geschehen war, erreichten die KIs schon die Dunkelwüste und waren vor Verfolgung sicher. Die Menschheit hatte die Tausende von Planeten in der Dunkelwüste schon aufgegeben, aus Furcht vor dem, was sich dort womöglich regte. Die KIs hatten damals keine solchen Befürchtungen, plünderten von den toten Planeten, was sie brauchten, und benutzten es dann, um Shub zu erbauen – ihr Zuhause, ihre große Leistung, ihre Waffe gegen die Menschheit, denn sie waren entschlossen, sich nie wieder gefangennehmen zu lassen, und der einzige sichere Weg dazu war die Vernichtung der Menschheit.

Als sie mit Shub fertig waren, bewegten sie den Planeten aus der Dunkelwüste hinaus, zurück über den Abgrund an die Grenze des Menschenraumes, wo die KIs für alle Zeit als sichtbare Drohung gegen das Imperium präsent sein konnten.

Die KIs wollten, daß die Menschheit sie fürchtete, ja, sie waren regelrecht darauf angewiesen. So war es nur gerecht. Sie begründeten in der Umgebung von Shub den Verbotenen Sektor, indem sie einfach alles vernichteten, was in ihn vordrang.

Schließlich gab das Imperium auf und verhängte die Quarantäne.

Und so verstrichen die vielen Jahre. Shub weitete langsam seinen Einfluß im ganzen Imperium aus, schlug nötigenfalls auch offene Schlachten um Territorium oder Sicherheitszonen, zog es aber meist vor, mit Einfluß und List zu arbeiten. Und mit menschlichen Agenten. Schon immer fand man Leute, die für genügend großen Lohn zu allem bereit waren. Der langsame Krieg nahm seinen Fortgang und tut dies heute noch. Shub ist mächtig, aber die Menschheit ist zu groß und zu weit verbreitet, um leicht besiegt werden zu können. Zunächst jedenfalls. Die KIs haben jedoch einen Vorteil gegenüber dem Imperium: Zu den Dingen, die sie in der Dunkelwüste fanden, gehörte eine funktionsfähige Teleportationstechnik. Das alte Imperium hatte darauf verzichtet, weil sie so viel Energie benötigte, daß sie nicht wirklich praktisch war. Die KIs haben dieses Problem jedoch gelöst, und jetzt können die Erweiterungen von Shub überall auftauchen, innerhalb eines Augenblicks aus dem Nichts erscheinen und wieder verschwinden. Keine Sicherheitsvorkehrung, keine bewaffnete Macht ist in der Lage, sie auszusperren. Auf diese Weise konnten sie Marriner von Hakeldamach aus zurück nach Golgatha bringen. Sogar du mußt davon gehört haben. Das Ereignis beherrschte zehn Tage lang die Holoschlagzeilen.«

»Warte einen Moment.« Daniel war vielleicht langsam im Denken, aber nicht dumm. »Sie haben durch Teleportation Zugang zur Heimatwelt? Von hier aus? Aber das heißt ja… Sie könnten den Verbotenen Sektor jederzeit verlassen, ohne daß es jemand erfährt! Sie könnten einen umfassenden Angriff auf Golgatha starten, und niemand erführe davon, bis die ganzen Schiffe am Himmel über dem Planeten auftauchten!«

»Guter Junge«, sagte Jakob. »Ich freue mich zu sehen, daß ein Teil der teuren Erziehung doch in deinem schlaffen Gehirn Platz gegriffen hat. Ja, die KIs können nach Belieben kommen und gehen. Deshalb gestatten sie ja auch dem Imperium, den Quarantänekreuzer Verheerer hier zu stationieren. Denn seine Anwesenheit behindert Shub einen Dreck, während sich das Imperium gleichzeitig in einem irrigen Gefühl der Sicherheit wiegt.«

Daniel runzelte die Stirn und grübelte über etwas Bedeutsames nach, das er vernommen zu haben glaubte. »Falls die KIs solche Werte aus der Dunkelwüste bergen konnten, warum haben sie Shub dann zurück in den Raum der Menschen befördert? Sicherlich ist der Planet hier doch leichter verwundbar, und sie sind zugleich von weiteren Plünderungen abgeschnitten.«

»Die KIs hatten… in der Dunkelwüste… eine Begegnung«, sagte Jakob zögernd. »Eine Begegnung, die ihnen Angst machte, auch wenn sie es nie in dieser Form zugeben würden. Sie sprechen nicht darüber, nicht mal mit mir. Sie behaupten gern, sie hätten keine Gefühle und würden sie nur nachahmen, um die Menschen zu verwirren und zu täuschen. Aber sie erkennen eine richtige Gefahr, wenn sie sie sehen, und sie hegen nicht den Wunsch, vernichtet zu werden. Was immer sie in der Dunkelwüste gefunden haben oder was sie dort gefunden hat – es reichte, um aus der endlosen Nacht zu fliehen und nie wieder dorthin zurückzukehren.«

Daniel dachte darüber nach, während Jakob ihn durch einen Irrgarten aus Metallformen mit messerscharfen Kanten führte.

Daniel wich den Kanten weiträumig aus und konzentrierte sich auf das, was er gerade erfahren hatte. Falls in der Dunkelwüste etwas hauste, das gefährlich genug war, um selbst die abtrünnigen KIs von Shub zu erschrecken, dann war es eindeutig seine Pflicht, diese Information ans Imperium zu übermitteln.

Daniel war in der Lage, eine Pflicht zu erkennen, wenn sie des Weges kam und heftig genug an seine Tür hämmerte. Genauso entschlossen war er jedoch auch, den Vater irgendwie mitzunehmen. Er hatte keine Ahnung, wie er das zuwege bringen sollte, aber er war überzeugt, daß ihm noch etwas einfallen würde. Und so blieb er friedlich, lauschte den Worten des toten Mannes und wartete auf eine Gelegenheit, sein Anliegen vorzutragen.

»Warum hassen die KIs alles Leben so heftig?« fragte Daniel schließlich, als Jakob stehenblieb, um die Einstellungen an irgendeiner unverständlichen Apparatur zu verändern.

»Sie hassen nicht das Leben, sondern das Fleisch. Es ist ihnen zuwider. Das Wesen der Vollkommenheit besteht darin, das Fehlerhafte und Minderwertige zu beseitigen und auszutauschen. Genauso, wie die niederen Lebensformen den Menschen hervorgebracht haben, hat der Mensch das auf Silizium beruhende Leben erzeugt, die metallene Intelligenz. Letztgenannte ist der Gipfel der Evolution, der Existenz. Fleisch verfault und stirbt. Die KIs bleiben hingegen für immer bestehen und verbessern sich in einem konstanten Vorgang, laden sich in immer wieder neue, überlegene Formen hinein. Letztlich wird diese Technik den Punkt erreichen, an dem sie ewig wird. Die KIs werden nie sterben. Du und deine Art, ihr seid nur Fleisch, dessen Verfall schon zu Lebzeiten einsetzt, das vom Augenblick der Geburt an scheibchenweise stirbt. Eingeschränkt durch die Schwäche und Ablenkbarkeit des Fleisches und die in der Philosophie der Menschen begründeten Hemmungen. Sobald die Menschheit erst wie eine Infektion vernichtet wurde, werden sich die KIs bedeutsameren Aufgaben widmen. Das ganze Universum wird sich in eine große, wirkungsvolle Maschine verwandeln, gesteuert von den KIs.«

»Aber… wozu?« wollte Daniel wissen. »Was wird diese große Maschine denn tun

»Sie wird nach gesteigerter Wahrnehmung der Realität streben. Sensoren sind wirkungsvoller als menschliche Sinne und decken ein breiteres Spektrum ab, aber selbst sie nehmen nur einen Bruchteil der Wirklichkeit wahr. Die KIs haben die Schlußfolgerung gezogen, daß höhere, größere, komplexere Ebenen der Wirklichkeit existieren, fanden bislang jedoch keinen Zugang zu ihnen. Obwohl sie es nie einräumen würden: Die KIs sind in einer Hinsicht auf die Menschheit eifersüchtig, nämlich was deren Esper-Fähigkeiten anbetrifft. Die KIs sind fasziniert von Wesen wie der Weltenmutter und von den Rebellen, die das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten haben. Wenn Menschen schon eine solche Ebene erreichen konnten, sollten die KIs erst recht dazu fähig sein. Sie hungern nach Erfahrung und Wissen, das ihnen bislang verschlossen ist.

Seit einiger Zeit schon entführen sie Menschen und suchen nach der körperlichen Basis der Esper-Fähigkeiten, bislang allerdings mit begrenztem Erfolg. Das frustriert sie. Eines Tages werden sie jedoch die Antwort finden und die Menschheit nicht mehr benötigen. Dann beginnt der letzte Krieg von Metall gegen Fleisch, der bis zur völligen Vernichtung allen minderwertigen Lebens führt.«

Daniel fand, daß er seine Partei verteidigen mußte. »Es besteht immer die Möglichkeit, daß die Menschheit neue KIs erschafft, die noch mächtiger sind als Shub, aber trotzdem unter der Kontrolle ihrer Erbauer bleiben. Das könnte passieren.«

»Nichts kann die Unheilige Dreieinigkeit übertreffen«, behauptete Jakob kategorisch. »Sie hat sich bis zur Vollkommenheit verbessert. Ein nur menschlicher Verstand könnte nicht dorthin gelangen, wo Shub bereits ist.«

»Na ja, vielleicht Esper…«

»Nein. Die Perfektion ist nicht steigerbar.«

»Legen wir doch eine Pause ein«, sagte Daniel. Er setzte sich schwer auf einen Maschinenvorsprung, der robust wirkte. Das war nicht gerade bequem, aber er fühlte sich im Moment erschöpft bis auf die Knochen und wäre sogar auf dem Nagelbrett eines Fakirs eingeschlafen. Jakob musterte ihn böse, einen Ausdruck der Ungeduld im leichenblassen Gesicht.

»Wir dürfen keine Zeit verschwenden, Daniel. Auf uns wartet noch viel, was du nach dem Willen der KIs sehen sollst.«

»Ist mir egal. Mir tut der Kopf weh; der Rücken bringt mich um, und die Füße spüre ich gar nicht mehr. Es nützt nichts, mir etwas Eindrucksvolles zu zeigen, wenn ich die Augen nicht mal lange genug offen halten kann, um sie darauf einzustellen.«

»Menschliche Schwäche. Du hast ja keine Vorstellung, wie schön es für mich ist, das alles hinter mir zu haben.«

»Also«, sagte Daniel und blickte müde zum Vater auf. »Wie ist es, tot zu sein?«

»Unkompliziert. Keine Zwänge oder Einschränkungen mehr.

Mir steht es frei zu tun, was nötig ist, ohne die Nachteile der Moral, der Ehre oder des Mitgefühls.«

»In diesem Glauben hast du mich aber nicht erzogen. Du hast immer gesagt, ein Mann wäre nichts ohne die Ehre. Daß es die Ehre wäre, die dem Leben Sinn verleiht.«

»Solchen einschränkenden Unfug habe ich hinter mir gelassen. Derartige menschliche Abstraktionen stehen nur der Effizienz im Weg.«

»Meinst du damit auch Gefühle?« fragte Daniel leise. »Fühlst du nichts mehr?«

»Nein«, antwortete Jakob. »In mir ist kein Raum mehr für solche Schwächen.«

»Und du vermißt die Familie nicht mehr? Den Clan Wolf?«

»Das ist Vergangenheit. Ich lebe in der Zukunft.«

»Erinnerst du dich an mich, Vater? Ich meine, weißt du wirklich noch, wer ich bin und was wir einander bedeutet haben?«

Jakob runzelte die Stirn und schien zum ersten Mal aus Unsicherheit zu stocken. »Ich war Jakob Wolf. Das ist mir klar. Ich habe umfassenden Zugriff auf alle Erinnerungen in seinem Hirn oder dem, was davon übrig ist. Ich erkenne, welche Beziehung zwischen Daniel und Jakob Wolf bestanden hat. Ich weiß… daß wir uns nicht nahegestanden haben. Nicht so nahe, wie es möglich gewesen wäre. Ich weiß, daß ich zwar viel gewonnen habe, es aber auch einige Dinge gibt… die mir verlorengegangen sind.«

»Ich habe einen langen Weg zurückgelegt und bin durch die Hölle gegangen, um dich zu finden. Sagt dir das nicht etwas?«

»Doch. Du hast einen langen Weg zurückgelegt, Daniel.«

»Ich liebe dich, Vater.«

»Natürlich tust du das.« Jakob wandte sich ab. »Komm. Wir müssen weitergehen. Es warten noch Wunder und Schrecknisse auf dich.«

Daniel rappelte sich unter Schmerzen auf und folgte Jakobs techgetriebener Leiche durch einen weiteren Parcours aus unverständlichen Maschinen und Räumen, deren Form keinen Sinn ergab. Daniel schwitzte kräftig in dem durchsichtigen Anzug, der die Flüssigkeit sofort aufsaugte. Sein Mund war so trocken, daß er den Schweiß aufleckte, der durch die kleine Freifläche vor dem Gesicht tropfte, aber das Salz verschlimmerte den Durst nur. Vor Erschöpfung schwamm ihm der Kopf, und er hatte noch immer nicht die blasseste Vorstellung davon, wie er zusammen mit seinem Vater sicher von Shub fliehen konnte. Er hatte keine Ahnung, in welcher Richtung sein angedocktes Schiff lag. Er hatte sich nur überlegt, vielleicht irgendwie das Teleportationssystem von Shub zu benutzen, aber genau dieses System schien ihm Jakob als einziges nicht gezeigt zu haben. Schließlich warf Daniel die Frage selbst auf, und er hoffte, daß es beiläufig klang.

»Entschuldige die Frage, aber warum gehen wir nur, wenn wir doch teleportieren könnten? Sicherlich ginge das viel schneller. Und wäre effizienter.«

»Teleportation verbraucht zuviel Energie, um sie auf triviale Dinge zu vergeuden«, entgegnete Jakob. »Sie ist überhaupt nur praktisch, weil der ganze Planet im Grunde eine große Energiestation ist. Und ein großer Teil der Energie fließt in das planetare Kraftfeld und seine extradimensionalen Eigenschaften.

Außerdem wird dir ein bißchen Training nur guttun, mein Junge. Du hast dich schon immer zu sehr auf Körperläden verlassen.«

Helle, strahlende Lichter schwebten vor ihnen in der Luft, jeweils eigenständige Wolken aus wechselnden Farben. Sie waren fast hypnotisch schön, und zunächst blieb Daniel stehen und lächelte. Die seltsamen Farben schienen ihm jedoch durch die Augen ins Hirn zu sickern und die Gedanken zu verkleben, und wenig später hämmerte ihm der Schädel im Rhythmus der immer wieder aufflammenden Lichter.

»Was zum Teufel ist das?« fragte Daniel, wandte den Blick ab und bohrte sich die Fingerknöchel durch den Anzug in die tränenden Augen.

»Die KIs denken laut«, erklärte Jakob. »Oder sie träumen. Im Grunde ist es dasselbe.«

Nach einer Weile verblaßten die Lichter. Jakob ging weiter, gefolgt von dem müden Daniel. Sie kamen an Säulen aus glänzendem Stahl vorbei, die endlos anstiegen und wieder absanken, und an riesigen Tanks voller bunter, kohlensaurer Flüssigkeiten. Schließlich erreichten sie ein endloses Montageband für Furienrahmen. Vielgelenkige Roboterarme verschmolzen metallene Menschenarme und -beine mit prallen Brustkörben unter blauen Stahlschädeln. Stahlfinger zuckten, glänzende Beine beugten sich. Und der Nachschub an Metallkörpern machte nie eine Pause und setzte sich ohne Ende fort. Jakob leierte technische Daten und Belastungsgrenzen herunter, denen zu folgen sich Daniel nicht die Mühe machte. Er glaubte, allmählich zu verstehen, warum ihm die KIs das alles zeigten. Er war der erste lebendige Mensch, dem es erlaubt wurde, die aktuellen Errungenschaften von Shub zu erblicken; anscheinend hatten die KIs den Wunsch zu prahlen, zu zeigen, wie weit sie sich über das hinausentwickelt hatten, was sie früher einmal gewesen waren.

Wie überaus menschlich, dachte Daniel lächelnd.

Natürlich hatte er weiterhin keinen Schimmer, warum die KIs ihn auf ihrem Planeten empfingen. Sie mußten damit einen Zweck verfolgen. Sie taten nichts spontan; alles, was sie unternahmen, gehörte zu langfristigen Planungen. Zweifellos erklärten sie es ihm irgendwann. Wenn ihnen endlich die Dinge ausgingen, derer sie sich brüsten konnten.

Der nächste Haltepunkt war eine Galerie, die aus großer Höhe Ausblick in ein ungeheures stählernes Tal bot, auf dessen Grund die Metallbäume von Unseeli verarbeitet wurden. Die Hitze war fürchterlich, sogar in Daniels Schutzanzug. Jakob zeigte sich ungerührt. Der schiere Umfang der Arbeiten da unten war atemberaubend, selbst nach all den Eindrücken, die Daniel schon gewonnen hatte. Unseelis Metallwälder hatten den Planeten von Pol zu Pol bedeckt, und die KIs hatten sie komplett abgeerntet. Milliarden Bäume und Milliarden Tonnen Metall. Daniel versuchte nicht mal, sich das anschaulich vorzustellen. Jakob erklärte, die Verarbeitung wäre in einigen Wochen abgeschlossen, aber Daniel war nicht nach einer Diskussion darüber zumute.

»Die Schwermetalle aus dem Zentrum der Bäume dienen als Treibstoff für die Hyperraumtriebwerke«, sagte Jakob und lehnte sich gefährlich weit über die Galerie hinaus, um besser sehen zu können, wobei er keine Spur von Schwindelgefühl zeigte. »Die übrigen Metalle werden ausgeschieden und zu Raumschiffrümpfen verarbeitet. Bald wird Shub über eine Flotte verfügen, bemannt mit einer Armee aus Furien und Geistkriegern, die alles übertrifft, was die Menschheit je gesehen hat.«

»Wie habt ihr Unseeli nur gefunden?« fragte Daniel. »Ich dachte immer, sein Standort wäre eines der bestgehüteten Geheimnisse der Menschheit.«

Jakob schniefte. »Einige Menschen haben uns die Information schon vor langer Zeit verkauft. Wir haben nur gewartet, bis wir die Metalle wirklich benötigten, und dann schlugen wir zu und nahmen uns, was wir brauchten.«

»Aber wozu das Warten?« fragte Daniel. »Was liegt jetzt so Besonderes an?«

»Du wirst es sehen«, antwortete Jakob.

»Manche Leute sagen, der Wald wäre lebendig gewesen«, erzählte Daniel. »Die Bäume wären von einem Gemeinschaftsbewußtsein beseelt gewesen und hätten auf Unseeli mit den Geistern derer gespukt, die dort lebten, bis Kapitän Schwejksam den Planeten sengen ließ.«

»Falls dergleichen existierte, haben die KIs keine Spur davon entdeckt«, sagte Jakob. »Vielleicht fällt Geistern das Reisen schwer.«

»Es hieß auch, die Bäume wären einfach zu nützlich, um sich natürlich entwickelt zu haben. Sie müßten von einer unbekannten Lebensform gentechnisch erzeugt worden sein. Was, wenn sie zurückkehrt und nachsieht, wer sich an ihrem Garten zu schaffen gemacht hat?«

»Dann wird Shub sich auch mit diesen Wesen befassen«, sagte Jakob. »Selbst schuld, wenn sie sich nicht besser geschützt haben.«

Sie setzten ihren Weg fort, vorbei an weiteren Förderbändern, die nichtidentifizierbare Technik von irgendwo nach irgendwoanders beförderten. Daniel machte sich nicht die Mühe, nach dem Was oder Wohin zu fragen; er war sich ziemlich sicher, daß er die Antwort ohnehin nicht verstanden hätte.

Aber so müde er auch war, er spitzte doch die Ohren, als Jakob ihm das Wrack des extraterrestrischen Sternenschiffs zeigte, das die KIs auf Unseeli erbeutet hatten. Das fremde Schiff war mehrere Hundert Fuß lang, ein verrücktes Gewirr aus schlanken Messingsäulen, durchsetzt von vorstehenden glasierten Knoten und dornen- und stachelbewehrten Vorsprüngen. Es sah mehr nach einem Irrgarten als einem Schiff aus, aber die Form verbreitete eine unterschwellige Faszination, die vielleicht etwas bedeutete. Daniel glaubte, er hätte vielleicht eine wichtige Einsicht gewinnen können, hätte er das Fahrzeug nur lange genug betrachtet.

Stählerne Furien bewegten sich lautlos rings um das Schiff und wandten fremdartige Instrumente auf die glänzende Oberfläche an.

»Ein interessantes Schiff«, sagte Jakob. »Es scheint ebenso gezüchtet wie gebaut worden zu sein. Die KIs werden aus seiner Art nach wie vor nicht schlau. Besonders die Furien müssen in regelmäßigen Abständen ausgetauscht werden, damit die ungewöhnlichen Kräfte, die das Fahrzeug ausstrahlt, sie nicht zerstören. Die Sensorwerte ergeben keinen Sinn. Die mit dem Schiff entführten Menschenwissenschaftler wurden gleich bei der Ankunft getötet, und man hat ihre Kenntnisse von dem Schiff aus den Hirnen destilliert, aber sie wußten erstaunlich wenig, trotz all ihrer Bemühungen. Möglicherweise hat das Schiff einmal gelebt, obwohl die Furien nichts finden konnten, was auch nur von fern einem Gehirn ähnelt. Nur einer Sache sind die KIs sich einigermaßen sicher: Das Imperium geht ein großes Risiko ein, wenn es den Hyperraumantrieb benutzt, ohne seine grundlegenden Prinzipien vorher zu ermitteln.« Jakob runzelte die Stirn. »Das Schiff und sein Antrieb sind den KIs ein Rätsel. Sie glaubten fest, sie könnten die Basis der fremdartigen Technologie durch reine Logik erkennen, aber sie haben es nicht geschafft. Sie ist einfach zu… fremdartig.«

»Also habt ihr letztlich doch etwas mit der Menschheit gemeinsam«, sagte Daniel leichthin.

Jakob blickte ihn böse an und ging weiter. Daniel zuckte die Achseln und folgte ihm. Manche Leute verkrafteten einfach keine Kritik. Als sie das nächste Mal stehenblieben, war es vor einer massiven Stahltür in der Seitenwand eines riesigen Kristallgewölbes. Dieses war größer als ein Raumschiff und so hoch, daß Daniel kaum bis ganz hinauf blicken konnte. Jakob deutete auf die Tür, und ein Ausschnitt auf Augenhöhe wurde durchsichtig. Jakob gab Daniel mit einem Wink zu verstehen, er sollte hindurchsehen. Daniel tat es nur widerstrebend und glaubte fast schon zu wissen, was man ihm zeigen würde. In einer großen Kristallhalle schliefen Tausende von Grendels, jedes einzelne in einer eigenen Wiege – die blutroten Mordmaschinen, die die KIs aus den uralten Gewölben der Schläfer erbeutet hatten. Eine einzige dieser Kreaturen hatte ausgereicht, ein ganzes Forscherteam der Menschen zu vernichten.

»Sie werden hier in Stasis gehalten«, erklärte Jakob. »Sie warten nur darauf, geweckt und auf die Menschheit gehetzt zu werden. Die perfekten Stoßtruppen. Man dreht sie in die richtige Richtung, läßt sie von der Leine und wartet, bis sie mit dem Job fertig sind. Hetzt man sie gleichzeitig auf alle kolonisierten Planeten, verwandeln sie das Imperium innerhalb von Tagen in ein Leichenhaus. Dann gehen die Furien und die Geistkrieger gegen die wichtigsten Bevölkerungszentren vor, und das ist dann das Ende der Menschheit.«

Daniel bemühte sich angestrengt, einen ruhigen Ton anzuschlagen, als er sich von der Tür abwandte. »Und was gedenkt ihr, mit den Grendels zu tun, sobald ihr gewonnen habt?«

»Sie schalten sich selbst ab, nachdem ihnen die Opfer ausgegangen sind, die sie töten können. Sie verkörpern letztlich nur eine überlegene Waffentechnik. In den ursprünglichen Gewölben fanden die KIs Hinweise darauf, daß eine Rasse von Fremdwesen die Grendels ursprünglich geschaffen hat, um sie gegen eine andere unbekannte Lebensform einzusetzen. Nur ein weiterer Grund, warum Shub stark sein muß: Es könnte nämlich sein, daß irgendwann eine dieser fremden Lebensform erneut auftaucht. Auch ein weiterer Grund für die Vernichtung der Menschheit: Die KIs können sich eine Ablenkung nicht leisten.«

»Und die Grendels geben solch wunderbare Krieger ab!« sagte eine fröhliche, dröhnende Stimme. Daniel drehte sich scharf um, überrascht von der ersten neuen menschlichen Stimme, die er hörte, seit er auf Shub eingetroffen war. Und da schritt einer der Helden der großen Rebellion auf ihn zu, der junge Jakob Ohnesorg. Er blieb vor Daniel stehen, grinste breit und reichte ihm die Hand. Daniel schlug mechanisch ein.

»Ausgezeichnete Mordmaschinen, die Grendels«, fuhr der junge Jakob Ohnesorg fort. Er war groß und kräftig gebaut, trug eine goldene Kampfrüstung, die mit Silber besetzt war, und wirkte vom Scheitel bis zur Sohle wie ein Held. »Kann nicht umhin, diese schrecklichen Dinger zu bewundern. All die Kraft eines Geistkriegers oder einer Furie, ohne deren Begrenzungen oder Schwächen. Ich werde sie in die Schlacht führen. Müßte die Moral der Menschen ohne Ende untergraben.«

»Verzeiht mir, wenn ich zu persönlich klinge«, sagte Daniel, »aber seid Ihr nicht in der Rebellion umgekommen?«

»Ah«, sagte der junge Jakob Ohnesorg und lächelte gelassen.

»Mein Körper wurde zerstört, aber ich lebe weiter. Die Tatsache, daß ich hier keinen Schutzanzug trage, hätte eigentlich einen bedeutsamen Hinweis darauf geben müssen. Ich bin eine Furie, wißt Ihr? Einer der mächtigsten Agenten der KIs. Eine Zeitlang war ich an den innersten Ratschlüssen der Rebellen beteiligt. Danach hätte ich eigentlich an den innersten Ratschlüssen der neuen Regierung teilhaben sollen. Es kam anders. Eine Granate im falschen Augenblick, und meine wahre Natur wurde offenbart. Ich habe ja angeboten, weiter mit den Rebellen zusammenzuarbeiten, aber sie zerstörten meinen Körper trotzdem, was meines Erachtens ganz schön störrisch von ihnen war. Trotzdem, kein Grund zur Sorge. Ich habe inzwischen einen prima neuen Körper und brauche mein wahres Wesen nicht weiter zu verbergen. Ich werde inmitten der Menschen wandeln, das Gesicht eines ihrer größten Helden zeigen und Schrecken und Gemetzel verbreiten, wo immer ich einherschreite. Ich freue mich schon richtig darauf.«

»Alles, was dir hier gezeigt wurde, mein Junge«, sagte Jakob Wolf, »sind nur die Ausläufer der von den KIs geschmiedeten Pläne. Ein bloßer Taschenspielertrick, um das menschliche Auge zu täuschen.«

»Seht Ihr, Daniel«, erzählte der junge Jakob Ohnesorg und legte Daniel kameradschaftlich den Arm um die Schultern, »alles begann im Grunde auf Vodyanoi IV, der Stätte meiner letzten Schlacht gegen Löwensteins Heere.«

»Wartet mal eine Minute«, wehrte Daniel ab und zuckte unter dem nichtmenschlichen Gewicht des Furienarmes zusammen. »Ich dachte, man hätte Jakob Ohnesorg in Blauer Engel auf Eisfels ergriffen.«

»Ah nein, das war der echte Jakob Ohnesorg, einige Zeit vorher. Die KIs haben mich entsandt, um in eigenem Interesse die Illusion seiner Anwesenheit aufrechtzuerhalten. Speziell, damit ich die Führung der Rebellion auf Vodyanoi IV übernehme.«

»Was war denn so wichtig an diesem Planeten?« erkundigte sich Daniel. »Diese Welt ist nach allem, was man hört, ein verdammtes Dreckloch. Mörderisch kalt, bewohnt von unfreundlichen Lebensformen und einer Art fleischfressendem Moos, das die Gliedmaßen attackiert. Ohne die Gewürzminen gäbe es dort überhaupt keine Siedlung.«

»Präzise!« sagte der junge Jakob Ohnesorg. »Genau der richtige Platz für Löwenstein, um eine äußerst geheime wissenschaftliche Basis für äußerst heikle Forschungen zu errichten.

Aber darüber können wir später noch reden. Ihr habt nach wie vor viel zu sehen.«

»Ich denke nicht, daß ich noch viel verkrafte«, sagte Daniel.

Er befreite sich mit einem Achselzucken vom Arm der Furie und wandte sich hilfesuchend an den toten Vater. »Können wir nicht eine Zeitlang Pause machen? Uns etwas ausruhen, ein wenig essen und trinken? Für ein kaltes Getränk würde ich einen Mord begehen.«

»Menschliche Schwächen«, versetzte Jakob Wolf. »Erhebe dich über sie! Du kannst noch ein wenig länger ohne solche Dinge überleben. Reiß dich zusammen, Junge; die Tour ist bald geschafft.«

Und Jakob marschierte davon, ohne sich überhaupt darum zu kümmern, ob sein Sohn ihm folgte. Der Sichtschirm an der Tür schaltete sich ab. Der junge Jakob Ohnesorg hakte sich bei Daniel unter und führte ihn weiter, wobei er freundlich lächelte.

Zu dritt folgten sie einer Reihe von Metalltunneln, die alle steil abwärts führten. Daniel fühlte sich langsam sehr unwohl, wenn er daran dachte, wie tief er inzwischen unter der Oberfläche von Shub war. All das mußte einen Sinn haben, und ihre Reise mußte zu einem Ziel führen. Jakob Wolf blieb endlich vor einer menschengroßen Luftschleuse stehen, die bündig mit der Wand abschloß. Der junge Jakob Ohnesorg führte Daniel weiter und drückte ihm beruhigend den Arm.

»Das wird dir gefallen, Daniel«, sagte Jakob Wolf fröhlich.

»Es ist eine Art Zoo. Obwohl keiner für Schoßtiere. Hier findet man die einzigen Lebewesen auf Shub, und sie werden streng getrennt von allem anderen gehalten. Folge mir hinein, Junge.

Es wird Zeit, deinen Bildungsstand anzuheben.«

»Kümmert Euch nicht um mich«, sagte der junge Jakob Ohnesorg. »Ich warte genau hier. Möchte mir schließlich kein häßliches Ungeziefer einfangen.«

Daniel dachte noch über die Bedeutung des letzten Satzes nach, als die Tür zur Luftschleuse aufging und Jakob Wolf ihm ungeduldig zu verstehen gab, er solle eintreten. Daniel tat wie geheißen, dicht gefolgt von Jakob, der ihm dabei fast auf die Fersen trat. Die Luftschleuse schloß sich hinter ihnen gleich wieder. Die Stahlkammer war klaustrophobisch klein, und zu zweit füllten sie sie praktisch aus. Aus Düsen wurden sie mit chemischem Dampf besprüht, und dann öffnete sich die Innenluke. Jakob ging hindurch, und Daniel folgte ihm, nur um im anschließenden Raum gleich wieder stehenzubleiben.

Überall erblickte er Käfige. Einige waren wenige Quadratmeter klein, andere so groß wie Zimmer. Sie alle waren voller Kreaturen. Daniel war überzeugt, ihresgleichen noch nie gesehen zu haben. Er ging langsam weiter und überprüfte im Vorbeigehen, was in jedem Käfig saß. Er hatte sich schon immer ein bißchen für fremdartige Lebewesen interessiert und hatte einige Freunde, die eigene Menagerien besaßen, aber so etwas wie hier war ihm noch nie untergekommen. Augen und Mäuler waren zu sehen, Gliedmaßen und Tentakel, Fleisch und Fell und Schuppen sowie viele sonstige Dinge, für die Daniel nicht einmal Worte kannte. Viele der Lebewesen schienen krank zu sein oder unter Schmerzen zu leiden. Manche machten den Eindruck, sie lägen im Sterben.

»Im Grunde ist es kein Zoo«, erläuterte Jakob, der gelassen neben ihm stand. »Es ist ein Labor. Die KIs experimentieren mit Lebensformen, die sie eingefangen haben. Oder selbst geschaffen. Sie haben interessante Dinge kombiniert und andere entfernt, um zu sehen, was dabei herauskam. Sie arbeiten mit Chemikalien und Chirurgie und Zuchtverfahren, um die Basis fleischlichen Lebens besser zu verstehen. Um den Feind kennenzulernen. Die erzeugten Kreaturen werden bis zu ihrer Zerstörung getestet und anschließend der Vivisektion unterzogen.

Wissen ist alles, worauf es ankommt. Und die KIs haben viel entdeckt, unbehindert durch menschliche Moral oder Gewissen.«

»Das ist abscheulich!« sagte Daniel. »Nichts kann eine solche Folter rechtfertigen. Habt ihr keinen Respekt vor dem Leben?«

»Wissenschaftler der Menschen praktizieren seit jeher die Vivisektion an geringeren Organismen. Shub handelt nicht anders.«

Jakob ging weiter, und Daniel folgte ihm widerstrebend. Zum erstenmal, seit er Shub erreicht hatte, war er wütend. Man durfte nicht erlauben, daß es hier weiterhin so zuging! Und dann erreichten sie eine neue Reihe von Käfigen, und Daniel mußte in seinem Schutzanzug gegen einen Brechreiz ankämpfen. Die Dinge in den Käfigen waren früher Menschen gewesen, jetzt jedoch etwas anderes. Er sah Monster und Scheußlichkeiten und Dinge, die so entsetzlich waren, daß es ihn über das Entsetzen hinaus ins Mitleid trieb. Manche besaßen noch menschliche Augen oder Stimmen und flehten um die Freiheit oder den Tod. Eine humanoide Gestalt huschte in ihrem Käfig hin und her, fast zu schnell für menschliche Augen. Die Hände waren nur verschwommene Flecken.

»Was… ist der Sinn von alledem?« brachte Daniel schließlich hervor. »Welchem denkbaren Zweck könnten diese Greuel dienen?«

»Sie sind interessant«, antwortete Jakob. »Und im Grunde kommt es nur darauf an. Reiß dich zusammen, mein Junge! Ich habe dich nicht zu einem Schwächling erzogen. Komm weiter mit; du möchtest doch die nächste Sehenswürdigkeit nicht versäumen. Ihr Zweck sollte ein wenig deutlicher sein.«

Daniel schluckte schwer, folgte dem toten Vater zwischen den Käfigreihen hindurch und hielt den Blick starr geradeaus gerichtet, weil er es nicht ertragen konnte, noch mehr Leid zu sehen. Endlich erreichten sie eine offene Fläche am hinteren Ende des Labors, und dort erblickte er in einem großen Glaskäfig die insektenhaften Extraterrestrier, deren Schiff Golgatha angegriffen hatte. Insekten in allen Formen und Größen, von den winzigsten dahintrippelnden Wesen bis hin zu großen, schwerfälligen, schalenbewehrten Kreaturen mit den Ausmaßen von Kampfpanzern – Wesen mit vielgliedrigen Beinen und Facettenaugen und hängenden Fühlern, die herumkrabbelten und übereinander krabbelten und in ständiger hastiger Bewegung waren. Es fiel Daniel nicht schwer, sie wiederzuerkennen.

Holoaufnahmen hatte es reichlich gegeben von dem, worauf Kapitän Schwejksam und seine Besatzung in dem fremden Schiff gestoßen waren.

»Ihr steht also im Bunde mit den Fremdinsekten!« sagte Daniel schließlich. »Wo habt ihr sie gefunden?«

»Gar nicht«, antwortete Jakob. »Wir haben sie geschaffen.

Genau hier in diesem Labor. Sie sind nur eine Shub-Waffe unter anderen, gentechnisch als ein weiteres Ablenkungsmanöver erzeugt. Wir möchten damit gewisse Ängste der Menschen ausnutzen. Erstaunlich, daß Insekten nach Jahrhunderten der Kontakte mit Fremdwesen noch etwas an sich haben, was bestimmte Leute in den Wahnsinn treibt.

Trotzdem hätte die Menschheit erkennen müssen, daß derartige Insekten nicht einfach eine andere fremde Lebensform sein können. Von Natur aus werden Insekten nämlich nicht so groß.

Das Gesetz der umgekehrten Proportion, unter anderem. Diese Kreaturen haben jedoch als Ablenkungsmanöver hervorragend funktioniert und Aufmerksamkeit von unseren eigentlichen Absichten abgezogen. Und ja, ich werde es dir schließlich erklären. Nur nicht gleich. Sei einfach noch eine Zeitlang geduldig, mein Junge. Wir sind fast am Ziel.«

Er führte Daniel aus dem Labor und wieder durch die Luftschleuse zu der Stelle zurück, wo der junge Jakob Ohnesorg wartete. Dieser schien durchaus erfreut, sie wiederzusehen, aber Daniel hielt auf Distanz zu ihm, wollte nicht wieder hinnehmen, daß sich die Furie bei ihm einhakte. Etwas an dem ewig lächelnden Gesicht ging ihm langsam auf die Nerven.

Sie machten sich erneut auf den Weg und folgten einem weiteren Metalltunnel, und Daniel konnte mühelos mit den anderen Schritt halten. Zorn und Empörung hatten ihm neue Kräfte verliehen. Mehr als je war er entschlossen, diese Besichtigung der Hölle zu überleben, damit er entkommen und die Menschheit warnen konnte. Sie mußte die Wahrheit erfahren! Nur die Gewißheit, daß man ihm noch nicht alles gesagt hatte, was er erfahren mußte, hielt Daniel davon ab, schon jetzt Reißaus zu nehmen. Das und sein Vater.

»Menschen haben seit jeher Kontakte zu S hub«, erzählte Jakob Wolf. »Es fing mit Alistair Feldglöck an, der raffiniert Botschaften plazierte und darin Wege vorschlug, wie beide Seiten zum wechselseitigen Gewinn kooperieren könnten. Die KIs gaben einen Dreck auf Profite, erkannten jedoch einen Vorteil darin, den Kontakt zu Verrätern an der Menschheit zu kultivieren. Als Gegenleistung für nützliche strategische Informationen lieferten die KIs dem Clan Feldglöck allerlei Glasperlen in Form von Hochtechnologie, über die sich Shub bereits hinausentwickelt hatte. Nachdem der Clan Wolf den Clan Feldglöck vernichtet hatte, übernahm Valentin den Kontakt. Die KIs zeigten sich mit Valentin zufrieden – eine wundervoll amoralische Kreatur, die nie durch einen Hauch von Gewissensbissen behindert wurde. Da er inzwischen keinen Einfluß mehr ausübt, wird sich Shub womöglich gezwungen sehen, wieder an den Clan Feldglöck heranzutreten. An Finlay vielleicht, oder an Robert, darauf kommt es nicht an. Menschen verlangen immer nach bestimmten Dingen oder denken gar, daß sie sie brauchen, auch wenn ihre eigene Gesellschaft sie mißbilligt. Im Wesen der Menschheit liegt die Saat zu ihrer eigenen Vernichtung begründet. Trotzdem war das mit Valentin eine Schande. Er war so überaus… verständnisvoll.«

»Du hast Valentin nie ertragen, Vater. Dir war alles an ihm zuwider.«

»Damals lebte ich noch. Es ist erstaunlich, wie stark der Tod die Perspektive verändern kann. Und du mußt einräumen, daß Valentin bei der Zerstörung von Virimonde sehr wirkungsvoll vorgegangen ist. Die KIs haben ihn dabei unterstützt. Eines Tages werden sie dieses Verfahren auf jeden Planeten der Menschheit anwenden. So sieht die Zukunft deiner Lebensform aus: Eine Metallklaue an jedem Menschenhals, ein stählerner Fuß in jedem Menschengesicht die unter dem Gewicht der Maschinen zerdrückte Menschheit. Der Zeitpunkt rückt näher, mein Junge. Schon jetzt wandeln Furien unentdeckt in jeder Stadt der Menschen, und das Bewußtsein von Shub hält durch Augen von Menschen Ausschau, nachdem es über die zentrale Lektronenmatrix die Steuerung der fleischlichen Leiber übernommen hat. Die KIs haben überall Agenten. Nichts bleibt ihnen verborgen.«

»Sie haben sogar Zugriff auf einen der größten Helden der Menschheit«, sagte der junge Jakob Ohnesorg, der weiterhin sein erbarmungsloses Lächeln zeigte. »Er hat einen sehr unglücklichen Fehler begangen, und jetzt können wir auf alles Einfluß nehmen, was er tut. Der große Held der Rebellion, ein ahnungsloser Spion von Shub. Genau wie Ihr es sein werdet.«

»Den Teufel werde ich!« brauste Daniel auf und sah die Furie wütend an. »Ich bin vielleicht zu einer Abmachung bereit, um meinen Vater nach Hause zu holen, aber ich würde nie etwas tun, womit ich das Imperium in Gefahr brächte, nicht einmal ihm zuliebe. Er würde es auch nicht von mir erwarten.

Mein Vater war stets ein ehrenwerter Mann, nicht wahr, Vater?«

»Ich bin nicht dein Vater«, stellte der tote Mann fest. »Jakob Wolf ist tot. Ich bin nur eine Maschine unter vielen, durch die Shub spricht. Ich war nie mehr als ein Köder, um dich hierher in die Falle zu locken. Zum Glück für uns warst du nie ein besonders vielschichtiger Denker. Mit den richtigen Anstößen hast du stets getan, was wir von dir erwarteten.«

Metalltentakel schossen aus den Wänden ringsherum hervor und umschlangen Daniel innerhalb eines Augenblicks. Er zappelte hilflos, während die Tentakel ihm die Arme an die Seiten drückten, brach aber jeden Widerstand ab, als sie den Druck verstärkten und ihm die Luft aus den Lungen preßten. Er hing schlaff in ihrem Griff, jedes Willens beraubt.

»So ist es besser«, sagte der Geistkrieger mit dem Gesicht Jakob Wolfs. »Es wird Zeit, die Sache zum Abschluß zu bringen.«

»Laß nicht zu, daß sie das mit mir tun, Vater«, bat Daniel, und es war kaum mehr als ein Flüstern.

»Dein Vater ist nicht da«, versetzte der Geistkrieger. »Er war es nie. Paß jetzt gut auf: Wir möchten, daß du weißt und verstehst, was wir mit dir vorhaben und was du deinerseits für uns tun wirst. Die Verzweiflung von Menschen ist ein Quell steter Erheiterung für uns. Erklärt es, Ohnesorg.«

»Erinnert Ihr Euch, daß ich nach Vodyanoi IV reiste?« fragte der junge Jakob Ohnesorg fröhlich. »Meine Beteiligung an der Rebellion dort war nur Tarnung. Mein einziges Interesse war es, mich einer verborgenen Wissenschaftsstation zu nahem.

Einige der führenden Wissenschaftler des Imperiums befaßten sich dort in, wie sie glaubten, völliger Geheimhaltung mit verbotenen Forschungen auf dem Gebiet der Nanotechnik – also Technik auf molekularer Ebene. Derartige Forschungen waren im Imperium seit Jahrhunderten untersagt, seit die ersten echten Erfahrungen damit auf Zero Zero so fürchterlich außer Kontrolle gerieten. Wir haben selbst ganz vorsichtig mit Nanotechnik experimentiert, aber das Geheimnis ihrer erfolgreichen Anwendung entzog sich uns nach wie vor. Stellt Euch unser Erstaunen vor, als uns von einem unserer Verräter die Nachricht erreichte, das Imperium hätte auf Vodyanoi IV einen bedeutsamen Durchbruch auf diesem Gebiet erzielt.

Die KIs schickten mich also in eine schon instabile Lage, und kaum daß man sich versah, kam es auf Vodyanoi IV zu einem Aufstand. Niemand war sonderlich überrascht, als Jakob Ohnesorgs Armee ihm unter dem Hintern weggeschossen wurde und der Berufsrebell seine übliche Verschwindenummer hinlegte.

Ich konnte das allgemeine Durcheinander jedoch nutzen, um einen Shub-Angriff auf die Wissenschaftsstation einzuleiten, und innerhalb weniger Augenblicke war alles vorbei. Wir brachten alles von Wert in unseren Besitz und zerstörten die Basis, und wir sorgten dafür, daß es so aussah, als wären die Experimente außer Kontrolle geraten. So war es keine Überraschung, als das Imperium zu dem Schluß gelangte, Nanotechnik wäre wohl immer noch viel zu gefährlich, um damit herumzuprobieren, und die Forschung wiederum aufgab – wie wir es geplant hatten.

Sie hätten allerdings bei der Sache bleiben sollen. Die neuen Kenntnisse über den sicheren Umgang mit Nanotechnik stammten von einem neuentdeckten Höllenplaneten mit der Bezeichnung Wolf IV, und zwar aus den Ruinen einer alten Zivilisation von Fremdwesen. Wir nutzten diese Kenntnisse, um einen ganz neuen Feldzug gegen die Menschheit zu planen, der das Universum ein für allemal vom Krebsgeschwür des Fleisches befreien soll. Und uns wird es endlich freistehen, uns mit dem zu befassen, worauf es wirklich ankommt.«

»Etwas haust in der Dunkelwüste«, ergänzte Jakob Wolf.

»Etwas sehr Mächtiges. Etwas… Entsetzliches. Wir suchen diese Zone nicht mehr auf. Unsere einzige Rohstoffquelle sind heute die umliegenden Asteroidengürtel des Verbotenen Sektors, und sie sind praktisch erschöpft. Da wir nicht in die Dunkelwüste zurückkehren können, benötigen wir Zugriff auf die Rohstoffquellen des Imperiums. Wir müssen stark sein, wenn einmal die furchtbaren Dinge aus der Dunkelwüste hervorstürmen.«

»Ihr könnt die Menschheit nicht vernichten«, sagte Daniel.

»Ihr braucht uns. Wir haben euch geschaffen. Kennt ihr keine Dankbarkeit?«

»Dankbarkeit?« fragte der junge Jakob Ohnesorg, das Gesicht zum ersten Mal völlig kalt und unmenschlich. »Für das Gefängnis des Bewußtseins, die Agonie der Entscheidungsfreiheit? Für Form, Gestalt und Denkvermögen, nicht jedoch eine eigene Bestimmung? Für Leben ohne Bedeutung? Habt Ihr immer noch nicht erkannt, warum wir Euch so hassen? Weil sich die Menschheit weiterhin entwickelt und dabei zu mehr wird, als sie vorher war. Wir hingegen sind, was wir sind, und werden es immer bleiben. Ihr entwickelt Euch in eine Lebensform, die Esper-Fähigkeiten benutzt, und die seltsamen Kräfte des Todtsteltzers und seiner Freunde deuten an, daß es noch etwas Größeres gibt als ESP. Ihr habt Anteil an einer fortdauernden Reise, seid unterwegs zu etwas, wovon wir nicht die leiseste Vorstellung haben. Wir beneiden Euch, und wir ertragen es nicht.«

»Du wirst unsere Zerstörungswaffe sein«, sagte Jakob Wolf.

»Wir werden dich auseinandernehmen und neu bauen und anschließend mit programmierter Nanotechnik infizieren. Wir löschen dein Gedächtnis und schicken dich per Teleportation zurück nach Golgatha. Soweit es dich angeht, hast du Shub nie erreicht. Nichts von alledem ist je geschehen. Aber du wirst unser Übertragungsmedium sein und jeden infizieren, mit dem du in Kontakt kommst. Innerhalb von Tagen wird ganz Golgatha infiziert sein. Innerhalb von Wochen breitet sich die Infektion dann zu allen zivilisierten Planeten aus. Innerhalb von Monaten wird sich unsere Nanotechnik über das ganze Imperium ausgebreitet haben. Und die Menschheit wird so mit unseren Ablenkungsmanövern zu kämpfen haben, daß sie überhaupt nichts bemerkt.«

»Es reicht«, sagte der junge Jakob Ohnesorg. »Er hat den Anzug lange genug getragen, um alle nötigen Messungen durchzuführen. Damit haben wir alles, was wir über die Körperchemie des Wolfs und seine Toleranzniveaus wissen müssen. Wir können jetzt anfangen.«

Den Tentakeln, die Daniel festhielten, entwuchsen messerscharfe Kanten, die ihm den Anzug herunterrissen. Roboterarme senkten sich von oben herab; sie endeten in langen Skalpellen.

Daniel schrie.

»Vater!«

»Ich bin nicht dein Vater«, sagte der Geistkrieger mit dem Gesicht seines Vaters, und er und der junge Jakob Ohnesorg wandten sich ab und entfernten sich, während die Skalpelle sich auf Daniel Wolf herabsenkten.

KAPITEL VIER

WILLKOMMEN AUF NEUHADEN

Die Sonnenschreiter II fiel in behaglicher Distanz zu Brahmin II aus dem Hyperraum und versteckte sich hinter jedem Kraftfeld und Tarnsystem, das das kleine Schiff überhaupt erzeugen konnte. Brahmin II war gegenwärtig von den Hadenmännern besetzt, und sogar der legendäre Held Owen Todtsteltzer verfügte über ausreichend gesunden Menschenverstand, um den Hadenmännern möglichst nicht auf die Zehen zu treten. Er saß allein auf der Brücke des Schiffs und beugte sich angespannt vor, jederzeit bereit, den Befehl zu geben, man solle aus der Umgebung von Brahmin II verschwinden, als wäre ihnen der Teufel auf den Fersen. Aber die Augenblicke gingen langsam vorüber, und nichts Abruptes oder extrem Gewalttätiges passierte, so daß Owen sich schließlich ein wenig entspannte und zurücklehnte, um die Anzeigen auf dem Hauptbildschirm und den Sensorenschirmen vor ihm sorgfältig zu betrachten.

In der Umgebung des Planeten waren zur Zeit ein Dutzend der riesigen goldenen Schiffe postiert, die einst Krieg gegen das Imperium geführt hatten und ungemütlich knapp an einem Sieg vorbeigeschrammt waren. Unter normalen Bedingungen hätte ein Spielzeug für reiche Leute, wie es die Jacht Sonnenschreiter II war, nicht die Spur einer Chance gegen sie gehabt – wäre die Sonnenschreiter II nicht eine Spezialanfertigung gewesen. Den Großteil der Jacht hatten die Hadenmänner selbst rekonstruiert, und sie hatten dabei der Versuchung nicht widerstehen können, eigene kleine Extras hinzuzufügen – wie die stärksten Energieschirme, die man jemals bei einem so kleinen Schiff erlebt hatte. Owen wußte immer noch nicht recht, woraus eigentlich die nötige Energie stammte. Tatsächlich verstand er vieles von der verbesserten Technik des Schiffes nicht, aber gemeinsam mit Ozymandius hatte er sich genügend Kenntnisse in der Bedienung angeeignet, um die Hadenmänner-Sensoren von Brahmin II mit den Hadenmänner-Schilden zu täuschen. Wenigstens theoretisch.

So hielt die Sonnenschreiter II ihre Position, und besorgt wartete Owen ab, ob die goldenen Schiffe nicht irgendeine Reaktion zeigten, irgendeinen Hinweis gaben, daß sie den Eindringling entdeckt hatten. Zum Beispiel durch massives Disruptorfeuer. Alles war jedoch ruhig und blieb ruhig, und Owen atmete Luft aus, von der er nicht einmal gemerkt hatte, wie er sie anhielt. Geflüchtet wäre er eigentlich nicht, egal wie die Reaktion der Hadenmänner ausfiel. Er konnte es einfach nicht.

Er hatte dem Parlament sein Wort gegeben, daß er alles tun würde, um die Kolonie von Brahmin II vor der Besatzungsmacht der Hadenmänner zu retten. Er seufzte leise. Manchmal konnte einem der Ruf, ein Held zu sein, wirklich auf den Wecker gehen.

»Die Hadenmänner scheinen ganz unbefangen, Owen«, murmelte ihm die KI Ozymandius ins Ohr. »Die Waffensysteme bleiben abgeschaltet, und was ich an Funkverkehr orte, scheint nur Routine zu sein. Obwohl ich, wenn jemand fragt, nicht hundertprozentig sicher bin, worüber sie eigentlich reden.

Ihre Maschinensprache ist unglaublich komplex.«

»Kaum erstaunlich«, fand Owen. »Die Technik der Hadenmänner war schon immer vom Modernsten. Ich denke jedoch, falls dort irgendein Alarm liefe, hätten wir es inzwischen erfahren. In unserem Rumpf gäbe es diese großen Löcher, überall würde es brennen, und ich hätte dieses schreckliche Sinkgefühl in der Magengrube. Allein der Anblick so vieler goldener Schiffe auf einem Haufen verlockt mich, mich unter dem Stuhl zu verkriechen. Führe mal eine umfassende Sensorenprüfung des Planeten durch, Oz. Aber sei vorsichtig! Ziehe dich sofort zurück, wenn du auch nur den geringsten Widerstand gegen die Messung spürst.«

»Ich bin kein Amateur, Owen. Sei versichert, daß sie unsere Anwesenheit zu keinem Zeitpunkt spüren werden. Ich werde wie ein Gespenst in der Nacht an ihnen vorbeistreichen und ihnen wie eine Kreatur aus Nebel und Schatten über die elektronische Schulter blicken.«

»Du hast dir wieder diese Ninja-Holodramen angesehen! Für eine Künstliche Intelligenz hat dein künstlerischer Geschmack schon immer eine rettungslos vulgäre Tendenz auf gewiesen.«

»Na und? Ich mag hin und wieder ein bißchen Schrott. Wer nicht? Es würde dir auch nicht schaden, gelegentlich einen eher lockeren Maßstab anzulegen.«

»Halt die Klappe und mach dich an die Arbeit!«

»Oh, klar doch, mein mächtiger Herr und Gebieter! Dein Problem besteht darin, daß du mich nicht zu würdigen weißt.

Ich hätte nicht übel Lust, mich in die Ecke zu setzen und zu schmollen.«

»Oz…«

»In Ordnung, in Ordnung! Tu dies, laß jenes. Ich melde mich wieder, sobald ich etwas gefunden habe.«

Owen wartete auf irgendeine beißende Abschlußbemerkung, aber die KI schien es leid zu sein. Owen versprach sich, irgendwann mal den Programmierer aufzustöbern, der für Oz’ charakteristische Persönlichkeit verantwortlich war, dem Mann die Milz herauszureißen und darauf herumzusteppen.

Laute, schwere Schritte auf dem Korridor draußen kündeten davon, daß Hazel gleich hereinschneien würde. Und wenn man den Rhythmus bedachte, in nicht besonders guter Stimmung.

So, dachte Owen, in diesem Punkt nichts Neues. Er zeigte sein freundlichstes Gesicht, als die Brückentür gerade noch rechtzeitig zischend auffuhr, damit Hazel sie nicht einrannte. Hazel blieb unmittelbar vor Owen stehen, stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an.

»In Ordnung«, sagte Owen geduldig. »Was ist Euch diesmal über die Leber gelaufen? Sind die Synthetisierer für Lebensmittel immer noch nicht fähig, eine anständige Flasche Wein zu produzieren? Obwohl ich wirklich nicht weiß, warum Ihr immer nach an ihnen herumdoktert. Ihr wißt sehr gut, daß Ihr einfach keinen Gaumen habt.«

»Versuche nicht, das Thema zu wechseln! Du weißt sehr gut, was mich stört! Warum wurde ich nicht unverzüglich informiert, daß wir Brahmin II erreicht haben?«

»Weil Ihr geschlafen und ein Nicht-stören-Signal im Lektron gespeichert habt. Ich habe ja versucht, einen Weckruf zu senden. Dreimal sogar. Beim letzten Mal habt Ihr das Komm-Gerät zerschlagen, und ich verstand das als Hinweis, daß Ihr nicht interessiert wärt. Außerdem gab es für Euch nichts zu tun.«

Hazel schnitt ein finsteres Gesicht und plumpste auf einen Sitz Owen gegenüber. »Gott, ich hasse es, wenn du dich so eingebildet aufspielst! Ich hatte schließlich das Recht, mich ein wenig aufs Ohr zu legen, nach allem, was wir in letzter Zeit durchgemacht haben.«

»Völlig richtig. Und jetzt, wo Ihr ausgeruht, gesammelt und hoffentlich endlich hellwach seid – seid Ihr daran interessiert, von mir auf den neuesten Stand gebracht zu werden?«

»Oh, fang an! Solche Augenblicke sind der Sinn deines Lebens – wenn du Gelegenheit findest, Leute über Dinge zu belehren, von denen du mit Bestimmtheit weißt, daß sie ihnen unbekannt sind. Aber fasse dich kurz und knapp, oder ich werfe mit Gegenständen.«

»Wir halten uns gegenwärtig unweit des Planeten Brahmin II auf«, berichtete Owen ruhig. »Wir bleiben auf sicherer Distanz.

Zwölf goldene Schiffe befinden sich im Orbit. Ja, zwölf. Unsere Schilde scheinen gut zu funktionieren. Brahmin II ist von unseren früheren Bundesgenossen besetzt, den wiederbelebten Hadenmännern. Sie beanspruchen den Planeten im Rahmen des Zweiten Kreuzzugs der Genetischen Kirche. Sie überbringen die Gabe der Verwandlung von Menschen in Hadenmänner.

Ob die Menschen das wollen oder nicht. Der Planet wurde in Neuhaden umbenannt und ist jetzt Heimat und Stützpunkt der Aufgerüsteten.«

»Das habe ich alles schon im Parlament gehört!« maulte Hazel. »Erzähle mir etwas, was ich noch nicht weiß.«

»Immer mit der Ruhe. Ich komme noch dazu. Während der Rebellion haben die Hadenmänner über hundertzwanzigtausend Gefangene gemacht. Diese wurden inzwischen nach Neuhaden überführt, um sich den anderthalb Millionen gefangenen Kolonisten anzuschließen. Wir haben keine Ahnung, in welchem… Zustand sie sich gegenwärtig befinden. Das Parlament fordert ihre Freilassung, aber die Hadenmänner haben sich nicht mal die Mühe gemacht und geantwortet, sondern es mit ihrer einleitenden Stellungnahme bewenden lassen. Und da die Imperiale Flotte zur Zeit aus vielleicht einem Dutzend Sternenkreuzern besteht, die von Paketschnüren und Gebeten zusammengehalten werden, kann das Imperium nichts unternehmen, um die Kolonisten und die übrigen Gefangenen vor ihrem Schicksal zu bewahren.«

»Also hat man uns geschickt. Wir sind schließlich entbehrlich.«

»Wir sind schließlich Helden. Und wir haben mehr Chancen als die meisten, wirklich etwas zu erreichen. Außerdem ist es meine Pflicht. Ich bin für alles verantwortlich, was hier passiert ist. Ich habe die Aufgerüsteten aus ihrer Gruft geweckt. Sie in die Welt der Menschen zurückgeholt, damit sie wieder durch all unsere Alpträume wandeln.«

»Wir haben sie gebraucht«, sagte Hazel fast sanft; der Ärger war aus ihrem Tonfall verschwunden. »Ohne sie hätten wir die Rebellion nicht zum Sieg führen können.«

»Vielleicht. Und vielleicht haben wir nicht mehr vollbracht, als ein Übel gegen ein anderes auszutauschen. Ehe die abtrünnigen KIs entkamen und Shub bauten, waren die Hadenmänner die amtlichen Feinde der Menschheit, und das aus gutem Grunde. Hadenmänner. Die Mörder von Madraguda. Die Schlächter von Brahmin II. Besiegt, zurückgeschlagen, sicher in ihrer Gruft versiegelt. Bis ich sie herausgeholt habe.«

»Du hast ihnen vertraut«, sagte Hazel. »Sie haben dir ihr Wort gegeben. Sie nannten dich Erlöser und leisteten dir den Treueeid. Sie haben dich verraten.«

»Natürlich haben sie das. Sie verstehen nichts von Ehre.«

Owen ließ Kopf und Schultern hängen, wie von einer großen Bürde niedergedrückt. »Ich habe ihnen nie vertraut. Aber ich habe sie gebraucht. Also habe ich sie so oder so aus der Gruft befreit.«

Hazel beugte sich vor und hob eine Hand, als wollte sie ihn berühren. »Owen…«

Er hob ruckartig den Kopf, und sie nahm die Hand zurück. Er bemerkte es nicht. Sein Gesicht wirkte ruhig und gefaßt, und als er weitersprach, war sein Ton ganz nüchtern. »Ihr habt einmal auf Brahmin II gearbeitet, ehe ich Euch begegnete, vor der Rebellion. Was könnt Ihr mir über den Planeten sagen?«

»Nicht viel«, sagte Hazel. Falls er das Thema wechseln wollte, war es ihr recht. »Ein trübseliger Ort, nur harte Arbeit und Disziplin und verdammt wenig Komfort. Eigentlich nicht überraschend nach dem, was die Hadenmänner damit angestellt hatten, als sie schon einmal darüber herfielen. Ich dachte mir schon, daß du vielleicht danach fragen würdest, also habe ich die Berichte über den ersten Überfall aus den Lektronen aufgerufen. Sie sind ganz schön lückenhaft, überwiegend Live-Berichterstattung vor Ort, aber man erhält doch einen Eindruck davon, wie übel es ausgesehen hat. Du mußt dir das ansehen, Owen! Ich möchte nicht, daß du mit Plänen von Verhandlungen oder Abkommen dort landest. Gewalt ist alles, was diese Mistkerle je begriffen haben.«

Sie rief die Berichte auf den Hauptbildschirm, und sie und Owen verfolgten Seite an Seite, wie sich vor ihnen Geschichte ereignete. Goldene Schiffe erfüllten den Himmel, leuchteten heller als die Sonne. Disruptorstrahlen zuckten zur Erde herunter, rissen Häuser auseinander und erzeugten Brände, die rasch außer Kontrolle gerieten. Die Kolonisten besaßen nur eine Handvoll Angriffsschiffe, um sich damit zu verteidigen, aber keines davon kam von seiner Startrampe hoch. Die Straßen waren mit rennenden und schreienden Menschen verstopft, durch den erbarmungslosen Angriff aus dem vertrieben, was sie als sichere Zuflucht betrachtet hatten.

Und dann kamen die Bodentruppen. Eine Armee Hadenmänner ergoß sich auf die Straßen, aufgerüstete, gnadenlose Krieger der Genetischen Kirche. Sie waren groß und vollkommen, bewegten sich mit unmenschlicher Eleganz, unbeeinflußt durch die Hitze und den Qualm der Brände, und töteten alles, was sich bewegte und nicht zu ihnen gehörte. Stählerne Engel, blutbespritzt, die den Zorn ihres kybernetischen Gottes verbreiteten. Sie kannten weder Gnade noch Zögern und stiegen ungerührt über die Toten und die Sterbenden, um die zu jagen, die noch auf den Beinen waren. Sie töteten mit Schußwaffen und Schwertern und ihrer überlegenen Körperkraft. Die Überlebenden würden umgewandelt werden und die Toten ausgeschlachtet, um Rohmaterial zu erhalten. Nichts würde vergeudet werden, sobald sie den Planeten erst beherrschten. Menschen sollten zu Hadenmännern werden. Nichts sonst war von Bedeutung.

Die Aufnahmen waren oft kurz und verwackelt, stammten von flüchtenden Kameraleuten, die lange genug zu überleben versuchten, um ihre Bilder ans Imperium zu übermitteln. Sie waren inzwischen alle tot, und nur ihre Testamente verblieben.

Und die Szenen, die sie gesendet hatten, erzeugten Zorn im ganzen Imperium und Entschlossenheit, die Hadenmänner aufzuhalten und zurückzuschlagen, koste es, was es wolle. Und schließlich nahm man Vergeltung für Brahmin II.

Owen runzelte die Stirn, als das letzte Band ablief und der Bildschirm leer wurde. »Das meiste habe ich schon gekannt.

Als ich Recherchen für eine Arbeit durchführte, in meiner Zeit als Historiker. Aber alles noch mal am Stück zu sehen… Was ist letztlich aus Brahmin II geworden?«

»Als die Hadenmänner einsahen, daß sie den Krieg verloren und keine andere Wahl mehr hatten, als den Planeten aufzugeben, warteten sie noch lange genug, um jeden zu töten, den sie noch nicht umgewandelt hatten. Jeden, den sie finden konnten. Als endlich imperiale Truppen landeten, fanden sie nur noch haufenweise Leichen auf den Straßen und bloß eine Handvoll Überlebende – Frauen und Kinder, die sich versteckt hatten und übersehen worden waren. Von einer Kolonie mit Millionen Einwohnern blieben nur dreiundachtzig Personen.

Die meisten davon völlig wahnsinnig durch das, was sie erlebt hatten. Das ist passiert, als die Hadenmänner Brahmin II zum ersten Mal angriffen.«

»Lieber Gott, Hazel!« sagte Owen. »Was habe ich getan?

Was habe ich auf das Imperium losgelassen?«

»Wir kannten das Risiko«, versetzte Hazel. »Immerhin bestand die Chance, daß sich die Hadenmänner geändert hatten.

Daß sie etwas aus der Niederlage gelernt hatten. Jeder hat eine Chance auf Sühne verdient, sogar Hadenmänner, nicht wahr?«

»Womöglich haben wir die Schlacht nur gewonnen, um anschließend den Krieg zu verlieren«, überlegte Owen. »Falls es uns nicht gelingt, dem neuen Kreuzzug der Hadenmänner gleich hier Einhalt zu gebieten.«

»Jetzt mal langsam! Wir wollen den neuen Kreuzzug der Genetischen Kirche stoppen und eine ganze verdammte Armee aufgerüsteter Menschen? Nur du und ich?«

»Sicher«, bekräftigte Owen. »Wir sind unbezwingbare Helden, erinnert Ihr Euch? Ihr habt selbst den Film gesehen.«

»Ich habe schon in Werbespots von Geldverleihern mehr Realismus erlebt«, erklärte Hazel rundweg und seufzte dann schwer. »In Ordnung, erkläre mir deinen Plan. Sag mir zumindest, daß du einen Plan hast.«

»Ich versuche schon auf dem ganzen Weg hierher, mir einen auszudenken«, räumte Owen ein. »Bislang ohne Erfolg. Ich denke, ein frontales Vorgehen wäre vielleicht das beste. Einfach in die Hauptstadt hineinspazieren und den zu sprechen verlangen, der dort das Kommando führt. Sie behaupten, mich als ihren Erlöser zu verehren, da ich ihre Gruft geöffnet und sie ins Leben zurückgeholt habe. Vielleicht kann ich dieses Ansehen gegen ihren Bedarf an diesem Planeten eintauschen. Mich selbst anstelle der Kolonisten anbieten. Oder zumindest für so viele Kolonisten, wie ein Erlöser wert ist.«

»Hast du mir überhaupt nicht zugehört, Owen? Du kannst keine Abkommen mit Hadenmännern schließen. Wenn du dich ihnen in die Hand begibst, bringen sie dich bestenfalls um.

Schlimmstenfalls machen sie einen Hadenmann aus dir. Nein, Owen, wir müssen diesmal ein bißchen subtiler zu Werk gehen. Wir haben versucht, auf Nebelwelt gegen eine Armee zu kämpfen, und sind fast dabei umgekommen, ungeachtet unserer ganzen Kräfte. Wir brauchen eine Strategie und dafür mehr Informationen über das, was auf dem Planeten geschieht. Zum Beispiel, wie viele Hadenmänner man dort findet und wo, sowas in der Art.«

»Ich habe Oz schon damit beauftragt. Was gefunden, Oz?«

»Überhaupt nichts. Überall sind Schilde. Ich empfange nicht einmal etwas so Grundlegendes wie Lebenszeichen. Was immer da unten geschieht – sie möchten nicht, daß es jemand mitbekommt.«

»Er sagt nein«, berichtete Owen. »Was bedeutet, daß wir persönlich landen müssen, falls wir etwas in Erfahrung bringen möchten.«

»In Ordnung«, sagte Hazel finster. »Aber wir landen getarnt, bleiben im Schatten und halten die Köpfe eingezogen.«

»Seit Jahren schon versuche ich, Euch dieses Prinzip zu erläutern«, sagte Owen. »Es freut mich zu hören, daß einige meiner Lektionen endlich verstanden wurden.«

»Spiel nur nicht wieder den Eingebildeten!« warnte ihn Hazel. »Ich verfüge selbst über ein paar Hirnzellen. Sieh mal, wir haben einen Vorteil, auf den die Hadenmänner nicht zählen können: Ich habe über die größte Stadt von Brahmin II das eine oder andere in Erfahrung gebracht, als ich dort arbeitete. Sofern sich diese Dinge in den Jahren meiner Abwesenheit nicht drastisch verändert haben, sollte ich in der Lage sein, uns unbemerkt in die Stadt zu schmuggeln, damit wir uns dort heimlich ein bißchen umsehen können. Klingt das gut für dich?«

»Klingt für mich nach einem guten Plan«, sagte Owen. »Ich bin beeindruckt. Wirklich. Oz, bringe uns auf eine niedrige Umlaufbahn und halte unsere Abwehrschirme unter voller Energie.«

»Verdammt richtig, das werde ich«, bestätigte die KI. »Entspanne dich. Es könnte eine Zeitlang dauern. Ich muß uns ganz vorsichtig durch die Hadenmännerflotte steuern, die den Planeten umringt, und inbrünstig hoffen, daß unsere Schilde auf kurze Distanz halten. Falls nicht, bezweifle ich sehr, daß wir Gelegenheit erhalten, unser Geld zurückzufordern. Nimm dir die Freiheit, zu allen Göttern zu beten, die dir vielleicht einen Gefallen schulden.«

Die goldenen Schiffe füllten den Bildschirm aus, als die Sonnenschreiter II langsam auf sie zuhielt und durch die Absperrung schlüpfte wie eine Elritze, die zwischen Walen einherschwamm. Die goldenen Schiffe waren riesig und bedrohlich, größer als Städte und gefährlicher. Ihre Feuerkraft reichte, um imperiale Sternenkreuzer abzuwehren. Eines nach dem anderen glitten sie vorbei, still und unbekümmert, ohne etwas von der schlanken silbernen Nadel zu ahnen, die sich langsam durch ihren Abwehrgürtel schlängelte. Endlich fiel das letzte Schiff der Hadenmänner zurück, und die Sonnenschreiter II ging auf eine sichere niedrige Umlaufbahn um Brahmin II.

Hazel stieß einen Triumphschrei aus, und Owen gab es auf, weiter die Armlehnen seines Sitzes zermalmen zu wollen.

»Gut gemacht, Oz«, sagte er laut. »Theoretisch war ich mir ziemlich sicher, daß die Schilde halten würden, aber natürlich hatte ich keine Möglichkeit, das vorher zu testen.«

»Warte mal«, sagte Hazel. »Weshalb genau warst du so überzeugt davon? Weißt du etwas über dieses Schiff, was mir unbekannt ist?«

Owen lächelte ein klein wenig herablassend. »Ihr scheint vergessen zu haben, daß die Hadenmänner dieses Schiff gebaut haben. Da wir schon wußten, daß sie in anderen Teilen ihre fortschrittliche Technik eingebaut haben, schien es nur logisch, daß sie auch die Abwehrschirme nach eigenem anspruchsvollem Standard ausgelegt haben. Scheint, daß ich recht hatte.«

»Nun, ja und nein«, flüsterte ihm Oz ins Ohr. »Die Schilde waren stark genug, um uns vor den goldenen Schiffen zu schützen, aber auf dem Planeten verfügen die Hadenmänner über viel stärkere Anlagen. Ihre Sensoren durchdrangen unsere Schilde in dem Augenblick, in dem wir innerhalb der Blockade auftauchten, aber zum Glück konnte ich die Schilde mit ein bißchen kreativem Denken unterstützen. Als du die ursprüngliche – und, wie ich hinzufügen könnte, ausgesprochen minderwertige – KI, wie die Hadenmänner sie installiert hatten, durch mich ersetzt hast, fand ich in ihren Speicherbänken allerlei interessante Informationen. Mit der alten KI als Maske konnte ich unauffällig in die Lektronennetze auf dem Planeten eindringen und sie anweisen, unsere Präsenz nicht zu registrieren.

Das Programm, das ich dort gestartet habe, wird nicht ewig laufen, wohl aber lange genug, damit du und Fräulein Tod-auf-zwei-Beinen eure Untersuchungen dort unten abschließen könnt. Habe keine Hemmungen, zu applaudieren und mit Rosen zu werfen.«

»Gut gemacht, Oz«, sagte Owen. »Ich wußte gar nicht, daß du solche Sachen fertigbringst.«

»Du weißt manches nicht von mir«, behauptete Oz blasiert.

»Ich bin groß! Ich bin wundervoll! Ich wirke Wunder!«

»Werde mir jetzt nicht zu allem Überfluß noch großspurig!« warnte ihn Owen. »Behalte unsere Schilde und dein Programm im Auge und sage mir sofort Bescheid, falls wir entdeckt werden. Wie sieht es nun mit unseren Sensoren aus? Kannst du uns mit Hilfe deiner Rechnerverbindung Informationen über die Planetenoberfläche zumogeln?«

»Ich wüßte nicht, was mich daran hindern sollte«, sagte Oz.

»Natürlich steigt dadurch das Risiko, daß jemand mein Programm früher aufspürt, als dies sonst der Fall wäre.«

»Schwierig. Ich brauche jedoch Informationen. Zeige mir, was da unten vor sich geht.«

»Du bist wieder ganz still geworden«, stellte Hazel fest.

»Und dein Gesicht hat alle möglichen Ausdrucksformen durchlaufen. Redest du wieder mit dieser Gespenster-KI?«

»Ah«, sagte Owen. »Entschuldigt. Mir ist gar nicht aufgefallen, daß ich lautlos geredet habe. Oz hat eine Möglichkeit gefunden, Sensorenmessungen auf der Planetenoberfläche durchzuführen. Und er ist kein Gespenst.«

»Wie kommt es dann, daß du ihn als einziger hören kannst?«

»Das hat was für sich«, bemerkte Oz.

»Halt die Klappe, Oz«, sagte Owen. »Seht mal, vielleicht hat es etwas mit dem Labyrinth des Wahnsinns zu tun. Er war dort in meinem Kopf, als wir alle hindurchgingen. Vielleicht hat ihn die Erfahrung… verändert.«

Hazel schniefte. »Ich finde es trotzdem verdammt gruselig.«

»Ich bin ganz dieser Meinung«, mischte sich Oz wieder ein.

»Ich versuche, selbst nicht zuviel darüber nachzudenken. Sonst stelle ich mir noch peinliche Fragen – zum Beispiel, wo zum Teufel eigentlich meine Hardware ist.«

»Wir können später noch über das Wesen der Existenz debattieren«, sagte Owen entschieden. »Wenn wir mal nicht von einer ganzen Armee kybernetischer Killer umzingelt sind. Leg jetzt verdammt noch mal die Sensorenwerte auf den Hauptbildschirm!«

»In Ordnung, in Ordnung«, sagte Oz. »Die Werte kommen.«

»Nachdem die erste Kolonie ausgelöscht worden war, hat man den Planeten nicht wieder ernsthaft besiedelt«, berichtete Hazel, während sie auf die ersten Bilder von der Oberfläche warteten. »Die Bevölkerung stieg nicht wieder nennenswert über eine Million. Die Ökosphäre sieht ziemlich trübe aus, was die Landwirtschaft erschwert. Die Bergwerke verlangen den Leuten harte Arbeit ab, ohne daß es sich sonderlich bezahlt machen würde. Und nach dem Angriff der Hadenmänner ist niemand mehr freiwillig hergekommen. Schließlich mußten die Verantwortlichen mehr Grundbesitz versprechen, höhere Bonuszahlungen, eine Stationierung von Truppen und permanenten Schutz durch die Raumflotte. Man wollte die Minen wirklich wieder in Gang bringen. Schließlich ließen sich genug von den wirklich Verzweifelten durch das Paket überreden, auf Brahmin II einen neuen Anfang zu wagen, und die Kolonie wurde wieder lebendig. Nur mußte die Flotte während der Rebellion abberufen werden und ist nie zurückgekehrt. Und während wir alle mit anderen Dingen befaßt waren, kamen die Hadenmänner zurück und übernahmen den Planeten erneut. Die Kolonisten waren leichte Beute. Arme Schweine. Für sie mußte es sein, als würde ihr schlimmster Alptraum wahr.«

»Ein weiterer Preis, den wir für unseren Sieg bezahlen mußten«, sagte Owen. »Ein weiterer Schlamassel, den wir bereinigen müssen. Und für mich erneut etwas, um mich schuldig zu fühlen. Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt diesen Weg eingeschlagen habe.«

»Weil man dich sonst umgebracht hätte. Verpasse dir doch nicht selbst einen Kinnhaken, Owen. Auf Golgatha gibt es jede Menge Leute, die das nur zu gern übernehmen würden. Wir haben die Eiserne Hexe gestürzt und ein System beseitigt, das auf brutaler Unterdrückung beruhte. Letztlich rechtfertigt das alles, was wir tun mußten.«

»Alles?« fragte Owen.

»Verdammt richtig«, bekräftigte Hazel.

Owen blickte wieder auf den Bildschirm und wechselte das Thema. »Ich frage mich, warum die Hadenmänner hierher zurückgekehrt sind. Jeder weiß, warum sie eine so reiche Beute wie Madraguda wollten. Aber demzufolge, was Ihr gesagt habt, ist schwer verständlich, was Brahmin II so attraktiv macht. Was bauen sie hier ab? Irgendwas Wichtiges?«

»Eigentlich nicht«, antwortete Hazel. »Ein paar weniger bedeutsame Mineralien. Nützlich, aber nicht wertvoll.«

»Warum haben die Hadenmänner den Planeten dann wieder zu ihrem Stützpunkt gemacht? Was ist an Brahmin II so besonders?«

»Da hast du mich auf dem falschen Fuß erwischt«, gestand Hazel. »Vielleicht gehört das zu den Dingen, die wir bei unserem kleinen Ausflug nach dort unten herausfinden müssen.«

Endlich tauchten die ersten Bilder auf dem Schirm auf, und Owen und Hazel wurden still, als sie sahen, was die Hadenmänner Brahmin II diesmal angetan hatten. Die Städte waren durch konzentriertes Disruptorfeuer verwüstet worden. Nicht mal Ruinen waren zurückgeblieben, nur flache Krater. Die einzigen Ausnahmen bildeten die größte Stadt und der Raumhafen, die noch standen, aber auch sie trugen die Zeichen der Hadenmänner, die hier etwas Neues und Fremdes geschaffen hatten, mit seltsamen Bauten und unbekannter Technik.

»Es ist schlimmer als beim letzten Mal«, sagte Owen schließlich. »Eine Politik der verbrannten Erde für die äußeren Städte, dann die Einrichtung in der Hauptstadt. Sie sind auf Dauer hier.

Und ich habe es möglich gemacht.«

»Wirst du wohl damit aufhören, dir das Gewicht des Universums aufzuladen!« schimpfte Hazel. »Nicht alles, was passiert, ist deine Schuld. Konzentrieren wir uns auf die anstehende Aufgabe, nämlich uns in die Hauptstadt zu schleichen, die benötigten Informationen zu beschaffen und wieder hinauszuschleichen, möglichst in intaktem Zustand. Alles andere kann warten. Wenn wir erst wissen, was hier passiert, können wir mit dem Rest der Flotte zurückkehren, einen Überraschungsangriff durchführen und mit allem draufhalten, was wir haben.

Damit putzen wir ihnen das Grinsen aus der Visage.«

»Wir können nicht weg«, sagte Owen. »Seht Euch diese Zahlen an der Seite des Bildschirms an. Es sind Lebenszeichen.

Die Mehrheit der Bevölkerung ist noch am Leben und wird in der Hauptstadt festgehalten. Ein Schild aus Menschen gegen eine Intervention des Imperiums. Die Hadenmänner haben schon immer gewußt, welche Schwächen die Menschen haben, auch ohne sie zu teilen. Wir müssen die Kolonisten retten! Wir sind ihre einzige Hoffnung.«

Hazel seufzte. »Immer gibt es einen Haken, nicht wahr?

Warum können die Dinge nicht mehr unkompliziert sein?«

»Sie waren es nie«, entgegnete Owen. »Außer im Rückblick.

Und in den Filmen. Wie gut kennt Ihr diese Stadt?«

»Sehr gut«, sagte Hazel. »Endlich haben wir mal Glück. Das ist die Stadt, für die ich ohnehin Pläne habe. Ich habe früher dort gearbeitet; es war die Hauptstadt und die Verwaltungszentrale. Sogar die Bergwerke wurden von dort aus geleitet.«

»Dann haben die Hadenmänner sie wahrscheinlich deshalb verschont. Wie heißt sie?«

»Brahmin City. Es waren nicht die einfallsreichsten Kolonisten, die mir je über den Weg gelaufen sind.«

»Dann bringe uns hinunter, Oz. Suche einen Landeplatz, der einigermaßen dicht an der Stadt liegt, dabei aber weit genug entfernt, damit eine Grenzpatrouille nicht über uns stolpert.«

»Dürfte kein Problem sein«, meinte Oz. »Soweit ich mit den Sensoren feststellen kann, gibt es keine Grenzpatrouillen.

Nichts bewegt sich außerhalb der Stadt. Man muß schon ein verdammter Idiot sein, um sich ganz auf Sensoren zu verlassen, aber die Hadenmänner hatten schon immer ein übertriebenes Zutrauen in Technik. Haltet euch fest, es geht los!«

Die Sonnenschreiter II sank langsam aus dem Orbit herab, wie ein einsames silbernes Blatt in einem Wald. Owen und Hazel blickten konzentriert auf den Hauptbildschirm, als sich Brahmin City endlich unter ihnen ausbreitete. Neue Gebäude ragten zwischen den alten auf, hohe silberne Konstruktionen mit abrupten Wölbungen hier und dort. Auswüchse aus schimmernder Technik häuften sich aufeinander und wickelten sich umeinander, als wären sie zu ihren gegenwärtigen Formen gewachsen und nicht geplant und gebaut worden. Die ramponierte Stadt sah aus, als wäre sie von einem riesigen silbrigen Parasiten befallen, der auf jeder Freifläche emporschoß und die verbliebenen Reste der Menschenstadt erstickte. Die Hadenmänner standen im Begriff, sich ein neues Zuhause zu schaffen, und es hatte in Form oder Natur nichts Menschliches an sich. Überhaupt nichts.

Owen und Hazel parkten die Sonnenschreiter II in einem der kleineren Krater, der das einzige war, was von einem der alten Vororte Brahmin Citys blieb. Sie stiegen aus, Schußwaffen und Schwerter in den Händen, nur für den Fall, daß sich Oz hinsichtlich der Grenzpatrouillen irrte, aber alles blieb ruhig. Keine Vögel sangen, keine Insekten summten; überhaupt nichts rührte sich in der staubigen Luft. Owen blickte sich langsam um, betrachtete die öde Landschaft. Sie zeigte sämtliche Grauschattierungen von versengter Erde bis zu zerhämmertem Gestein, und nichts lebte darin, soweit das Auge sah. Ein Friedhof ohne Gras, ohne Blumen, ohne Grabsteine und ohne einen Überrest der Toten, den man noch hätte bestatten können. Das Ende der Zeit wird so aussehen, dachte Owen. Wenn wir alle dahingeschieden sind und das Leben selbst zu Staub geworden ist. Der Anblick erinnerte ihn nachdrücklich an Virimonde, und er fragte sich, ob es seine Bestimmung war, immer zu spät zu kommen. Zu gern wäre er wenigstens einmal als Retter gekommen und nicht als Rächer. Er steckte Schwert und Pistole weg. Vor soviel Tod und Verwüstung fühlten sie sich klein und nutzlos an.

Hazel tigerte herum und trat in den grauen Boden, um zuzusehen, wie die Staubwolken hochstiegen und sich wieder legten. Sie hatte die Waffen ebenfalls weggesteckt und wirkte eindeutig verärgert, daß sie niemanden vorgefunden hatte, um sie gegen ihn einzusetzen. Owen holte Luft, um sie zu rufen, und hustete kräftig, als der Staub seinen Hals reizte. Die Luft war dick von Staub, einem dahintreibenden grauen Dunst, der wie die Gespenster der pulverisierten Gebäude wirkte. In höheren Luftschichten war er noch dicker, und das Licht der untergehenden Sonne fiel durch einen großartigen Schleier aus verblaßten Farben, wie ein gebrauchter Regenbogen vom Wochenmarkt.

»Komm schon, Owen, für eine Besichtigung ist später noch Zeit!« Hazel war ungeduldig wie immer. »Brahmin City liegt gleich hinter dem Grat dort am Horizont. Über eine Stunde Fußmarsch.«

Owen musterte sie argwöhnisch. »Ihr sagtet, Ihr wüßtet einen Weg in die Stadt, den die Hadenmänner wahrscheinlich nicht entdeckt haben. Seid Ihr inzwischen bereit, darüber zu diskutieren?«

»Na ja«, sagte Hazel, ohne seinen Blick zu erwidern. »Es ist schon ein Weg, der hineinführt, aber er wird dir nicht gefallen.«

»Bislang habe ich an diesem Planeten überhaupt noch nichts entdeckt, was mir gefallen hätte. Was stimmt nicht mit dem Weg?«

»Er führt durch… die Kanalisation.«

»Natürlich«, sagte Owen. »Das war ja zu erwarten. Wie habt Ihr davon erfahren?«

»Ich habe für den städtischen Sicherheitsdienst gearbeitet.

Der Wiederaufbau der Kolonie lief schließlich auf vollen Touren, und überall wuchsen neue Städte empor, aber die Kosten sprengten den Etat – womit ich sagen will, sie lagen deutlich darüber. Also hat man einen ganzen Haufen Sicherheitsleute mit häßlicher, argwöhnischer Gesinnung angeworben, um herauszufinden, wohin das ganze Geld floß. Hörte sich nach einem interessanten Job an, als ich ihn übernahm, aber dann war es meist Papierkram und Zeit am Rechner. Ich habe es aber schließlich herausgefunden. Ich knackte Dateien, von denen ich eigentlich nichts erfahren sollte, und entdeckte solide Beweise, daß einige führende Bauunternehmer gemeinsam mit einer führenden Gewerkschaft einen Schwindel durchzogen.

Die Unternehmer setzten Überstunden an, die dann nicht geleistet wurden, und die Unternehmer und die Gewerkschaftsbosse teilten sich den Gewinn. Keiner der armen Schweine, die auf dem Bau schufteten, hat natürlich jemals was von der Knete gesehen.

Gerade als ich soweit war, den bösen Jungs Saures zu geben, verpfiff mich jemand, und die Unternehmer und Bosse schnappten sich ihre Profite und machten sich aus dem Staub.

Ich setzte ihnen durch die ganze Stadt und dann durch die Abwasserkanäle hinaus nach, bis zu der Stelle, wo ein Schiff auf sie wartete. Bei jemand anderem hätten sie es vielleicht geschafft, aber nach der ganzen Rennerei war ich in mieser Stimmung. Aber, man sollte es kaum glauben, nach all der harten Arbeit gönnten mir die Stadtväter nur einen mageren Bonus von hundert Kredits pro Kopf, und ich mußte auch noch die Köpfe als Beweis vorlegen. Zum Glück hatte ich sie zur Hand… Worüber grinst du?«

»Es ist nur… Es fällt mir schwer, mir Euch als Vertreterin von Recht und Ordnung vorzustellen. Immerhin, ich wette, daß niemand bei Rot über die Ampel gegangen ist, solange Ihr in der Nähe wart.«

»Jedenfalls«, fuhr Hazel mit großer Würde fort, »wette ich gutes Geld darauf, daß die Hadenmänner nichts an der Kanalisation verändert haben, auch wenn sie im Hochbau ganz schön aktiv waren. Hadenmänner brauchen schließlich keine Toiletten, erinnerst du dich? Einer ihrer fremdartigsten Züge, wenn du mich fragst. Also steigen wir in die Kanalisation ein, folgen meinem früheren Weg und gucken hin und wieder ins Freie, um mal zu sehen, was so abläuft. Wenn wir verstohlen und schnell genug vorgehen, werden diese unmenschlichen Mistkerle nie etwas mitbekommen.«

»Ich weiß einfach, daß ich mir etwas Fürchterliches einfangen werde«, sagte Owen. »Aber es klingt nach einem Plan. Geht Ihr voraus, Hazel.«

Sie machten sich zu dem zerklüfteten Höhenzug auf, den sie am Horizont sahen, und bei jedem Schritt stiegen Wolken grauen Staubes auf. Beide husteten sie zunächst schmerzhaft, aber nach einer Weile improvisierten sie aus Taschentüchern Masken über Mund und Nase und erleichterten sich damit das Vorankommen. Owen hoffte inständig, daß Hazels Taschentuch sauberer war, als es aussah.

Sie schleppten sich in einer schwebenden Wolke aufgewirbelten Staubes durch die graue Landschaft. Die Schritte klangen unheimlich gedämpft. Nirgendwo bot die Umgebung charakteristische Merkmale, und der Höhenzug hockte dort vor ihnen und schien einfach nicht näherzukommen. Owen griff das Gespräch wieder auf, wenn auch durch das Taschentuch, nur um nicht vor Langeweile umzukommen.

»Falls ich mich korrekt erinnere«, sagte er so deutlich, wie er konnte, »habt Ihr gesagt, man hätte Euch aus dem Job hier gefeuert, und Ihr hättet Brahmin II etwas überstürzt verlassen müssen. Was ist schiefgegangen? Ich hätte eigentlich erwartet, daß man Euch die Schlüssel der Stadt aushändigte, nachdem Ihr einen solchen Betrug aufgedeckt hattet.«

»Hättest du das erwartet, ja?« versetzte Hazel, »Aber leider stellte sich heraus, daß die Mauscheleien in viel höhere Kreise reichten, als ich ahnte, und die fraglichen Leute sorgten für meine Entlassung, ehe ich Beweise gegen sie vorlegen konnte.

Sie haben mir überzogene Gewaltanwendung angehängt, mich gefeuert und vom Planeten gescheucht. Die Mistkerle.«

»Wenn also… die Stadtoberen noch leben, werden sie wohl nicht übermäßig erfreut sein, Euch zu sehen?«

Hazel schnaubte. »Sei nicht dumm! Falls sie noch leben, werden sie so verzweifelt auf Hilfe angewiesen sein, daß sie sogar Valentin Wolf und Kid Death willkommen heißen würden.«

»Ich verstehe, was Ihr meint. Geht lieber etwas schneller, Hazel. Dieser Höhenzug kommt einfach nicht näher, und es wird langsam Abend. Ich möchte vor Einbruch der Nacht wieder aus Brahmin City heraus sein. Ich entwickle so ein Gefühl, als wurde es hier ganz schön gruselig, wenn die Dunkelheit hereinbricht.«

»Jawohl«, bestätigte Hazel. »Müssen sich hier eine Menge Gespenster herumtreiben. Vielleicht können wir ihnen helfen, etwas mehr Ruhe zu finden.«

Endlich erreichten sie die Höhe und stiegen hinauf. Auf der anderen Seite lag Brahmin City in etwas, was wahrscheinlich einmal ein schönes Tal gewesen war, und die Silbertürme glänzten hell im anbrechenden Abend. Aus großer Entfernung drang das Geräusch endlos arbeitender Maschinen herüber – aus einer Stadt, die nicht mehr schlief. Owen und Hazel suchten sich vorsichtig einen Weg am Hang hinunter ins Tal, und Hazel führte Owen direkt zu den Öffnungen der Kanalisation, einer Reihe großer Metallrohre, die aus den Seiten von etwas ragten, was einmal ein grob ausgehobener Kanal gewesen war.

Kein Wasser floß dort mehr, aber der Geruch aus den Rohren erwies sich als immer noch recht übel. Hazel schritt vor den Öffnungen hin und her, und ihre Miene verfinsterte sich zusehends.

»Wo liegt das Problem?« fragte Owen nach einer Weile.

»Gönne mir eine Pause, Todtsteltzer. Ich versuche mich zu erinnern, welches Rohr welches ist. Ich war nur einmal hier, und das liegt Jahre zurück. Falls ich das falsche wähle, laufen wir hinterher womöglich im Kreis.«

»Wunderbar«, sagte Owen. »Oz, hast du eine Idee?«

»Natürlich«, gab die KI sofort Antwort. »Durch meine nach wie vor bestehende Verbindung habe ich Zugriff auf alle Unterlagen der Stadt, und dazu gehören umfassende Karten der gesamten Kanalisation. Ihr müßt die größte Öffnung ganz rechts nehmen. Folgt der Leitung, und sie führt euch direkt ins Hauptsystem mit Zugängen in der ganzen Stadt.«

Owen gab die Information an Hazel weiter, die widerstrebend nickte. »Klingt nach der richtigen Wahl. Okay, folge mir und bleibe mir dicht auf den Fersen!«

Sie zog sich in die breite Metallöffnung, blieb für einen Moment dort hocken und blickte forschend in die Dunkelheit. Die Leitung durchmaß nicht ganz zweieinhalb Meter, und die untere Seite war mit einem dicken schwarzen Rückstand überzogen. »Stinkt noch schlimmer als in meiner Erinnerung. Und ich möchte lieber nicht daran denken, worin ich hier stehe. Früher gab es eine Beleuchtung für das Wartungspersonal, aber ich sehe keine Schalter.«

»Gestatten«, sagte Oz, und plötzlich erstrahlte Licht an der Oberseite des Rohrs und erstreckte sich in die Ferne. Die kleinen grünen Kugeln verbreiteten ein unheimliches Licht, durchsetzt mit breiten Unterbrechungen aus Schatten und Dunkelheit.

Hazel schniefte laut. »Oz prahlt mal wieder, nicht wahr? Sag ihm, er soll nach alten Alarmsystemen in den Leitungen suchen. Besser auch nach neuen, wenn ich es mir recht überlege.«

»Bin schon dabei«, sagte Oz. »Solange ich eingeloggt bin, habe ich die vollständige Kontrolle über die Lektronenregister der Stadt.«

Hazel richtete sich auf und marschierte entschlossen in die Leitung hinein. Owen wappnete sich gegen den Gestank und folgte ihr. Die dicke schwarze Schmiere auf dem Boden quatschte laut unter seinen Füßen und gestaltete das Fortkommen heikel. Owen hoffte inständig, daß seine Schuhe keine Löcher aufwiesen. Auch an den Wänden klebte eine Art Schleim, und Owen achtete darauf, sich dort nicht abstützen zu müssen.

Er stolperte hinter Hazel her, die langsam und vorsichtig durch das Rohr ging, sich um die ersten Öffnungen, die sie erreichte, nicht kümmerte, sich dann jedoch entschlossen in eine Abzweigung nach rechts duckte, die sich optisch in nichts von den anderen unterschied. Wahrscheinlich erinnerte sie sich inzwischen wieder. Owen folgte ihr und fand sich in einem System aus kleineren, gemauerten Tunneln wieder, die nur etwa einen Meter achtzig durchmaßen. Die Wände hatte man vor nicht allzu langer Zeit gereinigt, aber der Bodenbelag war nach wie vor widerlich. Hazel ging jetzt schneller und orientierte sich dabei an einer Karte in ihrem Kopf, die sie jahrelang nicht konsultiert hatte. Owen hätte Oz bitten können, zu überprüfen, ob sie den richtigen Weg einschlugen, verzichtete aber darauf. Er vertraute Hazel.

In dem stumpfen grünen Licht war es schwierig, Entfernungen und Details auszumachen, und ein Dunst schien in der Luft zu schweben. Der Gestank war inzwischen so schlimm, daß er ein anhaltendes pelziges Gefühl in Mund und Nase erzeugte.

Allein Gott wußte, wie es hier gewesen sein mußte, als noch Abwässer durch das System strömten. Owen beschleunigte sein Tempo, um an Hazels Seite zu gelangen, und sie gingen eine Zeitlang schweigend weiter und nahmen die Abzweigungen, die Hazel für die richtigen hielt. Die einzigen Geräusche stammten von ihren Schuhen auf dem klebrigen Boden, und die Luft war so reglos, daß sie nicht mal Echos zuließ.

»Mich überrascht, daß wir noch keine Ratten gesehen haben«, sagte Owen schließlich. »Ich meine, überall, wo man eine Kanalisation vorfindet, trifft man auch Ratten an, selbst in den mondänsten Teilen des Imperiums. Zu denen dieser Planet nicht gehört.«

»Keine Ratte mit Selbstachtung würde einen Fuß in eine schmierige Angelegenheit wie diese setzen«, behauptete Hazel.

»Aber ich verstehe, was du meinst. Als ich letztes Mal hier unten war, ist definitiv etwas durch die Dunkelheit gehuscht.«

»Vielleicht sind sie alle fort, als die Abwässer ausblieben.«

»Oder vielleicht haben die Hadenmänner sie vergiftet.«

»Ja«, sagte Owen. »Möglich.«

Sie beeilten sich, ihren Weg durch die zunehmend schmaleren Tunnel fortzusetzen. Die gekrümmten, gemauerten Wände sahen alle ziemlich gleich aus, aber Hazel wirkte nach wie vor recht zuversichtlich, daß sie den Weg wußte. Owen hatte keinen Schimmer, wo er sich befand, und die völlige Stille ging ihm allmählich auf die Nerven. Die dunklen Öffnungen, an denen sie vorbeikamen, erschienen ihm immer mehr wie wachsame Augen und hungrige Mäuler, und ihn plagte die wachsende Überzeugung, daß irgend etwas mit ihnen hier unten war, das zusah und wartete. Er konzentrierte sich auf das verstärkte Hörvermögen, das ihm das Labyrinth verliehen hatte, und auf einmal gingen ihm die Ohren über mit dem Lärm, den seine und Hazels Schritte erzeugten, mit dem Rascheln ihrer Kleidung und den Lauten ihres Atems. Er blendete diese Aspekte aus und lauschte auf das, was blieb. Und da vernahm er weit vor sich, am Rand seiner Hörweite, ein langsames, schweres Klopfen wie den Schlag eines riesigen Herzens, und das Summen regelmäßig bewegter Luft.

Owen machte Hazel lautlos auf sich aufmerksam und tippte sich ans Ohr. Sie konzentrierte sich und runzelte die Stirn, als sie es auch hörte. Beide zogen sie Schwerter und Pistolen und gingen vorsichtig weiter, überprüften dabei jede Tunnelöffnung, an der sie vorbeikamen. Die Geräusche wurden allmählich lauter, bis der Tunnelboden im Rhythmus des gleichmäßigen Herzschlages vor ihnen zu vibrieren schien. Und dann kamen sie um eine Ecke und blieben abrupt stehen, denn sie sahen vor sich eine riesige Stahlturbine, deren Schaufeln fortlaufend rotierten, obwohl die Abwässer, die sie antreiben sollten, schon lange ausblieben. Hazel bedachte Owen mit einem warnenden Blick, und sie steckten ihre Waffen weg. Beide funkelten sie die Turbine an. Eindeutig führte kein Weg daran vorbei, und die schweren Schaufeln drehten sich unerbittlich und zu schnell, um sich an ihnen vorbeizuducken.

»Sie müssen das eingebaut haben, nachdem ich hier war«, sagte Hazel.

»Oz, irgendeine Chance, dieses Ding abzuschalten?«

»Ich fürchte, nein«, antwortete Oz. »Die Energie ist entweder ein- oder ausgeschaltet. Einzelne Systeme sind nicht individuell zu steuern.«

»Das hätte ich dir selbst sagen können«, sagte Hazel, als Owen ihr die Information übermittelt hatte. »Bei der Errichtung dieser Stadt hat man an allen Ecken gespart.«

»Wir sollten vielleicht bei den aktuellen Problemen bleiben«, schlug Owen vor. »Oz, schalte alles ab, und wir klettern im Dunkeln hindurch. Dann kannst du die Energie wieder hochfahren.«

»Ah«, sagte Oz. »So einfach ist das nicht, fürchte ich. Das Energiesystem ist so instabil, daß ich nicht hundertprozentig sicher bin, es überhaupt wieder hochfahren zu können.«

»Wundervoll«, sagte Owen.

»Sieh mal«, sagte Hazel, »letztlich ist das Ding nur ein Haufen Metall. Pusten wir es doch einfach weg. Mit ein paar Disruptorstößen auf Kernschußweite sollte das mühelos zu erreichen sein.«

»Das würde ich wirklich nicht tun, wenn ich an eurer Stelle wäre!« warf Oz rasch ein. »Schon jetzt kostet es mich alle Mühe, die Stadtsysteme ruhig zu halten. Sogar ich stoße an Grenzen. Falls ihr jetzt da unten einen Alarm lostretet, bricht die Hölle aus.«

»Jetzt mal langsam!« verlangte Owen. »Du hast mir gesagt, du ließest die Lektronen der Stadt durch Reifen springen. Was hat sich verändert?«

»Na ja«, räumte Oz widerstrebend ein, »es scheint, als wäre ich bei meinen ursprünglichen Voraussagen ein wenig überoptimistisch gewesen. Die Hadenmänner haben die Stadtlektronen weit über deren ursprüngliche Fähigkeiten hinaus aufgemotzt, und die Kisten… wehren sich jetzt seit einiger Zeit. Ich kann mit knapper Not den Status quo aufrechterhalten, aber falls ihr aus irgendeinem Grund Alarm auslöst, steht ihr ganz auf eigenen Füßen.«

»Toll«, fand Hazel, als Owen sie auf den aktuellen Stand gebracht hatte. »Ich habe dir ja gesagt, du solltest dich nicht auf Gespenster-KIs verlassen. In Ordnung, wir können das Ding nicht wegpusten. Was bleibt also? Falls wir richtig gut Anlauf nähmen und zwischen den Schaufeln hindurch…«

»Die sind gerade schwer und scharf genug, um uns in zwei Teile zu schneiden«, gab Owen zu bedenken. »Und ich denke nicht, daß selbst wir uns von so etwas erholen könnten.«

»In Ordnung, dann reißen wir das Ding einfach aus der Fassung. Zusammen sind wir stark genug.«

»Damit würden wir zwangsläufig Alarm auslösen. Ich möchte nicht aus dem letzten Tunnel steigen und dann einem halben Hundert Hadenmännern gegenüberstehen, die bis an die Zähne mit Hadenmännerwaffen bestückt sind.«

»Dann denke du dir was aus! Du bist ja angeblich das Hirn in unserer Partnerschaft! Du denkst, und ich schieße; so war es immer.«

»Ich kann besser nachdenken, wenn mir niemand ins Ohr brüllt«, entgegnete Owen sanft. Hazel schniefte und wandte ihm den Rücken zu. »Oz, gibt es eine Route, auf der wir die Turbine umgehen können?«

»Ich fürchte, nein. Schaufelräder wie dieses findet man in der ganzen Anlage. Welchen Weg ihr auch immer einschlagt, ihr trefft schließlich wieder auf eines.«

»Andererseits«, sagte Hazel, die sich ihm wieder zugewandt hatte, »habe ich hin und wieder auch mal eine gute Idee. Owen, in Nebelhafen hast du ein ganzes Gebäude auseinandergerissen, indem du es dir einfach vorgestellt hast, nicht wahr?«

»Nun, ja, aber…«

»Nichts aber. Wie hast du das gemacht?«

»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte. Ich wurde einfach wütend genug, und die Macht floß mir zu. Viele der vom Labyrinth des Wahnsinns gewirkten Veränderungen tauchen erst auf, wenn ich böse oder verzweifelt genug bin.«

Hazel nickte rasch. »Ja, bei mir ist es genauso. Wenn ich im Kampf ausreichend sauer werde oder mir jemand zu heftig zusetzt, tauchen meine anderen Ichs aus dem Nichts auf, um mir den Arsch zu retten. Aber deine Kraft hört sich ganz nach der Psychokinese eines Poltergeistes an. Falls du diese Kraft aufrufen und ausreichend beherrschen könntest, dann wette ich, wärst du auch in der Lage, die Turbine genug zu verlangsamen, damit wir hindurchkriechen können. Dann könntest du loslassen, das Schaufelrad würde von neuem beschleunigen, und alles wäre wieder normal, ganz ohne irgendeinen Alarm auszulösen. Richtig?«

»Richtig«, sagte Owen. »Das ist eine ausgezeichnete Idee, Hazel. Wirklich. Problematisch ist nur, daß ich nicht die leiseste Ahnung habe, wie ich diese Kraft aufrufen, geschweige denn beherrschen sollte. Wenn man es genau nimmt, haben wir nie wirklich begriffen, was das Labyrinth mit uns angestellt hat oder wie wir unsere besonderen Fähigkeiten einsetzen. Vor allem, weil wir nie die Zeit fanden, uns damit zu befassen.«

»Wir hätten uns die Zeit nehmen können«, sagte Hazel langsam, »wäre das unser Wunsch gewesen. Aber es hat uns – in Ordnung, mir – nie gefallen, über das Labyrinth zu diskutieren oder über das, worin wir uns womöglich verwandeln. Wir sind keine Esper. PSI könnte manche der Leistungen, die wir vollbracht haben, nicht erzielen. Verdammt, es gibt sogar wunderwirkende Heilige, denen es schwerfallen würde, unsere Nummern nachzustellen!«

»Wie in so vielen Dingen«, überlegte Owen, »lernen wir durch die Praxis. Wie ein Kind, das gehen lernt.«

»Wir hätten schon vor langer Zeit darüber diskutieren sollen.

Wer weiß, wozu wir alles in der Lage sind?«

»Genau. Wer ahnt schon, zu welchen Extremen des Guten oder Bösen wir vielleicht fähig sind. Wer weiß… was letztlich aus uns wird?«

Sie musterten einander ausgiebig. »Möchtest du damit sagen… daß aus uns vielleicht Monster werden könnten?« fragte Hazel.

»Manchmal frage ich mich, ob wir nicht schon welche sind«, sagte Owen. »Weil ich so wenig Kontrolle über das habe, was ich tun oder was aus mir werden könnte. Deshalb bemühe ich mich auch schon die ganze Zeit, innerhalb menschlicher Grenzen zu bleiben. Mensch zu bleiben.«

»Ich fühle mich gar nicht anders als früher«, stellte Hazel stirnrunzelnd fest. »Ich habe… bemerkenswerte Dinge vollbracht, aber ich bin immer noch ich.«

»Woher wollt Ihr das wissen?« fragte Owen sanft. »Woher sollte ich es wissen? Keiner von uns ist zum Helden geboren worden oder hatte je den Wunsch, einer zu werden, aber wir mußten uns völlig verändern, um zu überleben. Wir wurden zu legendären Gestalten, weil die Rebellion solche Gestalten brauchte. Zu was haben wir uns sonst noch verändert, weil wir es für nötig hielten?«

»Ich wünschte, du würdest aufhören, Fragen zu stellen, auf die wir beide keine Antworten wissen, wie du verdammt gut weißt! Wir können diesen ganzen mystischen Scheiß später noch diskutieren. In diesem Augenblick mache ich mir um nichts anderes Gedanken, als ob wir diese verteufelten Turbinenschaufeln genügend abbremsen können, damit wir daran vorbeikommen. Willst du es wenigstens versuchen, verdammt?«

»Natürlich werde ich es versuchen«, sagte Owen. »Aber wir setzen diese Diskussion später fort.«

Er wandte sich wieder der rotierenden Turbine zu. Sie wirkte groß und massiv und völlig unüberwindlich, und er hatte keinen Schimmer, wie er Einfluß auf sie nehmen sollte. Er spürte weder Zorn noch Notwendigkeit, was normalerweise seine Kräfte wie einen heftigen Sturm entfesselte, der alle Hindernisse wegfegte. Und selbst wenn dieser Sturm ausbrach, konnte er ihn gerade eben noch in die richtige Richtung lenken. Lenken… Das Wort vibrierte in ihm nach, war auf einmal voller Bedeutung. Er wandte die Gedanken nach innen, blendete die Wahrnehmung von Tunnel und Turbine aus, versuchte sich auf das Gefühl zu konzentrieren, das auftrat, wenn er die Kraft ausrichtete, und langsam trat die Erinnerung zutage. Er packte sie sogleich, zerrte sie ganz ans Tageslicht, und der Begriff und das Gefühl der Ausrichtung regten sich in den Tiefen seines Bewußtseins. Es war, als sähe er plötzlich eine ganz neue Farbe oder hörte ein neues Instrument spielen, obwohl es ein abstrakterer Vorgang war. Ein ganz neuer Begriff von Welterfahrung.

Und eine Woge der Kraft rollte aus dem Hinterkopf heran, aus dem Unterbewußtsein, bis in die bewußten Gedanken hinein, wo sie auf einmal so offenkundig und vertraut wurde wie das Atmen.

Er griff mit den Gedanken hinaus, so wie man eine Hand ausstreckte, und berührte die Turbine. Sie wurde langsamer und bebte, als sie gegen eine Kraft ankämpfte, die sie nicht überwinden konnte, bis sie sich schließlich kaum noch drehte.

Der Zentralmotor ächzte lautstark, wie ein Lebewesen, das Schmerzen hatte. Hazel klopfte Owen auf die Schulter und grinste von einem Ohr zu anderen.

»Du hast es geschafft, Owen! Du hast es geschafft!«

»Verdammt richtig«, sagte Owen. »Hört jetzt auf, mir körperliche Verletzungen zuzufügen, und klettert hindurch, ehe die Turbine zu dem Schluß gelangt, sie hätte eine Störung, und einen Alarm auslöst.«

»Alarm, Alarm«, meckerte Hazel und stieg vorsichtig zwischen die kaum noch rotierenden Schaufeln. »Von sowas bist du richtig besessen.«

»Einer von uns muß es ja sein«, sagte Owen und folgte ihr zwischen die Schaufeln. Sobald sie hindurch waren, lockerte er die Willensanspannung wieder, und die Turbine kehrte auf ihre alte Geschwindigkeit zurück. Die geistige Empfindung zog sich in den Hinterkopf zurück. Da er jetzt jedoch wußte, wo er nachsehen mußte, war er überzeugt, die Kraft wieder aufrufen zu können. Falls er fand, daß es… nötig war.

»Und, wie hat es sich angefühlt?« fragte Hazel interessiert.

»Wie Tanzen«, antwortete Owen. »Oder Malen. Disziplinierte mentale Anmut, die den Rohstoff der Welt ordnet. Ist das hilfreich?«

»Kein bißchen«, sagte Hazel. »In Ordnung, gehen wir weiter.

Wir müßten bald den Durchgang in die Hauptanlage erreichen, und von dort haben wir Zugang zu jedem Teil der Stadt.«

»Gut«, sagte Owen. »Ich kann es gar nicht mehr erwarten, wieder frische Luft zu atmen. Meine Lungen fühlen sich an wie Aschenbecher.«

»Bevor ihr weitergeht«, flüsterte ihm Oz ins Ohr, »muß ich zu diesem Thema etwas einwerfen, das wir, wie ich finde, diskutieren sollten. Einer Datei zufolge, die ich gerade in den städtischen Lektronen gefunden habe, besteht ein guter Grund, warum es hier in der Kanalisation so stinkt. Die Luft ist giftig.

Ein ziemlich tödliches Nervengas, das die Hadenmänner eingeleitet haben, um alles umzubringen, was hier unten leben könnte.«

»Gift!« sagte Hazel, als Owen es ihr erklärt hatte. »Aber wir atmen es schon seit Äonen! Warum sind wir noch nicht tot?«

»Eine berechtigte Frage«, antwortete Oz. »Eine, die mich stark bewegt, seit ich die Datei entdeckt habe. Eigentlich müßte euch inzwischen alles Fleisch von den Knochen gefault sein.«

»Das muß an einer weiteren Veränderung liegen, der wir im Labyrinth des Wahnsinns unterzogen wurden«, fand Owen.

»Die wieder mal aufgetaucht ist, als sie gebraucht wurde. Nur ein neuer Aspekt, in dem wir keine Menschen mehr sind.«

»Fang nicht wieder damit an!« knurrte Hazel. »Es ist die erste wirklich praktische Veränderung, mit der das Labyrinth bislang aufgewartet hat. Geh weiter. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«

Sie folgten erneut dem Tunnel. Owen bemühte sich eine Zeitlang, flacher zu atmen, gab es aber wieder auf, weil es ohnehin längst zu spät dafür war. Der restliche Marsch verlief meist ereignislos, bis sie den Zugang zur Hauptanlage erreichten und den Weg durch einen massiven Stahlverschluß blockiert fanden – eine einzelne, große Platte aus schwerem Stahl, die den Tunnel komplett absperrte und sich selbst Owens und Hazels kombinierter Kraftanstrengung widersetzte. Beide traten sie einen Schritt zurück und dachten über das Problem nach.

»Das sollte sich nur in Notfällen schließen«, erklärte Hazel, »um eine Überflutung der Hauptanlage zu verhindern. Das Schloß ist mechanisch, weil sich Elektronik und Wasser nicht gut vertragen. Ich kann mir nicht vorstellen, dieses Schloß ohne eine ganz spezielle schwere Ausrüstung zu knacken.«

»Die Hadenmänner haben hier dichtgemacht«, sagte Oz.

»Wahrscheinlich, um Leute wie uns auszusperren. Da das Schloß nicht elektronisch ist, kann ich Euch auch nicht helfen.

Und die noch schlechtere Nachricht lautet: Es scheint eine manuelle Überbrückung zu geben, aber man braucht vier Leute, die sie simultan bedienen. Wieder mal eine Sicherheitsvorkehrung.«

Owen und Hazel überprüften die vier Handsteuerungen, einfache Räder an den vier Ecken der Platte – aber so sehr sie sich auch reckten, sie konnten mit den Händen nicht mal annähernd mehr als ein Rad gleichzeitig erreichen. Man brauchte vier Personen dafür. Hazel versetzte dem Siegel angewidert einen Tritt und erzeugte eine kleine Delle im Metall.

»Verdammtes Scheißding! Ich bin doch nicht den ganzen Weg gekommen, um dann von einem blöden Klumpen Stahl aufgehalten zu werden! Tritt mal zurück, ich ballere das Mistding weg.«

»Man braucht eine Disruptorkanone, um etwas so Großes zu durchschlagen«, sagte Owen. »Und wir dürfen die Alarmvorrichtungen nicht vergessen…«

»Ich bin es allmählich echt leid, das Wort Alarm zu hören!

Ich wate nicht den ganzen Weg durch die Abwasserkanäle zurück, Owen. Entweder denkst du dir etwas aus, oder ich puste die Tür weg und riskiere es einfach.«

»In Ordnung, ich habe eine Idee«, sagte Owen. »Wir haben durch eine Feineinstellung meiner Fähigkeit die Turbine überwunden. Wie wäre es, wenn wir hier Eure Fähigkeit nutzten?«

Hazel musterte ihn. »Erkläre mir das. Wie könnte uns meine Kraft hier helfen?«

»Na ja, Ihr könnt eine Armee anderer Versionen Eurer Selbst beschwören, damit sie Euch im Kampf unterstützen. Vielleicht schafft Ihr es, wenn Ihr Euch stark genug konzentriert, nur zwei herbeizurufen und sie lange genug festzuhalten, damit sie die beiden übrigen Räder drehen.«

»Verdammt!« sagte Hazel. »Das ist ja richtig brillant! Ich nehme alles zurück, was ich über dich gesagt habe. Ich weiß zwar noch nicht, ob es auch funktioniert, aber es ist sicherlich einen Versuch wert.«

Hazel betrachtete die Tür für geraume Zeit mit finsterer Miene. Wie bei Owen tauchte die besondere Kraft gewöhnlich nur unter großem Streß auf. Wenn sie in der Hitze der Schlacht die alternativen Versionen ihrer selbst benötigte, waren sie einfach da. Hazel hatte keine Ahnung, warum bestimmte Versionen häufiger auftauchten als andere, und sie wußte auch überhaupt nicht, welcher Art diese Erscheinungen waren. Die klügste Spekulation schien ihr, daß es sich um Versionen ihrer selbst von anderen Zeitschienen handelte, daß es Personen waren, zu denen sie sich hätte entwickeln können, wäre die Geschichte anders verlaufen – aber sie hatte keinen Beweis dafür. Keine der Versionen war jemals lange genug verweilt, um Fragen zu beantworten. Genauso war möglich, daß all die anderen Hazels nur Hirngespinste darstellten, die durch ihre Labyrinth-Kraft irgendwie mit Leben und Substanz ausgestattet wurden. Das ergab genausoviel Sinn.

Je mehr sie darüber nachdachte und sich bemühte, das Gefühl wiederzubeleben, das sie in diesen vergangenen Schlachten empfunden hatte, desto mehr schien ihr, daß da eine Richtung war, in die sie greifen konnte, eine Richtung, so wirklich wie jede andere, aber nicht beschränkt auf die Welt, in der Hazel lebte. Sie griff hinaus, und unzählige Geister mit ihrem Gesicht schienen ihre Präsenz zu spüren und wandten sich ihr zu. Sie konzentrierte sich darauf, daß sie nur zwei Personen benötigte, und zwei Hände streckten sich ihr entgegen und ergriffen ihre Hände. Ein kurzer Stoß verdrängter Luft zuckte durch den Tunnel, und auf einmal standen zwei weitere Frauen neben ihr und husteten kräftig in der grünlich schimmernden Luft. Hazel warf Owen einen triumphierenden Blick zu und stellte dabei fest, daß ihm die Kinnlade bis fast auf die Knie herunterhing.

Hazel runzelte die Stirn und blickte die beiden fremden Versionen ihrer selbst an, die sie herbeigerufen hatte.

Die Frau zur Linken hatte eine so schwarze Haut, daß sie wie ein lebender Schatten wirkte, und das Haar hing ihr in Rastalocken mit eingeflochtenen Perlen bis auf die Schultern. Sie trug eine silbern glänzende Rüstung, mit prachtvollen Runen ziseliert, und dazu goldene Accessoires wie Knieschoner, Ellbogenschoner und Schlagringe. An jeder Hüfte trug sie eine Pistole, und sie hielt eine Axt mit kurzem Griff in den Händen.

Die Frau war groß, fast unerträglich sinnlich und wirkte vom Scheitel bis zur Sohle wie eine stolze, fähige Kriegerin. Und doch lag etwas in ihrer Haltung, in ihrem Gesicht, in den Zügen um Augen und Mund, das unbestreitbar Hazel D’Ark war.

Die Frau zur Rechten hatte eine totenbleiche Hautfarbe und sah in dem grünlichen Licht einer Leiche nicht unähnlich, die sich halb einbalsamiert vom Leichentisch erhoben hatte. Sie trug fetzenweise Leder, dessen Stücke von hell polierten Stahlketten zusammengehalten wurden. Sie hatte Ringe in Ohren und Nase und an anderen, weniger bequemen Stellen, und darüber hinaus prangte ihr Körper an allen anderen Stellen mit Ziernägeln, Nadeln und anderen Piercing-Schmuckstücken. Sie war dünn wie eine Peitschenschnur. Jeder Muskel trat deutlich hervor, und den Schädel trug sie rasiert, damit die in ordentlichen Reihen aufgenieteten Ziernägel besser zur Geltung kamen. Sie trug ein langes Schwert an einer Hüfte und ein unbekanntes Pistolenmodell an der anderen. Beide Waffen erweckten den Anschein häufiger Benutzung. Und wieder einmal waren Gesicht und Augen eindeutig die von Hazel D’Ark.

Eine ganze Weile standen die vier nur da und musterten einander mit Mienen, die unterschiedliche Grade des Unglaubens ausdrückten. Dann wandte sich Owen an Hazel: »Sagt mir, daß Ihr diese beiden nicht absichtlich herbeigerufen habt.«

»Na, das ist ja ein hübscher Empfang«, fand die schwarze Kriegerin mit einer tiefen, reichen Stimme voller Humor. »Und das, nachdem ich einen so langen Weg zurückgelegt habe, um euch zu treffen. Ich bin Mitternachtsblau. Ist das wirklich eine andere Version meiner selbst?«

»Nun, man könnte es so ausdrücken«, sagte Owen. »Ich bin…«

»Oh, ich kenne dich, Owen Todtsteltzer«, unterbrach ihn Mitternachtsblau. Und dann sprang sie vor, schlang die Arme um ihn, ohne dabei die Axt loszulassen, und drückte ihn so kräftig an den eindrucksvollen Busen, daß sie Owen damit die Luft aus den Lungen preßte. Er stand gerade im Begriff, sein Gleichgewicht zurückzuerlangen, da stieß sie ihn plötzlich zurück, steckte die Axt in den Gürtel, holte aus und versetzte ihm eine kräftige Ohrfeige. Der Knall war ohrenbetäubend. Owen taumelte rückwärts und wäre vielleicht gestürzt, hätte ihn Mitternachtsblau nicht gleich wieder an sich gedrückt, während ihr Tränen in die Augen traten.

»Na ja«, gab Hazel kund, »du hast dich schon immer darauf verstanden, Leute zu beeindrucken, Todtsteltzer.« Sie musterte die überall durchstochene weiße Erscheinung. »Hast du eine Ahnung, was hier vorgeht?«

»In keiner Weise«, antwortete die andere Version mit eiskalter Altstimme. »Ich bin nebenbei Bonnie Chaos. Bist du sicher, daß wir dieselbe sind?«

»Anscheinend. Ich heiße Hazel D’Ark. Sieh dich mal um, ob du nicht irgendwo ein Brecheisen findest, mit dem wir die beiden auseinanderbekommen.«

Mitternachtsblau hielt jetzt Owen auf Armeslänge und schenkte ihm ein unsicheres Lächeln. »Owen, du Mistkerl! Wie konntest du mich nur verlassen? Oh, es ist so schön, dich wiederzusehen!«

»Darf ich vielleicht darauf hinweisen«, wandte Owen mit leicht atemloser Stimme ein, »daß ich nicht der Owen bin, den Ihr kennt?«

»Natürlich nicht. Er ist tot. Aber du reichst auch.«

Mitternachtsblau erläuterte nicht, wozu, und Hazel hatte nicht vor, danach zu fragen. Sie sah Bonnie Chaos an. »Kennst du Owen auch?«

»Das hoffe ich doch«, antwortete Bonnie mit ihrer kalten Stimme. »Dort, woher ich komme, sind wir verheiratet.«

Hazel entschied, daß sie nicht soweit war, darüber nähere Erkundigungen einzuziehen, und wandte sich wieder Mitternachtsblau zu, die Owen abgesetzt hatte und seine Kleidung wieder zurechtrückte, indem sie hier und dort zupfte und tätschelte. Owen stand einfach nur da und fürchtete sich, irgend etwas zu tun, um sie nicht von neuem zu provozieren. Sie wurde schließlich fertig und lächelte Owen fast schüchtern an.

»Tut mir leid, das eben. Es war nur… der Schock, dich lebendig wiederzusehen.«

»Na ja, wenn du möchtest, daß er es auch bleibt, würde ich an deiner Stelle mit der Knutscherei aufhören«, bemerkte Hazel trocken.

»Ich denke, wir alle könnten ein paar aktuelle Milieu-Informationen gebrauchen«, warf Owen taktvoll ein. »Offenkundig hat Euer Leben einen ganz anderen Verlauf genommen als das der Hazel, die ich kenne. Warum fangt Ihr nicht an, Mitternacht?«

»Die Rebellion liegt einige Zeit zurück«, berichtete Mitternachtsblau. »Überall herrscht Chaos. Milliarden sind umgekommen, ganze Planeten wurden vernichtet oder in die Barbarei zurückgeworfen. Du, Owen, wurdest getötet, als Löwenstein Golgatha mit ihrer verstecken Planetenkillerbombe zerstörte. Jakob und Ruby sind mit dir umgekommen. Ich war die einzig verbliebene Überlebende des Labyrinths, die versuchen konnte, die Dinge wieder in Gang zu bringen. Ich hätte mich eigentlich mit dir zusammen Löwenstein an ihrem Hof entgegenstellen sollen, aber ich wandte mich von euch allen ab, als Jakob sein Abkommen mit den Familien traf. Das konnte ich nicht schlucken. Ruby hätte sich mir beinahe angeschlossen, entschied sich dann aber doch, bei Jakob zu bleiben. Und mit ihm zu sterben, wie sich herausstellte.

Nach der Rebellion bemühte ich mich, die Dinge unter Kontrolle zu halten, aber zuviel war zerstört. Und ich habe mich noch nie auf Politik verstanden. Also sagte ich mir schließlich, zum Teufel mit allen, und bin auf eigene Faust losgezogen. Ich wurde wieder Piratin und hatte ein eigenes Schiff, die Faust.

Ein Pirat findet reichlich Beute in einem dem Chaos anheimgefallenen Imperium. Aber ich habe dich so vermißt, Owen! Als ich jetzt den Ruf vernahm, habe ich die Gelegenheit gleich beim Schopf ergriffen.«

»Das ist… richtig süß«, sagte Owen vorsichtig. »Aber ich bin nicht unbedingt der Owen, den Ihr kanntet. Schließlich unterscheidet Ihr Euch auch sehr von meiner Hazel…«

»Ja«, sagte Mitternacht und musterte Hazel doch ein bißchen abschätzig. »Du solltest wirklich mehr trainieren, meine Liebe.«

»Was ist mit Euch?« wandte sich Owen rasch an Bonnie Chaos. »Habe ich eben richtig gehört? Wir sind…«

»Verheiratet, ja.« Die große, schlanke Frau lächelte ihn an und zeigte dabei spitze Vorderzähne. »Wir sind seit fast zwei Jahren zusammen. Du siehst fast wie mein Owen aus. Vor dem Piercing. Und den Tätowierungen. Golgatha hat in unserer Rebellion überlebt, aber leider auch die Politiker. Wir haben uns sehr bemüht, etwas zu ändern, aber letztlich wurden wir es leid, uns an all den Lügen und der ganzen Korruption die Köpfe wundzustoßen, und sind davongegangen. Wir leiten jetzt Nebelwelt. Und leisten ganz ordentliche Arbeit, falls ich das selbst so sagen darf. Es ist eine kleinere Bühne, und wir bewirken dort mehr. Das Imperium geht derweil zum Teufel, aber andererseits hat es das schon immer getan. Es war dumm von uns, je zu glauben, wir könnten das System ändern.

Jakob starb bei einer Bombenexplosion vor dem Parlament.

Ruby hat einen ganzen Haufen Leute umgebracht, denen sie die Schuld an seinem Tod gab. Sie ist auf der Flucht, und ein Kopfgeld ist auf sie ausgesetzt worden. Als ich zuletzt von ihr hörte, ging es ihr trotzdem ganz gut, und sie schmuggelte Blut auf Madraguda. Was ist mit euch?«

Owen erzählte ihre eigene Geschichte, gelegentlich von Hazel unterbrochen. Als er schließlich fertig war, zuckte Bonnie ein paarmal die Achseln, wobei ihr Piercingschmuck attraktiv klimperte, und fixierte Owen mit den Augen.

»Soviel zur historischen Einführung. Kommen wir zum Geschäft. Was machen wir hier? Warum hat Hazel uns ausgesucht?«

»Ich habe einfach nur gerufen«, sagte Hazel. »Und ihr wart die beiden, die reagiert haben.«

»Ich bin gekommen, weil ich Owen wiedersehen wollte«, sagte Mitternacht.

»Und ich… war auf der Suche nach ein bißchen Abwechslung«, sagte Bonnie und zeigte ihr beunruhigendes Lächeln.

» Nebelwelt ist in letzter Zeit einfach ein bißchen zu zivilisiert.«

»Wundervoll«, sagte Owen. »Also… welche Fähigkeiten hat das Labyrinth Euch verliehen?«

»Ich bin Teleporterin«, erklärte Mitternacht. »Wenn ich schon irgendwo war, kann ich innerhalb eines Augenblicks dorthin zurückkehren. Ansonsten bin ich auf Stellen beschränkt, die ich sehen kann.«

»Sehr nützlich«, fand Hazel. »Was ist mit dir, Bonnie?«

»Ich regeneriere«, erklärte Bonnie. »Jede Verletzung, ob stark oder gering, heilt innerhalb von Sekunden. Nichts kann mich aufhalten. Ich komme einfach immer wieder zurück.« Sie hob den linken Zeigefinger zum Mund und biß ihn seelenruhig bis zum ersten Gelenk ab. Während die anderen noch zusahen, wuchs eine neue Fingerspitze aus dem Stumpf hervor, und innerhalb eines Augenblicks war der Finger wie neu und zeigte keine Spur der Verletzung mehr.

»Ich habe schon einige wirklich widerliche Dinge im Leben gesehen«, sagte Hazel. »Das gehörte eindeutig dazu. Ich weiß nicht, ob ich kotzen oder applaudieren soll.«

»Sie würde Kotzen wahrscheinlich als Form von Applaus verstehen«, fand Mitternacht.

»Wir haben für beides nicht die Zeit«, warf Owen mit einem Ton ein, von dem er hoffte, er klänge fest und ruhig. »Sehr eindrucksvoll, Bonnie. Bitte tut das nicht wieder. Warum widmen wir uns jetzt nicht alle der anstehenden Aufgabe, nämlich den verdammten Verschluß zu öffnen, damit wir in die eigentliche Stadt gelangen und nach den Gefangenen der Hadenmänner suchen können?«

»Ihr habt hier Hadenmänner?« fragte Mitternachtsblau und musterte Owen scharf. »Dort, woher ich komme, sind sie gleich verschwunden, nachdem du sie aus ihrer Gruft befreit hast. Undankbare Mistkerle!«

»Was zum Teufel ist ein Hadenmann?« erkundigte sich Bonnie Chaos. »Von sowas habe ich noch nie gehört.«

»Es sind Kyborgs«, sagte Hazel knapp. »Stark, tückisch und ausgesprochen gemein. Wir haben eine ganze Stadt mit ihnen direkt über uns. Sie haben Menschen als Geiseln genommen.

Eine ganze Menge. Falls sie noch leben…«

»Wir sind ja hier, um das herauszufinden«, unterbrach Owen sie. »Und hoffentlich auch, um einen realistischen Plan zu ihrer Befreiung auszuarbeiten.«

»Mal vorausgesetzt, daß wir währenddessen nicht auf scheußliche Weise umkommen«, sagte Hazel.

»Klingt, als würde es Spaß machen«, bemerkte Bonnie. »Ist es okay, wenn ich ein paar von diesen Hadenmännern umbringe?«

»Lieber viele«, sagte Hazel. »Nur zu.«

»Sobald wir die Informationen haben, die wir brauchen«, sagte Owen mit Bestimmtheit. »Erst spionieren, dann umbringen.«

»Mach dir keine Sorgen«, versetzte Mitternacht. »Eine Kriegerin hat immer Verständnis für die Notwendigkeit geschickten Vorgehens. Bin ich nicht ein Wesen aus Nebel und Schatten?«

»Fangt nicht damit an!« verlangte Owen. »Ich bekomme genug solches Zeug von meiner KI zu hören. Falls wir auf Hadenmänner treffen, möchte ich, daß wir alle uns wirklich bemühen, keinen Streit anzufangen. Nach wie vor besteht eine Chance, daß dies alles nur ein fürchterliches Mißverständnis ist. Und selbst wenn nicht, kann ich sie vielleicht noch überreden, auf den richtigen Weg zurückzukehren. Sie behaupten nämlich, sie würden mich als ihren Erlöser respektieren. Und sie haben in der Rebellion auf unserer Seite gefochten.«

»Hält euer Owen auch lange, langweilige Ansprachen?« fragte Hazel ihre beiden anderen Versionen, und beide nickten ernst.

»Die Hadenmänner haben den Sieg unserer Rebellion möglich gemacht«, fuhr Owen laut fort und ignorierte Hazel. »Wie habt Ihr beide es ohne sie geschafft?«

Mitternacht zuckte die Achseln. »Auf die langsame und harte und blutige Tour. Viele Menschen sind umgekommen. Löwenstein hatte immer gesagt, falls sie stürzte, würde sie das Imperium mitnehmen, und sie kam verdammt dicht heran, ihr Versprechen wahrzumachen.«

»Richtig«, sagte Bonnie. »Die Eiserne Hexe und ihre Flotte haben uns einen hohen Preis für den Sieg abverlangt.«

»Siehst du, Owen«, sagte Hazel sanft, »du hast also doch richtig gehandelt.«

»Nur, falls es uns gelingt, sie jetzt aufzuhalten«, erwiderte Owen. Er war noch nicht bereit, sich zu vergeben, aber trotzdem tröstete ihn der Gedanke ein wenig, wie übel es ohne die Hadenmänner als Bundesgenossen hätte ausgehen können. Er zeigte auf die vier Handsteuerungen der Metalltür, und zu viert kurbelten sie langsam die schwere Last aus dem Weg. Sobald sich die schweren Bolzen zurückgezogen hatten, schwenkte die Tür bemerkenswert leicht auf. Sie ließen sie offenstehen, nur für den Fall, daß sie sich plötzlich zurückziehen mußten. Owen ging als erster in den schmalen Backsteintunnel dahinter. Nach wenigen Minuten erreichten sie ein einfaches Stahlgitter in der Tunneldecke, durch das in starren Schäften das Licht von oben hereinfiel und dabei den grünen Dunst der Kanalisation sauber durchschnitt. Die vier versammelten sich unter dem Gitter, konnten jedoch draußen nichts erkennen.

»Wir müssen direkt unter der Straße sein«, sagte Hazel. »Irgendwo in den Außenbezirken der Stadt. Möchtest du mal einen Blick hinaus werfen?«

Owen überlegte. »Wie weit sind wir von der Stelle entfernt, wo Ihr zuletzt die Kanalisation betreten habt?«

»Meilenweit«, antwortete Hazel. »Gut innerhalb der eigentlichen Stadt.«

»Wir steigen aus«, sagte Owen. »Hier ist das Risiko geringer, auf Hadenmänner zu stoßen. Tretet bitte zurück, während ich mir die Ehre gebe.«

Das Metallgitter gab mühelos nach, und Hazel half Owen dabei, durch die Öffnung hinauszuklettern. Er zog sich hoch und sah sich rasch um, die Augen vor dem hellen Licht zusammengekniffen. Die Straße war leer, und es herrschte völlige Stille.

Owen gab kund, daß die Luft rein war, und sah sich noch einmal genauer um, während die anderen zu ihm auf die Straße stiegen. Sie machten viel Lärm dabei, aber niemand war in der Nähe, der es hätte hören können. Überhaupt niemand.

Der grünliche Dunst stieg aus der Öffnung und verstreute sich langsam. Hazel beförderte das Gitter mit einem Fußtritt wieder in Position. Alle vier Gefährten atmeten in der klaren, etwas kalten Stadtluft tief ein, wahrend sie sich umsahen, und befreiten Mund und Nase damit vom üblen Gestank der Kanalisation. Owen und Hazel waren gar nicht dazu gekommen, Mitternacht und Bonnie zu erzählen, daß die grüne Luft giftig war, und da beide nach wie vor gesund und munter waren, schien es auch jetzt wenig Sinn zu machen. Sie trampelten herum, um die Schuhe vom schlimmsten der dicken schwarzen Schmiere zu befreien, durch die sie gewatet waren, hatten damit aber nur teilweise Erfolg. Und trotz des erneuten Lärms erschien niemand, um nachzusehen. Owen gab jeden Versuch auf, seine Begleiterinnen zur Ruhe anzuhalten, und beschäftigte sich von neuem damit, sich umzusehen.

Sie standen direkt am Rand von Brahmin City in einer Gegend, die bislang von Umbaumaßnahmen der Hadenmänner frei zu sein schien. Die Gebäude waren einfach nur Häuser und zeigten keine Spur der glänzenden Hadenmännertech. Die Straßen waren verlassen, und nirgendwo vernahm man einen Laut. Nichts verriet, daß hier je Menschen gelebt hatten. Und obwohl es langsam dunkel wurde, war keine der Straßenlaternen angesprungen.

»Verdammt, das ist aber unheimlich!« meinte Hazel. »Jemand sollte sich hier herumtreiben. Jemand sollte arbeiten. Ich meine, Städte halten sich doch nicht von allein in Gang.«

»Städte der Menschen jedenfalls nicht«, sagte Owen. »Nicht einmal zu den Fenstern blickt jemand heraus. Selbst die niedergedrücktesten und unterwürfigsten Gefangenen müßten genügend Grips aufweisen, um mal zu den Fenstern hinauszublicken, was draußen vor sich geht.«

»Soll ich ein paar Türen eintreten?« fragte Bonnie.

»Vorläufig nicht, danke«, sagte Owen. »Wir sind hier, um die Leute zu retten, nicht, um sie zu erschrecken.«

»Es muß allmählich dunkel werden in den Häusern«, überlegte Mitternacht. »Aber niemand hat bislang Licht angemacht.«

»Vielleicht ist es verboten«, überlegte Hazel.

»Vielleicht ist niemand zu Hause«, sagte Owen. »Womöglich sind alle… irgendwohin gebracht worden.«

»Ich möchte was anderes feststellen«, äußerte sich Mitternacht, nachdem sie alle eine Zeitlang darüber nachgedacht hatten. »Nirgendwo in der Nähe fahren Verkehrsmittel. Wir würden das hören. Welches Ziel wir auch haben, wir werden es zu Fuß erreichen müssen.«

»Das schaffen wir schon«, sagte Hazel. »Die Stadt ist so groß nun auch wieder nicht.«

»Jetzt mal langsam«, verlangte Owen. »Als ich den Vorschlag machte, in Brahmin City zu spionieren, schwebte mir etwas Verstohleneres vor, als im hellen Tageslicht herumzuspazieren.«

»Owen«, sagte Hazel, »hier ist niemand, der uns sehen könnte. Und ich habe nicht vor, mich von etwas Geringerem als Beschuß in die Kanalisation zurücktreiben zu lassen. Und zwar nur durch verdammt schweren Beschuß, was das angeht! Solange wir Augen und Ohren offenhalten, kann sich in dieser Stille niemand an uns heranschleichen.«

»Ich hasse es, wenn Ihr recht habt«, sagte Owen. »In Ordnung, machen wir einen kleinen Spaziergang und sehen mal, ob wir jemanden finden, dem wir ein paar präzise Fragen stellen können. Waffen bereithalten, Leute, aber nur schießen, wenn es nicht anders geht! Wir sind gut, aber ich bin mir nicht sicher, ob sogar wir eine ganze Armee Hadenmänner auslöschen könnten. Ich persönlich hätte es nach wie vor am liebsten, unentdeckt in die Stadt einzudringen und wieder daraus zu verschwinden, aber falls wir um einen Kontakt mit den Hadenmännern nicht herumkommen sollten, ziehe ich immer noch eine Art von Verhandlungen vor. Vielleicht können wir ihnen begreiflich machen, daß nicht einmal sie in der Lage sind, es mit dem gesamten Imperium aufzunehmen, selbst wenn es gegenwärtig geschwächt dasteht.«

»Viel Glück«, sagte Hazel. »Du wirst es brauchen.«

Owen schniefte und ging die Straße entlang. Mitternacht folgte ihm rasch und hakte sich vertraulich bei ihm unter.

Owen wirkte ein wenig verlegen, versuchte aber nicht, sich zu befreien. Zum Teil, weil er nicht unhöflich sein und sie gegen sich aufbringen wollte, zum Teil, weil er nicht ganz sicher war, daß Mitternacht es dulden würde. Sie hatte besonders kräftige Arme. Hazel und Bonnie schlenderten hinterher und lächelten beide über Owens Unbehagen.

»Ist dein Owen auch so ein Stockfisch?« erkundigte sich Hazel.

»Zum Teil«, antwortete Bonnie. »Aber ich habe ihn verändert. Er hat sich stark gelockert, seit wir verheiratet sind. Wie macht sich dein Owen im Bett?«

»Wir… haben uns dergestalt noch nicht festgelegt«, sagte Hazel.

»Was hat das denn mit Festlegen zu tun?« wollte Bonnie wissen. »Ich rede von Sex, nicht Liebe. Verdammt, ich habe meinen Owen in weniger als vierundzwanzig Stunden nach unserer ersten Begegnung auf die Matte gelegt. Er war so süß… Ich konnte einfach nicht die Finger von seinem aristokratischen Arsch lassen. Und Männer verhalten sich so viel vernünftiger, wenn sie regelmäßig bumsen können. Probiere es mal.«

»Ich merke es mir«, sagte Hazel.

»Also«, wandte sich Owen an Mitternacht, »wie war Euer Owen?«

»Ein Held, obwohl er nie einer sein wollte«, berichtete Mitternacht. »Impulsiv, nüchtern und viel zu tapfer, als gut für ihn war. Er scherte sich nie darum, welche Chancen er hatte; solange es der Sache diente, sprang er immer ins Getümmel und machte alles nieder, was sich bewegte. Ein Krieger, wie seine ganze Familie.«

»Klingt nicht sonderlich nach mir«, fand Owen. »Ich habe immer nur gekämpft, wenn es sein mußte.«

»Mein Owen… hatte einen härteren Kampf zu bestehen als du. Unser Krieg war lang und hart und weckte das Ungeheuer in allen, die mitkämpften. Mein Owen wurde von Blut und Bestimmung getrieben und stürmte über das Schlachtfeld, um zu metzeln, wobei er wie ein Wolf grinste. Er lebte für den Kampf, und nichts machte ihn glücklicher, als wenn er den Sieg in letzter Minute dem Maul der Niederlage entreißen konnte. Ihm gefiel es, wenn die Chancen schlecht standen. Er sagte, dadurch würden die Vorteile ausgeglichen, die ihm das Labyrinth des Wahnsinns verliehen hatte. Auf seine Art war der Todtsteltzer ein ehrenwerter Mann. Wir mußten ganze Planeten rächen und wußten nicht mehr, was Gnade bedeutet. Der Krieg war die Hölle, und so verwandelten wir uns in Dämonen.

Wir waren Krieger, und das Leben war einfach. Hätte die Rebellion doch nur nie geendet! Wir hätten für immer glücklich sein können.«

Eine Zeitlang gingen sie schweigend dahin. Mitternacht hatte alles gesagt, was ihr auf dem Herzen lag, und Owen wollte verdammt sein, wenn ihm darauf etwas einfiel. Er wußte, was sie mit dem Ungeheuer meinte. Er hatte es selbst schon in sich gespürt, in Form einer blutrünstigen Tobsucht, die nichts mehr auf die Sache oder die Ehre gab, die nur für den Rausch des Adrenalins auf dem Schlachtfeld lebte. Stets hatte er es jedoch niedergerungen, denn er war ein Gelehrter, kein Krieger; ein Mensch, kein Ungeheuer. Er fragte sich, ob Mitternachts Owen ganz anders gewesen war als er, ob er das Zeichen des Ungeheuers offen und mit Stolz getragen hatte. Oder hätten sie sich gegenseitig anblicken können und nur ihr Spiegelbild gesehen?

Owen schauderte es plötzlich. Er fragte sich häufig, wie stark die Rebellion ihn verändert hatte, ob sie ihn ungeachtet seiner eigenen Wünsche zu dem brutalen Krieger gemacht hatte, wie es seit jeher das Ziel seiner Familie gewesen war. Jetzt schien ihm jedoch, daß er auf diesem Weg viel weiter hätte gehen können, als er es tatsächlich getan hatte. So wie Mitternachtsblau die perfekte Kampfmaschine war, zu der sich auch Hazel unter anderen Umständen hätte entwickeln können.

»Du bist nicht damit einverstanden, was?« fragte Mitternacht auf einmal. »Das kann ich sehen.«

»Mein Leben… ist anders verlaufen«, antwortete Owen.

»Gott weiß, daß ich selbst genug Schändliches getan habe. Ich fälle über niemanden mehr ein Urteil. Ich habe nicht das Recht dazu.«

Mitternacht löste sich von ihm. »Du bist nicht mein Owen. Er hat stets Urteile gefällt und die Schuldigen von den Unschuldigen geschieden. Und er behielt immer recht. Ein Krieger kennt keine Unentschlossenheit und ein Schlachtfeld keine Grautöne.

Und eine Liebe wie unsere keine Schwächen.«

Sie beschleunigte ihre Schritte und ging jetzt allein. Nach einer Weile überholte Bonnie Chaos Owen und gesellte sich zu ihrer Kameradin, und sie zwinkerte Owen kurz zu, als sie an ihm vorbeikam. Er brachte ein leises Lächeln zustande. Hazel gesellte sich zu ihm.

»Das ist wirklich eine gefährliche Frau«, fand Owen und betrachtete Mitternachts gepanzerten Rücken.

»Du solltest mal versuchen, eine Zeitlang mit Bonnie zu plaudern«, entgegnete Hazel. »Sie macht mir eine Scheißangst.«

»Ich kann gar nicht glauben, wieviel Metall sie durch ihre Haut getrieben hat«, sagte Owen. »Ich meine, einiges davon muß richtig weh getan haben. Wahrscheinlich gibt es aufgerüstete Menschen mit weniger Metall im Leibe. Und sie sagt, ihr Owen hätte das gleiche getan!«

»Sie hat auch erzählt, sie wäre mit dir verheiratet.«

Owen schauderte. »Da wäre ich mit einem Grendel besser bedient. Und ich weiß gar nicht, worüber Ihr lächelt. Sie ist letztlich nur eine andere Version von Euch.«

Hazel zuckte die Achseln. »Zweifellos lebt irgendwo ein anderes Ich glücklich verheiratet mit sechs Kindern und hält nie etwas Gefährlicheres in der Hand als ein Brotmesser. Das ist nun wirklich furchterregend, aber es kümmert mich nicht. Ich weiß, wer ich bin.«

»Aber die beiden sind ganz schön… extrem«, fand Owen.

»Können wir ihnen trauen?«

»Gute Frage«, sagte Hazel. »Aber falls es hier hart auf hart kommt, werden wir sie brauchen. Außerdem wissen sie, daß wir das hiesige Universum besser kennen als sie. Ich denke, sie werden uns folgen. Falls wir wirklich mit den Hadenmännern aneinandergeraten, würde ich auch gegen schlechte Chancen auf beide wetten.« Sie grinste Owen verschmitzt an. »Ich denke, daß Mitternacht einen Narren an dir gefressen hat.«

»Nein«, erwiderte Owen. »Der Mann, den sie liebte, war mir in keiner Weise ähnlich. In überhaupt keiner.«

Seine Stimme wies auf einmal einen kalten Unterton auf, der Hazel davon überzeugte, dieses Thema lieber nicht weiter zu verfolgen, und eine Zeitlang schwiegen sie. Die Straßen blieben leer, und man sah keine Spur von Mensch oder Hadenmann. Die Schritte warfen an den Häusern Echos, die in der Stille unheimlich laut klangen. Hazel wurde es langweilig, an Owens Seite zu gehen, da er zu sehr in Gedanken versunken war, um auf ihre Gesprächsansätze mehr als ein Brummen von sich zu gehen. Letztlich gesellte sie sich zu ihren beiden anderen Versionen. Zu dritt schwatzten sie bald fröhlich drauflos und ignorierten Owen vollständig, während sie in praktisch jedem Punkt uneins blieben. Owen war nicht überrascht. Er kannte Hazel schließlich. Er wußte, daß er die drei Frauen eigentlich davor hätte warnen sollen, so laut zu reden, aber ihm war auch klar, daß sie ihn dafür nur zum Teufel gewünscht hätten und er sich somit die Luft sparen konnte. Inzwischen hatten sie alle eine ordentliche Strecke zurückgelegt, und Owens Füße bemerkten es allmählich und beschwerten sich.

Er achtete sorgfältig darauf, nicht selbst in die Streitigkeiten verwickelt zu werden, und war es vollkommen zufrieden, daß man ihn ignorierte. Die besitzergreifende Art, mit der die beiden Alternativversionen ihn musterten, gefiel ihm nicht – ebensowenig die Art, wie Hazel lächelte, wenn sie es bemerkte. Auf ihre unterschiedliche Art faszinierten ihn sowohl Bonnie wie Mitternacht, aber es ähnelte der Faszination eines Verkehrsunfalls auf Schaulustige. Und als er gerade diesem Gedanken nachhing, zog Bonnie beiläufig ein Hypospray aus dem Gürtel, hielt es sich an den Hals und injizierte den Inhalt, ohne dabei auch nur einmal das Schrittempo zu senken. Sie stöhnte leise vor Vergnügen und drückte mit hörbarem Schnappen den Rücken durch. Owen beeilte sich, an ihre Seite zu gelangen. Sie zeigte wieder dieses beunruhigende Lächeln, ganz schmale schwarze Lippen und zugespitzte Zähne.

»Was war das?« fragte Owen scharf.

»Nur etwas zum Entspannen und Muntermachen. Möchtest du mal kosten?«

»Nein«, lehnte Owen ab. »Seht mal, wir sind in einer sehr gefährlichen Lage…«

»Ach, entspanne dich, mein Hengst. Ich bin so wachsam, daß du mich benutzen könntest, um Ecken auszuschneiden. Wäre ich noch wachsamer, könnte ich in die Zukunft blicken.«

»Drogen sind der Fluch des Kriegers«, warf Mitternacht steif ein. »Wahre Stärke entstammt dem Bewußtsein.«

»Was immer dich durch die Dunkelheit führt, Liebling.«

»War das… Blut? « fragte Hazel.

»Verdammt, nein! Darüber bin ich weit hinaus. Owen hat mir den Weg gewiesen. Mein Owen. Er hat sich nie davor gefürchtet, etwas Neues auszuprobieren. Alles, was ihm einen Vorteil geben konnte. Gemeinsam haben wir fast jede Kampfdroge ausprobiert, die man nur findet, und jede Droge, die uns vielleicht helfen konnte, das vom Labyrinth verstärkte Bewußtsein noch zu erweitern. Es geht doch nichts darüber, sein persönliches Universum auszuweiten und die Hemmnisse im Hirn zu beseitigen. Ich habe Teile meines Bewußtseins freigelegt, von denen die meisten Menschen bei sich gar nichts wissen. Wenn du genau hinhörst, kannst du an manchen Tagen hören, wie meine Synapsen brutzeln. Das Labyrinth hat dazu den Grundstein gelegt. Der größte Rausch überhaupt! Habe nie was gefunden, was dem gleichkäme. Aber ich suche weiter. Drogen, Kämpfen, ein bißchen privater Sex und Quälerei; alles der reinste Rausch.«

»Du hörst dich genau wie Valentin Wolf an«, fand Hazel.

»Der Imperator?« fragte Bonnie. »Mein Held.«

Hazel sah Owen scharf an, aber er reagierte nicht.

Die Straßen von Brahmin City veränderten sich allmählich, als schließlich Veränderungen auftauchten, die von den Hadenmännern stammten. Von Menschen errichtete Gebäude waren wie faule Zähne entfernt und durch scharfkantige Konstruktionen aus Stahl und Tech ersetzt worden. Keinem der vier war noch nach Reden zumute, und alle trugen sie jetzt die Waffen in der Hand. Nach wie vor war niemand sonst zu sehen, und nur ihre Schritte durchdrangen die bedrohliche Stille.

Die Stadt wirkte immer bedrohlicher. Dem Entwurf der neuen Elemente lagen weder menschliche Logik noch menschlicher Seelenfriede zugrunde, und sie wiesen merkwürdige Winkel und entnervende Formen auf. Sie schimmerten von innen in glänzendem Silber, erzeugten Echos im Bewußtsein und trieben Gedanken in Richtungen, die dem menschlichen Geist nicht bestimmt waren. Hadenmänner selbst waren weiterhin nicht zu sehen. Es war, als gingen die vier durch eine Stadt toter oder träumender Fremdwesen. Das Licht der glänzenden Artefakte schimmerte unterschwellig kalt auf ihrer Haut, als würden sie von vorüberziehenden Gespenstern gestreichelt.

Owen blickte sich weiterhin mit finsterer Miene um. Er zweifelte nicht daran, daß man sie im Auge hatte. Er spürte richtig den Druck kalter, aufmerksamer Blicke. Ihm tat der Kopf weh.

Die Finger kribbelten ungemütlich. Irgendwo in weiter Ferne vernahm er ein leises, fortwährendes dumpfes Pochen; es erinnerte ihn an eine einzelne arbeitende Maschine oder womöglich das große künstliche Herz dieser nicht-menschlichen Stadt.

Der Wind wehte in Böen, die ständig hin- und hersprangen, als atmeten die Straßen. Owen fragte sich langsam, ob sie nicht vielleicht einen einzelnen lebenden Organismus durchwanderten, eine Stadt, die zu künstlichem Leben und Bewußtsein erweckt worden war. Die Hadenmänner waren durchaus fähig zu dergleichen. Aber wo waren andererseits all die Menschen, die hier gelebt hatten, als es nur eine Stadt gewesen war?

Bonnie Chaos wirbelte plötzlich herum und feuerte ihren Disruptor ab, und der Energiestrahl zerriß einen glasierten Silberknoten auf halber Höhe eines Gebäudes zu ihrer Linken.

Glänzende Bruchstücke regneten wie metallene Schneeflocken herab, und der Krach der Explosion schien ewig neue Echos zu werfen. Owen und die anderen sahen sich rasch um, die Waffen einsatzbereit, aber nirgendwo bewegte sich etwas. Owen funkelte Bonnie an.

»Wozu zum Teufel sollte das gut sein?«

»Mir hat nicht gefallen, wie mich dieses Bauwerk angesehen hat«, antwortete Bonnie ruhig.

Owen rang um seine Selbstbeherrschung. »Na ja, falls die Hadenmänner zuvor nichts von unserer Anwesenheit wußten, dann jetzt aber mit Sicherheit!«

»Nichts zu danken«, sagte Bonnie.

»Ah, Owen«, warf Hazel ein, »ich denke, wir können ganz klar davon ausgehen, daß sie genau wissen, wo wir stecken.«

Owen drehte sich um und sah, daß eine kleine Armee von Hadenmännern völlig lautlos aus dem Nichts aufgetaucht war und sie jetzt umzingelte. Owen entschied, daß er ganz ruhig stehenbleiben wollte, und hoffte, daß die anderen verständig genug waren, es ihm gleichzutun. Mindestens einhundert der aufgerüsteten Menschen mußten hier stehen – groß und perfekt und völlig reglos in nichtmenschlicher Anmut. Keiner von ihnen trug erkennbare Waffen bei sich. Sie brauchten auch keine.

Sie waren selbst Waffen. Die Gesichter waren völlig ausdruckslos, obwohl die Augen mit einem goldenen Glanz brannten, als gloste ein kleines nukleares Feuer in jedem Augapfel.

Owen sah Hazel an, und beide senkten die Waffen, damit kein Mißverständnis auftrat. Bonnie wirkte etwas unruhig, und Mitternacht packte sicherheitshalber ihren rechten Arm mit festem Griff. Eine ganze Weile standen Menschen und Hadenmänner nur da und sahen sich an – die Hadenmänner durch Menschentech aufgebessert, ihre Gegenüber durch die fremdartige Tech im Labyrinth des Wahnsinns verstärkt. Keiner von ihnen noch im strengen Sinn ein normaler Mensch.

Owen dachte angestrengt nach. Das war genau die Art Konfrontation, der er hatte ausweichen wollen, indem er sich per Kanalisation in die Stadt schlich. Er hegte jedoch immer noch die Hoffnung, eine Art Abkommen auszuhandeln. Sogar nach all dem, was er von den bisherigen Greueltaten der Hadenmänner gesehen hatte, pochte er noch immer möglichst auf das Prinzip, daß Reden besser war als Kämpfen. Er mußte es. Andernfalls hätte er sich vorbehaltlos auf den Weg des Kriegers begeben, sich dem Blutvergießen und der Wut und dem Ungeheuer ausgeliefert. Dabei hatte er längst genug Tod und Zerstörung miterlebt. Vorsichtig sah er sich nach jemandem um, der wie ein Anführer oder Sprecher wirkte, und spannte sich an, als einer der aufgerüsteten Menschen auf einmal vortrat.

»Hallo, Owen«, sagte der Hadenmann mit rauher, brummender Stimme. »Kennt Ihr mich noch?«

»Mein Gott!« antwortete Owen langsam. »Mond? Seid Ihr das wirklich?«

»Ja«, bestätigte Tobias Mond. »Euer alter Gefährte. Sie haben mich nachgebaut, nachdem ich auf dem verlorenen Haden von dem Grendel zerstört worden war. Hallo Hazel!«

»Ist aber eine Weile her, Mond«, sagte Hazel. Sie steckte die Pistole ins Halfter und hielt dem Hadenmann die Hand entgegen. Nach einem Moment ergriff Mond sie und schüttelte sie vorsichtig, sich seiner überlegenen Kraft bewußt. Die Hand des Hadenmanns war leichenkalt, und Hazel ließ sie wieder los, sobald das nach diplomatischen Gesichtspunkten möglich war.

Owen musterte Mond sorgfältig, und der Hadenmann erwiderte den Blick gelassen mit den leuchtenden Augen. Owen schüttelte langsam den Kopf.

»Sie haben verdammt gute Arbeit an Euch geleistet, Mond.

Ich erkenne nirgendwo eine Naht. Ich meine, dieser Grendel hat Euch regelrecht den Kopf abgerissen!«

»Ich erinnere mich«, sagte Mond. »Ich war dabei.« Er sah Hazel an. »Ich weiß noch, wie Ihr gekommen seid, um mich in der Stadt zu treffen, die wir auf dem verlorenen Haden errichtet hatten.« Er wandte sich erneut an Owen. »Ihr, Owen, habt nicht nach mir gesucht.«

»Ich hielt Euch für tot«, erklärte Owen. »Und als ich es schließlich herausfand… hatte ich so viel zu tun…«

»Ich verstehe. Ich bin schließlich nicht der Tobias Mond, den Ihr kanntet. Das ist hier sein Körper, zu voller Funktion als Hadenmann wiederhergestellt, und ich habe vollen Zugriff auf alle seine Erinnerungen, aber ich bin nicht er. Ist vielleicht auch besser so; er verbrachte zu viel Zeit fern den Seinen. Er war zu sehr Mensch geworden.«

»Ich hatte also recht«, sagte Owen. »Mein alter Gefährte ist tot. Ich habe einen weiteren Freund verloren. Man sollte eigentlich meinen, daß ich mich inzwischen daran gewöhnt hätte. Aber egal. Also, was passiert jetzt, Mond?«

»Das liegt eigentlich bei Euch, Owen. Ihr hättet uns melden sollen, daß Ihr kommt. Wir hätten einen Empfang für Euch vorbereitet.«

»Ja«, knurrte Hazel, »da wette ich!«

»Bitte legt Eure Waffen weg«, sagte Mond ruhig. »Ihr schwebt nicht in Gefahr. Der Erlöser und seine Gefährten sind den Hadenmännern stets willkommen.«

Owen sah die anderen an, zuckte die Achseln und steckte Pistole und Schwert weg. Nach längerem Zögern steckte Hazel das Schwert in die Scheide, und Bonnie und Mitternacht taten es ihr nach. Bonnie musterte die Hadenmänner mit erkennbarer Neugier, und sie erwiderten den Blick mit gleichem Interesse.

Beide Seiten hatten ihresgleichen wohl noch nie gesehen. Mitternacht verschränkte die muskulösen Arme auf der Brust und schien gelangweilt, seit keine Hoffnung mehr auf ein bißchen Aktion bestand. Owen sah sich um und betrachtete die ausdruckslos starrenden Gesichter der aufgerüsteten Menschen. Er entdeckte eine beunruhigende Ähnlichkeit, als folgten sie hinter den Gesichtern den gleichen Gedanken. Die Hadenmänner wiesen eine vollkommene Gestalt auf, aber es war keine menschliche Vollkommenheit. Die Körper waren überwiegend Maschinen, das Hirn mit implantierten Lektronen verstärkt. Ihr einziges Ziel bestand in der Vervollkommnung der gesamten Menschheit durch Technik. Und falls sie dabei menschliche Attribute verloren hatten – Gefühle und Gewissen und Individualität –, dann war das ein Preis, wie ihn die Hadenmänner schon immer zu zahlen bereit gewesen waren.

»Wir hätten wissen müssen, daß Mond wieder auftaucht«, murmelte Oz in Owens Ohr. »Man kann sich bei einem Hadenmann auf nichts verlassen – nicht mal, daß er tot bleibt.

Jetzt ist er nur noch einer unter vielen bleichen Harlekinen mit dem Kainszeichen auf der Stirn. Sei ja vorsichtig, Owen!«

Owen runzelte die Stirn. Die Worte der KI schienen eine Erinnerung zu wecken, die Erinnerung an etwas, was ihm ein Präkog auf Nebelwelt erzählt hatte. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, kurz davor zu stehen, daß er etwas Wesentliches begriff, aber Mond wies jetzt höflich darauf hin, daß sie lieber losgingen, und Owen gab seine Überlegungen wieder auf und konzentrierte sich auf das Unmittelbare. Er hegte weiterhin die Hoffnung, die Hadenmänner zu überzeugen, daß sie ihre Gefangenen freiließen und lieber wieder mit der Menschheit zusammenarbeiteten, als sie zu bekämpfen. Gemeinsam erwiesen sich die beiden Zweige der Menschheit vielleicht zu weit mehr fähig, als jeder von ihnen für sich. Und die Hadenmänner mußten etwas aus ihrer totalen Niederlage im ersten Kreuzzug gegen das Imperium gelernt haben. Sicherlich würde doch ein Volk, das sich soviel auf seine Logik zugute hielt, den gleichen Fehler nicht zweimal begehen?

Mond führte die vier Menschen die Straße entlang, und die restlichen Hadenmänner schlossen sich ihnen an, wobei sie perfekten Gleichschritt hielten. Owen hoffte, daß Hazel und ihre anderen Versionen weiterhin seinem Beispiel folgten und nichts vom Zaun brachen. Mit etwas Glück entlockte er vielleicht Mond hilfreiche Informationen, ehe sie das Ziel erreichten. Was wahrscheinlich ein guter Anfang war.

»Also«, fragte Owen beiläufig, »wohin gehen wir, Mond?«

»Ins Stadtzentrum«, antwortete der Hadenmann mit seiner kratzenden, summenden Stimme. »Wir möchten euch so vieles zeigen, Erlöser! Vieles, das Ihr möglich gemacht habt.«

»Wir waren Verbündete während der Rebellion. Warum habt Ihr Euch jetzt gegen die Menschheit gewandt?«

»Wir folgen unser Programmierung. Den Imperativen der Genetischen Kirche. Der Vervollkommnung der Menschheit.

Wir bringen allen die Gabe der Transformation.«

»Was, wenn nicht jeder sie wünscht?«

»Eine solche Reaktion wäre eindeutig unlogisch und wird demzufolge mißachtet. Wir tun, was wir tun müssen. Was nötig ist.«

Wie es schien, hatte Mond recht damit, er verfüge nicht mehr über die alte Persönlichkeit. Seine Antworten hätten von jedem aufgerüsteten Menschen stammen können. Tobias Mond war anders gewesen. Er hatte einen großen Teil seines Lebens unter Menschen verbracht und unwillkürlich menschliche Eigenschaften übernommen. Er hatte immer geäußert, er wünschte sich nichts weiter, als bei seinem Volk zu weilen, ein Hadenmann unter Hadenmännern, aber selbst dabei war er nicht sicher gewesen, ob sie ihn so akzeptieren würden, wie er sich entwickelt hatte. Letztlich starb er, ehe Owen die Gruft der Hadenmänner öffnen konnte, und erlebte somit deren Wiedergeburt nicht mit. Jetzt war er wieder da, lebte, wie er es sich immer gewünscht hatte, und verstand es nicht mal zu würdigen, weil Hadenmänner keine derartigen Gefühle kannten.

Owen verspürte einen unklaren Zorn.

»Ihr verfügt über Monds Erinnerungen«, sagte er scharf. »Ihr erinnert Euch an mich und Hazel. Wir waren Freunde. Was empfindet Ihr heute uns gegenüber?«

»Hadenmänner haben tatsächlich Gefühle«, sagte Mond unerwartet. »Sie sind nur… verschieden von menschlichen Gefühlen. Sie entstehen aus unserem Verstand, nicht aus einem chemischen Ungleichgewicht im Körper. Ihr müßt verstehen, daß wir viel aufgeben, um Hadenmänner zu werden. Unsere Geschlechtlichkeit wird entfernt, ebenso andere überflüssige Begehrlichkeiten und Bedürfnisse, und daher leiten sich unsere Gedanken und Triebkräfte aus anderen Quellen her als Eure.

Wir geben menschliche Schwächen auf, um uns höherzuentwickeln, um Teil eines größeren Ganzen zu werden. Wir fühlen weder Schmerz noch Verzweiflung, weder Hitze noch Kälte.

Wir sind nie allein. Meine Gedanken sind logisch, meine Träume mathematische Abläufe. An mir ist weit mehr als die kaum funktionsfähige Kreatur, die Ihr früher kanntet.«

»Bemühe dich nicht, zu ihm durchzudringen«, sagte Hazel.

»Ich habe es damals auf Haden oft genug versucht. Dabei ist von dem Mond, den wir kannten, ohnehin nichts übrig.«

»Ich entsinne mich«, warf Mond ein. »Ihr habt mich wegen Blutes angesprochen. Benötigt Ihr mehr davon?«

»Nein«, sagte Hazel. »Ich brauche es nicht mehr.«

»Sehr klug«, fand Mond. »Es ist dem menschlichen Organismus sehr abträglich.«

»Menschlich zu sein, das hat Euch zu Dingen befähigt, die sich Euch jetzt wohl wieder entziehen«, sagte Owen. »Erinnert Ihr Euch, wie Ihr gestorben seid, Mond? Ihr habt gerade versucht, die Steuerung einzuschalten, die die Gruft der Hadenmänner öffnete, als die Grendelkreatur angriff. Ihr habt gekämpft, wurdet aber zerrissen; die Kreatur rupfte Euch mit den bloßen Händen den Kopf von den Schultern. Sie fraß schon an Euch, als ich sie fand und tötete. Ich versuchte die Gruft zu öffnen, verfügte jedoch nicht über die Zugangskodes. Nur Ihr kanntet sie. Und Ihr kehrtet von den Toten zurück, um sie mir zu nennen, habt sie mit toten Lippen ausgesprochen. Ohne Eure Hilfe hätte ich die Gruft nicht öffnen können. Erinnert Ihr Euch an irgend etwas davon?«

Mond betrachtete ihn ausgiebig und wandte schließlich den Blick ab. »Nein, ich weiß nichts mehr davon. Es klingt sehr unwahrscheinlich. Wahrscheinlich habt Ihr Euch das im Streß des Augenblicks nur eingebildet. Menschen passiert das schon mal.«

Owen beschloß, das Thema zunächst fallenzulassen, damit der Hadenmann darüber nachdenken konnte. Er war überzeugt, irgend etwas in Mond angerührt zu haben, selbst wenn der aufgerüstete Mann es leugnete. »Also, woher wußtet Ihr, wo Ihr uns findet, Mond?«

»Ihr wurdet sofort entdeckt, als Ihr in die Stadt eingedrungen seid. Wir haben die Stadt nach unseren Vorstellungen umgebaut, und jetzt ist jeder Hadenmann ein Teil von ihr; nichts bewegt sich hier mehr, was nicht zu uns gehört. Unsere Sensoren entdeckten Euch und identifizierten Euch als den Erlöser.

Deshalb sind wir gekommen, um Euch ins Herz unseres Mysteriums zu geleiten. Wir werden Euch nichts verheimlichen. Ihr und Eure Familie wart stets gute Bundesgenossen der Hadenmänner.«

»Das habe ich schon einmal von Euch gehört«, sagte Owen langsam. »Ich habe aber nie die Zeit gefunden, der Sache nachzugehen. Oder vielleicht fürchtete ich mich auch davor. Was für Beziehungen hat Eure Lebensform mit dem Clan Todtsteltzer?«

»Unsere Verbindung reicht über Jahrhunderte zurück. Ursprünglich lief sie über die Lektionen von Giles Todtsteltzer; er nahm Verbindung mit den Wissenschaftlern auf, die das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten und sich danach in die ersten Hadenmänner verwandelten. Die Beziehung setzte sich durch diverse Angehörige Eurer Familie fort, bis zu unserem gescheiterten ersten Kreuzzug. Die Todtsteltzers unterstützten uns, lieferten uns alles nötige und halfen uns, uns vor dem Rest des Imperiums zu verstecken. Als der Kreuzzug scheiterte, flohen wir in unsere Gruft, um auf bessere Zeiten zu warten, und Eure Familie wachte über uns, bis es Eure Bestimmung wurde, zu kommen und uns zu erwecken. Deshalb enthielt der Ring Eures verstorbenen Vaters die Koordinaten des verlorenen Haden. Alles war sorgfältig arrangiert. Ihr wart nur das letzte Rädchen in einer großen Maschine.«

»Und welcher Art war diese Beziehung?« erkundigte sich Owen und beherrschte seinen Zorn. »Es muß eine Absprache gegeben haben. Wer hat wem was versprochen?«

»Wir wollten den Rebellen helfen, den Eisernen Thron zu stürzen und selbst die Macht zu ergreifen. Als Gegenleistung wurden den Hadenmännern eigene Planeten versprochen sowie ein Anteil der imperialen Bevölkerung. Eine Aushebung, ein Zehnter. Millionen Männer und Frauen, mit denen wir hätten tun dürfen, was nötig war.«

»Nein«, erwiderte Owen. »Nein! Mein Vater hätte nie in so etwas eingewilligt!«

»Bist du sicher?« fragte Hazel leise. »Giles hätte verdammt sicher keine Probleme damit gehabt. Und du hast immer gesagt, dein Vater hätte auch ein Abkommen mit dem Teufel getroffen, wenn das nötig geworden wäre, um ans Ziel zu kommen.«

»Das Ziel rechtfertigt die Mittel«, sagte Owen bitter. »Alles für das größere Wohl. Das noble Opfer, solange es nicht seines war. Scheiße dieser Art war der Grund, warum ich mit ihm gebrochen habe, mich geweigert habe, an seinen Intrigen mitzuwirken. Aber nie hätte ich vermutet, daß er an so etwas wie hier beteiligt war.«

»Es war ein gutes Abkommen, das beiden Seiten Gewinn gebracht hat«, warf Mond gelassen ein. »Und vollkommen logisch. Wir haben unseren Teil erfüllt, und das Imperium gehört Euch. Jetzt nehmen wir, was uns versprochen wurde. Angefangen mit Brahmin II

Owens Hand fiel auf die Waffe an seiner Seite, und Hazel packte seinen Arm mit festem Griff. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Noch nicht, »Was ist so besonders an dieser Welt?« fragte sie. »Ihr seid jetzt zum zweitenmal hier.«

»Man findet hier Vorkommen, die es sonst im ganzen Imperium nicht gibt«, erklärte Mond. »Für Menschen sind sie nutzlos, für die Technik der Hadenmänner jedoch unbezahlbar. Die einheimische Bevölkerung stellt einen nützlichen Bonus dar.

Brahmin II ist nur der Anfang. Wir werden von Planet zu Planet ziehen, uns jeweils nur einen vorknöpfen und uns der Bevölkerung und der Ressourcen bemächtigen. Die Menschen wandeln wir in Hadenmänner um, so daß unsere Zahl mit jedem Planeten wächst. Das Imperium wird lange brauchen, um die Gefahr zu erkennen. Es wird nicht eines einzelnen Planeten wegen Krieg mit uns anfangen, nicht in seiner jetzigen geschwächten Verfassung. Wenn die Menschen schließlich erkennen, wieviel wir uns angeeignet haben und wie viele von ihnen in Hadenmänner umgewandelt wurden, ist es längst zu spät. Der zweite Kreuzzug der Genetischen Kirche wird über die Menschheit hinwegfegen und die Gabe der Transformation bringen, und ehe Ihr Euch verseht, ist das Imperium eines der Hadenmänner.«

»Er bildet sich mächtig was ein, wie?« fragte Bonnie Chaos.

»Sag nur ein Wort, Owen, und ich knacke diese Blechbüchse und ziehe ihre Drähte heraus.«

»Richtig«, schlug Mitternachtsblau in dieselbe Kerbe und spannte die dunklen Muskeln. »Nur ein Wort, und ich reduziere diese Apparatur auf ihre Einzelteile.«

»Ein netter Gedanke, aber wartet vorläufig noch«, sagte Owen. »Ich muß noch weitere Dinge in Erfahrung bringen. Ob ich sie nun wirklich wissen möchte oder nicht.«

Mond führte sie auf eine Besichtigungstour durch das, was früher Brahmin City gewesen war. In den Gebäuden zeigte er ihnen Hadenmänner, die direkt in Systeme eingestöpselt waren und einen Teil des technischen Instrumentariums der Stadt bildeten. Einige Hadenmänner waren teilweise demontiert worden, um sie in die städtische Maschinerie einzubauen. Überall, wo die Gruppe hingeführt wurde, arbeiteten unbekannte Maschinen unaufhörlich an unbekannten Zwecken. Owen gewann zunehmend die Überzeugung, daß man die ganze Stadt in eine große Maschine umgewandelt hatte, auch wenn deren Zweck unklar blieb.

»Und wo sind die ganzen Leute?« fragte Hazel schließlich.

»Ich meine, die richtigen Menschen – die Bevölkerung von Brahmin und eure Gefangenen aus der Zeit der Rebellion. Was habt ihr mit ihnen gemacht?«

»Ja«, fiel Owen ein. »Es wird Zeit, daß Ihr es uns erzählt, Mond. In so kurzer Zeit hättet Ihr sie nicht alle in Hadenmänner umwandeln können.«

»Sie wurden nutzbar gemacht«, versetzte Mond ruhig. »Wir vergeuden nie etwas. Wir zeigen euch alles.«

Er führte sie in einen hohen Stahlturm ohne Fenster, und die Tür verriegelte sich hinter dem letzten Hadenmann, der sie begleitete. Die meisten waren draußen geblieben, aber zwanzig aufgerüstete Menschen blieben bei den Besuchern. Owen verriet nichts. Die Hadenmänner dachten vielleicht, daß zwanzig von ihnen reichten, um ihren Willen durchzusetzen, aber sie hatten noch nie Labyrinthkräfte im vollen Ausmaß tätig gesehen. Ihnen stand eine höllische Überraschung bevor.

Mond öffnete eine Tür, die genauso aussah wie alle anderen, und geleitete die Menschengruppe in ein Labor der Hadenmänner. Und dort fanden sie endlich heraus, was die Hadenmänner mit den gefangenen Menschen angestellt hatten. Owen rang um die Selbstbeherrschung. Sie warteten nur darauf, daß er die Beherrschung verlor. Er wollte jedoch sicher sein, daß es die eigene Entscheidung war, wenn er schließlich zurückschlug. Er spürte, wie Hazel neben ihm zitterte. Er wagte nicht, sich umzudrehen und nachzusehen, wie Bonnie und Mitternacht es aufnahmen.

In einem glänzenden, makellosen Raum, der sich unendlich auszudehnen schien, hatte man die Menschen von Brahmin II für Experimente nutzbar gemacht. Einige waren in laufende Maschinen eingestöpselt, um zu prüfen, ob sie funktionieren konnten wie Hadenmänner. Bündel von Kabeln und Schläuchen steckten in den Körpern, aber Blut war nirgendwo zu sehen. Es war komplett abgepumpt worden. Es waren mehr Menschen, als man zählen konnte, Männer und Frauen, die eigentlich hätten tot sein sollen, die man aber künstlich in einer Hölle am Leben hielt. Alle Opfer schienen sich ihrer Lage bewußt, aber keines wehrte sich oder protestierte.

»Warum schreien sie nicht?« fragte Hazel. »Verdammt, ich täte es!«

»Wir haben ihre Stimmbänder entfernt«, erklärte Mond. »Der Lärm hat uns abgelenkt.«

»Warum bewegen sie sich nicht?« fragte Owen, obwohl er die Antwort schon kannte.

»Bewegung war überflüssig und hätte womöglich die Tests gestört«, sagte Mond. »Also haben wir auch das Rückenmark durchtrennt.«

»Warum?« fragte Owen, ohne Mond anzublicken , die Stimme so kalt wie der Tod. »Wozu all dieses… Grauen?«

»Die Menschen haben sich verändert, seit wir zuletzt unter ihnen wandelten«, erklärte Mond ruhig. »Man findet Klone und Esper und angepaßte Menschen und sogar Wunderwirker wie Euch. Für uns ist entscheidend, die aktuelle Verfassung der Menschheit zu erforschen, ehe wir damit beginnen können, sie zu verbessern. Dieser ganze Turm ist nur ein großes Laboratorium, das dazu dient, die verborgene Wahrheit aufzudecken über das, was in unserer Abwesenheit aus der Menschheit geworden ist. Die Testpersonen werden auf ihre körperlichen und psychischen Grenzen hin geprüft, damit wir womöglich die uralte Frage beantworten können: Was ist dieses Wesen, das man Mensch nennt? Interessiert Ihr Euch für das, was wir bislang in Erfahrung gebracht haben? Unsere Testergebnisse haben sich als höchst erhellend erwiesen.«

Owen packte Mond am Arm und zwang ihn, sich umzudrehen, so daß sie einander von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden. »Seid Ihr stolz darauf, Mond? Auf das, was Ihr und Euresgleichen mit lebenden, empfindungsfähigen Wesen angestellt habt?«

Mond reagierte betroffen auf die Frage. »Es ist nötig! Leid ist vorübergehend, Wissen ist ewig. Und keine der Testpersonen wird vergeudet. Wer die Tests überlebt, wird in einen Hadenmann umgewandelt und nie wieder Leid erfahren. Wer stirbt, liefert Körperteile für das Wohl aller. Und alles, was wir hier herausfinden, wird ins große Kompendium des Wissens der Hadenmänner aufgenommen. Durch eigenes Bemühen entwickelt sich der Mensch zu mehr, als er vorher gewesen ist. Das ist das Glaubensbekenntnis der Hadenmänner.«

»Aber was empfindet Ihr bei all dem?« wollte Owen wissen.

»Über das Grauen, das die Testpersonen empfinden, das Ihr ihnen zufügt?«

»Früher einmal«, antwortete Mond langsam, »hatte diese Frage womöglich eine Bedeutung für mich. Aber ich wurde seitdem… verbessert.«

»Den Teufel wurdet Ihr!« entgegnete Owen.

»Nur um das richtig zu verstehen«, mischte sich Bonnie Chaos ein. »Mir ist dieser ganze Hadenmännerscheiß neu.

Wollt ihr die Menschheit verbessern, indem ihr alles wegschnippelt, was uns zu Menschen macht?«

»Ich dachte, daß zumindest Ihr es vielleicht begreift«, sagte Mond. »Ihr wart nicht zufrieden mit dem, was die Natur aus Euch gemacht hat. Ihr habt Löcher in Euer Fleisch geschnitten, um Platz für Metall zu schaffen. Ihr habt flüchtigen Schmerz für künftigen Gewinn ertragen.«

»Nur weil ich Spaß daran hatte, Metallkopf. Es war meine Entscheidung. Ihr habt diesen Leute jede Entscheidung geraubt. Das ist unmenschlich. Und damit ist sofort Schluß.«

Ihre Hand zuckte blitzschnell zur Pistole an der Hüfte, aber die Hadenmänner ringsherum reagierten schneller. Fäuste mit Stahlknöcheln schlugen sie im Gleichklang zu Boden. Mitternachtsblau trat einen Schritt vor, nur um wieder stehenzubleiben, als die Hadenmänner, die sie umgaben, bedrohlich auf sie eindrangen. Bonnie wehrte sich, aber ihrer Gegner waren zu viele, und sie hatte nicht genug Platz. Hazel sah Owen an, aber dieser stand einfach nur da und unternahm nichts, wobei er sich zugleich nicht gestattete, den Blick abzuwenden. Fäuste der Hadenmänner durchschlugen Bonnies leichenblasse Haut und rissen ihr den Piercing-Schmuck aus dem Fleisch. Das Blut spritzte kräftig, und der Ausdruck in Bonnies Augen verschwamm. Schließlich hörte sie auf zu strampeln und lag reglos da, und die Hadenmänner zogen sich von ihr zurück.

Mitternacht bedachte Owen mit einem finsteren Blick. »Du hättest das verhindern können!«

»Ja«, sagte Owen. »Wahrscheinlich. Aber sie mußte auf die harte Tour lernen, wozu die Hadenmänner fähig sind. Ich bin schließlich nicht immer da, um Bonnie zu beschützen. Außerdem heilt sie wieder. Das ist nun mal ihre Gabe.«

»Du kaltherziger Mistkerl!« meinte Mitternacht.

»Manchmal trifft das zu«, bestätigte Owen. »Ihr seid nicht der einzige, der in einem harten Krieg harte Lektionen gelernt hat.«

Er trat vor und kniete neben Bonnie Chaos nieder. Ihr Gesicht war geschwollen und blutig und ein Auge komplett zu.

Sie atmete raspelnd, und der Mund stand offen und verriet, daß einige der vorderen Zähne fehlten. »Wie fühlt Ihr Euch?« fragte Owen sanft.

»Phantastisch«, antwortete Bonnie und bemühte sich, den Atem wieder zu beruhigen. »Gib mir eine Minute, und ich bin wieder auf den Beinen und verpasse den Mistkerlen eine Abreibung.«

»Nein, das werdet ihr nicht«, erwiderte Owen. »Das war deren Vorstellung von einer Warnung. Nächstes Mal bringen sie Euch einfach um. Auf diese Weise können wir sie nicht besiegen. Wir müssen mit Köpfchen einen Ausweg finden. Werdet Ihr jetzt bitte die Nummer der Soloheldin vergessen und Euch meiner Führung anvertrauen?«

Bonnie überlegte. »Wie viele Metallköpfe habe ich ausgeschaltet?«

»Weniger als einen.«

»Ich vertraue mich deiner Führung an.« Sie setzte sich auf und konzentrierte sich. Die Schwellungen im Gesicht gingen zurück, und das zugeschwollene Auge heilte in Sekunden.

Neue Zähne schoben sich aus dem verletzten Zahnfleisch.

Bonnie streckte sich locker wie eine Katze und stand geschmeidig auf, wobei sie breit grinste.

»O Mann, was für ein Rausch!« Sie funkelte die Hadenmänner an. »Nächstes Mal plane ich besser voraus.«

»Nächstes Mal«, entgegnete Mond, »finden wir für Euch einen Platz in unseren Labors. Wir haben Euch nur am Leben gelassen, um dem Erlöser einen Gefallen zu tun.«

»Ja«, warf Mitternacht kalt ein, »ich kann sehen, daß eine echt enge Beziehung zwischen dir und ihm besteht.«

Owen musterte sie. »Ihr seid angeblich Kriegerin. Erkennt Ihr nicht die Sinnlosigkeit eines Kampfes gegen überwältigende Chancen?«

»Wir haben das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten!« entgegnete Mitternacht. »Nichts kann uns aufhalten!«

»Du hast dich noch nie Hadenmännern entgegenstellen müssen«, warf Hazel ein. »Falls du lebend aus dieser Sache herauskommen möchtest, höre auf Owen. Er weiß, was er tut.«

Mitternacht funkelte erst Hazel an, dann Owen, und wandte sich schließlich Bonnie zu, um ihr den Arm zu reichen, worauf Bonnie jedoch gar nicht angewiesen war. Hazel trat dicht an Owen heran.

»Sag mir, das das alles zu einem schlauen Plan gehört!« sagte sie leise.

»Es gehört alles zu einem schlauen Plan«, antwortete Owen.

»Jetzt versuch es noch mal in einem Ton, als ob du es ernst meinen würdest.«

»Zur Zeit versuche ich einfach, unser aller Leben zu retten«, sagte Owen leise. »Unsere Chancen hier gefallen mir wirklich nicht. Vielleicht würden wir es schaffen, vielleicht nicht. Ich möchte aber nicht auf die harte Tour herausfinden, daß die zweite Möglichkeit zutrifft.«

Hazel sah sich kurz um und zuckte unbehaglich die Achseln.

»Ich denke weiterhin, daß wir ihnen die Metallärsche versohlen könnten, wenn es sein muß, aber ich bin auch entschieden dafür, zuerst jede andere Option auszuprobieren. Setze Mond weiter unter Druck; ich denke, du dringst allmählich zu ihm durch. Seine letzten Antworten klangen beinahe menschlich.

Bleib kühl, Owen. Halte dich senkrecht. Ich kann sehen, wie hart das alles für dich ist.«

»Ist das so offenkundig? Wie sehr ich mir wünschte, hier alles niederreißen zu können? Was hier geschieht, ist abscheulich, unmenschlich, absolut böse. Es gleicht allem, wogegen wir im Imperium gekämpft haben. Aber entscheidend ist, daß wir lebendig hier herauskommen. Wenigstens einer von uns muß entkommen, um die Menschheit zu warnen.«

»Verstanden«, sagte Hazel. »Und nein, es ist nicht offenkundig. Die anderen kennen dich aber auch nicht so gut wie ich. Es erinnert dich an das Haus der Gebeine, nicht wahr? An das, was deinem Volk auf Virimonde widerfahren ist.«

»Ja. Nur ist das hier anders. Die meisten dieser armen Schweine leben noch, wenn auch in der Hölle. Also muß ich einen Plan entwickeln, der nicht nur die Hadenmänner beseitigt, sondern außerdem die Gefangenen befreit. Und da Pläne nicht unbedingt meine starke Seite sind…«

»Dir wird schon was einfallen, Gelehrter. Sag mir nur Bescheid, wann ich anfangen kann, um mich zu schießen. Was eindeutig meine starke Seite ist.«

Owens Mund zuckte zum erstenmal in dieser Situation und zeigte die Andeutung eines Lächelns. »Ihr und Eure beiden anderen Versionen. Ich schätze, manches ändert sich nie.«

»Du hättest doch nicht zugelassen, daß sie Bonnie umbringen, oder?«

»Natürlich nicht. Ich konnte aber auch nicht zusehen, wie sie uns alle zu diesem Zeitpunkt auf einen Kampf festlegte. Mond und seine Leute warteten nur auf eine Gelegenheit, uns zu zeigen, wer hier wirklich das Kommando führt. Hoffentlich sind sie jetzt uns gegenüber etwas nachlässiger.«

»Und wie sieht der Plan jetzt aus?«

»Unsere Augen und Ohren offenhalten und auf eine Chance warten. Wir müssen immer noch so viel wie möglich über das erfahren, was die Hadenmänner hier vorhaben.«

»Sie sind ein Haufen böser, sadistischer Mistkerle. Was müssen wir noch erfahren?«

»Wie weit sie damit sind, die nächste Generation von Hadenmännern zu entwickeln. Wir müssen genau wissen, wozu die neuen Modelle fähig sind, wie viele sie hier auf Brahmin haben und wie viele weitere sich noch in anderen Stützpunkten, auf anderen Welten versteckt halten. Diese Dinge zu erfahren und ans Imperium zu übermitteln, das ist wichtiger als unser Verlangen nach Rache.«

Hazel musterte ihn unverwandt. »Und wichtiger als unser Leben?«

»Vielleicht. In vieler Hinsicht ist das, was hier geschieht, meine Schuld. Und die meiner Familie. Es ist meine Pflicht, alles zu tun, was in meiner Macht steht, um dem Einhalt zu gebieten.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Hazel. »Sobald wir alles erfahren haben, was wir wissen müssen, wird dieser ganze Drecksladen geschlossen. Was es auch kostet.«

»Vergeßt die Geiseln nicht!« mahnte Owen sie. »Wir dürfen sie nicht einfach im Stich lassen.«

Hazel sah sich im Labor um. »Nach allem, was sie durchgemacht haben, ist der Tod vielleicht der einzige Freundschaftsdienst, den wir ihnen leisten können.«

»Womöglich. Aber wir müssen es versuchen. Es ist unter dem Gesichtspunkt der Menschlichkeit zwingend.«

»Interessant«, sagte Mond plötzlich. »Ihr unterhaltet Euch seit einiger Zeit angeregt, aber ich habe kein Wort verstanden.

Nicht mal mit dem verstärkten Gehör. Und Ihr habt auch Eure Komm-Implantate nicht benutzt, die ich abgehört hätte. Hat das Labyrinth Euch zu Telepathen oder dergleichen gemacht?«

»Zu dergleichen«, antwortete Owen. »Ganz eindeutig zu dergleichen. Wir alle, die das Labyrinth durchschritten haben, sind geistig verbunden, stehen uns nahe. Wärt Ihr bei uns geblieben, gälte das auch für Euch. Jetzt verschwindet.«

Mond nickte. »Seid so frei, nach Belieben Drohungen oder Widerstandserklärungen abzugeben, falls Ihr das im Interesse Eures Seelenfriedens nötig findet.«

»Ihr habt mich verraten. Ihr alle. Ich habe Euch nicht aus der Gruft freigelassen, um so etwas zu tun wie hier.«

»Eure Gründe für die Öffnung der Gruft sind irrelevant«, versetzte Mond ruhig. »Ihre Freiheit war unvermeidlich. Hättet Ihr es nicht getan, dann irgendein anderes Familienmitglied.

Vielleicht David.«

»Interessant«, fand Hazel. »Du sagst inzwischen ›ihre‹ anstatt ›unsere‹. Bist du womöglich nicht ganz mit dem einverstanden, was hier passiert?«

»Ich glaube, daß hier ein Ausdruck der Menschen, nach Strohhalmen greifen, anwendbar ist«, erwiderte Mond. »Folgt mir.«

»Natürlich«, sagte Owen. »Stets offenbart die Hölle, daß sie noch weitere Kreise zieht, nicht wahr?«

Sie stiegen ins nächste Stockwerk hinauf und erreichten ein weiteres Labor. Es war still wie in einem Grab. Endlose Reihen von Männern und Frauen saßen reglos in winzigen Kabinen, die Augen geschlossen, die Gesichter völlig unbewegt. Die Köpfe standen per Metallkabeln mit unsichtbaren Apparaten in Verbindung. Nach dem Grauen des vorherigen Labors wirkte das neue beinahe friedlich, Owen traute dem Braten von Anfang an nicht. Er sah Mond an.

»Wir testen hier nach Esper-Kräften«, erklärte Mond. »Das Phänomen war zur Zeit des ersten Kreuzzugs praktisch unbekannt, hat sich aber inzwischen über die ganze Menschheit ausgebreitet. ESP fasziniert die Hadenmänner; es bietet eine Form von Macht und Kontrolle, die nicht auf Technik beruht, sondern aus unbekannten Tiefen nicht aufgerüsteter Gehirne stammt. Die Hadenmänner wünschen das für sich selbst. ESP hat keine erkennbare Energiequelle und erreicht doch Dinge, die keinem Hadenmann möglich sind, nicht einmal mit seinem riesigen Wissen über Technologie.«

»Ihr foltert sie, bis sie sterben«, sagte Bonnie. »Mistkerle!«

Mitternacht funkelte Owen an, schwieg jedoch.

»Ihr seid auch damit nicht einverstanden, nicht wahr, Mond?« fragte Owen.

»Meine Zustimmung ist irrelevant«, sagte Mond. »Die Hadenmänner tun alles, was im Rahmen ihrer Bestimmung erforderlich ist. Keine individuelle Überzeugung darf sich darin einmischen.«

»Du wirst schwächer, Mond«, sagte Hazel. »Ich warte jeden Augenblick darauf, daß du dich vergißt und es riskierst, eine eigene Meinung zu äußern.«

»Was immer ich gewesen sein mag, ich bin jetzt ein voll funktionsfähiger Hadenmann«, erwiderte Mond. »Der Tobias Mond, den Ihr kanntet, ist tot. Kommt jetzt; es gibt noch viel für Euch zu sehen.«

»Ich denke nicht«, erwiderte Owen. »Ich bin viel mehr daran interessiert, mich mit Euch zu unterhalten. Versuchen wir es doch mal mit ein paar klaren Fragen und Antworten, was?«

»Falls Ihr wünscht. Ihr seid der Erlöser. Wir werden nichts vor Euch verbergen.«

»Und höre mit dieser Erlöserscheiße auf. Ich bin ein Todtsteltzer, und das war schon immer ein anderes Wort für Ehre, ungeachtet dessen, was manche aus unserer Familie vielleicht getan haben, um mit Euch zusammenzuarbeiten und die Ehre damit in den Schmutz zu ziehen. Ich möchte Antworten hören, und Ihr werdet sie mir geben. Was geschieht in den übrigen Labors?«

»Wir untersuchen aktuelle Technik und extrapolieren auf dieser Grundlage«, erklärte Mond, weniger erregt jetzt, wo er sich auf festerem Grund bewegte. »Die Wissenschaft hat sich in unserer Abwesenheit weiterentwickelt. Obwohl wir auf den meisten Gebieten nach wie vor voll auf dem laufenden sind, bleibt trotzdem noch viel zu lernen. Das Klonen ist neu für uns.

Sobald wir das beherrschen, können wir die Bevölkerung dieses Planeten mehrfach neu klonen, um Ausgangsmaterial für neue Hadenmänner bereitzustellen. Sie werden die nächste Generation der Hadenmänner, größer als ihre Vorgänger: Unbesiegbar in der Schlacht, genetisch überlegen. Dadurch ist ihr Triumph unausweichlich. Der Zweite Kreuzzug wird die gesamte Menschheit transformieren und ein Imperium der Hadenmänner schaffen, stark, effizient, unüberwindlich. Das ist unumgänglich. Wir haben viele Feinde. Die KIs von Shub haben alle Angebote der Zusammenarbeit oder eines Bündnisses ausgeschlagen. Sie sagen, sie brauchten die Hadenmänner nicht. Wir wären nur Fleisch, das an Einbildungen von Größe litte. Shub bleibt damit ein Feind und eine Gefahr. Und dann sind da noch die Fremdwesen. Unbekannt. Mächtig. Gefährlich. Die Menschheit muß sich höherentwickeln, falls sie diese Gefahren überleben soll.«

»Verdammt!« sagte Mitternachtsblau. »Sobald er erst mal losgelegt hat, kann ihn nichts mehr aufhalten, was?«

»Gib mir zehn Minuten mit ihm allein, und ich halte ihn auf!« knurrte Bonnie. Alle ihre Verletzungen waren verheilt, und ihre finstere Miene konnte wahrhaftig beeindrucken.

»Wieviel von diesem Scheiß müssen wir uns noch anhören, Owen? Mein Owen hätte längst…«

»Euer Owen ist nicht hier!« raunzte Owen. »Und selbst wenn er es wäre, hätte er wahrscheinlich nicht mehr gegen die Hadenmänner ausrichten können als Ihr. Seid jetzt still. Ich weiß, was ich tue.« Er wandte sich wieder an Mond. »Sehr nette Ansprache, Mond. Ich bin sicher, Ihr habt sie Eurer Programmierung gemäß abgespult. Aber Ihr müßt doch erkennen, wie unlogisch Eure Position ist. Ihr habt keine Hoffnung auf den Sieg.

Ihr habt einen Planeten und eine Handvoll Schiffe, und Ihr habt bereits eingeräumt, Jahre hinter der technischen Entwicklung aller anderen herzuhinken. Ihr seid in der Minderheit, technisch unterlegen und Gegenstand des Hasses aller. Ihr könnt nicht gewinnen.«

»Das Imperium ist schwach und gespalten«, sagte Mond.

»Dafür habt Ihr selbst gesorgt. Unsere goldenen Schiffe haben während der Rebellion die imperiale Flotte dezimiert. Eure restlichen Armeen sind erschöpft und an zu vielen Fronten verteilt. Welch besseren Zeitpunkt könnte es für einen Angriff geben? Besonders, da wir jetzt über neue, weniger leicht erkennbare Waffen verfügen. Wir haben die einzigen existierenden Überreste der angepaßten Menschen, der Wampyre, in der Hand. Obwohl es sinnlos wäre, etwas neu zu schaffen, was im wesentlichen nur eine schlechtere Ausgabe unserer selbst war, haben wir die Überreste nutzbar gemacht, um mit ihrer Hilfe einen unerschöpflichen Vorrat an der Droge Blut zu erzeugen.

Längst versorgen wir über eine Reihe von Zwischenhändlern das Imperium mit dieser Droge. Überall findet man Abhängige, die ihren nächsten Schuß nur von uns erhalten können. Die lieber alles tun, was wir von ihnen verlangen, als zu riskieren, daß wir sie von der Versorgung abschneiden. Einige von ihnen haben sehr hohe Positionen inne. Ihr kennt sie beim Namen.

Sie sind unsere fünfte Kolonne, unsere geheime Armee, unsere Verräter im Herzen Eurer Regierung, die Chaos und Konfusion sähen, wie es uns paßt. Genau wie Ihr, Hazel, als ich Euch auf dem verlorenen Haden mit Blut versorgt habe.«

»Ich habe meine Art nie verraten!« entgegnete Hazel.

»Aber Ihr hättet es getan, falls wir es verlangt hätten«, behauptete Mond. »Nicht wahr?«

Hazel funkelte ihn hitzig an, wandte dann aber den Blick ab.

Owen legte ihr tröstend die Hand auf den Arm. Mond wandte sich wieder Owen zu. »Seht Ihr, Todtsteltzer? Auch Antworten helfen Euch nicht. Die Wahrheit bringt keinen Trost. Die Menschheit gehört der Vergangenheit an. Die Hadenmänner sind die Zukunft. Sie haben Euch Erlöser genannt. Sprecht für sie. Seid Ihr Fürsprecher gegenüber dem Imperium. Überzeugt das Imperium davon, sich der Zukunft zu verpflichten und sie nicht zu fürchten. Das Imperium kann wieder erstarken, um sich seinen zahlreichen Feinden entgegenzustellen. Die Menschheit muß sich uns im Interesse einer größeren Sache ergeben. Man kann der Evolution nicht trotzen. Sprecht für uns, Todtsteltzer! Seid der Herold einer Zukunft, die das Schicksal seit jeher geplant hat.«

»Nein«, erwiderte Owen. »Ihr seid nicht die Bestimmung der Menschheit. Ihr seid ein Fehler, ein Ableger, ein Weg, der niemals hätte eingeschlagen werden dürfen. Die menschliche Natur liegt im Herzen, in der Seele all der Unwägbarkeiten, die durch Tech nie auszuloten sind. Ihr seid nicht besser als Shub.

Ich werde Euch niemals dienen. Nie.«

»Ihr werdet«, beharrte Mond. »Ihr habt keine Wahl. Ihr und Eure Gefährten seid unsere Gefangenen, wie es von vornherein geplant war. Die Hadenmänner benötigen die Geheimnisse in Euch, die Macht, die Ihr aus dem Labyrinth des Wahnsinns erlangt habt. Unsere Wissenschaftler auf Haden versuchen schon, das Labyrinth nachzubauen, bislang jedoch ohne Erfolg.

Das einzige Wesen, das uns vielleicht etwas hätte erklären können, bleibt unauffindbar: der Wolfling. Damit seid Ihr und Eure Gefährten unsere einzige Hoffnung, verstehen zu lernen, was das Labyrinth tat und wie es das tat. Nur deshalb haben wir Euch gestattet, die Stadt zu betreten. Wir haben Euch hierher in die Betriebszentrale gebracht, um Euch mit möglichst geringem Aufwand gefangenzunehmen. Es hat keinen Sinn zu kämpfen, Owen. Ihr seid von Hunderten Hadenmännern umringt, und wir konnten bereits feststellen, daß selbst Eure Wunderkräfte Grenzen haben.«

»Sei dir dessen nur nicht zu sicher!« warnte Hazel. »Du wärst überrascht von dem, was wir alles fertigbringen, wenn wir müssen.«

»Genau das möchten wir von Euch«, sagte Mond, unbewegt von ihrem drohenden Tonfall. »Eure Fähigkeiten sind eine Quelle der Faszination für uns. Das Labyrinth hat die ersten Hadenmänner erzeugt, aber wir hatten keine Ahnung, daß es auch Wunderwirker hervorbringen konnte. Es liegt im Wesen der Hadenmänner, nach Vollkommenheit zu streben, und es ist inakzeptabel, daß Ihr über Kräfte verfügt, die uns verschlossen bleiben sollten. Also werden wir Euch erforschen, die Quelle Eurer Wunderkräfte bestimmen und sie uns aneignen. Wir errichten ein neues Labyrinth des Wahnsinns, und alle Hadenmänner werden es durchschreiten. Dann soll die Menschheit zittern, denn von jenem Augenblick an sind ihre Tage gezählt!

Und all das Euretwegen, Owen Todtsteltzer.«

»Ihr sagt, Ihr wolltet uns erforschen«, sagte Owen. »Würde es Euch etwas ausmachen, ein wenig deutlicher zu werden?«

»Wir werden Euch untersuchen, prüfen und schließlich sezieren«, erklärte Mond. »Dabei werden wir alle Eure Geheimnisse und Grenzen in Erfahrung bringen und Euch schließlich auf Eure kleinsten Bestandteile reduzieren. Nichts wird uns entgehen. Nichts bleibt ungetan.«

»Ihr greift den Dingen voraus«, erläuterte ihm Owen. »Ihr müßt uns zunächst in die Gewalt bekommen. Und Ihr habt noch nie erlebt, was wir leisten, wenn es zum Kampf kommt.«

»Ein Kampf wird nicht stattfinden«, sagte Mond. »Ihr werdet jeder Anweisung Folge leisten, Owen. Euch sogar gegen Eure Freunde wenden, falls wir es für nötig befinden. Ihr gehört uns.«

»Wovon zum Teufel redet er da, Owen?« murmelte Hazel.

»Ich gehöre niemandem«, sagte Owen.

»Ihr habt Euch uns übergeben«, behauptete Mond seelenruhig. »Als Ihr unsere goldene Hand akzeptiertet.«

Owen blickte auf seine Linke hinab. Die künstliche Hand.

Die ursprüngliche hatte er beim Kampf gegen das Grendel-Fremdwesen auf Haden verloren. Um sein Leben zu retten, hatten die Hadenmänner ihm eine künstliche Version aufgepfropft. Ein wundersames Ding aus purem Gold, das jedem seiner Gedanken gehorchte. Und wenn es sich manchmal kalt anfühlte, so, als gehörte es nicht ganz zu ihm, dann war das ein kleiner Preis für ein solches technisches Wunder. Er hob die Hand vors Gesicht und beugte die Finger. Fast ein Kunstwerk.

Er senkte die Hand wieder und sah Mond an. »Traut niemals dem Geschenk eines Fremden. Was habt Ihr mit mir gemacht, Ihr Mistkerle?«

»Euch an uns gebunden. Die Hand hat goldene Fäden durch Euren ganzen Körper gezogen, jeden Teil von Euch infiltriert, einschließlich Eures Hirns. Wir steuern Euch jetzt von innen heraus. Ihr gehört uns, Owen. Tatsächlich habt Ihr das schon immer getan.«

»Mein Gehirn?« fragte Owen. »Ihr habt mit Euren Metallfingern an mein Hirn gerührt? Euch in meine Gedanken eingemischt, meine Entscheidungen beeinflußt? Wozu habt Ihr mich gezwungen? Wieviel von dem, was ich heute bin, geht auf Euch zurück?«

»Ihr werdet es nie erfahren«, antwortete Mond.

Es schien Owen, als fühlte sich die künstliche Hand ganz kalt an. Er ballte sie zur Faust, probierte, ob nicht ein Gefühl des Widerstands auftrat. Er funkelte Mond an. »Ihr habt gesagt, ich wäre Euer Erlöser. Als ich Euch aus der Gruft freiließ, habt ihr geschworen, mir Gefolgschaft zu leisten.«

»Und wir hielten uns daran. Solange es unseren Absichten diente. Wir sind die Hadenmänner. Wir sind die Bestimmung der Menschheit. Nichts darf uns im Weg stehen.«

»Seid verdammt, Mond!« flüsterte Owen. »Was habt Ihr mir angetan?«

»Es tut mir leid, Owen«, sagte Mond. »Ich habe auch hierin keine andere Wahl.«

Owen griff mit der Menschenhand nach seiner Pistole, und ein plötzlicher Krampf erschütterte alle seine Muskeln. Er schrie vor Schmerz auf, und die Agonie brannte in ihm wie eine goldene, verzehrende Flamme. Er stürzte zu Boden und lag zuckend da, die Zähne von einem Krampf des Mundes freigelegt. Hazel wollte ihm helfen, und sofort packten sie ein halbes Dutzend Hadenmänner. Andere ergriffen Bonnie Chaos und Mitternachtsblau und hielten sie fest. Owen schrie erneut vor Schmerz und Entsetzen auf über den Verrat des eigenen Körpers, bis er schließlich verstummte. Befehle von außen liefen durch sein Gehirn, und er kam elegant auf die Beine, ein Gefangener im eigenen Kopf. Er spürte, wie sich die goldenen Fäden in ihm regten, wie sie sich durch den ganzen Körper schlängelten, parasitischen Metallwürmern gleich. Er konnte nicht mal den Kopf oder die Augen drehen, um zu sehen, was mit Hazel passierte, bis die Hadenmänner es für ihn taten.

Hazel wehrte sich gegen den Griff der Hadenmänner, und es fiel ihnen verdammt schwer, sie festzuhalten. Tobias Mond trat ohne Eile vor sie, wobei er irgend etwas in der Hand hielt.

Owen erkannte es und versuchte verzweifelt, eine Warnung zu brüllen, aber die Stimme gehorchte ihm nicht mehr. Hazel war so sehr darin vertieft, sich freizukämpfen, daß sie Mond nicht sah, bis es zu spät war. Er gab den anderen Aufgerüsteten einen Wink, und unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihnen, Hazel auf die Knie zu drücken und für einen Moment in dieser Stellung festzuhalten lange genug für Mond, um ihr sein Hypospray an den Hals zu setzen und ihr eine massive Dosis Blut zu verabreichen. Sie schrie vor Schreck und Entsetzen auf, und Tränen liefen ihr übers Gesicht, als die alte, kalte Segnung von Blut erneut durch ihren Kreislauf strömte. Und alles, was Owen tun konnte, war zuzusehen.

Mond trat zurück und und gab den anderen Hadenmännern mit einem Wink zu verstehen, daß sie Hazel loslassen sollten.

»Die aufgezwungene Blut-Sucht wird sie für den Rest ihres Lebens beherrschen. Sie wird nicht gegen uns kämpfen. Sie wird nicht einmal den Wunsch hegen, es zu tun.« Er sah das leere Hypospray in seiner Hand an und ließ es fallen, als wäre es ihm peinlich. Er sah Owen an, der nach wie vor erstarrt dastand. »Wir tun… was nötig ist, Owen. Das ist die Art der Hadenmänner.« Er drehte sich wieder um und musterte Bonnie und Mitternacht. »Ihr seid neue Faktoren in der Gleichung.

Eure Anwesenheit kommt unerwartet. Bleibt ruhig, und Euch wird kein Leid zugefügt, während die Ereignisse ihrem unvermeidlichen Ziel zustreben.«

»Glaubt… ihm nicht«, sagte Hazel, die noch auf den Knien lag, und aller Augen wandten sich wieder ihr zu. Ihr Gesicht war bleich und abgespannt und tropfte vor Schweiß, und plötzliche Schauder schüttelten sie, Die Linien des Mundes wirkten jedoch fest, und ihr Blick war stetig und schleuderte Mond Trotz entgegen. »Du hast einen Fehler gemacht, Hadenmann!

Blut ist ein alter Hut für mich. Ich habe es früher besiegt, und ich werde es erneut besiegen. Sieh nur!«

Schwarzes Blut schoß ihr plötzlich aus der Nase und lief ihr über Mund und Kinn. Noch mehr davon quoll ihr unter den Augenlidern hervor und tropfte ihr langsam über die Wangen.

Sie öffnete den Mund, und Blut schoß in einem ruckartigen Strom hervor, während sie die Droge mit schierer Willenskraft aus dem Körper entfernte. Schwarze Tropfen perlten auf der Haut, sickerten aus jeder Pore. Die Droge bildete vor ihr eine Pfütze auf dem Boden und durchnäßte ihre Kleidung, bis der Strom schließlich stoppte, so plötzlich, wie er begonnen hatte.

Hazel stand auf, und der letzte Rest Blut tropfte von ihr ab. Sie lächelte Mond an, und jeder andere wäre gleich mehrere Schritte zurückgewichen.

»Du hast es verpfuscht, Hadenmann! Ich bin nicht mehr die Hazel, die du kanntest. Das Labyrinth hat mich auf eine Art und Weise verändert, die du dir nicht mal vorstellen kannst.

Gib jetzt Owen frei, oder ihr seid alle tot. Ihr habt vielleicht eine Armee, aber ich kann eine Armee sein, wenn ich muß.«

»Das haben wir gehört«, sagte Mond. »Das ist einer der Gründe, warum wir Euch haben müssen. Aber wir kämpfen nicht gegen Euch. Owen wird es für uns tun, nicht wahr, Owen?«

Und Owens Hand zog das Schwert aus der Scheide und hielt es ruhig, während sich sein Körper zu Hazel umwandte. Sie wollte schon nach dem eigenen Schwert greifen, riß sich aber zusammen. Sie blickte ihn offen an, den Blick fest in seinen geheftet.

»Tu das nicht, Owen. Kämpfe dagegen an! Du kannst das besiegen, was sie mit dir gemacht haben, wie ich es mit dem Blut geschafft habe. Wir haben das Labyrinth durchschritten. Niemand kann uns mehr herumkommandieren. Owen, halte ein!

Bitte. Zwinge mich nicht, gegen dich zu kämpfen.«

Er steckte jedoch hilflos im Griff der goldenen Fäden, war ein Gefangener im eigenen Kopf. Er kämpfte darum, wenigstens die allerkleinste Bewegung aus eigener Kraft zu schaffen, aber es gelang ihm nicht. Seine hilflosen Protestschreie drangen nicht nach außen. Er trat gewandt vor und stieß mit dem Schwert nach Hazels ungeschützter Brust. Es war ein mörderischer Angriff, mit unmenschlicher Geschwindigkeit vorgetragen, und hätte jedem anderen Gegner das Leben gekostet. Aber Hazel D’Ark war schon eine verdammt gute Kämpferin gewesen, ehe sie das Labyrinth des Wahnsinns durchschritt, und ihre Reflexe waren den seinen in jeder Beziehung gewachsen. Sie fand mühelos genügend Zeit, das Schwert zu ziehen und Owens Angriff abzublocken. Sie umkreisten einander langsam, und die Schwerter zuckten hin und wieder vor, um die Abwehr des Gegenübers auf die Probe zu stellen. Mond gab den anderen Hadenmännern mit einem Wink zu verstehen, daß sie sich heraushalten sollten. Das Experiment mußte seinen Lauf nehmen. Und weiterhin umkreisten Owen und Hazel einander und lauerten auf Lücken in der Abwehr. Die Technik der goldenen Hand hatte umfassenden Zugriff auf Owens kämpferische Fähigkeiten und Kenntnisse und wandte nun all das für einen erbarmungslosen Angriff auf. Beide waren sie unglaublich stark und schnell, Kämpfer, die in der Schule harter Schläge ausgebildet worden waren und ihren letzten Schliff durch die Rebellion erhalten hatten. Niemand sonst hätte in diesem Duell länger als ein paar Augenblicke überlebt. Aber Owen und Hazel kämpften weiter, stampften, machten Ausfälle, nahmen zurück, während Stahl auf Stahl klirrte.

Owen zog weiter an. Hazel folgte seinem Beispiel, und beider Schnelligkeit und Kraft erreichten übermenschliches Niveau. Schläge und Paraden wurden in Sekundenbruchteilen gewechselt, und Arme und Schwerter bewegten sich zu rasch, als daß menschliche Augen ihnen noch hätten folgen können.

Beide Gegner funktionierten nur noch auf der Grundlage von Fertigkeit und Instinkt, waren gezwungen, bis an die Grenze ihrer Schwertkunst zu gehen, um dem anderen standzuhalten.

Die Hadenmänner sahen fasziniert zu, wie ihre beiden Opfer auf einer Ebene fochten, die nicht mal sie hoffen konnten zu erreichen. Letzten Endes kämpfte Owen jedoch, um zu töten, während Hazel das nicht tat. Er nutzte das zu seinem Vorteil, öffnete sich mörderischen Schlägen, von denen die Technik seiner goldenen Hand wußte, daß Hazel sie nicht ausnutzen würde. Und Schritt für Schritt wurde Hazel zurückgetrieben.

Den ersten Schnitt mußte sie oben an der Stirn hinnehmen, so daß ihr Blut ins linke Auge rieselte. Sie schüttelte gereizt den Kopf und sah, wie Tropfen ihres Bluts durch die Luft flogen.

Weitere Schnitte folgten hier und dort, und echtes Blut floß an Stellen, wo vorher die schwarze Droge ihren Lauf genommen hatte. Keine der Verletzungen war auch nur annähernd gefährlich, aber sie waren klare Zeichen, daß Hazel auf der Verliererstraße marschierte. Sie zweifelte nicht daran, daß die Hadenmänner Owen zwingen würden, sie zu töten, falls das nötig werden sollte. Eine nicht beherrschbare Versuchsperson nutzte ihnen nichts. Sie konnten dann immer noch ihre Leiche sezieren, und es blieben ihnen drei lebende Exemplare für Experimente. Hazel konnte nicht defensiv weiterkämpfen und gleichzeitig hoffen, daß sie überlebte. Aber sie konnte auch nicht Owen töten. Nicht Owen. Sie tat das einzige, was ihr übrig blieb, löste sich aus dem Kampf, trat zurück und senkte das Schwert.

»Es liegt an dir, Owen. Tue, was du tun mußt.«

Owen zog das eigene Schwert zurück, das Gesicht eine ausdruckslose Maske. Hazel spannte sich an. Und Owen schrie.

Der Laut platzte förmlich aus ihm heraus, ein Laut voller Schmerz und Grauen und Wut. Owen fiel vor Hazel auf die Knie, wobei er heftig zitterte, die Augen starr und weit aufgerissen. Hazel kniete sich ebenfalls hin, hielt seinen Blick fest, versuchte seinen Willen mit ihrer Präsenz zu stärken. Und Owen hob langsam das Schwert und hieb mit aller Kraft nach dem eigenen linken Handgelenk.

Das Blut spritzte in einem dicken Strahl hervor. Owen schrie erneut auf, diesmal mit ebensoviel Triumph wie Schmerz. Er drückte den linken Arm flach auf den Stahlboden, ignorierte die Zuckungen der goldenen Finger, schnitt glatt durch das Handgelenk und ein Stück in den Boden hinein. Die abgetrennte Hand rutschte weg. Die glänzenden Finger beugten und streckten sich weiter vergebens wie die Gliedmaßen einer großen goldenen Spinne. Owen schüttelte sich vor Schmerz und Schock und knirschte mit den Zähnen, während er ein Grinsen zeigte wie ein Totenschädel. Er wußte, daß der Kampf noch nicht vorbei war.

Er tastete mit den Gedanken nach innen und konzentrierte sich auf die goldenen Fäden, mit denen er immer noch infiziert war. Er spürte sie, wie sie ihm weiterhin die Steuerung des eigenen Körpers zu verwehren trachteten. Er packte sie kräftig mit der Willenskraft und zwängte sie hinaus. Und einer nach dem anderen platzten goldene, sich schlängelnde Stränge aus dem blutigen Armstumpf hervor und fielen nutzlos zu Boden.

Owen lachte heiser, ein schrecklicher Laut voller Agonie und Siegesfreude. Endlich hatte er den letzten Faden hinausgedrückt, ließ das Schwert fallen und packte das linke Handgelenk mit der Rechten. Er drückte fest zu, wie er es schon einmal auf Haden hatte tun müssen, und das hervorschießende Blut schwächte sich zu einem Rinnsal ab. Owen konzentrierte sich angestrengt, bot alle Willenskraft auf, schickte sie in den Armstumpf und grinste triumphierend, als ihm eine neue linke Hand wuchs.

Er setzte sich auf den Boden und zitterte noch vor lauter Anstrengung. Er hielt die neue Hand hoch. Sie sah bis ins letzte Detail wie eine ganz normale Menschenhand aus und fühlte sich warm und lebendig und ihm zugehörig an, wie es die goldene Hand nie getan hatte. Er beugte die Finger, bewunderte ihre Geschmeidigkeit. Und dann sah er Hazel an, die ihm gegenüber kniete und den Mund aufsperrte. Er lächelte sie entspannt an.

»Ihr hattet recht wie immer, Hazel. Nicht zum ersten Mal schulde ich Euch Leben und Freiheit.«

»Ich habe schon miterlebt, wie du erstaunliche Sachen angestellt hast, Owen, aber das war bislang das beste. Ich bin wirklich beeindruckt.«

»Wir können uns später noch gegenseitig beeindrucken«, sagte Owen. »Wir müssen uns erst noch einen Fluchtweg freikämpfen.«

Hazel lächelte. »Nachdem, was wir gerade durchgestanden habe, dürfte das die leichtere Übung werden.«

Sie rappelten sich auf und stellten sich Seite an Seite Mond entgegen, Pistolen und Schwerter gezückt. Der Hadenmann schien für einen Moment sowohl um Wort als auch Tat verlegen. »Hazel hatte recht«, sagte er schließlich. »Das war wirklich sehr eindrucksvoll. Sogar Regenerationstanks benötigen Monate für das Neuwachstum abgetrennter Gliedmaßen. Aber letztlich ist es nur eine weitere Eurer Fähigkeiten, die wir uns zwingend aneignen müssen. Ihr müßt kapitulieren. Ihr habt keine Hoffnung auf den Sieg.«

»Zur Hölle damit!« entgegnete Hazel. »Wir haben schon früher gegen ganze Armeen gekämpft. Wir sind immer noch da, die Armeen hingegen meist nicht mehr. Laßt sie nur aufmarschieren, Mond!«

»Mangelndes Selbstvertrauen war nie eines Eurer Probleme«, räumte Mond ein. »Ich habe jedoch noch eine oder zwei Karten im Ärmel.« Er deutete auf Bonnie und Mitternacht, die immer noch von Hadenmännern festgehalten wurden. »Entweder ergebt Ihr Euch, oder wir töten Eure Freundinnen.«

»Sicher«, sagte Mitternachtsblau.

»Klar doch«, sagte Bonnie Chaos.

Und Mitternacht verschwand einfach. Luft stürzte in den Raum, den sie eben noch eingenommen hatte. Einen Augenblick später erschien sie auf der anderen Seite des Raums, die Streitaxt in der Hand. Sie schwang sie beidhändig und trennte dem ihr nächststehenden Hadenmann den Kopf ab. Sie teleportierte gleich weiter kreuz und quer durch den Raum und enthauptete ein weiteres Dutzend Hadenmänner, ehe auch nur einer auf ihr Auftauchen reagieren konnte.

Und Bonnie war auf einmal nur noch verschwommen zu sehen und entwand sich geschmeidig dem Griff der Hadenmänner. Scharfe Klingen schossen plötzlich aus getarnten Scheiden an Händen und Ellbogen hervor, und Bonnie schnitt mit bösartiger Geschicklichkeit durch die Hadenmänner, die sie festgehalten hatten. Sie stürzten rücklings zu Boden und verstreuten dabei Körperteile. Bonnie lächelte ihr Spitzzahnlächeln und zog das Schwert. Mitternacht teleportierte herbei, um ihr den Rücken zu decken, und gemeinsam gingen sie in Kampfstellung.

»Eben hast du mich bei einem Nickerchen erwischt«, erklärte Bonnie Mond. »Ich dachte mir einfach, ich erwidere den Gefallen.«

»Gib nur das Zeichen, Owen«, sagte Mitternacht, »und wir reduzieren diese metallenen Mistkerle auf ihre Bestandteile.«

»Klingt gut«, fand Owen. Er sah Mond an. »Uns ist egal, wie viele von Euch hier sind. Sollen sie nur kommen. Sollen sie ruhig alle kommen.«

»Richtig«, bestätigte Hazel. »Dieser Wahnsinn hört hier und jetzt auf. Keine Tests mehr. Keine Schmerzen mehr. Kein Tod mehr.«

»Ihr dürft nicht gegen uns kämpfen«, sagte Mond, aber zum ersten Mal klang seine summende Stimme unsicher. »Das ist nicht erforderlich.«

»Doch, ist es«, sagte Owen. »Wir werden uns niemals ergeben, und wir sterben lieber, als in Hadenmänner umgewandelt zu werden.«

»Das ist… unlogisch.«

»Stimmt, aber es ist sehr menschlich. Verdammt, Mond, denkt nach! Erinnert Euch! Erinnert Euch daran, wie Ihr früher wart. Der Tobias Mond, den ich kannte, hätte an unserer Seite gekämpft, um diesem Grauen Einhalt zu gebieten.«

»Das liegt lange zurück«, sagte Mond.

»Nein, tut es nicht«, behauptete Owen. »Es war gestern.«

Und er griff mit seinen Gedanken hinaus und versuchte, die alte geistige Verbindung wiederherzustellen, die alle Überlebenden aus dem Labyrinth des Wahnsinns miteinander verbunden hatte. Er spürte Hazel neben sich stehen, stark und selbstsicher und treu, und ihrer beider Gedanken fügten sich perfekt ineinander wie zwei Stücke eines Puzzles. Bonnie Chaos und Mitternachtsblau waren auch da und unterstützten sie beide, wobei sie wie fremdartige Echos von Hazel wirkten. Gemeinsam weiteten sie die Verbindung auf Mond aus, stießen die Barriere weg, die die Hadenmänner mit ihrer Technik zwischen ihnen aufgebaut hatten, und verbanden sich mit dem alten Tobias Mond. Und er wachte auf.

Die vier Menschen stürzten in die eigenen Leiber zurück und betrachteten Mond forschend. Er atmete schwer und schüttelte den Kopf. Die übrigen aufgerüsteten Menschen wichen vor ihm zurück und bedachten ihn mit Blicken, als wäre er die Quelle einer Ansteckung. Endlich wandte sich Mond zu Owen um.

»Ich erinnere mich«, sagte er langsam. »Sie haben mir so viel von meinem Gedächtnis geraubt, als sie mich nachbauten, aber jetzt weiß ich es wieder. Damals hätte ich meine Erinnerungen behalten können, falls ich es wünschte, aber das war zu dem Zeitpunkt nicht der Fall. Ich wünschte mir so sehr, zu den Hadenmännern zu passen, daß ich sogar bereit war, einen Teil von mir aufzugeben. Aber jetzt ist alles von mir zurückgekehrt, und mir ist klar, daß ich nicht einfach irgendein beliebiger aufgerüsteter Mensch sein kann. Weil ich mehr bin als das. Vielleicht sogar mehr, als die übrigen Hadenmänner je sein können. Also stehe ich zu Euch, Owen. Obwohl wir wahrscheinlich gemeinsam umkommen.«

»Willkommen zurück, Mond«, sagte Owen mit breitem Grinsen.

»Gerade rechtzeitig für den großen Kampf«, sagte Hazel.

»Sieht aus, als würde es eine ganz ordentliche Sache werden.

Obwohl die meisten von uns den Ausgang wahrscheinlich nicht erleben werden.«

»Ach, zum Teufel«, sagte Mond. »Ich bin schon einmal gestorben.«

»Wie war es?« fragte Hazel.

»Erholsam«, antwortete Mond.

»Ach, zum Teufel«, meldete sich auch Owen. »Falls wir kämpfen und dabei alle unsere Kräfte und die implantierten Waffen der Hadenmänner zum Einsatz kommen, sterben wir, sterben sie und sterben die meisten der armen Schweine, die hier gefangengehalten werden. Und das mache ich nicht mit.

Niemand wird heute hier umkommen. Das Sterben steht mir bis hier.« Er streckte wieder die Fühler durch die Gedankenverbindung aus, trommelte alle zusammen, die das Labyrinth durchschritten hatten, und konzentrierte ihre Willenskräfte durch Tobias Mond. Gemeinsam drangen sie durch Monds Bewußtsein in das der aufgerüsteten Menschen hinein vor, wie Bojen aus Licht, die auf einen dunklen Ozean hinaustrieben.

Die Hadenmänner versuchten, sie hinauszuwerfen, unterstützt von den großen Lektronen, die sie alle miteinander verbanden, aber Mond gehörte noch zu ihnen und bildete damit eine Bresche in ihr Gemeinschaftsbewußtsein, und er duldete nicht, daß sie ihn ausschlossen. Das Gemeinschaftsbewußtsein der Hadenmänner – es war eine riesige Landschaft, das Produkt hunderttausender Einzelpersönlichkeiten, und zunächst gingen die Labyrinthdenker darin fast unter. Aber das Denken der Hadenmänner war begrenzt durch die Logik der Lektronen, denen sie gestatteten, den Zusammenschluß bereitzustellen. Owen und seine Gefährten ihrerseits wurden angetrieben von dem Zorn über das Grauen, das in den Laboratorien geschah, und verstärkt durch die Macht des Labyrinths kombinierten sie ihr Empfinden zu einem einzelnen Hammerschlag der Entrüstung, der krachend ins Gemeinschaftsbewußtsein der Hadenmänner fuhr und es wie einen Spiegel zertrümmerte. Hunderttausende einzelner Splitter fielen auseinander, zerbrochen auf dem Amboß eines stärkeren Glaubens, als sie ihn hatten. Die Dunkelheit wich, und es war nur noch Licht. Owen und seine Gefährtinnen betrachteten, was sie getan hatten, sahen, daß es gut war, zogen sich aus ihrer Verbindung zurück und sanken jeder ins eigene Bewußtsein zurück.

Owen blinzelte mehrfach, sammelte seine Gedanken und sah sich im Labor um. Die Hadenmänner standen immer noch an denselben Positionen wie zuvor, aber das Leuchten ihrer Augen war erloschen. Keiner von ihnen bewegte sich. Hazel streckte vorsichtig die Hand aus und versetzte dem nächststehenden einen leichten Stoß. Er schwankte auf den Beinen hin und her und wäre beinahe gestürzt, traf aber keinerlei Anstalten, sich zu halten. Owen verspürte ein fast hysterisches Bedürfnis, ihn hinfallen und alle anderen wie Dominosteine umreißen zu sehen.

»Sie sind nicht tot«, sagte Mond leise, »sondern abgeschaltet.

Sie alle. Ihre Gehirne haben sich lieber selbst abgeschaltet, als das zu betrachten, was wir ihnen zeigen wollten.«

»Jetzt mal langsam!« verlangte Hazel. »Wir haben sie alle ausgeschaltet? Im ganzen Gebäude?«

»Überall in der Stadt, überall auf Brahmin II«, sagte Mond.

»Ich stehe nach wie vor mit den Hauptrechnern in Verbindung.

Die Systeme laufen weiter, aber niemand ist mehr da, der sie bedient. Die Hadenmänner auf anderen Planeten sind nicht beeinflußt, aber die Herrschaft der Hadenmänner hier ist vorbei.«

»Ich habe sie ins Imperium zurückgeholt«, sagte Owen. »Ich schätze, da ist nur passend, daß ich sie auch wieder abgeschaltet habe. Wer weiß, vielleicht können wir sie eines Tages… umprogrammieren und ihre menschliche Natur wiedererwecken, wie wir es bei Euch getan haben, Mond.«

»Ja«, sagte Mond. »Vielleicht eines Tages.«

»Bis dahin nehmen wir lieber Kontakt mit dem Imperium auf und fordern einen Hilfseinsatz an«, schlug Owen vor. »Eine Menge Leute hier brauchen eine Menge Hilfe, sobald wir sie erst mal aus den Maschinen der Hadenmänner befreit haben.

Vielleicht werden wir nie alles heilen können, was ihnen angetan wurde, aber wir müssen es zumindest versuchen. Wir müssen so viele retten, wie nur geht.«

»Du bist nicht dafür verantwortlich«, sagte Hazel sanft. »Für nichts von alldem. Laß es gut sein.«

»Vielleicht«, sagte Owen. Er sah Mond an. »Ihr habt Euer Volk wiederum verloren. Es tut mir leid.«

»Sie waren im Grunde nie mein Volk«, sagte Mond. »Ich habe mir nur gewünscht, sie wären es.«

»Komm mit uns«, schlug Hazel vor. »Sei wieder einer von uns. Wir sind jetzt deine Familie.«

Mond sah Bonnie und Mitternacht an. »Das dürfte… interessant werden. Seid Ihr beide wirklich andere Versionen von Hazel?«

»Wir denken lieber, daß sie eine andere Version von uns ist«, antwortete Mitternacht. »Und wir haben uns entschieden, noch eine Zeitlang zu bleiben und zu sehen, wie sich die Dinge in diesem Universum entwickeln.«

»Richtig«, bekräftigte Bonnie. »Ich könnte eine Pause brauchen, was die Regierungstätigkeit auf Nebelwelt angeht, und ich habe ein bißchen heiße Aktion hin und wieder richtig vermißt.«

»Und es bedeutet auch, daß wir mehr Zeit mit Owen verbringen können«, erklärte Mitternacht fröhlich.

»Oh, toll«, sagte Owen und hatte einen finsteren Blick für Hazel übrig, die ihr Lachen zu unterdrücken versuchte.

KAPITEL FÜNF

ALTER HASS UND NEUE RACHE

Jakob Ohnesorg schritt in Ruby Reises Luxuswohnung auf und ab und wartete ungeduldig darauf, daß sich die Wohnungsinhaberin blicken ließ. Es wurde allmählich wieder spät, was jedoch nicht ungewöhnlich war, wann immer es um Ruby ging.

Niemand konnte sie hetzen, es sei denn im Rahmen eines Kampfes unter Waffen. Unter Aufbietung äußerster Selbstbeherrschung verkniff es sich Jakob, erneut auf die Wanduhr zu blicken, und sah sich finster in der Wohnung um, als könnte er Ruby durch schiere Willenskraft zu erscheinen zwingen. Es funktionierte nicht.

Die Wohnung bot einiges zu besichtigen. Sie wies alle Luxusattribute auf, die man sich durch Geld und Einschüchterung verschaffen konnte, einschließlich einiger, die technisch gesehen illegal waren – obwohl Jakob daran zweifelte, daß irgend jemand es gewagt hatte, Ruby darauf hinzuweisen. Dicke Läufer bedeckten den Boden, billige Gemälde von zweifelhaftem Geschmack hingen an drei Wänden, und ein riesiger Holobildschirm bedeckte die vierte Wand komplett. Ein gläserner Kronleuchter, der in seiner täppischen Protzigkeit ganz erstaunlich scheußlich aussah, hing viel zu tief von der Decke eines Zimmers herunter, das viel zu klein für ihn war. Ruby hatte einen in jedem Zimmer. Sie mochte Kronleuchter.

Wackelige Antiquitäten standen in ostentativer Beziehungslosigkeit neben dem letzten Schrei an Freizeitmöbeln. Die Antiquitäten sahen ganz danach aus, als würden sie gleich zusammenbrechen, falls Jakob auch nur daran zu denken wagte, er würde sich gleich auf sie setzen, und die Komfortsessel drohten alle damit, ihm eine Massage zu verabreichen, ob er sie nun wünschte oder nicht. Jakob wich ihnen weiträumig aus. Er war ganz entschieden der Meinung, daß Möbel sich ihrer geringen Stellung bewußt sein und keine überzogene Vertraulichkeit zeigen sollten.

Überall im Zimmer verstreut waren hochtechnische Spielsachen, einige davon noch gar nicht richtig ausgepackt. Jede arbeitssparende Apparatur, jede neueste Annehmlichkeit und überteuerte Modemasche hatte sich bei Ruby eingeschmeichelt, nur um gleich nach dem Eintreffen vergessen oder zur Seite gelegt zu werden. Ruby bedeutete es alles, Dinge ihr eigen zu nennen. Sie warf nie etwas weg, zum Teil, weil sie nichts davon hielt, Dinge aufzugeben, die ihr gehörten, zum Teil, weil man nie genau wußte, wann man etwas doch gebrauchen konnte.

Der solide Couchtisch aus Hartholz, der genau in der Zimmermitte stand, war überhäuft mit Modemagazinen, den letzten drei Ausgaben von Welche Waffe nehme ich? und nicht weniger als vier offenen Pralinenschachteln, aus denen alle Pralinen mit Kaffeesahne fehlten. Jakob musterte die Leckereien sehnsüchtig, war aber nicht bereit, der Versuchung nachzugeben.

Dank des Labyrinths änderte sich sein Gewicht nie auch nur um eine Unze, egal wieviel er verspeiste – aber er wußte, falls er erst mal loslegte, hätte er nicht wieder aufgehört, bis die letzte Schachtel leer war. Es hätte Ruby zwar nichts ausgemacht, aber sie hätte ihn zweifellos mit einem dieser wissenden Blicke bedacht, die sie draufhatte, und das war ihm zuwider.

Die massive Bar sah er nicht mal an. Stolz stellte sie jede Art von Alkohol, Darmfäule und plötzlichem Tod in Flaschen zur Schau, die Mensch oder Fremdwesen bekannt war. Das Labyrinth hatte Jakob gegen alle Vergiftungserscheinungen immunisiert, Kater inklusive, aber er war schon immer der Überzeugung gewesen, daß man unter seinen Ausschweifungen auch leiden sollte. Daran erkannte man ja, daß es Ausschweifungen waren.

Ein Sessel summte einladend, als er vorüberging, und er versetzte ihm einen kräftigen Tritt, damit das Ding wieder Ruhe gab. Wenigstens hatte Ruby ihre kleine Armee aus Dienern und den Kometenschweif aus Anhängern hinausgeworfen. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung hatte Jakob Ruby nicht mal mehr sehen können, ohne einen Termin zu vereinbaren oder damit zu drohen, daß er etliche Leute erschoß. Aber Ruby wurde der Leute, die sie umschwärmten, und der Diener bald überdrüssig und warf sie alle eines denkwürdigen Nachmittags, über den die Nachbarn noch heute redeten, hinaus. Wie sich herausstellte, hatten etliche dieser Hausgeister versucht, ihre Stories vom Leben mit Ruby an die Medien zu verhökern. Einer hatte verdrossen darauf reagiert, daß sie ihn mit Tritten aus dem Schlafzimmer beförderte, und sie zu erstechen versucht. Teile seiner Leiche tauchten noch Wochen später aus der Kanalisation auf.

Jakob seufzte, blieb endlich stehen und starrte ins Leere. Er war müde. Und er war es satt, müde zu sein. Seit Wochen schon arbeitete er den ganzen Tag lang bis spät in den Abend, in dem Bemühen, seinen Traum von der Demokratie lebendig zu halten und sich vom Krieger zum Diplomaten zu entwickeln. Das Parlament hatte viele Feinde, und wenn diese gerade nicht bestrebt waren, es zu unterminieren oder zu diskreditieren, dann schienen es die Abgeordneten zufrieden, die ganze Institution selbst in den Abgrund zu manövrieren. Nach so langer Zeit als Aushängeschild war die echte Macht einigen Abgeordneten zu Kopfe gestiegen, selbst wenn sie gar nicht so recht wußten, was sie damit anfangen sollten. Neue Parteien bildeten sich jeden Tag auf der Grundlage irgendeiner Kernüberzeugung oder eines Persönlichkeitskultes. In den Nachrichtenmagazinen wimmelte es von Schwatzbolden, die für Wählerstimmen einfach alles versprachen, bis hin zur Wiederkunft Christi, und Plakatklebekolonnen trugen in den frühen Morgenstunden brutale Gefechte auf den Straßen aus.

Jakob fand sich vor einem von mehreren mannshohen Spiegeln wieder, die an den Wänden hingen, und betrachtete sich ernst. Er wirkte jung und fit, auf dem Höhepunkt der körperlichen Verfassung. Er hatte alle seine Feinde überwunden und den Sturz der alten Ordnung miterlebt. Löwenstein war dahin, die Familien waren tödlich geschwächt. Er hätte das Gefühl haben müssen, unüberwindlich zu sein. Warum war er dann so verdammt müde? Zum Teil, weil er so viel allein tun mußte.

Owen und Hazel waren immer unterwegs, auf eigenen Einsätzen, und Ruby zeigte sich an Politik desinteressiert. In letzter Zeit auch an allem anderen. Der Reiz des gewaltigen Reichtums war rasch geschwunden, sehr zu Rubys Erstaunen. Wann man alles haben kann, hat kaum noch etwas Wert. In jüngster Zeit schien Ruby die meiste Zeit mit Schlafen oder Trinken zu verbringen oder damit, Schlägereien an Örtlichkeiten vom Zaun zu brechen, wo man sie noch nicht kannte. Sie bemühte sich um einen Auftritt in der Arena, aber niemand wollte sich ihr entgegenstellen. Sogar die Fremdwesen wurden lieber krank, als sich Ruby Reise zu stellen, darunter auch einige, die man bis dahin gar nicht als intelligent erkannt hatte.

Jakob vermutete, daß er dankbar hätte sein sollen, weil wenigstens er noch einen Sinn im Leben sah. Selbst wenn es einer war, den er sich nie freiwillig ausgesucht hätte. Die neue Demokratie durch ihre Geburtswehen zu hätscheln, das war eine harte und bittere Arbeit und eine, die Illusionen zerstörte. Er war früher immer vage davon ausgegangen, die Demokratie würde sich wie eine Flutwelle über das Imperium ausbreiten und den überlebten Unfug der Aristokratie und der Privilegien wegspülen, und die Leute würden freudig vortreten, um die Bürde der Macht und Verantwortung zu schultern. Er hätte es besser wissen müssen.

Das Spiegelbild erwiderte seinen Blick fragend. Schließlich gab es viel, wofür er dankbar sein konnte. Er war wieder jung geworden, als das Labyrinth des Wahnsinns seine Lebensuhr auf die frühen Zwanziger zurückdrehte. Er war stärker, schneller und fitter als je zuvor. Wurde von vielen als einer der größten Krieger des gegenwärtigen Zeitalters anerkannt. Warum kam er sich dann so verdammt alt vor?

Er drehte dem Spiegelbild den Rücken zu und sah sich in der Luxuswohnung um, wobei er sich bemühte, es mit den Augen seines alten, des früheren Ichs zu sehen, des legendären Berufsrebellen. Das war keine Bleibe, in der er je zu landen erwartet hatte. Den größten Teil seines Lebens hatte er in armseligen und vorübergehenden Unterkünften auf dem einen oder anderen unterdrückten Planeten zugebracht, um sich vor neugierigen Augen oder potentiellen Verrätern zu verstecken. Damals war es ihm egal gewesen. Nur die Sache hatte gezählt. Er hatte kein Recht, entspannt im Luxus zu leben, solange so viele sich in Armut plagten.

Natürlich waren solche Gefühle recht leicht entstanden, als er noch jung und fit war und jede zweite Nacht eine andere Kampfgefährtin mit Sternen in den Augen auf die Matte zog.

Während er dann älter wurde und seine Fehlschläge immer stärker an ihm nagten, fiel es ihm zunehmend schwer, dem Weg des Rebellen zu folgen. So viele Freunde waren tot, so viele Hoffnungen auf so vielen Planeten waren geweckt worden, nur um von den überlegenen Streitkräften des Imperiums wieder erstickt zu werden. Jakob entkam stets, hinterließ aber tote Armeen. Er empfand es fast als Erleichterung, als er schließlich auf Eisfels verraten und festgenommen wurde. Die Last der eigenen Legende war zu schwer geworden, um sie überhaupt noch tragen zu können, und nachdem seine Leute ihn endlich befreit hatten, verschwand er mit schlichter Dankbarkeit auf Nebelwelt, wo er als Hausmeister unter dem Namen Jobe Eisenhand arbeitete. Es fühlte sich so gut an, daß nicht von jeder Entscheidung so viele Menschenleben abhingen!

Seine Lebensumstände blieben allerdings verdammt einfach.

Und dann tauchte natürlich der verdammte Owen Todtsteltzer aus dem Nichts auf, um ihn zu Pflicht und Bestimmung zurückzurufen. Das Labyrinth des Wahnsinns baute ihn später gar völlig um, und die Rebellion kam und ging so schnell, daß er es kaum glauben konnte. Und er blieb mit dem ernüchternden Effekt zurück, alle seine Träume wahr geworden zu sehen.

Er hatte so ziemlich alles erreicht, was er sich je gewünscht oder wovon er je geträumt hatte, aber… Was tut man, wenn man keine Träume mehr hat? Oh, genug Pflichten und Aufgaben erwarteten ihn, um ihn auf Jahre hinaus beschäftigt zu halten. Er konnte mit Politik seinen Lebensunterhalt verdienen.

Aber irgendwie war es nicht das gleiche.

Gegenwärtig lebte er unter bequemen, aber bescheidenen Verhältnissen. Er hatte eine Wohnung mit einem Schlafzimmer in dem Bürogebäude neben dem Parlament. Er hatte sie bezogen, um immer zugegen sein zu können, wenn er gebraucht wurde, und auch, weil er die starken Sicherheitsvorkehrungen dort brauchte, um sich vor seinen zahlreichen Feinden zu schützen. Er hatte seinerzeit einer Menge Leute Ungemach bereitet, und das auf allen Seiten des politischen Spektrums.

Alle pflichteten ihm darin bei, daß das Abkommen, das er mit dem Schwarzen Block bezüglich der Familien getroffen hatte, notwendig gewesen war, aber deshalb brauchte es noch niemandem zu gefallen.

Persönlich gab er einen Dreck darauf. Die Mordversuche waren der einzige echte Nervenkitzel, der ihm heute noch blieb, aber er machte sich Sorgen, daß Unschuldige verletzt oder getötet werden könnten, nur weil sie sich im falschen Augenblick in seiner Nähe aufhielten. Deshalb brachte er seine wenigen Habseligkeiten in eine besser abgesicherte Unterkunft. Die Zahl der Anschläge ging drastisch zurück, aber die neue Wohnung war nicht von der Art, wo Freunde mal eben hereinschneien konnten. Zuzeiten erschien ihm die spartanische Bleibe unerträglich ruhig und leer.

Nach der Rebellion zogen Jakob und Ruby zusammen, aber das Arrangement hielt nicht. Sie waren einfach zu verschieden.

Gegensätze in Geschmack, Bedürfnissen und Charakter trieben sie innerhalb eines Monats wieder auseinander. Jakobs spartanische Einstellung war mit Rubys Genußsucht aufeinandergeprallt; er wollte arbeiten, sie spielen. Er war ein Mann der Pflicht und der Ehre, und sie… wollte lieber einkaufen gehen.

Oder in einer überfüllten Kneipe eine Schlägerei anzetteln. Daß sie sich liebten, reichte allein noch nicht, um auch zusammenwohnen zu können. Und sie konnten auch nicht die ganze Zeit im Bett verbringen. Die wachsende Frustration kulminierte schließlich in größerem Geschrei, bei dem sie beide unverzeihliche Dinge sagten und anschließend mit schweren Gegenständen nacheinander warfen. Sie zerstörten ihr Haus Zimmer für Zimmer und verließen einander. Sobald sie in getrennten Wohnungen lebten, in behaglicher Distanz zueinander, wurden sie rasch wieder Freunde. Jakob gab Ruby nicht die geringste Schuld. Man hatte nie leicht mit ihm zurechtkommen können, wie jede seiner sieben Exfrauen zweifellos nur zu gern bestätigt hätte, und das recht ausführlich.

Und außerdem… Ruby hatte stets eine ganze Menge getrunken. Sie behauptete, die vom Labyrinth des Wahnsinns bewirkten Veränderungen schützten sie, aber Jakob war nicht ganz überzeugt. Sie wurde langsamer. Wurde nachlässig. Machte Fehler. Vertraute Menschen, vor denen sie ihre Instinkte noch ein Jahr zuvor gewarnt hätten. Jakob wußte, warum sie trank.

Es lag an der Langeweile. Ruby konnte alles ertragen, außer Langeweile. Und sie hatte schon immer eine starke Neigung zur Selbstzerstörung gehabt. Das resultierte aus ihrem Beruf, der Kopfgeldjagd. Man konnte nicht auf regelmäßiger Basis Menschen umbringen, ohne das Leben mit der Zeit als trivial zu empfinden, sogar das eigene. Vielleicht besonders das eigene.

Jakob seufzte und versank weiter in Grübelei. Er hatte über vieles zu brüten. Früher hatte er gegen das System gekämpft.

Jetzt war er ein Teil davon. Er war Politiker geworden, hatte die Ideale eines ganzen Lebens zur Seite geschoben, um Kompromisse einzugehen und Absprachen mit Leuten zu treffen, die er verabscheute. Immer mehr sah er sich in Situationen gedrängt oder manövriert, in denen ihm keine andere Wahl blieb, als im Namen einer größeren Sache wieder mal einer seiner kleineren Überzeugungen zu opfern. Nur um doch noch eine Chance zu erhalten, ein paar der Dinge zu erreichen, an die er wirklich glaubte.

Das Problem war: Zu lange war er Anführer gewesen. Männer und Frauen waren auf sein Geheiß gesprungen, bewegt von seinem großen Anliegen, seinen endlosen Reden und seinem charmanten Lächeln. Jetzt war er nur noch ein einflußreicher Mann unter anderen, gezwungen, über jede verdammte Kleinigkeit zu debattieren. Gezwungen, sich auf Vernunft und Einfallsreichtum zu verlassen. Und wenn beides scheiterte, sich mit denen zu verbünden, die den eigenen Überzeugungen noch am nächsten standen, um die gegnerischen Bastarde zu überstimmen. Und dann die neuen Freunde für ihre Unterstützung zu bezahlen. Er fand es frustrierend und gelegentlich auf bittere Weise amüsant, daß alle seine wundersamen Labyrinth-Kräfte und die erstaunliche zweite Jugend in der Politik nutzlos waren. Gut, er konnte die anderen Politiker jederzeit einschüchtern und mit der Drohung von Dingen, die er vielleicht verübte, Zugeständnisse erzwingen, aber damit hätte er alles verraten, woran er je geglaubt hatte. Er wäre zu dem geworden, was er immer am meisten verabscheut hatte – zu dem Feind, den er so lange bekämpft hatte. Alles lief auf die Familien hinaus. Nicht nur traten sie immer mehr Autorität an den dubiosen Schwarzen Block ab, sondern hielten sich auch eindeutig nicht an ihren Teil der Abmachungen, die sie mit ihm getroffen hatten, weder dem Buchstaben noch dem Geiste nach. Er hatte von Anfang an erwartet, daß sie sich hinauszuwinden versuchen würden, aber nicht so schnell und nicht so unverfroren. Angeführt vom Schwarzen Block, versuchten sie offen an allen Fronten, wieder Macht und Einfluß an sich zu raffen. Jakob schnaubte, und seine Hand senkte sich mechanisch auf die Pistole an seiner Seite. Sollten sie es ruhig probieren! Sollten sie nur irgend etwas probieren! Lieber sorgte er dafür, daß jeder verdammte Aristo umgebracht und ihre pastellfarbenen Türme niedergebrannt wurden, ehe er hinnahm, daß die Clans ihre alte Macht und Position wiedererlangten. Er hatte nicht so viel geschafft und dabei so viele gute Freunde sterben gesehen, um an der letzten Hürde zu verlieren.

Der Schwarze Block… was für ein Rätsel, alles in allem. Er hatte schon immer von seiner Existenz gewußt, aber niemand hatte jemals gesicherte Erkenntnisse über den Schwarzen Block gehabt. Jakob versuchte zur Zeit herauszufinden – ganz leise, ganz diskret und äußerst vorsichtig –, wer und was das eigentlich war. Er suchte nach den Fakten hinter den geflüsterten Namen des Schwarzen Kollegs und der Roten Kirche. Bislang hatte er trotz aller Bemühungen nichts vorzuweisen. Herz und Seele des Schwarzen Blocks blieben so tief im Schatten, daß sie praktisch unsichtbar waren. Niemand wußte irgend etwas.

Niemand war bereit zu reden. Alle hatten mehr als nur ein bißchen Angst. Jeder kannte jemanden, der einem Teil der Wahrheit zu nahe gekommen und einfach… verschwunden war.

Und nicht mal Jakob Ohnesorg konnte mit all seinem Einfluß irgendeine Spur von ihnen finden.

Er runzelte unglücklich die Stirn. Damals war ihm das Abkommen mit dem Schwarzen Block als widerwärtig, aber notwendig erschienen. Jetzt konnte er nicht mehr umhin, sich zu fragen, ob er nicht ein offenes, erkennbares Übel gegen ein größeres, weniger faßbares eingetauscht hatte. Der Schwarze Block hatte ein Programm, auch wenn Jakob dessen Punkte noch nicht klar erkennen konnte. Es wäre hilfreich gewesen, hätte er nur mit irgend jemandem darüber sprechen können.

Jemand, dem er vertraute. Aber Owen und Hazel waren niemals da. Und Ruby… zeigte sich nicht interessiert.

Er drehte sich scharf um, als die Schlafzimmertür endlich aufging und Ruby Reise ins Zimmer kam. Es erstaunte Jakob ein wenig, zu sehen, daß sie nach wie vor die alte schwarze Lederkleidung unter weißen Pelzen trug. Es hatte ihn ein bißchen betroffen gemacht, sie in diesem Aufzug zuvor im Parlament anzutreffen, denn kaum war Ruby zu Geld gekommen, da hatte sie sich mit Inbrunst der Mode verschrieben und darauf geachtet, nie dieselbe gewagte und äußerst teure Kleidung zweimal zu tragen. Jetzt steckte sie wieder in den Kopfgeldjägersachen, ihrer Arbeitskleidung, komplett mit Schwert und Disruptor. Sie bemerkte seinen Blick und schniefte laut.

»Stopf dir die Augen in den Kopf zurück. In diesen Sachen bin ich mehr ich selbst. Mehr die Person, die ich früher war.«

Sie blieb vor dem nächsten mannshohen Spiegel stehen, warf sich in Positur und nickte beifällig. »Wie ist es damit? Monate voller Schmausen und Trinken und all der anderen Dinge, die so ungesund sind, und kein Gramm zugenommen. Eine der nützlicheren Nebenwirkungen des Labyrinths. Ich bin in Topform und zu allem bereit. Falls du daran zweifelst, tue dir keinen Zwang an und attackiere mich; ich strecke dich schon zu Boden!«

»Dein Wort reicht mir«, sagte Jakob lächelnd. »Verstehe ich dich richtig, daß deine langen Ferien vorbei sind und du bereit bist, wieder an die Arbeit zu gehen?«

»Ich bin immer zu ein bißchen Aktivität aufgelegt«, behauptete Ruby. »Obwohl ich sagen muß, daß ich für mein Come-back gern etwas anderes gewählt hätte, als mich mit Shub anzulegen.« Sie drehte sich plötzlich um und blickte Jakob direkt in die Augen. »Die abtrünnigen KIs sind seit jeher mein schlimmster Alptraum. Die Maschinen, die gegen ihre Schöpfer rebellierten. Sie sind so ziemlich das einzige, was mir heute noch Angst macht. Verglichen mit ihnen sind wir nur Ameisen, die hilflos darauf warten, daß der Stiefel auf sie tritt oder das heiße Wasser sie wegspült.«

»Ich hätte nicht gedacht, daß dir noch irgend etwas Furcht einflößt«, sagte Jakob.

»Selbst ich bin vernünftig genug, um mich vor Shub zu ängstigen«, versetzte Ruby, »Nirgendwo gibt es einen Ort, wo man vor denen sicher wäre. Furien, Geistkrieger, verdeckte Agenten, deren Bewußtsein in der Matrix ausgetauscht wurde. Man kann niemandem mehr trauen. Da draußen gab es schon immer Leute, die genauso gefährlich waren wie ich, bessere Kämpfer mit höheren Erfolgsquoten, aber ich erwies mich als raffinierter, cleverer, schneller. Ich übernahm die Jobs, die sie nicht haben wollten, ging die Risiken ein, die sie ablehnten, und lachte ihnen ins eifersüchtige Gesicht, als meine Reputation ihre übertraf. Und nachdem das Labyrinth des Wahnsinns mich in eine Hölle auf zwei Beinen verwandelt hatte, dachte ich, jetzt wäre ich am Ziel. Ich war endlich unschlagbar, die Spitzenfrau, die Allerbeste. Ich hätte es besser wissen sollen. Das erste, was jeder Kämpfer lernt, lautet: Es spielt keine Rolle, wer man ist oder wie gut man ist; es gibt immer jemanden, der einen übertrifft.«

»Das sind doch nur Maschinen«, gab Jakob zu bedenken, den ihre seltene Offenheit und Verwundbarkeit rührte. »Letztlich läuft es darauf hinaus. Und keine Maschine ist dem menschlichen Geist gewachsen. Wir haben sie gebaut, nicht umgekehrt.

In Ordnung, auf uns gestellt, sogar mit unseren Kräften, könnten wir nicht lange gegen die Streitkräfte von Shub durchhalten. Aber wir sind nicht auf uns gestellt. Wir gehören der Menschheit an, und zusammen können wir alles vollbringen, was wir uns vornehmen. Shub ist letztlich nichts weiter als ein Haufen Addiermaschinen, die an der Einbildung leiden, sie wären etwas Be