Kapitel vier

Nach Sibirien

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Während sich in Frankreich, Großbritannien und Schweden Astronomen  – freiwillig oder nicht  – auf den Weg machten, hatte die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg Mühe, Beobachter aufzutreiben. Obwohl Delisle 22 Jahre in Sankt Petersburg verbracht, Russland mit der wissenschaftlichen Astronomie vertraut gemacht und die Sternwarte gegründet hatte, gab es noch immer nicht genügend ausgebildete Astronomen im Land. Das Problem war nicht neu. 1725, als Peter der Große die Akademie gegründet hatte, war die Zahl der russischen Wissenschaftler so gering, dass er die Akademieplätze ausschließlich mit Ausländern besetzen musste. Selbst jetzt noch, fast vierzig Jahre später, war kaum die Hälfte der Akademiemitglieder Russen  – die Mehrheit waren Deutsche.16 In der Absicht, das Bildungsniveau des Zarenreichs anzuheben, versuchte man ausländische Wissenschaftler zu der langen Reise nach Russland zu bewegen, indem man ihnen doppelte Gehälter bot. Ref 52Doch im Allgemeinen stieß die russische Wissenschaft auf ziemliche Herablassung  – vieles, was an wissenschaftlichen Veröffentlichungen in Russland erschien, wurde, wie ein deutscher Wissenschaftler schrieb, im europäischen Ausland »auf eine unverschämte Art verspottet«.

Als die Russen hörten, dass die Franzosen Le Gentil nach Pondichéry schickten, hatte der Sekretär der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg (ein Deutscher) seinen Kollegen »empfohlen«, sich an dem weltweiten Unternehmen mit einer eigenen Transit-Beobachtung in Sibirien zu beteiligen. Doch die Reaktion war nicht gerade enthusiastisch  – daher hatten die Akademiemitglieder an ihren ehemaligen Kollegen Delisle in Paris geschrieben und ihn gefragt, ob die Franzosen gewillt seien, ihnen zu helfen. Die Académie war nur zu gern dazu bereit und gewann den Astronomen Jean-Baptiste Chappe d’Auteroche für diese Aufgabe. Ende November 1760, als Pingré zu seiner Reise nach Rodriguez aufbrach, verließ Chappe Paris in Richtung Sibirien.

Als Sohn eines Barons brauchte der 38-jährige Chappe die Astronomie nicht von Berufs wegen zu betreiben. Seit seiner Kindheit zeigte er ein leidenschaftliches Interesse für Mathematik und für die Sterne und beeindruckte viele Menschen mit seiner Fähigkeit, auch die kompliziertesten Rechnungen zu begreifen. Als Erwachsener verbrachte er seine Nächte meist damit, in den Himmel zu blicken, nahm aber auch gelegentlich Aufträge zur Landvermessung an  – sofern seine Kunden aristokratisch genug waren. Er hatte nur wenige wissenschaftliche Artikel verfasst  – und auch die in geruhsamem Tempo17  – und im Jahr zuvor eine Anstellung an der Académie in Paris gefunden. Ref 53

Das sesshafte Leben eines Astronomen war nichts für Chappe  – das Venus-Abenteuer war da weit eher nach seinem Geschmack. Bei der gefährlichen Reise durch das kriegsgebeutelte Europa ging es ihm nicht um finanziellen Lohn, sondern um Wissenschaft und Ehre. »Er liebte den Ruhm«, meinten seine Kollegen. Die sibirischen Beobachtungen würden, dessen war sich Chappe sicher, dem Wissen über das Universum ein neues Kapitel hinzufügen, denn Delisle favorisierte Tobolsk als einen der wichtigsten Beobachtungsorte. Dort würde der gesamte Transit sichtbar sein und die kürzeste Dauer haben  – also das perfekte Gegenstück zu dem längeren Durchgang, der von Benkulen in Ostindien aus zu beobachten war.

Es würde eine strapaziöse 6500-Kilometer-Reise von Paris nach Tobolsk werden, und ihr Beginn verhieß nichts Gutes. Chappe verließ Paris in einem solchen Dauerregen, dass sich die Straßen in tiefe Schlammkanäle verwandelten. Als er acht Tage später Straßburg erreichte, war seine Kutsche nicht mehr zu reparieren. Er musste eine neue kaufen und auch seine Thermometer und Barometer ersetzen, die bei Unfällen beschädigt worden waren  – wenn auch seine Teleskope unversehrt waren. Von den schlechten Straßen entmutigt, beschloss Chappe, den nächsten Teil der Reise per Schiff auf der Donau zurückzulegen, doch wiederum wurde sein Fortkommen vom Wetter behindert. Dichter Nebel sorgte dafür, dass sie nur tagsüber fahren konnten, und das auch oft »nur wenige Stunden lang«. Und während der ganzen Zeit tickte die Himmelsuhr.

Trotz dieser Rückschläge blieb Chappe guten Mutes und vertrieb sich die Zeit damit, Karten zu zeichnen, lokale Bräuche zu notieren und die Entfernungen zwischen den Städten zu berechnen. Obendrein rettete er bei Regensburg einen Mann, der sich durch einen Sprung in die Donau das Leben nehmen wollte, »weil er mit seiner Geliebten Streit gehabt hatte«. Am folgenden Tag fand Chappe bei seiner Rückkehr ein trauriges fünfzehnjähriges Mädchen an Deck seines Schiffs vor. Auf Befragen berichtete sie Chappe, sie sei vor ihrem Onkel davongelaufen, weil dieser sie zwingen wollte, »den Schleier zu nehmen«. Ritterlich brachte Chappe sie zu ihren Eltern zurück. Ref 54

In Wien tauschte Chappe sein Schiff gegen eine Kutsche und beschloss, Tag und Nacht zu reisen. Er kaufte Laternen, sodass der Kutscher zumindest die gefährlichsten Schlaglöcher und Steine auf dem Weg erkennen konnte, doch sie hatten so häufig Unfälle, dass Chappe »in ständiger Sorge um meine Instrumente war«. Als die Straßen schlechter wurden, brachen auch Räder, und am 10. Januar  – dem unseligen Tag, an dem Masons und Dixons Schiff von den Franzosen angegriffen wurde  – landete Chappes Kutsche irgendwo auf dem Weg zwischen Brno (Brünn) und Nový Jičín (Neu Titschein) in der heutigen Tschechischen Republik in einem Graben.

Es war bitterkalt, Schnee bestäubte die leere Landschaft, und die Hügel, durch die sich die Straße wand, verschwanden in der Dunkelheit. Chappe stand im Graben und schob und zog an seiner Kutsche. Bei ihm waren der Kutscher, der neue Sekretär der französischen Gesandschaft in Sankt Petersburg (der sich Chappe in Wien angeschlossen hatte) und mehrere Diener  – sie alle verzweifelt bemüht, das ramponierte Fahrzeug zu bergen, während ihnen das eisige Wasser durch Schuhe und Kleidung drang. Doch so sehr sie auch stießen und zerrten, sie vermochten die Kutsche auch mit vereinten Kräften nicht vom Fleck zu bringen. Schließlich beschlossen sie, das Gepäck auszuladen. Erst stellten sie die Lederkoffer voller Kleidung und die kleineren, mit Papieren gefüllten Taschen auf die Straße; aber beim Herausheben der schweren hölzernen Koffer mit den kostbaren astronomischen und meteorologischen Instrumenten wurde Chappe unruhig. Als er dann noch Glas klirren hörte, wusste er, dass wieder etwas zerbrochen war. In dieser Nacht zeigte sich Chappe, der gewöhnlich fröhlich und optimistisch war, zum ersten Mal bereit, ein Scheitern in Betracht zu ziehen. »Ich begann zu fürchten«, schrieb er in sein Tagebuch, dass »wir Tobolsk nicht rechtzeitig erreichen würden.« Ref 55

Ohne die schwere Ausrüstung ließ sich die Kutsche schließlich befreien, und sie setzten die langsame Reise nach Russland fort. Während sein Kollege Le Gentil unter der feuchten Hitze in Mauritius litt, spürte Chappe eine Kälte, wie er sie »noch nie zuvor erlebt hatte«. Sogar in der Kutsche waren die Temperaturen so niedrig, dass er mit seinen steifen Fingern das Thermometer herauskramte und »elf Grad minus« in sein Tagebuch kritzelte.

Als die Kutsche durch die Eisdecken brach (wohl kaum eine Überraschung, wenn man bedenkt, dass die Instrumente allein etwa eine halbe Tonne wogen), musste er durch hüfthohes, träge treibendes Eis waten. Straßen, die durch das hügelige Land führten, verursachten Probleme anderer Art, denn sie waren »von oben bis unten« mit einer Eisschicht bedeckt. Selbst als sie zehn Pferde vor eine Kutsche spannten, konnten sie diese nicht vom Fleck bewegen. So gingen sie einen großen Teil des Wegs durch die Berge zu Fuß, ständig ausrutschend und stürzend, sodass sie schon bald mit blauen Flecken übersät waren.

Manchmal wirbelten stürmische Winde Schneewolken hoch in die Luft und peitschten die Flocken zu gefrorenen Kügelchen. Der Kutscher, der dieser eisigen Attacke am stärksten ausgesetzt war, »konnte sie nicht länger ertragen« und lief davon.

In Riga stiegen sie auf Schlitten um, mussten aber, noch keinen Kilometer außerhalb der Stadt, feststellen, dass der Schnee verschwunden war. Wieder saßen sie fest. Ihr Dolmetscher war ohne Nutzen für sie, denn er war, infolge des Versuchs, sich warm zu halten, »betrunken«. Dann fing es wieder an zu schneien, und kurz vor Sankt Petersburg rutschte ihre Kutsche schließlich in eine so tiefe Schneeverwehung, dass nur noch die Köpfe der Pferde herausschauten. Stundenlang waren sie »begraben«. Ref 56

Chappe war von diesen »ständigen Verzögerungen« entnervt, fand aber etwas Ablenkung von seinem Elend, indem er die Frauen, denen er unterwegs begegnete, mit der systematischen Genauigkeit des Wissenschaftlers kategorisierte. Er verglich, prüfte und klassifizierte. In einem Dorf maß er die Länge ihrer Unterröcke, und in einem anderen erklärte er die Damen für »absolut tugendhaft«. Egal, wie durchgefroren oder erschöpft er war, er blieb ein Kenner des weiblichen Geschlechts und vermerkte beiläufig ihre strahlenden Augen, »ihre schlanken Taillen« und »die Wohlgestalt der Dienstmädchen«. Ref 57

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Die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften und der Beobachtungsturm der Sternwarte in Sankt Petersburg.

Am 13. Februar, fast drei Monate, nachdem er Paris verlassen hatte, gelangte Chappe endlich nach Sankt Petersburg. Nun musste er sich auf die letzte Etappe seiner Reise vorbereiten. Es waren noch einmal 2900 Kilometer nach Tobolsk. Zunächst aber wurde er den Mitgliedern der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaft vorgestellt und hörte einen Aufsatz über den Venus-Transit, den eines der Akademiemitglieder verfasst hatte. Der Aufsatz selbst war Gegenstand eines erbitterten Streits, der seit Wochen zwischen zwei der angesehensten Astronomen der Akademie tobte. Der russische Forscher Michail Lomonossow stand auf Kriegsfuß mit seinem deutschen Kollegen Franz Aepinus, der, laut Lomonossow, seinem russischen Kollegen ungerechtfertigt vorgezogen worden war. Während Lomonossow Schwierigkeiten hatte, Unterstützung für seine eigenen wissenschaftlichen Vorhaben zu bekommen, hatte der Ausländer und Neuankömmling Aepinus die vergoldete Leiter der kaiserlichen Gunst so rasch erklommen, dass er kürzlich zum persönlichen Hauslehrer der künftigen Zarin Katharina der Großen ernannt worden war.18

Lomonossow war ein brillanter Wissenschaftler, aber wegen seines cholerischen Temperaments gefürchtet. Der glühend patriotische Sohn eines Fischhändlers aus Archangelsk war als erster Russe in die Kaiserliche Akademie in Sankt Petersburg gewählt worden. Er war ein Universalgelehrter, der über Sprache, Dichtung, Geschichte, Kunst, Chemie und Astronomie schrieb. Lomonossow hasste die vielen ausländischen Wissenschaftler an der Akademie, weil sie, wie er sagte, »dem russischen Vaterland keinen Dienst« erwiesen. Seine Kollegen, schrieb der Dichter Alexander Puschkin, »wagten in seiner Gegenwart kein Wort zu äußern«. Lomonossow war kein Mann, der sich höflicher Etikette beugte, und führte so heftige Fehden gegen seine Akademie-Kollegen, dass er einmal acht Monate unter Hausarrest gestellt worden war, nachdem ein Streit in betrunkenem Zustand mit einer Messerstecherei endete. Bei der Bekämpfung seiner Feinde war ihm jede Taktik recht  – egal, ob Verleumdungskampagnen, diffamierende Zeitungsartikel oder ungesetzliche Absprachen. Lomonossow beleidigte, mobbte, und manchmal störte er die Akademiesitzungen auch mit ungehörigen Streichen, die er seinen ausländischen Kollegen spielte. In seinen Augen waren sie im besten Falle dumme »Schoßhunde« und im schlimmsten skrupellose Schurken  – und sie alle intrigierten seiner Überzeugung nach gegen ihn. Ref 58

Als Aepinus den Artikel über den Venus-Transit erstmals veröffentlichte, glaubte Lomonossow, jener vereinfache die astronomischen Prinzipien so sehr, dass sie regelrecht falsch seien. Die Meinungsverschiedenheit hatte sich zu einem fulminanten Streit ausgewachsen, in dessen Verlauf Lomonossow als Antwort einen eigenen Artikel verfasste und Beschwerdebriefe an die anderen Akademiemitglieder schrieb. Aepinus’ Zeichnungen seien falsch, behauptete er, und die Terminologie sei unwissenschaftlich, überhaupt werde die Abhandlung für keinen Beobachter eine Hilfe sein. Gleichzeitig versuchte Lomonossow, die Glaubwürdigkeit seines Widersachers zu untergraben: Die Sternwarte werde selten benutzt, und in dem Labor, für das Aepinus verantwortlich sei, seien die Instrumente verschimmelt und mit Rost bedeckt. Erst kürzlich habe er, so Lomonossow zum Präsidenten der Akademie, während einer astronomisch bedeutsamen Nacht die Sternwarte aufgesucht und den Eingang unter einer Schneedecke vorgefunden  – offenbar hatte Aepinus keinen Besuch für nötig erachtet.

Aepinus erwiderte, an seinem Aufsatz gebe es nichts auszusetzen und Lomonossow verbreite »falsche Gerüchte in der Stadt«. Vergebens hoffte er, der Streit sei damit beendet. Doch Lomonossow fing erst an. Aepinus’ Darstellung sei »mangelhaft«. Es sei noch nicht einmal klar, für wen er seinen Artikel geschrieben habe: Die »rohe und ungebildete Masse« würde ihn niemals verstehen, während der schlichte Text die Intelligenz der Adligen und Akademiker »beleidigte«. Aepinus benutze die Akademiemitglieder  – die »mich hassen«, wie Lomonossow seinen Kollegen mitteilte  –, um noch mehr Zwist zu schüren. Bevor Aepinus mit seinen »böswilligen Streitereien« fortfahre, solle er sich Lomonossows »Verdienste für sein Vaterland« vor Augen halten. Es war lächerlich. Die beiden Astronomen, die gemeinsam die Vorbereitungen für den Transit treffen sollten, waren hoffnungslos zerstritten. Ref 59

Chappe war nicht gewillt, sich an den Streitereien zu beteiligen. Er hatte seine eigenen Probleme, denn er entdeckte während der Sitzung, dass er astronomische Konkurrenz bekommen hatte. Ende November, als er sich durch endlose Regengüsse gequält hatte, waren die Russen zu dem Entschluss gelangt, ihre eigenen Expeditionen auszurüsten. Ein Beobachter sollte nach Irkutsk, nahe dem Baikalsee, in Sibirien reisen, und ein anderer nach Nertschinsk, unweit der chinesischen Grenze. Offenbar war der Brief der Académie in Paris, der die Russen über Chappes Reise nach Sibirien informierte, nie angekommen. Ohne Nachricht aus Frankreich hatte der Präsident der Akademie erklärt, Russland müsse teilnehmen, wobei er ähnlich wie die Franzosen und Briten verkündete, die Transit-Beobachtungen seien wichtig für die Wissenschaft der Navigation und für die »Ehre« des Reichs. Man hatte die notwendigen Instrumente geliefert und zwei junge Beobachter für die Aufgabe ausgebildet.

Die Russen waren einen Monat vor Chappes Ankunft in Sankt Petersburg aufgebrochen und kämpften sich nun durch die gefrorene Wüste nach Osten. Da die eigenen Beobachter schon unterwegs waren, hielt die russische Akademie Chappes Expedition jetzt für sinnlos. Die Akademiemitglieder meinten, er solle den Transit doch von einem bequemeren und Sankt Petersburg näher gelegenen Ort beobachten, doch der Franzose sah das anders. Er hatte nicht die Mühsal der langen Reise auf sich genommen, um sich von den russischen Wissenschaftlern überflügeln zu lassen. Äußerst ehrgeizig und darauf brennend, die wichtigsten Daten zu liefern, begann Chappe um Unterstützung für seine Tobolsk-Expedition zu werben, wobei er die Auffassung vertrat, von keiner anderen Region der Erde aus lasse sich der Transit »mit so viel Nutzen« beobachten. Er wandte sich an den französischen Gesandten in Sankt Petersburg, der Chappes Argumente »mühelos verstand«, und an den russischen Reichskanzler, der glücklicherweise ein »Liebhaber und Förderer der Wissenschaften war«. Nach vier Wochen in Sankt Petersburg hatte Chappe erreicht, was er sich vorgenommen hatte, und erhielt die Erlaubnis, seine Reise fortzusetzen. Ref 60

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Einer von Chappes geschlossenen Schlitten, in denen er von Sankt Petersburg nach Sibirien reiste.

Am 10. März 1761  – ihm blieben keine drei Monate bis zum Transit  – verließ Chappe Sankt Petersburg spät am Abend. Er reiste mit vier geschlossenen, jeweils von fünf Pferden gezogenen Schlitten, die alles enthielten, was er für seine Beobachtungen in Tobolsk brauchte. Nachts wurden die Schlitten mit Fackeln beleuchtet, deren Licht zwischen den Bäumen flackerte  – ein langer Zug seltsamer Formen und schnaufender Tiere auf dem Weg durch die Dunkelheit. Für die Reise durch Sibirien war Chappe gezwungen, sich auch mit grundlegenden Dingen zu versorgen: Lebensmitteln natürlich, aber auch mit Betten und Wein. Ein Schlitten war mit seinen Instrumenten beladen, während ein anderer seinen Diener und seinen Uhrmacher beförderte  – Chappe hatte beschlossen, dass er jemanden brauchte, der »meine Uhren im Falle eines Unfalls repariert«. Im dritten Schlitten saß ein Unteroffizier, der sich der Expedition als Führer und Dolmetscher angeschlossen hatte, und im vierten befand sich Chappe selbst, in Pelze gehüllt und auf die Schneedecke starrend, die das Mondlicht mit gespenstischem Schein widerspiegelte. Ref 61

Nichts würde ihn davon abhalten können, Tobolsk zu erreichen, schwor er sich, aber es würde ein Wettlauf gegen das Tauwetter werden. Chappe betete um die Fortdauer des Frostes. Auf den holprigen Straßen würde er es nie rechtzeitig schaffen  – es blieb nur die Möglichkeit, die gefrorenen Flüsse zu befahren. So sehr er die Kälte hasste, diese arktische Umarmung war entscheidend für seinen Erfolg. Während die Schlitten durch die Winterlandschaft flogen, erlebte Chappe zum ersten Mal das Vergnügen dieser Fortbewegungsart. »Wir fuhren mit höchster Geschwindigkeit«, frohlockte er und glaubte, Tobolsk warte auf ihn.

Einen Teil der Reise legten sie auf der Wolga zurück  – die Schlitten glitten auf einer »spiegelglatten« Fläche mit »unvorstellbarer Schnelligkeit« dahin. Chappe war so berauscht von der Geschwindigkeit, dass er, um sie richtig zu spüren, aus seiner Kabine kletterte und sich aufrecht auf das Schlittendach stellte, wo ihn der eisige Wind umtoste. Doch seine Freude war nicht von Dauer, denn auch weiterhin hielten Unfälle sie auf. Ständig kippten die Schlitten um, sie prallten gegen überhängende Bäume und stürzten in tiefe Schneeverwehungen, »immer Gefahr laufend, vom Schnee verschluckt zu werden«. Trotz aller Schwiergkeiten fand er Zeit, seine Erhebung über russische Frauen fortzusetzen, und notierte, welche »lebhaft«, »größer« oder »sehr hübsch waren« und welche »einen besseren Teint« oder »eine sehr unschöne Figur« hatten. Ref 62

Anfang April, vier Wochen, nachdem er Sankt Petersburg verlassen hatte, begann das Eis zu schmelzen, Risse taten sich auf, und durch die Eisdecke der Flüsse sickerte Wasser. Entschlossen, sich »nicht vom Tauwetter aufhalten zu lassen«, setzte Chappe die gefahrvolle Hetzjagd fort. Am 9. April war das Eis so dünn geworden, dass sich der Kutscher weigerte, den letzten Fluss zu überqueren. Noch 90 Kilometer bis Tobolsk  – zwölf Stunden mit dem Schlitten  –, doch wenn es ihnen nicht gelang, jetzt über den Fluss zu setzen, würde ihr Reiseziel so unerreichbar bleiben wie die Venus selbst. Ohne Hilfe des Gouverneurs der Stadt würde Chappe weder in der Lage sein, eine Sternwarte zu bauen, noch irgendwelchen Schutz in der sibirischen Wildnis zu erhalten. Er brauchte die Infrastruktur, die Tobolsk bieten würde.

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Das Innere einer russischen Hütte nach Chappe  – inklusive einer halbnackten Frau.

Nach allem, was er durchgemacht hatte, weigerte sich Chappe zu akzeptieren, dass die Expedition so kurz vor ihrem Ziel zu scheitern drohte. »Kalter Schweiß brach mir am ganzen Körper aus«, notierte er verzweifelt, »von völliger Mutlosigkeit befallen«. Er schmeichelte, drohte, spottete und drangsalierte seine Gefährten, um sie zu dem riskanten Unternehmen zu bewegen. Als er sie schließlich mit verschwenderischen Mengen Branntwein überzeugt hatte, war es Nacht und so dunkel, dass sie nur den schwachen Schimmer der Sterne sahen, die sich auf dem trügerischen Eis spiegelten. Obwohl schon Wasser aus der tauenden Oberfläche getreten war, scheuchte Chappe seine betrunkenen Männer vorwärts. Furchtsam, aber entschlossen, stand er oben auf seinem Schlitten und trieb seine kleine Expedition durch das Wasser über das dünne Eis. Ref 63