24
Als Pieta das Krankenhaus erreichte, war es fast zehn. Jemand, der sich ClickClick nannte, war kurz vor acht Uhr abends zum Chawl gekommen und hatte die Familie informiert, Eddie und Ravan seien in eine Schlägerei geraten und ins Cooper Hospital in Juhu gebracht worden.
„Sie brauchen uns die schlechte Nachricht nicht bröckchenweise zu verabreichen“, sagte Violet. „Sagen Sie uns einfach die Wahrheit.“
ClickClick schaute verdutzt. „Wie bitte?“
„Ich wusste es! Ich habe Eddie nicht nur ein Mal, sondern unzählige Male vor dem Umgang mit diesem Jungen aus dem vierten Stock gewarnt! Erst hat er Victor erwischt und jetzt hat er mir meinen Sohn genommen.“
ClickClick blickte noch verwirrter drein. „Niemand hat Ihnen ihren Sohn genommen, gnädige Frau. Er und Ravan sind verletzt, das ist alles.“
Violet war nicht überzeugt. Als sie das letzte Mal ins Krankenhaus gegangen war, in der Annahme, ihr Sohn liege in den letzten Zügen, hatte sich die Sache darüber hinaus als weit schlimmer entpuppt.
Pieta gelang es nicht, den Nachtpförtner davon zu überzeugen, dass sie die Schwester eines der Patienten auf der Trauma-Station war. Schließlich begriff sie, hier ihre Zeit zu vergeuden. In dieser Stadt gab es eine einzige Möglichkeit zu beweisen, dass man zu irgendjemandem in einer engeren Beziehung – als Frau, Schwester, Bruder, Mutter, Tochter, Vater oder Freund – stand: etwas Geld in Umlauf zu bringen. Als sie endlich die Station erreichte, musste sie sich am Türpfosten festhalten. Einige Patienten stöhnten und ächzten; ein paar brüllten aus Leibeskräften, während andere weinten oder Gott anriefen, er möge ihnen beistehen. So hatte die Leiterin ihrer Klosterschule, Schwester Theresa, die Hölle beschrieben: verlorene Seelen, die gepeinigt schrien und den Allmächtigen um Vergebung anflehten, obwohl es für Reue längst zu spät war. Doch das Schlimmste kam erst noch. Die Intuition ihrer Mutter war richtig gewesen. Als sie sich dem Bett ihres Bruders näherte, sah sie, dass der Körper vollständig mit einem weißen Laken bedeckt war.
„Wann ist er …?“
„Ihm geht’s ausgezeichnet. Die spielen hier alle gern Theater, um Mitleid zu erregen“, sagte die Nachtschwester mürrisch und zog Eddie das Laken vom Gesicht. Es war zum Platzen geschwollen, und sein ganzer Körper war mit violetten Blutergüssen übersät. Neben dem rechten Ohr war er genäht worden, und er hatte drei gebrochene Rippen.
„Ich hab dich kommen sehen und dachte, du kriegst Angst, wenn du mich so siehst. Du hättest nicht kommen sollen.“
Pieta hielt Eddies Hand und fragte sich, wie sie wohl in der Nacht ausgesehen hatte, als Ravan sie fünf Treppen hinunter zu seinem Taxi getragen hatte, nachdem sie ausgeweidet worden war. Eddie rollte sich auf die Seite.
„Kann ich etwas für dich tun?“, fragte Pieta.
„Nein. Ich will nur aufs Klo.“
Sie versuchte, ihn zu stützen, aber er verlor das Gleichgewicht und fiel wieder zurück aufs Bett. Sie wohnten zusammen in einem Raum, und „Intimsphäre“ war für sie etwas, das sich größtenteils im Kopf abspielte, etwas, das sie sich gezwungenermaßen einbilden mussten, wann immer sie sich umzogen, sich wuschen oder es sie an einer peinlichen Körperstelle juckte. Und dennoch klammerten sie sich verbissener daran, als wenn sie allein in einem gottverlassenen Herrenhaus auf einem Hügel gewohnt hätten. Sie wünschte sich, sie hätte ihn ohne Umschweife fragen können, ob sie ihm helfen sollte, zur Toilette zu gehen, oder den Hilfspfleger bitten, eine Bettpfanne zu bringen, aber sie hatte Hemmungen, über Dinge zu reden, die mit Körperfunktionen zu tun hatten.
Sie fühlte sich ihrem Bruder so nah, als sei sie an sein Nervensystem angeschlossen. Sie zuckte gequält zusammen, als der Schmerz der gebrochenen Rippen in seine Brustmuskeln hinaufzüngelte und sie sich verkrampften und ihm den Atem nahmen. Als die Wirkung der Schmerzmittel bei ihm nachzulassen begann, pochte es auch in ihrem Kopf. Sie wusste, dass er auf die Toilette wollte, um stöhnen und schreien zu können, ohne sich darum sorgen zu müssen, wie sie darauf reagieren würde. Es wäre eine Erleichterung für ihn gewesen, wenn sie gegangen wäre.
„Soll ich die Schwester rufen?“, fragte Pieta. Wieder schüttelte er den Kopf.
Eddie wälzte sich auf die Seite, stand auf und schleppte sich schlurfend in Richtung Toilette. Pieta fragte ihn, was er am nächsten Tag gern zu Mittag haben wollte; vielleicht würde seine Mutter es ihm vorbeibringen. Sie selbst würde am Abend mit seinem Lieblingsgericht, Schweinefleisch-vindaloo, wiederkommen. Sie öffnete ihre Handtasche, um ihm etwas Geld dazulassen, als sie zischelnde, wispernde Geräusche hörte, als ob verlorene Seelen aus der Vorhölle versuchten, eine Botschaft zu übermitteln. Ihr gruselte an diesem Ort.
„Wo ist denn dein Freund Ravan?“, fragte sie, als ihr Bruder zurückkam.
Eddie zeigte auf das nächste Bett.
„Ich schau mal nach ihm.“
Sie wandte sich zum benachbarten Bett. Alles, die Betten, Nachtkästen, Nierenschalen, die Blätter der Ventilatoren und die Patienten, war durch das Neonlicht aus dem Schwesternzimmer in eine gespenstische blau-violette Leichenblässe getaucht. Wer immer Ravan Pawars Gesicht auseinandergenommen hatte, hatte es recht schludrig wieder zusammengesetzt, wie Teile eines Puzzles, die nicht zusammenpassten. Das linke Auge war durch eine Aubergine ersetzt worden und das rechte bis auf einen schmalen Ritz fest verschlossen. Die Nase war ein altgedienter Cricketball, dessen Nähte den Geist aufgegeben hatten und dessen Füllung jeden Augenblick hervorquellen konnte. Was die Lippen anging, so hätten sie einem mitten in einem Pazifik-Orkan als Rettungsring gute Dienste geleistet.
Pieta verfluchte den Tag, an dem sie Ravan zum ersten Mal gesehen hatte. Sie hatte ihm immer einen Vertrauensbonus eingeräumt, aber ihre Mutter hatte recht gehabt. Er bedeutete nichts als Ärger. Sie musste das Gesicht abwenden, um ihn nicht ansehen zu müssen.
„Als ClickClick kam, war Ihre Mutter in den Tempel gegangen, und Ihr Vater schlief entweder oder war ausgegangen. Deswegen bat ClickClick mich, Parvati-bai zu informieren. Ich habe beschlossen, selbst herzukommen und mir ein Bild zu machen, bevor ich sie unnötig beunruhige.“
„Sagen Sie meiner Mutter bitte, dass sie sich keine Sorgen um mich zu machen braucht.“ Sie musste sich hinunterbeugen, um seine Stimme zu hören, die dünner als ein Rauchkringel war. „Es ist wirklich alles in Ordnung. Ich bin nur gestolpert und dumm gefallen.“
„Ich werde nichts dergleichen tun!“ Pieta regte sich dermaßen auf, dass sie Ravan am liebsten auch noch ein bisschen geprügelt hätte. „Was haben Sie dieser armen Frau schon alles zugemutet! Machen sie mit Ihrem Gerede, katholisch werden zu wollen, völlig verrückt und versuchen, mich mit Ihrer Soutane zu beeindrucken, als würde ich auf solch billige Tricks hereinfallen!“
Da tat Ravan etwas Unmögliches. Er versuchte zu lächeln.
„Was ist so komisch, Ravan?“ Pieta ertrug es nicht, diese groteske Karikatur eines Clowns anzusehen.
Ravan schüttelte den Kopf. „Nichts.“
„Also, ich kann Ihrer Mutter jedenfalls etwas Komisches erzählen!“, sagte Pieta. „Dass Sie nichts dazugelernt haben, absolut gar nichts, obwohl Sie ein erwachsener Mensch sind; dass Sie noch immer versuchen, den Helden zu spielen. Ich werde sie morgen Abend mit hierhernehmen.“
Vier Tage später brachte Parvati-bai auch einen unfrankierten Umschlag mit ins Krankenhaus. Mittlerweile hatten die Briefe ihren Überraschungseffekt und ihre Schockwirkung verloren. Nicht aber ihren widerwärtigen Geschmack und das unterschwellig Bedrohliche.
Glücksbringer,
die Arithmetik, die man uns in der Schule beibringt, unterscheidet sich von der Arithmetik des Lebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen beträchtlich. Erstere ist exakt und geregelt. Sie lässt keinerlei Zweideutigkeit zu. Wenn du zwei mit zwei multiplizierst, oder eine siebenstellige mit einer neunstelligen Zahl, dann weißt du genau, woran du bist; solange du richtig rechnest. Wenn unsere Beziehungen zu unseren Angehörigen, Freunden, Arbeitgebern oder wem auch immer doch ebenso einfach wären! Wir müssten uns nur an die klar definierten Regeln halten, und es gäbe keinen Raum für Missverständnisse, Komplikationen oder Meinungsverschiedenheiten.
Erweist einem jemand eine Gefälligkeit, versteht es sich von selbst, dass man ihm auch dann etwas schuldig ist, wenn sie nicht materieller Natur war. Je größer die Gefälligkeit, desto größer die Schuld. Und die Schuld wird immer größer, sofern man die Gefälligkeit nicht zu einem Zinssatz zurückzahlt, der sich in Wahrheit jeder genauen Berechnung entzieht. Je eher man irgendetwas zurückgibt, desto besser. Leichter gesagt als getan, denn wann gilt eine Schuld, die nicht in Zahlen zu bemessen ist, als abgegolten? Und wie errechnet man die Zinsen? Vor diesem Dilemma stehe ich, seit ich hierhergekommen bin.
Als ich ohne jede Vorbereitung und praktisch ohne Geldmittel an diesen gottverlassenen Ort floh, forderte ich früher geleistete Gefälligkeiten ein. Ich hatte jemandem vor langer Zeit geholfen, jemandem, den man in Ermangelung eines besseren Terminus als einen ehemaligen Banditen oder Straßenräuber bezeichnen könnte. Es war nichts Besonderes; offen gesagt, nur eine Kleinigkeit. Jetzt ist genau dieser Mann dabei, sich zu einem feinen Herrn zu entwickeln. Er ist noch immer in derselben Branche tätig, aber er hat inzwischen erheblich mehr Macht und Einfluss. Er genießt die Unterstützung zweier wichtiger Abgeordneter, eines Vater-Sohn-Gespanns. Die beiden haben den Ruf, zu den saubersten Mitgliedern des hohen Hauses zu gehören. Was daran liegt, dass mein gegenwärtiger Gastgeber die ganze Drecksarbeit für sie erledigt. Solange er ihre Interessen wahrnimmt, ihre Rivalen in Schach hält und bei Bedarf aus dem Weg räumt und natürlich dafür sorgt, dass das Stimmvieh sie wählt, werden Staatsanwaltschaft und Polizei ihn nicht behelligen.
Er hat mir Asyl und Schutz gewährt. Ja, mehr noch, er hat mir eine neue Chance gegeben. Ich stehe tief in seiner Schuld.
Die Zeiten ändern sich, und auch mein Gastgeber träumt davon, zu expandieren und in die Politik zu gehen. Er würde gern ehrbar werden. Aber alte Gewohnheiten sind schwer abzulegen, und er schafft es nicht, sich von seinen früheren Methoden zu verabschieden. Einer der größten Bundesstaaten steht nach Einbruch der Dunkelheit ganz unter seiner Kontrolle – und neuerdings oft auch bei Tage. Aber er hat keine Ahnung, wie man in den gehobenen Leistungssektor aufsteigt oder seine Angebotspalette erweitert. Das kommt mir sehr gelegen. Ich kann seine Unternehmen modernisieren und mich so für seine Gefälligkeit revanchieren. Seit ich hier bin, habe ich alle Hände voll zu tun – weit mehr, als es in Bombay der Fall war: Ich organisiere seine Interessen und Aktivitäten, seine Finanzen und Männer. Ich habe alle Arbeitsabläufe systematisiert und nach und nach das Chaos gebändigt, das aufgrund seines planlosen Geschäftsgebarens in all seinen Unternehmungen herrschte. Ob du’s glaubst oder nicht – ich habe ihm sogar beigebracht, wenn er in Delhi zu tun hat, reine weiße handgewebte Khadi zu tragen. Er sieht nicht schlecht aus, er ist nur furchtbar unbeholfen und gehemmt, genauso wie ich es in meinen jungen Jahren gewesen sein muss.
Wie du siehst, Glücksbringer, versuche auch ich, wie du, meine Schulden auf Raten abzuzahlen. Doch während ich meinem Freund Gefälligkeiten erweise, lasse ich keineswegs meine eigenen Interessen aus den Augen. Einer seiner unschätzbaren Vorzüge ist die Tatsache, dass er ein paar Leute von ganz oben in der Tasche hat, besonders im Zentrum. Ohne mich aufzudrängen, bemühe ich mich, Kontakte zu ihnen und zu hohen Amtsträgern zu knüpfen. Es ist mir immer eine Freude, ihnen Gefälligkeiten erweisen zu können. Dies hat keinen anderen Grund als meine mir angeborene Großzügigkeit. Gleichzeitig kann man nie wissen, wann man selbst etwas brauchen wird. Langsam, mit kleinen Schritten, arbeite ich darauf hin, zu meiner ersten Geliebten zurückzukehren, der Stadt, in der du lebst.
Khuda hafiz
P.S. Vergiss nicht, dass du mir noch immer etwas schuldest
„Ich hätte einen Vorschlag für euch“, sagte ClickClick Kapil zu Ravan und Eddie, als die beiden endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurden. „Ich habe mit dem Regisseur gesprochen, ManiyarSir. Ich habe ihm gesagt, dass der Endkampf zwischen Bharat und dem Schurken, Bonzai, einfach nicht hinhaut. Er hat keinen Saft, keine Kraft, keine Glanzlichter. Er ist so zahm wie ein Lamm, statt ein Tiger eines Fights zu sein. Während das die große Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse sein soll, wie die zwischen Ram und Ravan (nicht persönlich gemeint, Ravan), ist Pappu Raghavans Sequenz nichts als eine Kindergartenprügelei. ‚Da will mir so ein hirnloser Regieassistent also erzählen, wie man einen Film dreht‘, sagte ManiyarSir zu mir. Er war stinksauer und forderte mich auf, den Set sofort, und zwar endgültig, zu verlassen. Ich befürchtete schon, das war’s für mich in der Branche. Der Fight war bereits im Kasten, und ihn neu zu drehen würde nur die Kosten in die Höhe treiben. Aber es gab noch ein schwerwiegenderes Problem. Der Kinostart war schon bekannt gegeben worden. Ich hatte meine Klappe zu weit aufgerissen, aber offenbar kam ManiyarSir doch ins Grübeln.
Am nächsten Tag ließ er mich holen. ‚Hast du was Besseres auf Lager, Coppola? Einen Tiger eines Fights, wie du das nennst?‘, fragte er mich sarkastisch. Und ich sagte Ja, ich habe zwei Leute, die echte Tiger sind. Ich habe ihm die Fotos gezeigt, die ich während eures Unterrichts aufgenommen hatte, und ein paar von Ravan und Asmaans Bruder am Tag des echten Kampfes. Und dann von dem Kampf zwischen euch beiden und Yaqubs Gang. ‚Jeder Kampfsportlehrer kann so was‘, unterbrach er mich. ‚Die Frage ist: Können die auch die ganze zwölfminütige Sequenz choreographieren und ausführen?‘
Ich verspreche euch nichts; es ist nur ein Schuss ins Blaue. Ein unverbindliches Angebot. Er hat den Kampf schon. Eure einzige Chance ist, ihn davon zu überzeugen, dass eure Konzeption und Ausführung um so viel besser sind, dass ihm nichts anderes übrig bleibt als nachzudrehen.“
„Können wir Pappu Raghavans Finale sehen?“
„Das dürfte sich machen lassen, Ravan.“
„Bis wann will er es haben?“, fragte Eddie.
„Ach, vorgestern reicht völlig.“
„Wir sind körperlich völlig aus der Form, das wissen Sie. Unsere Muskeln sind steif. Schauen Sie sich Ravan an, er hinkt immer noch. Und wir haben beide Narben im Gesicht. Wir werden mindestens einen Monat brauchen, um wieder ein bisschen in Form zu kommen.“
„Die Gesichter spielen keine Rolle. Ihr werdet ohnehin nie in Nahaufnahme gezeigt. Zwei Wochen, länger wird ManiyarSir nicht warten. Pappu hat für den ganzen Dreh eine Woche bekommen. Wenn er mit eurer Arbeit zufrieden ist, bekommt ihr zwei Tage.“
Sie sahen sich den Endkampf zwischen Bharat und Bonzai ein Dutzend Mal an, aber sie konnten nicht genau ausmachen, was darin schiefgelaufen war. Pappu Raghavan war nicht auf den Kopf gefallen. Er mochte einer von der alten Schule sein, aber er beherrschte sein Geschäft. Die Kampfsequenz war professionell konzipiert, sehr diszipliniert und straff ausgeführt. Aber irgendetwas fehlte. Sie schauten sie sich immer und immer wieder an. Sie machten sich jeder für sich an die Arbeit und komponierten den Kampf vom Standpunkt ihrer jeweiligen Kampfkunst aus; sie versuchten es mit einer Mischung aus beiden, probierten einen Freistil-Approach aus, angereichert mit einer Prise Kickboxen und dem Affenzirkus und Schmierentheater, das in Bombay als Wrestling verkauft wurde, aber aus irgendeinem Grund wurde daraus kein Ganzes. Das Endergebnis sah dilettantisch und zerfahren aus. Da bekamen sie nun die Chance ihres Lebens, und sie hatten einfach nichts zu bieten.
Wenn sie überhaupt durchhielten, dann nur deswegen, weil sie morgens und abends jeweils eine Stunde unter den Händen ayurvedischer Masseure verbrachten, die ihre Muskeln, Knochen und inneren Organe kräftig durch die Mangel drehten. Es war unheimlich, wie sie anschließend immer das Gefühl hatten, ihre zerschlagenen Körper seien zu starren Holzbalken, ihre Gehirne dafür zu Brei geworden. Zusätzlich trainierten sie täglich vier Stunden.
Am Tag bevor sie ManiyarSir ihre Version vorführen sollten, trafen sie ClickClick und sagten ihm, es tue ihnen leid, aber es haue einfach nicht hin.
Er setzte dazu an, etwas zu sagen, überlegte es sich dann jedoch anders. Er versuchte es noch drei Mal, so als könnte sein Zorn es nicht erwarten, ausgespien zu werden. Aus unerklärlichen Gründen aber schaffte er es nicht.
„Geht nach Haus“, sagte er leise, und seine Worte taten umso mehr weh, als sie völlig hoffnungslos klangen. „Ihr seid Statisten, und ihr werdet immer Statisten bleiben. Was mich angeht, ist meine Laufbahn beim Film zu Ende. ManiyarSir ist ein nachtragender Mensch, der eine Beleidigung sein Leben lang nicht vergisst.“
„War nur ein Scherz!“, sagte Ravan. „Eddie hat eine Bombenidee in der Hinterhand. Wir sehen uns morgen im Famous Studio, eine Stunde vor der Präsentation für ManiyarSir.“
Eddie lächelte bedeutungsvoll.
„Was zum Teufel war das eben?“, fragte Eddie, sobald sie allein waren. „Bist du vollkommen übergeschnappt? Ich soll eine Idee haben? Mein Kopf ist leer wie eine Rumbarassel ohne ein einziges Steinchen darin!“
„Du weißt, wie die meisten Leute über uns reden; sie haben nichts als Verachtung für uns übrig. Selbst die anderen Statisten sehen auf uns herab. Sie sehen uns, und es ist, als schauten sie in den Spiegel. Tatsache ist, wir haben kein Selbstwertgefühl. Aber ClickClick hat etwas Besonderes in uns gesehen. Er glaubte, wir könnten ihm noch nützlich sein, und deswegen sprach er mit ManiyarSir. Er war verletzt, weil er sich von uns im Stich gelassen fühlte.“
„Mag sein, dass du recht hast, aber was ändert das an unserer Lage? Wir sind so weit wie gestern oder vor einer Woche. Nämlich bei null.“
„Ich werde den Gedanken nicht los, dass wir die Sache falsch angehen. Wir haben uns irgendwie festgefahren. Und mit ‚festgefahren‘ meine ich, dass wir versuchen sollten, das Problem von außen zu lösen.“
„Was soll das heißen, ‚von außen‘?“
„Als ob wir versuchen würden, ein Rätsel zu lösen. Aber das ist keins. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod. Ich weiß, ich rede wirres Zeug, aber wir tun das Gleiche, was jeder Fight Director tut. Der Böse ist immer gleich. Er ist eben einfach der Schurke, er ändert sich nie. Er ist böse, einfach nur böse.“
„Also worauf willst du hinaus? Dass wir Bonzai gewinnen lassen? Dafür sind wir nicht angeheuert worden, und es ist mit Sicherheit auch nicht das, was das Publikum sehen will.“
„Ich weiß. Der Böse muss verlieren, aber jetzt überleg mal: Was, wenn er nicht so eindeutig negativ besetzt wäre? Was, wenn eine Veränderung erfolgte und das Publikum feststellen würde, dass es zumindest eine Spur von Mitgefühl mit dem Schurken empfindet?“
„Ich glaube, ich weiß, worauf du hinaus willst. Wir gehen mit Bonzai die ganze Zeit wie mit einem Problem um, aber wir betrachten ihn keinen Augenblick als einen Menschen. Wir müssen uns in ihn hineinversetzen. Du und ich sind vielleicht der Meinung, dass er einfach eine Schraube locker hat, aber darauf kommt es nicht an. Bonzai ist überzeugt, dass ihm ein schreckliches Unrecht widerfahren ist, und das ist das Entscheidende! Deswegen ist er der fleischgewordene Hass. Er will abrechnen. Nicht mit dir und mir und dem Rest der Menschheit. Er will mit Gott abrechnen.“
„Ja, das ist es!“, sagte Ravan aufgeregt. „Bonzai will sich an der ganzen Welt dafür rächen, dass er als Zwerg geboren wurde. Selbst wenn Gott versuchen sollte, ihn dadurch zu entschädigen, dass er auch den Rest der Menschheit in Zwerge verwandelte, wäre er nicht glücklich. Befriedigen würde es ihn nur, der einzige Riese in einer Welt von Zwergen zu sein!“
„Unsere Regisseure und Fight Directors vergessen es immer“, sagte Eddie, als sie im Zug waren. „Der Held kann nur dann ein wirklicher Held sein, wenn sein Gegner ihm ebenbürtig ist. Wenn er nicht nur ein, zwei Tricks drauf hat, sondern die Fähigkeit besitzt, den Helden zu überraschen und möglicherweise sogar zu besiegen.“ Eddie hielt kurz inne, als versuchte er, einen Gedanken zu Ende zu führen. „Ich hab eine Idee. Mach du den Bharat, und ich bin Bonzai. Was immer du tust, werde ich zu übertreffen versuchen, was hältst du davon?“
Sie wussten, dass sie jetzt auf der richtigen Spur waren, gingen schnurstracks zur Sandarena in der Sportanlage der Sabha und fingen an, die Strategie der zwei Protagonisten zu improvisieren und sich, während die Sequenz nach und nach Gestalt annahm, Notizen zu machen. Was immer sie sich zurechtlegten, würde schlicht ausfallen müssen, denn für Special Effects reichte die Zeit nicht mehr. Die Kamera würde keinen von beiden je frontal in Nahaufnahme zeigen, und Eddies Einstellungen würden mit einer besonderen Vorsatzlinse gedreht werden, die ihn in einen Zwerg verwandelten. Sie arbeiteten die ganze Nacht; sie konstruierten jede Aktion als einen Dialog zwischen dem Helden und dem Schurken und choreographierten anschließend die gesamte Sequenz auf die Sekunde genau.
Bonzais geringe Körpergröße betrachteten sie nicht als Nachteil; im Gegenteil, sie verwandelten sie in seine tödlichste Waffe. Er krabbelt und er gleitet. Er ist extrem schnell und wendig, und sein Plan ist, Bharat auf Augenhöhe mit ihm selbst herunterzustutzen, indem er ihm die Beine absäbelt. Und ist er erst einmal niedergestreckt, hoch über ihm zu stehen und ihm mit seinem überlangen Schwert das Herz herauszuschneiden und es auf die Spitze des nationalen Fahnenmasts im Roten Fort von Delhi zu spießen. Zunächst ist er Bharat gegenüber eindeutig im Vorteil. Der Entscheidungskampf spielt sich auf der langen Dachterrasse eines noch im Bau befindlichen Hochhauses ab. Bonzai rollt sich zu einer winzigen kompakten Kugel zusammen und erreicht dabei eine solche Geschwindigkeit, dass er dem Kugelhagel, den der Held auf ihn abfeuert, unversehrt entkommt. Er nimmt Kurven wie ein kreischender Rennwagen und versucht, Bharat mit seinem Schwert die Beine abzuhacken. Bharat weicht zwar jedes Mal dem Hieb aus, doch nicht ohne schwere Blessuren davonzutragen. Seine Beine sind zerfleischt und bluten. Bharat kann sich kaum noch aufrecht halten und weiß, dass er erledigt ist. Bonzai zieht an dieser Stelle nicht die übliche Hindi-Filmschurken-Nummer ab und lacht melodramatisch. Stattdessen sagt er leise, aber deutlich: „Sprich ein Gebet, mein Freund. Geh und erzähl deinem Gott, dass Satan manchmal nicht nur den besseren Text, sondern auch die besseren Karten bekommt. Jetzt gehören alle drei Welten mir!“
Bharat versucht, ein letztes Mal aufzustehen. Seine Beine zittern, und er wankt, als Bonzai wie ein flammender Meteor auf ihn zugeschossen kommt. Bharat schließt die Augen und bricht zusammen. Das ist das Ende; für die Menschheit besteht keine Hoffnung mehr. Doch gerade, als Bonzai ihm den Todesstoß versetzen will, öffnet Bharat sein rechtes Auge einen winzigen Spalt, orientiert sich kurz, ergreift den Speer, der neben ihm am Boden liegt, und hält ihn über seinen Kopf direkt in die Flugbahn des Schurken. Es erklingt ein schrilles, durchdringendes Geräusch, der Speer wird Bharat durch die Wucht des Zusammenstoßes aus der Hand gerissen und schlägt weit hinter ihm auf.
Bharat stemmt sich langsam hoch. Er taumelt, er ist zerschlagen und verwundet, er schleppt sich die Terrasse entlang dorthin, wo der Speer liegt. Endlich erreicht er ihn und hebt ihn in die Höhe. Bonzai steckt darauf wie ein Schwein am Spieß, den Mund zu einem Schrei aufgerissen. Bharat klopft sich den Staub von den Kleidern, verzieht das Gesicht vor Erschöpfung und sagt: „Ich glaube, ich bleibe doch lieber bei Gott. Was meinst du, Bonzai?“
„Wie kommt es, dass unsere Namen nirgendwo auftauchen?“ Der Entscheidungskampf war ein triumphaler Erfolg. Doch am Tag nach der Premiere fand ein nicht minder erbitterter Showdown zwischen Eddie, Ravan und ClickClick statt. „Nicht mal im Abspann? Wir sind noch immer nicht bezahlt worden, weder als Directors des letzten Kampfes noch als die Stuntmen, die ihn durchführen. Pappu Raghavan ist der Einzige, der als Fight Director namentlich genannt wird. Und selbstredend wurden wir nicht mal zur Premiere eingeladen und mussten die Karten für die reguläre Vorstellung aus eigener Tasche bezahlen!“
„Es tut mir leid. Das lag nicht in meinen Händen.“
„Und was können wir uns dafür kaufen, dass es Ihnen leid tut? Wir wollen im Vor- und im Nachspann als die Fight Directors des letzten Kampfes genannt werden!“
„Bei zehn von den elf Kampfsequenzen hat Pappu Raghavan Regie geführt. Also kam sein Name rein.“
„Aber wir haben die alles entscheidende Szene gemacht, die letzte!“
ClickClick zuckte die Achseln. „Was erwartet ihr von mir? Die Sache ist gelaufen.“
„Was soll das heißen, die Sache ist gelaufen?“, schnauzte Eddie ClickClick an. „Sie sind zu uns gekommen und haben gesagt, die letzte Sequenz, so wie Pappu sie gedreht hatte, würde nicht hinhauen! Sie haben uns um Hilfe gebeten! Wir waren gerade aus dem Krankenhaus entlassen, und Sie wissen, dass wir noch nicht einmal mit der Physiotherapie angefangen hatten. Und trotzdem haben wir geliefert. Nicht nur das, auch die paar Dialogzeilen in dieser Sequenz stammen von uns. Fast jeder, der den Film gesehen hat, kann sie auswendig. Und ,Bharat‘ fährt im ganzen Land karrenweise Knete ein! Wir haben unseren Teil getan. Wie wär’s, wenn Sie jetzt den Ihren täten?“
„Nur dass eines klar ist – ihr habt mir keinen Gefallen getan. Gemacht habt ihr es, weil ihr nie wieder eine solche Chance bekommen hättet.“
„Keiner bestreitet, dass wir die Gelegenheit ergriffen haben, weil wir dachten, das sei die Chance unseres Lebens“, fiel Ravan ein. „Aber wenn unsere Namen nirgendwo erwähnt werden, kann keiner wissen, dass wir den letzten Kampf konzipiert haben und nicht Raghavan. Was nützt einem dann die einmalige Chance?“
„Glaubt ihr wirklich, die hätten mich nach meiner Meinung gefragt, als sie den Vorspann drehten?“
„Aber jetzt wissen Sie Bescheid, und Sie können von der Produktion verlangen, dass der Vorspann neu gedreht wird.“
„Wie lange seid ihr schon in der Branche? Wisst ihr nicht, dass ich nur Regieassistent bin? Das ist so nah am Fußabtreter, wie man überhaupt nur kommen kann.“ Er schwieg einen Moment und drehte dann das Messer in der Wunde herum. „Außer natürlich, man ist Statist. Geht das endlich in euren Schädel? ManiyarSir würde Vor- und Abspann nur für große Namen umschneiden. Nicht für eures- und meinesgleichen.“
„Reden Sie von ManiyarSir oder von sich?“, fragte Eddie aggressiv. „Sie werden nichts unternehmen, weil wir nur Statisten sind und Ihnen nichts mehr nützen können?“
„Glaubt ihr wirklich, ich wüsste nicht, wie übel man euch gelinkt hat? Meint ihr, ich bin stolz darauf, dass ich eure Namen nicht mal in den Abspann quetschen konnte? Wenn ,Bharat‘ mich etwas gelehrt hat, dann, dass ich machtlos bin. Ich darf euch versichern, dass das kein erfreuliches Gefühl ist.“
Vier Monate vergingen, und „Bharat“ war auf dem besten Weg zu einem Silver, vielleicht sogar einem Golden Jubilee, aber Eddie ließ und ließ nicht locker. Ravan meinte, es habe keinen Sinn, es weiter bei ClickClick zu versuchen. Der Regieassistent schien beruflich ebenfalls auf der Stelle zu treten. Er schaffte es zwar weiterhin, gelegentlich einen Auftrag zu bekommen, zum größten Teil allerdings für schäbige C-Filme, die nur Soft-Pornos oder bluttriefende Horrorfilme für die rückständigsten Regionen der rückständigsten Staaten der Union waren. Eine Zeit lang spielte er tatsächlich mit dem Gedanken, der Statistengewerkschaft beizutreten, aber dann kam er stattdessen als freier Pressefotograf bei einem glamourösen Lifestyle-Magazin unter.
„Was soll uns das einbringen?“, gab Ravan zu bedenken. „Es gibt ja doch bloß Streit. Letztes Mal hatte ich schon Angst, es würde mit Prügel enden.“
„Nur dieses eine Mal. Ich verspreche, mich zu benehmen.“
Als ClickClick die Tür seines winzigen Kabuffs öffnete und sie sah, sackten seine Schultern herunter. „Nicht ihr schon wieder. Was wollt ihr von mir? Soll ich mich noch mal entschuldigen? Also bitte, hier. Nicht nur ein, sondern drei Mal. Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid! Jetzt geht bitte und lasst mich in Frieden.“
„Wollen Sie uns nicht hereinbitten? Ich habe ein Lied für Sie“, sagte Eddie, während er die Bongos, die er mitgebracht hatte, auspackte und anfing, leise zu trommeln.
Großer Fisch frisst kleinen Fisch.
Kleiner Fisch frisst klein’ren Fisch.
Klein’rer Fisch frisst noch kleineren.
Und was ist mit dem Kleinsten?
Den beißen die Hunde.
Wird kleiner Fisch zum großen Fisch
Vergisst er prompt, wie klein er war,
Nicht weit von den Zähnen der Hunde.
Der Maharadscha denkt nicht dran
Dass sein Ahn als Strauchdieb begann,
Nie allzu weit vom Galgen.
Pass also auf
Du kleiner Fisch
Dass du nicht auch
Als Hundefutter endest!
„Kannst du das bitte noch einmal singen?“, fragte ClickClick Eddie.
„Sie machen wohl Witze.“
„Nein, im Ernst.“
Diesmal stimmte ClickClick in den Gesang mit ein. Er sang so schief, dass Eddie Mühe hatte, ihn zu übertönen. Click-Click lud sie danach zum Abendessen ein, als sei ihm nicht bewusst, dass sie eine Auseinandersetzung gehabt hatten oder das Lied ihn hätte daran erinnern sollen, dass er ihnen in den Rücken gefallen war und er sich dafür gefälligst schämen sollte.
„Ich hätte auf dich hören sollen“, sagte Eddie zu Ravan auf dem Heimweg. „Ich glaub ihm kein Wort davon, dass er angeblich auch keine Aufträge mehr kriegt!“
„Scheint aber doch zu stimmen, nach allem, was man so hört. Wer bei ManiyarSir aneckt, den stellt keiner mehr ein.“
„Was geht uns das an? Kein Mensch hat die leiseste Ahnung, dass wir die letzte Kampfsequenz in ,Bharat‘ gemacht haben!“
Ravan und Eddie waren verzweifelt, und das mit gutem Grund. Wenn es ihnen nicht gelang, aus der erhaltenen Chance Kapital zu schlagen, würden sie nie eine zweite bekommen. Es blieb ihnen eine einzige Möglichkeit: Sie mussten ManiyarSir sprechen. So schwierig konnte das eigentlich nicht sein. Während des Drehs der zwölfeinhalbminütigen Kampfsequenz hatten sie zwei ganze Tage gemeinsam mit ihm verbracht. Sie versuchten, ManiyarSir telefonisch zu sprechen, aber er war entweder in einem Meeting oder soeben nach London, Dubai oder Los Angeles abgeflogen. Zwei Mal waren sie ihm kurz begegnet, ein Mal, als sie zusammen mit fünfundvierzig anderen Statisten für ManiyarSirs neuen Film tanzten, aber er hatte sie nur ausdruckslos angeschaut und gefragt, ob er sie schon mal gesehen hätte, denn er könne ihre Gesichter nicht unterbringen.
„Und wenn ihr jetzt entschuldigt …“ Im nächsten Moment war er verschwunden. Als sie versuchten, ihm zu folgen, trat ihnen der Produzent des Films in den Weg.
„Wir möchten ManiyarSir sprechen, nicht Sie.“
„Er ist beschäftigt. Der Einzige, den ihr zu sprechen kriegt, bin ich.“
„Sie verstehen nicht. Er schuldet uns Geld.“
„Das geht nur ihn und euch etwas an. Aber jetzt kostet ihr mich Geld. Dreitausendsiebenhundert Rupien für jede unproduktive Minute. Also haut ab. Sofort. Sonst rufe ich den Sicherheitsdienst und lass euch rausschmeißen.“
Die zweite Gelegenheit bot sich vor ManiyarSirs Bungalow, als das ferngesteuerte Tor sich geöffnet hatte, damit sein Auto das Anwesen verlassen konnte. Um ein Haar wären sie überfahren worden, da sie, wie der Fahrer später angab, scheinbar wild darauf gewesen seien, sich vor die Räder zu werfen. Es war pures Glück, dass ManiyarSir mit seiner stets bewundernswerten Geistesgegenwart dem Fahrer befahl zu bremsen. Danach kam es zu einem Wortwechsel. Der berühmte Regisseur, der seine Storys und Drehbücher selbst schrieb, litt noch immer an der gleichen praktischen Form von Amnesie, die ihn das letzte Mal befallen hatte, doch wie stets war er der Inbegriff von Höflichkeit und Courtoisie. Er kurbelte das Fenster herunter und fragte, was sie wollten. Als Eddie von dem Geld sprach, das ihnen für den Entscheidungskampf zwischen dem Helden und dem Schurken in seinem Film „Bharat“ zustünde, erwiderte er, soweit er sich erinnere, habe in dem Film Pappu Raghavan bei den Kämpfen Regie geführt. Sollten sie jedoch, fügte er huldvoll hinzu, wie sie behaupteten, tatsächlich für diese eine Sequenz verantwortlich sein, dann hatten sie doch gewiss einen Vertrag. Wenn sie diesen in seinem Büro vorlegten, würde er dafür sorgen, dass sie ihr Geld bekämen.
Wann immer er an ManiyarSir dachte, spürte Eddie eine heftige Wut in sich aufsteigen, aber er hatte keine Ahnung, wie er es dem Mann hätte heimzahlen und ihn für den miesen Trick, den er mit Ravan und ihm abgezogen hatte, hätte büßen lassen können. Er fragte sich, ob Ravan nicht im Grunde ein Weichei war, wenn nicht gar ein regelrechter Feigling. Er schien keinerlei Kampfgeist zu haben – wenngleich Eddie selbst nicht hätte sagen können, was er genau damit meinte. Erwartete er von Ravan etwa, dass er mit Kriegsgeschrei in ManiyarSirs Bungalow in Pali Hill stürmte und dem Mann Säure ins Gesicht schüttete oder ihm den Kopf abhackte? Oder erwartete er nur von ihm, dass er mindestens ebenso oft und lautstark jammerte und klagte, wie er selbst? Allmählich wurde Eddie bewusst, dass all seine Wut und seine Magengeschwüre völlig für die Katz waren. Herrgott noch mal, das hier war die Hindi-Filmindustrie! Es war ihre eigene Schuld, wenn sie so naiv gewesen waren. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Stolz hinunterzuschlucken, seine Rachephantasien auf den Müll zu werfen und weiterzuziehen.
Weiterziehen. Klar doch. Eddie lächelte bitter in sich hinein. Die einzige Frage war: wohin?