15
„Was laden Sie da in den Kofferraum?“
„Ich dachte, ich hätte gesagt: Keine Fragen.“
„Das ist mein Taxi, ich muss es wissen.“
„Wer sagt das?“
„Wo fahren wir hin?“
„Nach Alibag.“
„Das ist ja noch hinter Panvel, mindestens neunzig Kilometer von hier.“
Ravan hatte den Eindruck, dass mit dem vorderen Nummernschild seines Taxis irgendwas nicht stimmte. Er schlenderte nach hinten und erkannte, dass an beiden Nummernschildern die Zahlen leicht verändert worden waren. Aus 4796 war 4697 geworden. Er bückte sich, um die Sache genauer anzuschauen, und bemerkte zunächst nichts, bis er hinter dem Nummernschild zwei fast unsichtbare längliche Haken entdeckte. Sie waren so geschickt angebracht, dass sie von außen nicht zu sehen waren.
„Was ist das?“
„Steig einfach ein und fahr los.“
„Kommen Sie nicht mit?“
„Nur keine Sorge, ich werde dich niemals verlassen, Ravan.“ Bashir Akhtar lächelte anzüglich. Wenn das ein Freundschaftsangebot sein sollte, sagte sich Ravan, dann war Vorsicht angebracht. „Wir sind ein untrennbares Gespann, du und ich. Diesmal werde ich dir allerdings hinterherfahren und sehen, wie du dich machst.“
Bashir Akhtar knallte die Taxitür zu, beugte sich hinunter und sagte: „Fahr zum Strand von Alibag. Dort, wo sich die Straße gabelt, siehst du ein großes Schild – ,Alibag International Hotel‘. Da treffen wir uns. Sieh zu, dass die Ware im Kofferraum ohne Zwischenfälle ankommt.“
„Der Fahrpreis wird ziemlich happig werden. Ich gehe davon aus, Sie werden ihn bezahlen.“
„Du hast mein Geld gestohlen, du zahlst.“ Bashir-bhai stieg in seinen Ambassador und befahl dem Fahrer, dem Taxi zu folgen.
Es hatte keinen Sinn, mit Bashir Akhtar zu diskutieren. Mit etwas Glück würde der Eigentümer der Taxiflotte erfahren, dass Ravan mit seinem Taxi das Stadtgebiet verlassen hatte, und ihn feuern. Zwar würde er dann verhungern, weil seine Mutter ihm, wenn er arbeitslos wäre, nichts zu essen geben und ihm auch nicht erlauben würde, weiter zu Hause zu wohnen; doch das würde besser sein, als für Bashir-bhai Schmuggelware durch die Gegend kutschieren zu müssen. Momentan hatte Ravan allerdings ein anderes Problem. Da das Film Institute in Puna keine Bewerber ohne Hochschulreife aufnahm, hatte er versucht, die Filmstudios auf eigene Faust abzuklappern. Allerdings war das erfolglos geblieben, und er hatte sich widerwillig dazu entschließen müssen, der Statistengewerkschaft beizutreten. Und ausgerechnet heute gab es einen Termin für einen Außendreh mit Shantaram Bapu – eine einmalige Gelegenheit, die ihm, wie er hoffte, einen bombastischen Karrierestart verschaffen würde, wie ihn Jeetendra seinerzeit gehabt hatte. Aber wegen Bashir-bhai zerrann ihm jetzt die Chance seines Lebens. Man konnte nicht einfach „verpiss dich“ zu ihm sagen und tun, was man wollte.
Als sie das Electric House passierten, fragte sich Bashir Akhtar bereits, ob er Ravan Pawar nicht möglicherweise unterschätzt hatte. Warum hatte er sich dafür entschieden, die Route über den Colaba Causeway zu nehmen, wo es doch viel schneller gegangen wäre, direkt in Richtung Sachivalaya zu fahren, dann nach links zum Nariman Point und anschließend rechts auf den Marine Drive abzubiegen? Es sei denn … es sei denn, Ravan beabsichtigte, am Lion’s Gate und der Reserve Bank of India vorbeizufahren, dann hinter dem Hauptpostamt und an den Docks vorbei, weil auf der Strecke der Schwerlastverkehr gewöhnlich nicht vor elf Uhr einsetzte und man bis dahin hoffen konnte, bis nach Sion und dann weiter über den Western Express Highway nach Panvel freie Bahn zu haben.
Die Route war letzten Endes egal. Das Problem war, der Kerl fuhr wie eine gesengte Sau. Er hatte schon versucht, eine junge Frau, die am Electric House die Straße überquerte, über den Haufen zu fahren. Er hatte zwar Vorfahrt gehabt, aber das hier war Bombay: Ein Autofahrer riskierte, gelyncht zu werden, wenn er einen Fußgänger, der die Straße bei Rot überquerte, auch nur streifte. Bashir Akhtar hätte zwar nicht sonderlich getrauert, falls der Frau etwas zugestoßen wäre, aber dieser dämliche Taxifahrer tat alles Erdenkliche – und noch einiges Nichtauszudenkende –, um Aufmerksamkeit zu erregen. Der Schlaumeier konnte sich auf eine gehörige Abreibung gefasst machen, wenn sie erst am Hotel wären. Wenn er aber so weitermachte, würden sie es nie bis Sion schaffen, geschweige denn bis Panvel oder Alibag. Es war nur eine Frage von Minuten, bis die Polizei den Kerl anhalten würde, und das war für Bashir Akhtar absolut keine Option.
Er befahl seinem Fahrer, das Taxi einzuholen und dann so lange zu hupen, bis Ravan auf ihn aufmerksam werden würde; um den Rest würde er sich dann schon selbst kümmern. Doch Ravan war offenbar besonders widerspenstiger Laune, denn als Bashir Akhtars Ambassador aufholte und der Fahrer anfing zu hupen, machte Ravans Taxi einen Satz nach vorn, als habe jemand einen nuklearen Sprengsatz unter seinem Hintern gezündet. Da, er hatte es schon wieder getan, der verfluchte Schwachkopf! Was zum Teufel hatte er bloß vor? Er war über eine rote Ampel gefahren. Ein Polizist rannte ihm hinterher und pustete wie verrückt in seine Trillerpfeife, und als das Taxi nicht an den Straßenrand fuhr, zückte er den Notizblock, um sich das Kennzeichen zu notieren. Bashir Akhtar war selbst für kleine Himmelsgaben dankbar: Wenigstens war das Arschloch so gescheit gewesen, nicht anzuhalten.
Ravans Taxi raste, bereits außer Sichtweite, davon, aber das Glück war auf Bashir Akhtars Seite. Auf der Dockyard Road gab es einen meilenlangen Stau von Lastern, Abschleppwagen, Kleinbussen, Autos und Taxis, der von Minute zu Minute länger wurde. Drei Polizisten und ein Sub-Inspector bemühten sich erfolglos, das Verkehrknäuel zu entwirren, und Ravan steckte unwiderruflich fest.
Jetzt war Bashir Akhtars Ambassador nur noch wenige Meter von Ravan entfernt. Bashir sprang aus dem Wagen und rannte auf das Taxi zu, aber Ravan hatte bereits genug Zeit vertrödelt, und sein Taxi war links auf den Bürgersteig geholpert und hatte die erschrockenen Fußgänger in sämtliche acht Himmelsrichtungen der hinduistischen Windrose gescheucht. Er war nicht aufzuhalten. Er ließ sich zurückfallen, mogelte sich vorbei, legte den Rückwärtsgang ein, das Taxi stöhnte, stotterte und keilte aus, gab fast den Geist auf, erwachte dann wieder zum Leben und schoss los. Ravans linke Hand drückte auf die Hupe, während die rechte das Lenkrad scharf nach links herumriss, dann in die entgegengesetzte Richtung und dann wieder nach links, und noch bevor die Polizisten sich überlegen konnten, was der Taxifahrer als Nächstes anstellen würde, raste er schon auf sie zu und riss das Lenkrad im letzten Augenblick herum. Dann setzte er zurück, bis er eine Lücke im Stau gefunden hatte, kreischte an einem mit gemeingefährlich überstehenden Eisenstangen beladenen, offenen Laster und einem 18-Achsen-Monster vorbei, auf dem ein mit Stahlseilen festgezurrter Chemikalientank saß, während ihm der Sub-Inspector hinterherbrüllte. Doch Ravan hatte sein Taxi inzwischen auf den rechten Bürgersteig manövriert und sauste an Warenlagern und Speichern vorüber. Jetzt hatte er das Labyrinth hinter sich gelassen, und sein Fuß war etwas vom Gas gegangen. Allmählich schien er zum Normalzustand zurückzukehren, als er eine Polizeisirene gequält aufheulen hörte, der sich von einer engen Gasse her eine zweite anschloss. Die zwei Polizeiwagen wetteiferten, wer als Erster das Taxi erreichen würde, und die Sirenen wurden lauter und lauter. Eine dritte stimmte in ihr Duett ein und Ravan registrierte eine stolze Polizeieskorte etwa hundert Meter hinter sich, während Bashir Akhtars Ambassador mit einigem Abstand folgte. Aber Ravans Fuß lag wieder wie Blei auf dem Gaspedal. Er keuchte und schwitzte in Strömen wie seine Mutter vor den fauchenden Primuskochern in ihrer Küche, und die Passanten hätten schwören können, dass sie Steve McQueen in „Bullitt“ sahen, als das Taxi wie ein verschwommener Strich an ihnen vorbeiraste, um schließlich links auf den Western Express Highway abzubiegen und den Vorort Chembur, wo Ravan vor Raj Kapoors RK Studio sein Glück versucht hatte, rechts liegen zu lassen.
Und dann war er abgetaucht.
Die Polizeitransporter fuhren auf der Schnellstraße hin und her, während Bashir Akhtar wartete – entfernt genug, um nicht bemerkt zu werden, aber nah genug, um die Vorgänge im Auge zu behalten. Sein Beruf war ein dauernder Hochseilakt, und er machte an einem einzigen Tag mehr Krisen durch als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. Die Ruhe zu bewahren war in seinem Job von größter Wichtigkeit, aber dieser maderchod hatte ihn gehörig ins Schwitzen gebracht, und jetzt war er verschwunden. In der einen Sekunde noch da, in der nächsten wie vom Erdboden verschluckt, direkt vor seinen eigenen Augen und denen der Polizei. Aber wie weit konnte das kleine Arschgesicht schon kommen? Denn wie weit Ravan auch käme, es würde nie weit genug sein, um Bashir Akhtar daran zu hindern, ihn sich zu schnappen.
Eines der Polizeifahrzeuge hielt an, der Fahrer stieg aus und winkte den anderen. Die Böschung hatte sich in einen tiefen Krater verwandelt, in dem, mit noch laufendem Motor, Ravans Taxi steckte. Die Polizisten sprangen, ihre altertümlichen Waffen gezückt, aus den Fahrzeugen und pirschten sich vorsichtig an das Taxi heran. Als sie das Auto umstellt hatten, rief der Senior Inspector: „Du bist umzingelt! Öffne die Tür und steig mit erhobenen Händen aus, sonst verwandeln wir dich in ein Sieb!“
Zeit verging. Schleppend. Schließlich verlor einer der Polizisten die Geduld und bedeutete seinen Kollegen mit einer Geste, dass er näher rangehen wollte. Beim Abstieg rutschte er aus und kugelte den Abhang hinunter, bis er mit dem Gesicht gegen die Windschutzscheibe des Taxis krachte. Niemand rührte sich. Es war, als warteten alle darauf, dass ihr Kollege kaltblütig abgeknallt wurde, damit sie mit einer Schießorgie reagieren könnten.
Was der Polizist durch die Frontscheibe des Wagens sah, jagte ihm einen übleren Schreck ein, als wenn der Taxifahrer ihn mit einem Messer angefallen und ihm die Kehle aufgeschlitzt hätte. Der Körper des Fahrers war auf schier menschenunmögliche Weise verdreht und gekrümmt. Er war sehr blass, fast durchsichtig, seine Haut war aschfahl, er hatte Schaum vor dem Mund und zuckte wie ein Spastiker. Seine Gliedmaßen schlugen und zuckten unkontrolliert. Doch am beängstigendsten waren seine Augen: Sie waren so weit nach oben gerollt, dass nur noch das Weiße zu sehen war.
„Der Mistkerl tut nur so, jede Wette!“, rief einer der jüngeren Polizisten. „Ziehen wir ihn raus und verpassen ihm eine Abreibung, dann ist er in null Komma nichts wieder fit!“
„Rühr ihn nicht an! Er hat einen Anfall. Wir schleppen das Taxi aus dem Straßengraben und fahren dann zurück!“, sagte der Senior Inspector scharf. „Sirenen einschalten. Ich fahr das Taxi.“
Verblüfft schaute Bashir Akhtar zu, wie das Taxi, mit einem angegrauten Inspector am Lenkrad und eskortiert von drei Polizeiautos, in die Stadt zurückfuhr. Er hatte keine Ahnung, was passiert war. Er wusste nur eins: Ravan Pawar brachte Pech, ganz gewaltiges Pech, und war für den größten Verlust, den er jemals gehabt hatte, verantwortlich. Aber das war noch längst nicht alles: Der Hohlkopf würde ihn verpfeifen, und wenn dieser Senior Inspector einer von der ernsten, rechtschaffenen Sorte war, würde Bashir schon eine Menge Strippen ziehen müssen, um die Sache wieder auszubügeln. Ihm blieb nichts anderes übrig, als der absurden Karawane zu folgen.
Wie sich jedoch zeigte, hatte Ravan noch ein paar weitere Überraschungen auf Lager. Die Fahrzeugkolonne steuerte nicht etwa die nächste Polizeiwache an, sondern fuhr zum Sion Hospital. Die Polizeifahrzeuge verließen das Krankenhausgelände eine halbe Stunde später, aber das Taxi blieb erstaunlicherweise dort stehen. Bashir Akhtar hätte nicht wenig Lust gehabt, die Tür aufzuhebeln, das Taxi kurzzuschließen und einfach wegzufahren. In den Kofferraum hätte er erst geschaut, wenn er absolut sicher gewesen wäre, von niemandem beobachtet zu werden. Aber er war viel zu gewieft, um etwas derart Dummes zu machen. Der Inspector konnte ohne Weiteres ein paar Zivilbeamte abgestellt haben, um ihn genau dabei zu erwischen. Er schickte seinen Fahrer mit ausreichend Bargeld ins Hospital, um dem Personal am Empfang ein paar Informationen zu entlocken.
„Die wollten mir nicht sagen, was genau los ist“, berichtete der Fahrer, „aber ein Pfleger hat mich in die Männerabteilung geführt und mir den Taxifahrer gezeigt. Er lag im Bett, ich konnte nicht erkennen, ob er bei Bewusstsein war. Ich konnte nur sehen, dass er am Tropf hing.“
„Gut möglich, dass wir lange warten müssen. Geh du schon mal essen. Ich werde später gehen.“
Es war zehn Uhr abends, als Ravan endlich aus dem Seiteneingang herauskam. Er war wackelig auf den Beinen und musste sich am Geländer festhalten. (Gut gemacht, dachte Bashir Akhtar, ein wenig verhalten gespielt, in seiner Wirkung dadurch aber umso glaubwürdiger.) Er sah sich eine Weile nach seinem Taxi um, ging dann mit kleinen, zögernden Schritten darauf zu, als sei er sich nicht sicher, ob die Beine sein Gewicht aushalten würden, kramte nach dem Schlüssel, schloss die Tür auf und setzte sich hinein. Bashir Akhtar beobachtete ihn von der Gasse aus, auf der sein Ambassador hinter einem Lastwagen parkte. Eine Viertelstunde verging, und Ravan hatte den Motor noch immer nicht angelassen. Bashir Akhtar wartete zur Sicherheit weitere zehn Minuten, dann beschloss er, es zu wagen. Er näherte sich dem Taxi in einem weiten Bogen und glaubte, Ravan überraschen zu können.
„Hallo, Ravan.“ Entweder hatte Ravan ihn doch kommen sehen, oder er war nicht mehr zu überraschen. Er schaute nicht einmal auf. „Sie haben dich also rausgelassen?“
„Nein, haben sie nicht. Ich bin einfach gegangen, nachdem ich unterschrieben hatte, dass ich es auf eigene Verantwortung und entgegen ausdrücklichem ärztlichem Rat tue.“
„Was fehlt dir?“
„Das wussten sie auch nicht genau. Zuerst meinte der Stationsarzt, es müsste ein epileptischer Anfall gewesen sein, aber der Spezialist sagte Nein. Er ist sicher, dass es einen psychodingsonstwas Auslöser dafür gab. Sie haben mir Blut abgenommen, aber die Testergebnisse kommen erst in einigen Tagen.“
„Ich hätte dir die Diagnose ganz ohne Bluttests stellen können. Du bist ein gottverdammter durchgeknallter Irrer, genau das bist du. Warum bist du gegangen?“
„Meine Mutter macht sich furchtbare Sorgen, wenn ich nicht heimkomme. Und außerdem ist heute Dienstag.“
Ravan nuschelte. Bashir Akhtar war unsicher, ob er wirklich „Dienstag“ gesagt hatte, und wenn, was er damit meinte.
„Ein richtiges Muttersöhnchen, was?“
Ravan ging nicht weiter darauf ein.
„Auf wen hast du im Taxi gewartet?“
„Na, auf wen wohl? Auf Sie.“
„Auf mich?“ Bashir Akhtar erstarrte. Die Polizei hatte ihm eine Falle gestellt, und er war schnurstracks hineingetappt. Er packte Ravan an der Kehle und fing an zu drücken. Ravan leistete nicht einmal symbolisch Widerstand; er schien den Angriff erwartet zu haben.
„Du hast mich verpfiffen. Ich mach dich fertig, du Dreckskerl!“ Bashir Akhtar schaute sich um: Es war niemand zu sehen. Er lockerte langsam den Griff und stieg ein.
„Woher wusstest du, dass ich warten würde?“
Ravan brauchte eine Weile, um wieder zu Atem zu kommen, und selbst dann brachte er nur ein Krächzen heraus. „Wo hätten Sie schon hingehen sollen?“
„Was soll das heißen, wo hätte ich schon hingehen sollen?“ Ravans leblose Stimme hatte etwas Erschreckendes. Bashir Akhtar wurde einfach nicht schlau aus ihm.
„Ihr ganzes Zeug ist noch immer im Kofferraum. Und selbst wenn es das nicht wäre – ich weiß, dass Sie mich nie laufen lassen werden.“
„Wegen dem, was ich heute Morgen gesagt habe?“
„Eigentlich nicht. Das hat lediglich bestätigt, was ich ohnehin schon wusste.“
„Warum warst du dir so sicher?“
„Manchmal glaube ich, Sie haben das alles nur arrangiert, weil Sie einen lebenslänglichen Sklaven wollen. Vielleicht ist es so, vielleicht auch nicht. Aber das ist nur eine Ausrede. Selbst wenn ich Ihnen anstelle der siebentausendneunundfünfzig Rupien, die ich Ihnen schulde, siebzigtausend zahlen könnte, wären Sie nicht zufrieden. Wie sehr Sie mich auch bestrafen, es wird Ihnen nie genug sein. Sie werden bloß immer mehr und mehr verlangen.“
Dieser miese kleine Taxifahrer mit der toten grauen Stimme ging Bashir Akhtar allmählich auf die Nerven. Er schlug zu und erwischte ihn an der Kinnlade.
„Sag mir eins, Klugscheißer, wenn du so gescheit bist, warum hast du dann mein Geld gestohlen?“
„Spielt das jetzt noch eine Rolle? Es lässt sich nicht ungeschehen machen.“
„Bist du deswegen heute wie ein Irrer gefahren? Weil du wolltest, dass die Polizei mich schnappt?“
Ravan zuckte die Achseln. „Was hätte mir das genützt? Dann hätte ich Ihre Männer am Hals gehabt. Und wenn nicht, dann wären Sie gekommen, sobald die Polizei mit Ihnen fertig gewesen wäre. Aber das hatte nichts damit zu tun, wie ich heute Morgen gefahren bin.“
„Was wolltest du dann damit erreichen?“
„Nichts. Das ist es, nichts. Ich hatte einfach eine Heidenangst wegen dem Zeug im Kofferraum, was immer es sein mag. Und dann habe ich die Polizeisirenen gehört, und mein Verstand hat ausgesetzt.“ Ravan starrte unbeteiligt auf die Windschutzscheibe. „Ich hab zwar etwas von Ihrem Geld genommen, aber ein Dieb bin ich nicht. Und wie auch immer, es war zu etwas gut. Und jetzt werde ich für den Rest meines Lebens dafür bezahlen.“
„Wie lange hättest du auf mich noch gewartet?“
„Bis Viertel nach elf.“
„Und dann?“
„Dann hätte ich fahren müssen.“
„Warum?“
„Heute ist Dienstag, der Tag, an dem ich den Siddhi-Vinayak-Tempel besuche. Einundzwanzig Wochen, so lange muss ich hin, um mein Gelübde zu halten. Ich muss spätestens um halb zwölf dort sein, um noch vor Mitternacht darshan zu bekommen.“ Bashir Akhtar spürte, dass in der Gleichung zwischen ihm und dem Taxifahrer eine subtile Änderung eingetreten war. Worin genau sie bestand, hätte er nicht sagen können, ja, er war nicht einmal sicher, ob er sie sich nicht nur einbildete. Ravan mochte von lähmender Angst reden, aber sein Verhalten passte nicht recht dazu. Vielleicht war dies der hinduistische Fatalismus. Man zwingt einen Mann auf die Knie, und er hört auf, sich vor einem zu fürchten. Das ging nicht an. Für Bashir Akhtar war es eine einfache Rechnung: Der eigene Machtquotient war exakt so groß wie die Angst, die man in den Leuten zu erwecken vermochte.
„Fahr du zum Siddhi-Vinayak-Tempel und anschließend heim zu deiner Mama. Ich muss morgen Vormittag etwas erledigen.
Sei morgen um halb drei am Sagar Mahal in Cuffe Parade. Sei pünktlich. Du bist ein guter Schauspieler, Ravan, aber nächstes Mal wird dir das nichts nützen. Dann sitze ich nämlich im Fond.“
Es ist nicht so ganz klar, wem es am nächsten Nachmittag schlechter erging, als Ravan nach Cuffe Parade fuhr. Sobald die falschen Nummernschilder wieder über die echten geklemmt worden waren, forderte Bashir Akhtar Ravan auf, sich zu setzen. Er war in leutseliger Stimmung und schien sich dem Taxifahrer anvertrauen zu wollen.
„Weißt du, warum man mich Drei Komma Eins nennt, Ravan? Weil es früher eine Regel gab, ein ungeschriebenes Gesetz, das nie übertreten werden durfte. Der höchste Zinssatz, den man verlangen durfte, waren drei Prozent. Drei Prozent im Monat. Macht im Jahr sechsunddreißig Prozent. Ich habe diese Obergrenze durchstoßen. Ich verlangte drei Komma eins Prozent. Alle sagten, so viel würde keiner zahlen. Es wäre zu schwierig auszurechnen. Und da diejenigen, die das Geld brauchten, es überall für drei Prozent bekommen konnten, warum hätte sich dann jemand noch an mich wenden sollen? Aber die Leute kamen. Wann immer es einen Risikokunden gab, dem keiner das Geld leihen wollte – ich hab’s getan. Für drei Komma eins Prozent. Und was das Risiko angeht, habe ich meine Methoden, renitente Kunden zur Vernunft zu bringen. Aber was zählt, ist, dass ich das Limit angehoben habe. Man erreicht nichts, solange man sich nichts zutraut, solange man keine Risiken eingeht.
Du begreifst also, Ravan, ich bringe in jeden Job ein kleines Plus ein. Momentan bin ich dabei, meine geschäftlichen Aktivitäten zu diversifizieren. Meinen Konkurrenten und Feinden gefällt das nicht. Sie tun alles in ihrer Macht Stehende, um mich auszubremsen. Unglücklicherweise macht mich das nur umso hartnäckiger und sturer. Die anstehende Lieferung könnte für mich geschäftlich einen großen Schritt nach vorn darstellen. Ich betrachte dich bei diesem Unternehmen als meinen Partner. Also benimm dich einfach so, als würdest du einen x-beliebigen Fahrgast befördern. Es eilt nicht, und es besteht auch kein Grund zu trödeln. Und versuch nicht, mich auszutricksen! Das gelingt dir sowieso nicht. Eins kannst du mir glauben: Versuchst du irgendwelche krummen Touren, handelst du dir damit den Ärger deines Lebens ein. Kapiert?“
Ravan nickte.
„Ich kann dich nicht hören.“
„Ja.“
„Gut. Auf geht’s.“
Sie fuhren los, Ravan am Lenkrad und Bashir Akhtar im Fond; diesmal ohne Schwierigkeiten. Vorbei am Fischerdorf in Colaba und an Sachivalaya, vorbei am Air-India-Gebäude auf dem neugewonnenen Land am Nariman Point und auf den Marine Drive, wo eine Fahrzeugkolonne, vorneweg ein Polizeijeep mit gellender Sirene, dann der von vier Motorrädern umgebene Wagen des Gouverneurs und schließlich eine Kette von Polizeiautos samt einem Rettungswagen, von hinten herangebraust kamen. Sämtliche Fahrzeuge in Richtung Chowpatty Beach fuhren an den Straßenrand, um die Kolonne vorbeizulassen. Bashir Akhtar erwartete, dass auch das Taxi wie die anderen nach links ausweichen würde, doch zu seinem Schrecken machte Ravan, schweißtriefend und zitternd, als sei er von einem schweren Malaria-Anfall gepackt, einen Schlenker und fädelte sich hinter den beflaggten Gouverneurswagen ein. Die nachfolgenden Polizeifahrzeuge versuchten, den Eindringling abzudrängen, aber Ravan hatte schon auf Höhe des Wilson Colleges eine Kehrtwende gemacht, schien zunächst zum Nariman Point zurückfahren zu wollen und war dann, ehe Bashir Akhtar auch nur wusste, wie ihm geschah, nach links unter die Marine-Drive-Überführung abgebogen.
Bashir Akhtar war angesichts des Amok laufenden Ravan wie hypnotisiert. Man konnte im Fond förmlich seine Nerven klimpern hören. Ravan saß so tief über das Lenkrad gebeugt, dass seine Nase es fast berührte, und zuckte, schielend und grimassierend, unentwegt mit dem Nacken. Es bestand kein Zweifel: Ein böser Geist hatte vom Taxifahrer Besitz ergriffen.
Ravan bog nach links auf die Girgaon Road ab, am Tharkudwar vorbei zur Kreuzung am Opera House, scharf rechts nach Nana Chowk, Tardeo und weiter zur Haji-Ali-Kreuzung. Drei Komma Eins kreischte unentwegt „Stopp, stopp, stopp!“, aber Ravan war taub geworden. Bashir Akhtar konnte keine weiteren Risiken eingehen. Er knallte Ravan den Kolben seiner Pistole auf den Schädel, und obwohl das Taxi an Geschwindigkeit zu verlieren schien, schlug er zur Sicherheit noch einmal zu. Das Taxi rollte aus und kam knapp dreihundert Meter hinter Haji Alis Moschee zum Stillstand. Bashir Akhtar stieß die Fondtür auf, sprang heraus, riss die falschen Nummernschilder ab und wollte bereits wieder ins Taxi springen, als ein Polizeibus vorübersauste und Ravan mit seiner Sirene Löcher ins Gehirn schrillte. Noch ehe Drei Komma Eins reagieren konnte, machte Ravans Taxi einen Satz nach vorn und schoss wie eine Kanonenkugel davon, während Bashir Akhtar mit den Nummernschildern in den Händen und einer ungläubig herunterhängenden Kinnlade zurückblieb. Er winkte noch immer dem rasch in der Ferne kleiner werdenden Taxi mit den Nummernschildern nach, als ein zweiter Einsatzwagen mit Blinklicht herangebraust kam, während sein Lautsprecher plärrte: „Taxi Nummer 4697, halten Sie augenblicklich an! Für sachdienliche Hinweise, die zur Auffindung von Taxi Nummer 4697 führen, ist eine hohe Belohnung ausgesetzt! Der Fahrer des Taxis muss als gefährlich eingeschätzt werden!“
Erst als der zweite Polizeiwagen vorübergesaust war, wurde Bashir Akhtar bewusst, dass er die ganze Zeit die falschen Nummernschilder als Signalflaggen benutzt hatte, um diesen hirnlosen Taxifahrer zum Stehen zu bringen. Er ging zur Brüstung und setzte sich hin. Seine Beine waren zu Pudding geworden, und er zitterte am ganzen Leib wie dieser vermaledeite Köter, den er ein paar Monate zuvor abgeknallt hatte, weil er zu viel Lärm machte. Drei Komma Eins schmiss die falschen Nummernschilder über die Brüstung ins Arabische Meer und dankte dabei stumm dem Sufi-Heiligen Haji Ali für die große Gnade, die er ihm erwiesen hatte, schon aus dem Taxi ausgestiegen zu sein, bevor die Polizei auftauchte. Mit einem intelligenten Gegner kam Bashir Akhtar klar – je verschlagener, desto besser. Aber so einer wie Ravan war ihm noch nicht über den Weg gelaufen. Wie der Taxifahrer selbst eingeräumt hatte, gehörte er mit Leib, Seele und allem Besitz, bis hin zur Unterwäsche, Bashir Akhtar; Drei Komma Eins konnte mit ihm tun, was ihm passte. Und dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass – zum zweiten Mal in zwei Tagen – der Sklave den Herrn übertölpelt hatte.
Ein weites Stück voraus, war Ravan erneut am Bibbern. Er klammerte sich an das Lenkrad, als wäre es ein Rettungsring auf stürmischer See, und wich dem ersten Polizeiwagen nicht von der Stoßstange. Ihm verschwamm alles vor den Augen, und Hemd, Unterwäsche und Hose klebten ihm schweißnass am Leib. Er wusste, dass es nur eine Frage von Minuten war, bis er am Lenkrad die Besinnung verlieren würde. Der einzige Gedanke, der ihn noch aufrecht hielt, war der, dass diese Art zu fahren tödlich enden würde, womit er die Sorge um Drei Komma Eins und die Ware im Kofferraum ein für allemal los wäre. Es gab jedoch auch einen Plan B: Da er zwischen zwei Polizeiautos eingeklemmt war, mussten sie ihn früher oder später schnappen – worauf zum Teufel warteten sie eigentlich? – und ihn einbuchten, und dann hätte er die nächsten paar Jahre lang in seiner Zelle Ruhe gehabt. Aber die Polizei schien die Straße extra für ihn freigeräumt zu haben. In Panvel gab sie die Verfolgung auf, und er war allein und parkte sein Taxi auf der felsigen Anhöhe, auf der das Alibag International Hotel stand.
Das einzig Internationale am Hotel war der Name. Es war eine elende Bruchbude, heruntergekommen, verwahrlost und praktisch ohne Gäste. Zu bieten hatte es allerdings einen umwerfenden Blick auf das Meer und, weit in der Ferne, die Fata Morgana einer mythischen Stadt namens Bombay. Doch Ravan starrte auf die munteren Fluten und die Aussicht jenseits von ihnen mit blinden Augen. Als Bashir Akhtar zweieinhalb Stunden später mit seinem Ambassador eintraf, zog er wortlos den Zündschlüssel des Taxis, öffnete den Kofferraum und überprüfte die Ware.
„Hol Ahmed, Rajaram und Shafique“, befahl Bashir Akhtar seinem Fahrer, „und hilf ihnen, die Ware raufzuschaffen. Dann kommst du wieder runter und leistest unserem Freund hier Gesellschaft. Du lässt ihn nicht aus den Augen, egal, wie spät es wird. Ich lass dir Essen runterbringen. Wenn er aufs Klo will, achte darauf, dass er die Tür offen lässt. Vergiss nicht, dass er uns lieb und teuer ist und wir ihn nicht verlieren wollen!“
Als Bashir Akhtar wieder aus dem Hotel herauskam, war es halb zehn Uhr abends.
„Du bist ein richtiger Komiker, hab ich recht? Eine regelrechte Lachkanone, genau das bist du. Aber das Komischste ist, ich krieg beim besten Willen nicht mal ein Grinsen zustande. Und willst du wissen, warum?“ Er packte Ravan bei den Hoden und quetschte sie, bis Ravan schrie und schrie und schließlich nicht einmal das mehr fertigbrachte.
Solange er, seit sie Cuffe Parade verlassen hatten, in der Gewalt dieses Irren gewesen war und hatte befürchten müssen, jeden Augenblick von der Polizei geschnappt zu werden – und vor allem seine Ware zu verlieren –, hatte Bashir Akhtar sich beherrscht. Er hatte so inbrünstig wie nie zuvor zu Allah gebetet, und in seiner Barmherzigkeit hatte der Herr, und mit ihm der Pir Haji Ali, Mitleid mit ihm gehabt. Es war nichts weniger als ein Wunder, dass er entkommen war, aber jetzt, da er Ravan gegenüberstand, mussten all seine aufgestaute Wut und seine Anspannung heraus. Niemand konnte Bashir Akhtar so behandeln und hoffen, ungestraft davonzukommen. Das war eine Lektion, die er seinen Feinden nicht oft genug erteilen konnte – erst recht aber, und davon war er überzeugt, seinen eigenen Soldaten und Freunden.
Er hatte dafür gesorgt, dass seine Männer ihm zusahen. „Hast du eine Ahnung, um wie viel es bei diesem Deal ging, du Mutterficker?“, schrie er außer sich vor Wut, während er auf Ravan eindrosch. „Ich mache keine Sieben- oder Siebzigtausend-Rupien-Geschäfte! Die einzigen Beträge, die ich kenne, haben mindestens fünf Nullen hintendran! Und du hast dir wirklich alle Mühe gegeben, die Lieferung zu verbocken!“
Ravan war mittlerweile nicht wiederzuerkennen. Die Tritte und Fausthiebe modifizierten ihn kontinuierlich. Sein Gesicht war nur noch ein verquollenes Durcheinander, Spucke und das Blut aus seinen aufgeplatzten Lippen formten eine Pfütze auf dem Boden, und an seinem Körper bildeten sich blau-violette Hämatome. Bashir Akhtar hatte inzwischen seinen Gürtel in der Hand. „Dieses Mal bist du noch mit dem Leben davongekommen.“ Bashir Akhtars Gürtel zischte durch die Luft. „Das nächste Mal, nur dass das klar ist, bringe ich dich um. Ich nehm dich Stück für Stück auseinander, ohne Betäubung. Ein Arzt wird dabei sein, damit du mir nicht zu früh verreckst, aber du wirst jedes einzelne Haar spüren, das ich dir aus der Kopfhaut reiße. Und wenn ich mit dir fertig bin, werde ich dir den Kopf abhacken und ihn deiner Mama auf einem Silbertablett schicken!“
Eine halbe Stunde später wollte Drei Komma Eins gerade in seinen Wagen einsteigen, als er sah, wie Ravan sich aufrappelte, wieder zusammenbrach und sich abermals hochstemmte, erst auf allen Vieren, um dann sehr langsam und wackelig aufzustehen. Er fand, er hatte es Ravan ordentlich besorgt; er hatte wenigstens drei, vielleicht auch mehr Rippen knacken hören und hatte ihm so fest und so oft mit einem Knüppel auf den Schädel geschlagen, dass er mindestens eine Woche lang hätte liegen bleiben müssen. Mit etwas Glück – und Drei Komma Eins überließ derlei Dinge nicht dem Glück – hätte er sich frühestens in vierzehn Tagen wieder ans Lenkrad setzen können.
„Was glaubst du, wo du jetzt hingehst, du Held? Du baust innerhalb von fünf Minuten einen Unfall!“
„Kann sein. Aber ich muss weg.“
„Wir informieren deine Mami, dass du aus der Stadt raus musstest und heute Abend nicht nach Hause kommst.“
„Ich muss weg“, sagte Ravan starrsinnig, während er mit dem Schlüssel herumfummelte.
„Scheiße Mann, wo zum Teufel musst du hin? Du kannst nicht aus den Augen schauen und nicht gerade laufen. Was ist so gottverdammt dringend, dass es nicht ein paar Tage warten kann?“
Ravan versuchte immer noch, den Zündschlüssel herumzudrehen. „Mittwochs muss ich zur Mahim-Kirche, weil ich das …“
„Du hast das Gelübde abgelegt, eine Novene zur Jungfrau Maria zu halten, genauso wie du im Siddhi-Vinayak-Tempel zu Ganesh gebetet hast, richtig?“
„Ja.“
„Warum sparst du dann Haji Ali aus?“
„Tu ich gar nicht. Zu ihm gehe ich immer freitags.“
Bashir Akhtar gab es auf. Mit diesem Mann konnte man einfach nicht reden. Er war offensichtlich absolut durchgeknallt und gemeingefährlich. Schlimmer allerdings war – jeder Kontakt zu ihm konnte selbst den vernünftigsten Menschen ebenfalls in den Wahnsinn treiben.
„Und was für Werbegeschenke versuchst du dir an diesen drei heiligen Stätten zu erschnorren?“
Ravan ignorierte den spöttischen Ton; vielleicht war er auch zu sehr hinüber, um ihn überhaupt wahrzunehmen. „Ich möchte Gott nur dafür danken, dass er jemandem das Leben gerettet hat, der schon so gut wie tot war.“
„Du bildest dir ein, Allah wird deine Gebete erhören, obwohl du gleichzeitig zwei Götzen in den Hintern kriechst?“
„Hat er ja schon. Und die zwei anderen auch.“
Vier Wochen vergingen, und Ravan wartete noch immer darauf, dass Bashir Akhtar ihn zu einer weiteren Lieferfahrt bestellen würde. Dann, gerade als er sich in der Grauzone zwischen der Hoffnung, dem Mafiaboss könnte etwas zugestoßen sein, und der bitteren Gewissheit, dass nichts und niemand auf der Welt ihm etwas anhaben konnte, häuslich einzurichten begann, erhielt Ravan die Nachricht, er solle sich am nächsten Morgen um sechs im Sagar Mahal, Cuffe Parade, einfinden. Ravan hatte nicht vor, irgendwelche Risiken einzugehen. Schlag Viertel vor sechs klopfte er an Bashir Akhtars Wohnungstür.
„Scheiße, was zum Teufel machst du hier? Ich hab Shafique befohlen, dich unten warten zu lassen!“
„Keiner hat mir was gesagt. Mr Shafique war gar nicht da.“
Bashir Akhtar verpasste Ravan eine Ohrfeige, die ihn beinah von den Füßen fegte. „Was hast du ihm getan? Ich hatte von Anfang an den Verdacht, dass du für die Bullen arbeitest, und deswegen habe ich dir auch nie deine epileptischen Anfälle und all den Quatsch abgekauft! Es hatte schon einen Grund, warum die Cops dich nicht mit der ganzen Ware im Kofferraum erwischt und dich hinter Gitter gesteckt haben! Du bist ein Bulle und hattest den Auftrag, mich im Auge zu behalten! Aber mich legst du nicht rein! Wo ist Shafique?“
„Als ich gekommen bin, war er nicht da“, sagte Ravan und massierte sich die Backe. „Soll ich runtergehen und noch einmal nachschauen?“
„Klar, damit du die Polizei alarmieren kannst!“ Bashir Akhtar warf Ravan noch einen Blick zu. „Wo sind Rajaram und Ahmed? Ich hatte sie am Anfang der Gasse postiert.“
„Ich hab keine Ahnung. Die sind auch nicht da. Nur die Polizeiwagen.“
„Halt bloß die Fresse! Versuchst du vielleicht, mir Angst zu machen?“ Alles Blut war aus Bashir Akhtars Gesicht gewichen. „Polizeiwagen?“
„Ja.“
„Wie viele?“
„Drei, glaube ich. Einer in der Gasse hinter dem President Hotel, einer auf der Cuffe Parade und der letzte vor dem Fernsprechamt.“
„Wenn du lügst …“
„Ich weiß, wenn ich lüge, bin ich ein toter Mann.“
„Ich werde deine Geschichte überprüfen.“ Bashir Akhtar ging in sein Schlafzimmer und kehrte mit einem Fernglas zurück. „Komm mit rauf auf die Terrasse.“
Sie fuhren mit dem Aufzug bis zum siebenundzwanzigsten Stock und stiegen noch eine Treppe hinauf zur Dachterrasse. Die Sonne brach soeben rechts vom Gateway of India durch das Wasser, wie ein Taucher, der wieder an die Oberfläche kommt. Drei Komma Eins stellte das Fernglas scharf und suchte das Gebiet um sein Haus und den Rest der Cuffe Parade ab. Sein Gehirn schien blitzschnelle Berechnungen anzustellen und kam zu einem Resultat.
„Geh runter und warte exakt zehn Minuten. Zeitvergleich: Es ist sechs Uhr siebzehn. Dann steigst du in dein Taxi, wendest und fährst von der falschen Seite in die Gasse hinter dem President Hotel und blockierst die Durchfahrt. So, dass die Bullen festsitzen. Erzähl denen, dir wäre der Motor verreckt. Ist ja eine Einbahnstraße, wie du weißt. Hier hast du hundert Rupien in kleinen Scheinen. Die Bullen werden dich anhalten und dir Geld abknöpfen wollen. Bettel, jammer, heul. Feilsche mit ihnen und schinde Zeit heraus. Fang mit zwanzig an und lass dich langsam bis fünfzig hochhandeln.“
„Und wenn die nicht mitspielen?“
„Sieh zu, dass es überzeugend klingt. Andernfalls verbringst du ein paar Tage in einer Polizeizelle, das ist alles.“