Aufbruch in dunkler Nacht

 

Noch in derselben Nacht und mit ganz unelbischer Eile brachen Daron und Sarwen auf.

„Versucht auch, etwas über Lirandils und Sandrilas’ Schicksal zu erfahren“, bat König Keandir zum Abschied.

„Ich hoffe, dass sich die Sorgen, die wir uns alle um sie machen, als unbegründet erweisen“, antwortete ihm Sarwen. „Die beiden werden sich ganz gewiss nicht unbedacht in Gefahr gebracht haben.“

„Und das solltet ihr bitte auch nicht tun“, mahnte Keandir seine Enkel.

Wenig später befanden sie sich auf Rarax' Rücken in der Luft. Das Riesenfledertier trug sie mit kräftigem Flügelschlag auf den Elbenturm zu, dessen Spitze von Elbenhaven aus als ein dunkler, weit in den Himmel ragender Schattenriss zu sehen war, der sich gegen das Rund des Vollmondes abhob.

Rarax hatte sofort begriffen, wohin der erste und viel kleinere Teil der Reise ging. Es bedurfte noch nicht einmal eines Gedankenbefehls, um ihm klar zu machen, welche Richtung er einzuschlagen hatte.

„Was ist das für ein Geheimnis, das du mit Brass Shelian teilst, aber nicht mit mir?“, fragte Daron seine Schwester unterwegs mit einem sehr deutlichen Gedanken.

Zunächst erhielt er keine Antwort, und sie verschloss sich auch auf geistiger Ebene vor ihm.

Das bestätigte nur seine Annahme. Er hatte offenbar auf Anhieb richtig erkannt, dass da etwas nicht stimmte.

„Du hast recht“, gab Sarwen schließlich zu. „Und damit du darüber nicht länger grübeln musst, werde ich dir sagen, worum es geht, obwohl ich eigentlich hoch und heilig versprochen habe, dies nicht zu tun.“

„Ich bin gespannt.“

Sarwen öffnete ihre Gedanken, und Daron sah sie erstaunt an. „Du bist zum Mitglied des Schamanenordens geweiht worden?“, entfuhr es ihm laut.

„Ja. Du weißt, es war immer mein Wunsch, alles über das Wissen und die Magie der Schamanen zu erfahren. Aber trotz allem magischen Talent kann man dort nicht aufgenommen werden, solange man nicht für erwachsen befunden wird. Andererseits wollte ich auch nicht schneller erwachsen werden als du, denn dann hätten wir uns auseinander entwickelt. Wer weiß, vielleicht wäre die Verbindung zwischen uns so schwach geworden, dass wir nicht einmal mehr die Gedanken des anderen hätten lesen können. Und das hätte ich sehr bedauert.“

Daron runzelte die Stirn.

Rarax ließ einen lauten Schrei hören, fast so, als wäre auch das Riesenfledertier erstaunt über das, was da gerade zu hören gewesen war.

„Aber … wie hast du es geschafft, trotzdem in den Orden aufgenommen zu werden?“, fragte Daron.

„Brass Shelian meinte, ich sei mit gut zweihundert Jahren alt genug, und die Ordensregel, wonach Kinder nicht Mitglied des Ordens werden können, sei eigentlich nicht für Fälle wie mich gemacht. Abgesehen davon sei mein magisches Talent so groß, dass er für mich eine Ausnahme machen würde. Allerdings müsste das geheim bleiben, denn ansonsten gäbe es innerhalb des Ordens einen Aufstand. Und so bat er mich, wirklich niemandem davon zu erzählen.“

„Wann war das?“

Sarwen zögerte. „Siehst du es nicht, in meinen Gedanken?“

„Bereits vor unserer Reise nach Estorien!“, entfuhr es Daron.

„Daron, ich glaube inzwischen, dass es für uns zum Erwachsenwerden dazugehören wird, dass wir auch Geheimnisse voreinander haben. Irgendwann wirst du das auch erkennen.“

 

 

Während des restlichen Fluges zum Elbenturm sagte Daron kein Wort mehr. Dafür dachte er um so mehr nach, aber diese Gedanken verschloss er so gut vor seiner Zwillingsschwester, wie er es nie zuvor getan hatte.

Es ist wohl nicht zu ändern, dachte er. Genau wie es wohl nicht zu ändern ist, dass Halbelben manchmal wachsen, ohne es zu wollen …

Aber vielleicht war das auch nur eine Frage der Konzentration der eigenen Kräfte.

Rarax landete schließlich im Hof der Werkstatt-Burg.

Daron und Sarwen kletterten vom Rücken des Riesenfledertiers. Sie hatten dem Tier ein Geschirr aus festen Riemen angelegt, an dem sich einige Taschen befestigen ließen. Sie waren auf die Schnelle gepackt worden, denn keiner der beiden Zwillinge hatte damit gerechnet, in dieser Nacht noch eine Reise ans hinterste Ende des Zwischenlandes zu unternehmen.

Die Wächter, die auf den Wehrgängen der Werkstatt-Burg ihren Dienst versahen, hatten Daron, Sarwen und ihr Riesenfledertier gleich erkannt und sofort erfasst, dass keine Gefahr drohte. Elben hatten einen scharfen Blick, und ihre Augen sahen auch bei Dunkelheit sehr viel genauer als die von Menschen, Zentauren und vielen anderen Geschöpfen bei Tageslicht.

In der Werkstatthalle brannte noch Licht, und man hörte jemanden hämmern.

„Thamandor scheint mal wieder die Nacht durchzuarbeiten“, vermutete Sarwen.

„Ich hoffe nur, dass er nicht ausgerechnet den neuen Flammenspeer komplett in seine Einzelteile zerlegt hat und jetzt erst mal zwanzig oder dreißig Jahre brauchen wird, um all die kleinen Stückchen seiner komplizierten Mechanik wieder zusammenzusetzen.“

„Mal den Schrecken nicht an die Wand, Daron.“ Und in Gedanken fügte sie hinzu: „Ich hoffe, du nimmst mir mein Geheimniskrämerei nicht übel.“

„Ich könnte dir nichts wirklich übel nehmen, Sarwen.“

„Das ist gut. Ich habe dir das nicht verschwiegen, weil ich dir misstrauen würde, sonder weil ich Brass Shelian gegenüber verpflichtet war. Aber du hast ja von allein herausgefunden, dass es zwischen mir und dem Obersten Schamanen ein Geheimnis gibt.“

„Reden wir nicht mehr davon“, sagte Daron, während sie auf die Werkstatt zugingen. „Und denken auch nicht.“

Aber in seinem Innersten wusste Daron, dass sie beide auf dieses Thema ganz sicher zurückkommen würden.

Die Werkstatt war unverschlossen. Die Tür stand sogar einen Spalt weit offen. Daron und Sarwen traten ein.

Sie sahen Thamandor auf dem Boden knien. Vor ihm lag eine Unzahl kleinster Metallteilchen und winzigster Hebelchen. Doch Daron und Sarwen atmeten beide auf, als sie erkannten, dass es nicht der neue Flammenspeer war, den der Waffenmeister einer gründlichen Überprüfung unterzogen und vollkommen zerlegt hatte, sondern der Mechanismus des Spiegels, der ihm eigentlich eine Verbindung zu Asagorn hätte ermöglichen sollen.

„Bitte keinen Wind machen!“, rief Thamandor, ohne den Blick zu heben. „Sonst zerstört ihr mir meine Ordnung!“

„Was für eine Ordnung?“, konnte sich Sarwen eine Bemerkung nicht verkneifen. Aber die äußerte sie nur mit einem Gedanken an Daron, sodass Thamandor nichts davon mitbekam.

Der Waffenmeister schüttelte den Kopf und machte einen ziemlich entmutigen Eindruck. „Ich glaube, mein Weitseher-Spiegel ist so schnell nicht mehr in einen funktionstüchtigen Zustand zu versetzen. Für die nächsten fünfzig oder hundert Jahre wird Asagorn wohl von mir keine Botschaften erhaöten, und die seinen werden mich nicht erreichen!“

„Thamandor! Wir müssen nach Meergond fliegen!“, sagte Sarwen. „Herzog Asagorn ist in höchster Not. Die Mauern von Meergond werden dem drängenden Eis nicht mehr lange standhalten!“

Thamandor runzelte die Stirn und sah die beiden Elbenkinder an. Erst dann schien er wirklich zu begreifen, wer da gerade in seine Werkstatt eingetreten war. Bis dahin war er wohl zu sehr in seine Arbeit vertieft gewesen und hatte gedacht, es wären seine Lehrlinge oder Helfer, von denen er inzwischen einige Dutzend auf dem Elbenturm beschäftigte.

„Ach, ihr seid es“, stieß er hervor. „Eigentlich hätte ich das an eurem Schritt-Rhythmus und eurem Herzschlag hören müssen, immerhin bin ich zwar magisch unbegabt, aber nicht taub!“

Daron und Sarwen fassten in knappen Worten zusammen, wie die Lage stand. „Wir brauchen Eure Hilfe – und vor allem die Macht Eures neuen Flammenspeers“, erklärte Daron abschließend.

In Thamandors Augen blitzte es. „Eine erste Bewährungsprobe für den neuen Speer“, murmelte er. „Das ist ganz nach meinem Geschmack. Auch wenn ich natürlich zutiefst bedauere, in welch misslicher Lage sich unser Freund Asagorn befindet. Ich schnalle mir nur eben noch meine Waffen um, dann bin ich reisefertig.“

„Und denkt an ein warmes Wams und einen warmen Mantel“, riet Sarwen. „Ich meine, falls Ihr mal nicht gerade einen passenden Wärmezauber auf den Lippen habt.“

„Ja, macht ihr zwei euch nur über meine mangelnde magische Begabung lustig!“, gab Thamandor zurück, schien Sarwen ihre Worte aber nicht weiter übel zu nehmen. Thamandor erhob sich. „Wir haben allerdings noch ein echtes Problem zu lösen, bevor wir aufbrechen können. Vielleicht könnt ihr mir helfen.“

„Worum geht es?“, wollte Sarwen wissen.

Thamandor deutete auf das Chaos an kleinsten Metallteilen, das sich zu seinen Füßen ausbreitete. „Diese Ordnung darf bis zu meiner Rückkehr nicht zerstört werden. Wenn nur ein einziger dieser kleinsten Hebelchen fehlt, dann macht das eine meiner größten Erfindungen vielleicht auf Jahrhunderte hinaus wertlos!“

„Sagt Euren Gehilfen, dass sie alles sorgfältig in Kästen einsortieren sollen“, schlug Sarwen vor.

„So dass meine dummen Gehilfen alles wiederfinden und ich nicht?“ Er schüttelte den Kopf. „Was würde mir das nützen? Nein, das kommt nicht in Frage!“

„Was haltet Ihr dann davon?“, fragte Sarwen und breitete die Arme aus, während ihre Augen vollkommen schwarz wurden. Dann fuhren aus ihren Handflächen Licht, das auf den Boden strahlte und all die kleinen Teile aus dem Mechanismus des Weitseher-Spiegels erfasste.

Es machte einmal „Plop!“, während Sarwen noch eine Formel in der Elbensprache der Alten Zeit von Athranor murmelte. „So dürfte alles sicher sein, werter Thamandor“, war sie überzeugt.

Der Waffenmeister blickte sich um und schien nicht zu begreifen, was Sarwen meinte. „Es hat sich nichts verändert“, behauptete er.

„Es hat sich sehr wohl etwas verändert. Ihr könnt keines dieser Teile mehr bewegen. Sie sind jeweils dort fixiert, wo Ihr sie hingelegt habt. Unddas wird auch so bleiben, bis Ihr zurückkehrt, sodass Ihr Eure Arbeit dann fortsetzen könnt.“

Der Waffenmeister bückte sich und überzeugte sich von der Wirkung des Zaubers. „Tatsächlich, da lässt sich nichts bewegen.“

„Und nun lasst uns keine Zeit mehr verlieren“, forderte Sarwen.

„Halbelbische Hast!“, knurrte Thamandor. „Aber ihr habt recht.“

 

 

Bevor sie aufbrachen, warf Thamandor noch seinen derzeitigen Stellvertreter in der Werkstatt aus dem Bett. Er hieß Obrasil und war aus der Gilde der Elbenmagier ausgetreten, nachdem er dort mit seinen Ideen nicht auf Anerkennung gestoßen war. Obrasil war nämlich der Meinung, dass man Magie und Maschinen miteinander verbinden müsste, um etwas zu erschaffen, was stärker war, als beide es jeweils für sich waren.

Bei Thamandor war er mit einer solchen Idee auf offene Ohren gestoßen. Zudem freute sich der Erfinder darüber, endlich jemanden unter seinen Gehilfen zu haben, der seine eigene magische Schwäche ausgleichen konnte.

„Sieh zu, dass hier alles wie gewohnt weiterläuft, Obrasil!“, ermahnte Thamandor seinen Gehilfen. „Und wehe, einer von euch trampelt unbedacht in der Werkstatthalle herum! Was da auf dem Fußboden liegt, darf nicht angerührt werden.“

„Ganz, wie Ihr wollt, werter Thamandor“, antwortete Obrasil.

Daron und Sarwen schnallten inzwischen Thamandors Gepäck fest, darunter den neuen Flammenspeer und einen warmen Umhang. Dann kletterte auch der Erfinder auf den Rücken des Riesenfledertiers, und wenig später erhob sich Rarax in die Lüfte.

Schnell war der Elbenturm hinter einer Kette hoher Berggipfel verschwunden. Rarax stieg höher und höher.

Daron lenkte ihn mit einem Gedankenbefehl Richtung Osten.

„Wir haben einen weiten Weg vor uns“, sagte Sarwen, während sie bald kein anderes Geräusch mehr hörten als das Rauschen von Rarax' lederhäutigen Schwingen.