Beunruhigende Nachrichten
Eigentlich hatten Daron und Sarwen noch länger in der Werkstatt auf dem Elbenturm bleiben wollen, um sich von Thamandor die eine oder andere Erfindung vorführen zu lassen. Außerdem brauchte der Waffenmeister aus verschiedenen Gründen magische Unterstützung. Da waren zum Beispiel ein paar schadhafte Stellen im Mauerwerk der großen Werkstatthalle, die dringend ausgebessert werden mussten, und es gab ein paar Einzelteile, die der Erfinder in seine Mechanismen einsetzen wollte, die aber vorher mit magischer Kraft aufladen werden sollten, weil sich die Geräte dann besser verwenden ließen. Welchem Zweck sie genau dienten, blieb zumeist sein Geheimnis.
Daron und Sarwen gingen ins Freie. Thamandor begleitete sie nicht, denn er war bereits damit beschäftigt, den Spiegel zu reparieren.
„Vermutlich wird ihn das die nächsten fünfzig Jahre in Anspruch nehmen!“, sandte Daron seiner Schwester einen Gedanken.
„Aber dann dürfte die Botschaft von Herzog Asagorn nicht mehr aktuell sein“, gab Sarwen zurück.
„Ich denke, der Herzog von Meerland wird unseren Großvater durch Brieftauben oder Leuchtfeuer-Signale wissen lassen, was los ist“, war Daron zuversichtlich.
Rarax richtete sich im Hof der Werkstatt-Burg auf. Das Riesenfledertier hatte die Flügel gefaltet und hob leicht den Kopf, als es Daron und Sarwen bemerkte. Es öffnete kurz das Maul seines bepelzten Kopfes, was beinahe wie ein Gähnen wirkte, und stieß ein leises Brummen aus.
„Du brauchst nicht mehr länger zu warten“, sandte Daron einen Gedanken an das gezähmte Flugungeheuer. „Wir fliegen zurück nach Elbenhaven!“
Daron und Sarwen kletterten auf den Rücken des Riesenfledertiers. Das lange Kleid, das Sarwen trug, behinderte sie dabei in keiner Weise. Es bestand aus fließender Elbenseide, und für das magisch hoch begabte Elbenmädchen war es keine Schwierigkeit, das Gewand derart zu beeinflussen, dass der Stoff immer so fiel, dass er Sarwen nicht in ihren Bewegungen einschränkte.
Daron gab dem drachengroßen Wesen einen Gedankenbefehl, woraufhin Rarax die Flügel ausbreitete und sich in die Lüfte erhob.
Der Elbenjunge ließ ihn noch einen Halbkreis fliegen und blickte kurz hinab auf den Elbenturm, jenen gewaltigen, wie einen Zylinder geformten Felsen, der zwischen den Berggipfeln von Hoch-Elbiana aufragte.
Niemand wusste, woher der Felsen diese Form hatte. Das war eines der Geheimnisse, die das Zwischenland niemals preisgegeben hatte. Ob es nun die eisigen Nordwinde gewesen waren, die durch die tiefen Schluchten von Hoch-Elbian wehten, oder der Elbenturm doch der letzte Überrest eines uralten Bauwerks oder einer gewaltigen Statue war, darüber gab es unter den gelehrten Elben unterschiedliche Meinungen.
Für eine Weile hatte sich Daron sehr dafür interessiert und nahezu jedes Buch gelesen, das es dazu in der großen Bibliothek am Hof von Elbenhaven gab. Aber inzwischen war er zu der Überzeugung gelangt, dass man die Wahrheit wohl nicht mehr herausfinden würde.
Davon abgesehen wollten gerade jene Elben, die noch die Ankunft der großen Elbenflotte an der Küste des Zwischenlandes miterlebt hatten, nichts davon wissen, dass der Elbenturm vielleicht Teil eines uralten Bauwerks war. Sie wollten auf jeden Fall daran festhalten, dass sie ein vollkommen leeres Land betreten hatten, in dem es nichts gegeben hatte, er strecht keine Hinterlassenschaft irgendeiner untergegangenen Kultur.
Nur so konnten sie weiterhin behaupten, dass alles, was man in Elbiana vorfinden konnte, von ihnen geschaffen worden war. Durch ihre Baukunst, ihre Magie und die Kraft ihres Willens – und nicht etwa dadurch beeinflusst, dass vor langer Zeit irgendjemand anderes diesen Platz schon in gewisser Weise vorbereitet hatte.
Die beiden Elbenkinder auf dem Flugungeheuer ließen den Elbenturm hinter sich. Wenig später tauchte hinter einer Bergkette das Meer auf. An der Küste, nur wenige Meilen von Thamandors Werkstatt auf dem Elbenturm entfernt, lag Elbenhaven, die Hauptstadt von Elbiana. Hunderte von Schiffen aus aller Herren Länder lagen im Hafen. Die Königsburg war von einer Stadt umgeben, die wiederum von einer starken Mauer geschützt wurde.
Daron brauchte Rarax nicht weiterhin zu lenken, denn das Riesenfledertier kannte den Weg. Der Pferch, in dem es normalerweise gehalten wurde, befand sich im äußeren Burghof bei denen der Elbenpferde.
Als sie dort landeten, trafen sie auf Rhenadir den Gewissenhaften, der als Hofmarschall des Elbenkönigs für die Pflege und Fütterung der Elbenpferde auf der Burg verantwortlich war. Er kümmerte sich inzwischen ebenso um Rarax, auch wenn sich das Riesenfledertier seine Nahrung selbst erjagte und natürlich nichts von dem Heu nahm, das man den Elbenpferden vorsetzte.
„Ihr wart zwanzig Jahre in Estorien“, sagte er. „Fällt mir deswegen etwas schwer, mich wieder daran zu gewöhnen, dass dieses … Raubtier so nahe bei den friedlichen Elbenpferden untergebracht wird.“
Daron seufzte. „In Estorien verläuft die Zeit schneller, darum kam es uns nicht so lang vor“, sagte er. „Aber wir sind inzwischen auch schon wieder seit einem ganzen Jahr zurück.“
„Ja, wie die Zeit vergeht“, sagte Rhenadir. „Und wie sich alles so schnell verändert.“
„Und darauf kommt er jetzt, nachdem wir seit einem Jahr wieder zurück sind?“, wandte sich Sarwen mit einen Gedanken an ihren Bruder.
„Für uns ist ein Jahr eine lange Zeit, für die anderen Elben nicht“, antwortete ihr Daron ebenso lautlos. „Wir scheinen menschlicher zu sein, als wir glauben.“
„Zumindest trifft das offenbar auf unser Zeitempfinden zu“, gestand Sarwen ein. „Muss wohl das Erbe unserer menschlichen Mutter sein.“
„Vielleicht schließt das aber auch andere Dinge mit ein.“
„Was meinst du damit?“
„Ich meine das mit dem Wachsen.“
„Wie bitte?“ Es kam nicht oft vor, dass Sarwen einen Gedanken ihres Bruders nicht auf Anhieb verstand.
„Wir tauschen uns später darüber aus“, wehrte Daron ab. Er wandte sich wieder an Rhenadir den Gewissenhaften und deutete auf eines der Elbenpferde, die noch nicht abgesattelt waren. „Ist dies nicht das Pferd von Herzog Branagorn?“
Rhenadir nickte. „Er ist vor Kurzem in Elbenhaven eingetroffen und spricht mit Eurem Großvater.“
Daron und Sarwen verabschiedeten sich von dem Hofmarschall und gingen dann zum Palas der Königsburg von Elbenhaven, wo sich auch der große Festsaal des Elbenkönigs befand.
Aber Sarwen verhielt plötzlich im Schritt. „Jetzt sag mir, was du gerade mit deinen Gedanken gemeint hast“, forderte sie von Daron. „Ich habe es nicht verstanden!“
„Nein, du hast es nicht verstehen wollen und deine Gedanken dagegen verschlossen“, behauptete ihr Zwillingsbruder.
Sie schwiegen eine Weile lang und sahen sich nur an. Ausnahmsweise wechselten sie keinen einzigen Gedanken miteinander.
„Du hattest lange nicht dein Spiegelbild gesehen und warst sehr schockiert über die Veränderung“, sagte das Elbenmädchen schließlich in ruhigem, verständnisvollem Tonfall. „Es hat dich erschreckt, wie sehr du gewachsen bist.“
„Nein“, widersprach Daron. „Es hat mich nicht erschreckt, dass und wie sehr ich gewachsen bin, sondern dass es von allein geschah. Ich hatte es keineswegs erlaubt, es ist einfach passiert. Wie bei einem Menschen. Verstehst du, was ich meine? Wer weiß, was sonst noch menschlich an uns ist.“
„Ist das nicht gleichgültig, Daron? Wir sind Halbelben und dazu noch auf eine Weise magisch begabt wie kaum jemand sonst.“
Daron lächelte verhalten. „Du meinst, wir sollten uns nach niemand anderem richten, weil wir einzigartig sind?“
„Ja.“
„Trotzdem – ich hoffe, dass ich nicht noch mal ganz von allein wachse, ohne dass ich es kontrollieren kann. Mir gefällt das nicht.“
„Alles verändert sich, Daron. Warum willst du da eine Ausnahme bilden?“
Im Festsaal des Palas trafen sie auf die Heilerin Nathranwen, die beide Elbenkinder schon von Geburt an kannte und sich stets um sie gekümmert hatte.
„Wo ist uns Großvater?“, fragte Daron.
„Ihr könnt jetzt nicht zu ihm“, sagte Nathranwen.
„Wir haben ihm etwas sehr Wichtiges mitzuteilen“, erklärte Sarwen.
Aber Nathranwen schüttelte den Kopf. „Er verabschiedet sich gerade von Herzog Branagorn.“
„Verabschieden?“, fragte Daron.
In diesem Moment wurde die Tür zu einem Nebenraum geöffnet, und König Keandir und Herzog Branagorn von Elbara traten hindurch in den Saal. „Lebt wohl, mein Freund und Gefährte“, sagte Keandir. „Auf dass Ihr in Estorien dem Geist Eurer verstorbenen Geliebten nahe seid.“
„Ich danke Euch für Euer Verständnis, mein König.“
„Ich lasse Euch ungern ziehen, denn es wird schwer werden, einen Nachfolger zu finden, der das Zeug hat, Herzog von Elbara zu sein.“
„Ich empfehle Euch meinen Verwalter Deranos“, entgegnete Branagorn. „Allerdings ist er ein Mensch.“
„Das heißt, er wird nicht lange leben. Aber als Übergangslösung für die nächsten Jahrzehnte, bis ich einen Nachfolger bestimmt habe, wird es gehen.“ Der König seufzte. Wie hätte er Branagorn seinen schon lange geäußerten Wunsch, nach Estorien, ins Land der Geister, überzusiedeln, auch abschlagen können? Schließlich hatte Keandir ja den gleichen Wunsch. Seine Gemahlin Ruwen war während des Großen Krieges gegen den Dunklen Herrscher ums Leben gekommen. Daron und Sarwen waren ihrem Eldran-Geist während ihrer eigenen Reise nach Estorien begegnet, und natürlich hatten sie König Keandir davon berichtet. Daron hatte sehr wohl bemerkt, dass seitdem der Wunsch seines Großvaters, die Herrschaft über Elbiana abzugeben und ebenfalls nach Estorien einzuziehen, noch stärker geworden war.
Branagorn warf einen Blick auf Daron und bemerkte offenbar, wie sehr der junge Prinz gewachsen war, denn er sagte an Keandir gerichtet: „Wer weiß, mein König, vielleicht werden wir uns ja schon sehr bald wiedersehen. Und davon abgesehen – etwa zehn Jahre werde ich wohl noch brauchen, bis ich in Elbara alle meine Angelegenheiten geregelt habe und wirklich aufbrechen kann.“
„Beim Festbankett heute Abend werdet Ihr sicherlich viele alte Freunde treffen“, äußerte Nathranwen.
„Darauf freue ich mich sehr. Vor allem möchte ich mit Lirandil und Sandrilas noch einmal über die alte Zeiten sprechen, als wir auf der Insel Naranduin landeten.“
„Es tut mir leid, aber Lirandil und Sandrilas sind derzeit in meinem Auftrag auf einer sehr weiten Reise unterwegs“, erklärte König Keandir.
Branagorn hob die Augenbrauen. „Oh, das ist bedauerlich. Eigentlich hatte ich gehofft, die beiden noch einmal zu treffen, bevor ich mich endgültig auf den Weg ins Land der Geister mache. Ein bisschen über die alten Zeiten plaudern, das hätte mir gefallen.“
„Nun, wenn Ihr noch zehn Jahre braucht, um Eure Reise vorzubereiten, wird sich gewiss eine andere Gelegenheit für ein Wiedersehen ergeben“, erwiderte Keandir zuversichtlich. „So lang wird die Reise der beiden sicherlich nicht dauern.“
„Wohin sind sie unterwegs, mein König?“, wollte Branagorn wissen. Schnell fügte er hinzu: „Sofern es mir erlaubt ist, das zu fragen.“
Keandir lächelte. „Natürlich dürft Ihr danach fragen. Die beiden sind ins Eisland aufgebrochen.“
„Ah ja …“ Branagorn nickte. „Einer der wenigen Winkel des Zwischenlandes, über deren Bewohner wir kaum etwas wissen.“
„Das wird sich bald ändern“, war Keandir überzeugt.
Da konnten sich Daron und Sarwen nicht länger zurückhalten. Das, was sie in der Werkstatt auf dem Elbenturm erlebt hatten, platzte geradezu aus ihnen heraus.
Als sie geendet hatten, fragte Keandir mit gerunzelter Stirn: „Vorstöße der Eismenschen?“
Die Angehörigen dieses rätselhaften Volkes hatten zumeist menschliche Gestalt, auch wenn die vollkommen aus Eis bestand, das allerdings genauso biegsam war, als bestünden sie aus Fleisch und Blut. Allerdings hatten sie keine Gesichter, und die Zahl ihrer Arme und Beine war auch nicht immer gleich.
Soweit bisher bekannt war, benutzten sie keinerlei Sprache. Wie sie sich verständigten, war unklar. Vielleicht übertrugen sie ihre Gedanken. Aber das wusste niemand.
Sie konnten ihre Gestalt verändern, und ihre Größe war sehr unterschiedlich. Manche von ihnen waren doppelt so groß wie ein Mensch oder Elb, andere reichten einem Elbenkind lediglich bis zu den Knien.
Im Norden fror im Winter der Großteil des Meeres zu, und der Eispanzer des Eislandes dehnte sich dann aus. Aber es war ungewöhnlich, dass dies zu dieser Jahreszeit geschah. Schließlich herrschte im Zwischenland gerade Frühling.
„Vielleicht ist Magie im Spiel“, glaubte Nathranwen. „Eis lässt sich durch Magie leicht beeinflussen, wie man in den klassischen Schriften der Elben nachlesen kann.“
„Tatsache ist, dass die Eismenschen immer wieder mal Vorstöße in den Süden unternommen haben“, sagte König Keandir. „Sie drangen jedes Mal ein Stück weit über die Grenze nach Nordbergen oder Meerland, gaben sich aber nur selten kriegerisch. Lirandil glaubt seit geraumer Zeit, dass sie eigentlich in Verbindung mit uns treten wollen, aber nicht wissen, wie sie das anstellen sollen, da wir für sie genauso fremdartig sind wie sie für uns.“
„Es wundert mich, dass es den Eismenschen überhaupt möglich ist, das Eisland zu verlassen“, sagte Sarwen.
„Wir nehmen an, dass sie das nur für kurze Zeit können“, erklärte Keandir. „Während des Großen Krieges gegen Xaror habe ich deswegen den Gedanken aufgegeben, die Bewohner des Eislandes für ein Bündnis zu gewinnen.“
„Aber Asagorn berichtete von einer Eiswand, die sich nach Süden schiebt“, gab Daron zu bedenken. „Und das im Frühling!“
„Das Eis des Nordmeers schiebt sich jedes Jahr nach Süden vor“, erklärte Keandir. „Aber das Eis des Eislands muss erfüllt sein mit Magie. Und was ihr gerade berichtet habt, spricht ebenfalls dafür, dass Magie im Spiel ist, so wie die ehrenwerte Nathranwen gerade schon äußerte.“
„Was wirst du unternehmen?“, fragte Daron den König.
Keandir sah seinen Enkel an und hob die Augenbrauen. „Nanu, so interessiert an den Aufgaben eines Königs? Es scheint, als wärst du in der letzten Zeit nicht nur der Länge nach gewachsen, sondern auch innerlich.“
„Das beantwortet nicht meine Frage!“, murrte Daron lautlos für sich. Allerdings war dieser Gedanke sehr intensiv. Auch wenn die geistige Verbindung zwischen Daron und seinem Großvater lange nicht so stark war wie die zu seiner Schwester Sarwen, so kam es doch hin und wieder vor, dass König Keandir mitbekam, was seinem Enkel durch den Kopf ging. Genau das war in diesem Moment der Fall, wie Daron an der Antwort des Königs erkannte.
„Ich habe bereits etwas unternommen“, erklärte er. „Ich habe Lirandil und Sandrilas vor ein paar Monaten ausgesandt, nachdem Kapitän Garantor von seiner Reise in die nordöstlichen Herzogtümer zurückkehrte und von drachenähnlichen Kreaturen berichtete, die ein bläuliches Feuer speien. Garantor selbst will diese Wesen von einem Schiff aus gesehen haben. Sie wanderten die Küste des Eislandes entlang oder trieben auf Eisschollen im Meer. Eisdämonen, so nennt man sie in Nordbergen und Meerland inzwischen.“
„Wieso weiß ich nichts davon?“, fragte sich Daron. Schließlich war seit seiner Rückkehr aus Estorien schon ein ganzes Jahr vergangen.
Keandir sah seinen Enkel sehr ernst an. Und in diesem Moment vernahm Daron sogar die Gedanken seines Großvaters, was wirklich nur sehr selten vorkam. „Du hast am Tisch gesessen, als Kapitän Garantor von seiner Fahrt berichtete. Aber es erschien dir wohl nicht bedeutsam genug. Dein Interesse an dem, was ein König tun sollte, war nicht immer so groß, wie ich es mir gewünscht hätte …“
Daron erinnerte sich vage an die Erzählungen von Kapitän Garantor, die dieser während der Festbankette im Palas zum Besten gegeben hatte.
„Nach unserer Rückkehr aus Estorien musste ich wohl erst über vieles nachdenken, was mich selbst betraf“, sagte Daron schließlich laut. Immerhin hatten sie dort die Geister ihrer toten Eltern getroffen und Dinge erlebt, die sie beide innerlich sehr aufgewühlt hatten.