In Meergond

 

Einen Tag und eine Nacht brauchte Rarax für den Fug nach Meergond.

Schon als sie Nordbergen überquerten, blies ihnen ein eisiger Wind entgegen, und Thamandor war sehr froh, Sarwens Ratschlag befolgt zu haben. Er hatte sein warmes Wams angelegt und sich in seinen Umhang gewickelt.

„Ein wertvolles Stück“, sagte Thamandor. „Es ist nach Elbenart gewebt, so wie man es in der alten Zeit in Athranor gemacht hat.“

Sarwen wusste sofort, was der Waffenmeister damit meinte. „Ich spüre die Magie, die darin eingewoben wurde.“

„Das ersetzt so manchen Wärmezauber, denke ich.“

Meergond war von mächtigen Mauern umgeben. Sieben Türme hatte die innere Burg, und ebenso gab es auch jeweils sieben Türme in der äußeren und der inneren Stadtmauer.

Der Hafen war zugefroren, ebenso das Meer. Soweit das Auge reichte, war nur eine Fläche aus grauweißem Eis zu sehen.

Am Land reichte das Eis inzwischen an die äußere Stadtmauer von Meergond heran. Daron sah, dass einer der Türme bereits Risse im Mauerwerk aufwies. Das Eis drückte zu stark dagegen, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis diese unheimlichen Kräfte den Turm zum Einsturz brachten.

Fassungslos starrten Daron und Sarwen auf die großen Gletscher, die sich langsam nach Süden walzten – Eiswände, die alles unter sich begruben, was ihnen in den Weg kam. Nichts konnte sie daran hindern, Städte und Dörfer einfach niederzuwalzen.

Hier und dort sah man aus den Mauern von Meergond Blitze flackern. Zumeist geschah es dort, wo das Eis bereits gegen das Mauerwerk drückte.

„Das muss die Magie sein, mit denen die Mauern zum Teil errichtet wurden“, meinte Daron.

Auf den Wehrgängen der Burg patrouillierten verhältnismäßig wenige Wachen. Dafür sah man einige Magier und Schamanen, die offenbar damit beschäftigt waren, die magischen Formeln zu erneuern, die die Mauern noch aufrecht hielten.

Daron ließ Rarax einen Halbkreis über Stadt und Burg fliegen. Auf diese Weise bekamen sie einen besseren Überblick über die Lage.

„Die Stadt ist erstaunlich groß, wenn man bedenkt, wie abgelegen sie ist“, stellte Sarwen fest.

„Herzog Asagorn hat wohl große Zukunftspläne mit diesem Gebiet“, meinte Thamandor. Er tätschelte fast liebevoll seinen Flammenspeer, der auf dem Rücken des Riesenfledertiers sicher festgeschnallt war. „Wie wär’s, sollten wir nicht gleich zu Anfang ein Zeichen setzen und dafür sorgen, dass sich das Eis zumindest ein paar hundert Schritte wieder zurückzieht?“

Aber Daron und Sarwen waren dagegen.

„Wir müssen uns erst mit Asagorn unterhalten“, fand Sarwen.

„Aber wenn es doch gar keine andere Möglichkeit gibt?“, entgegnete Thamandor. „Dann könnte man gleich sehen, ob sich mit dem neuen Flammenspeer zumindest ein eisfreier Bereich vor der Stadt schaffen lässt.“

„Wir sollten zuerst die Lage erkunden“, tat Daron seine Ansicht kund. „Und vor allem müssen wir wissen, was für eine Magie das Eis vorantreibt.“

„Sonst ist das, was wir bewirken, am Ende schlimmer als das, was wir zu verhindern versuchen“, fügte Sarwen hinzu.

Daron wollte Rarax gerade landen lassen, da nahm er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung im Eis wahr. Irgendetwas war dort. Etwas, das sich bewegte, sich aber so gut wie überhaupt nicht von der weißen Fläche abhob.

So lenkte er Rarax kurzerhand darauf zu und ließ ihn über die Gletscher fliegen.

Rarax öffnete das Maul, aber anstatt eines Schreis kam nur ein Schwall von gefrierendem Atem daraus hervor, wie eine Dampfwolke. Dazu war ein ächzender Laut zu hören.

Über der Eisfläche herrschte eine geradezu mörderische Kälte, die selbst das Riesenfledertier offenbar zunächst schockierte. Rarax beschleunigte den Schlag seiner Schwingen, so als wollte es sich dadurch wärmen.

„Du hast es auch gesehen?“, fragte Sarwen ihren Zwillingsbruder mit einem Gedanken.

„Irgendeine Ahnung, was das gewesen sein könnte?“

„Nein. Ich dachte zuerst, das wären bei mir die ersten Anzeichen für magisches Augenzittern. Aber wenn du es auch gesehen hast, existiert dieses … Ding wohl tatsächlich.“

Magisches Augenzittern war eine Krankheit, die vor allem bei alt gewordenen Magiern auftrat. Der Betreffende glaubte, Bewegungen von Dingen zu sehen, die gar nicht existierten. Die Mehrheit der Elbenheiler sah die Ursache dafür in einer magischen Überanstrengung und riet den Betroffenen, für einen gewissen Zeitraum – maximal ein oder zwei Jahrhunderte – auf die Anwendung von Magie zu verzichten.

Daron ließ das Riesenfledertier noch tiefer fliegen. Gleichzeitig spürte er die Macht der Magie, die in dem Eis steckte. Für einen Moment bereitete ihm das sogar körperlichen Schmerz.

„Wir müssen uns dagegen abschirmen!“, vernahm er Sarwens Gedanken, die offenbar ebenso empfand.

„Irgendetwas ist da sonst noch, nicht nur die Magie“, meinte Daron erkannt zu haben.

„Ein Gedanke?“, fragte Sarwen.

„Möglich. Aber ich bin mir nicht sicher.“

„Könntet ihr mir vielleicht mal sagen, was ihr vorhabt?“, beschwerte sich Thamandor. „Ich meine, abgesehen davon, einen magisch minderbegabten Elben durch waghalsige Flugmanöver zu ängstigen, sodass er sich am Fell dieses fliegenden Zotteltiers festkrallen muss, anstatt seine Hände unterm Mantel wärmen zu können. Mit meiner Vermutung, dass ihr die Sache mal wieder in Gedanken unter euch ausmacht, liege ich doch richtig, oder?“

Weder Daron noch Sarwen gaben darauf eine Antwort, denn sie hatten in diesem Moment wieder etwas bemerkt.

Da war eine kleine Erhebung in der vereisten Ebene, doch man konnte sie nur erkennen, wenn sie sich bewegte. Es war eine Gestalt, die von ihren Umrissen her einem Elben oder Menschen glich, allerdings insgesamt etwas breiter war. Und der Kopf hatte kein Gesicht.

„Ein Eismensch!“, sagte Daron laut, ließ Rarax einen Bogen fliegen und kehrte dann zu jener Stelle zurück, wo er das geheimnisvolle Wesen gesehen hatte.

Der Eismensch erhob sich für einen Moment zur vollen Größe.

Er hob den Kopf, und hätte er Augen gehabt, hätte er in diesem Moment geradewegs zu den heranschnellenden Elbenkindern gesehen.

„Bei allen Elbenkönigen!“, rief Thamandor, der das Wesen nun auch sah. Seine rechte Hand glitt zu einer seiner beiden Einhand-Armbrüsten, die er am Gürtel trug, sodass er sich vorerst nur noch mit einer Hand am Fell des Riesenfledertiers festhalten konnte.

Der Eismensch sprang plötzlich nach vorn und sank kopfüber in das Eis. Sofort verschmolz er mit dem grauweißen Untergrund und war innerhalb eines Augenblicks nicht mehr zu sehen.

Rarax stieß einen durchdringenden Ruf aus. Ihm schienen die starken magischen Kräfte, die von dem Eis ausgingen, ebenfalls zu schaffen zu machen. Kleine Blitze zuckten an manchen Stellen aus der gefrorenen Oberfläche.

Hatte das vielleicht mit dem Einsinken des Eismenschen zu tun?

Daron und Sarwen hatten darauf keine Antwort.

„Seltsame Kreaturen sind das“, meinte Thamandor. „Und es ist bedenklich, dass sie so weit in den Süden vordringen.“

Daron ließ Rarax im Tiefflug einen Bogen fliegen, in der Absicht, nach Meergond zurückzukehren und dort zu landen.

Aber in diesem Moment brach das Eis plötzlich auf. Die Risse verzweigten sich, und für einen Augenblick erinnerte die Eisfläche an einen zersprungenen Spiegel.

Dann wurde das Eis förmlich auseinander gesprengt, und ein wurmähnliches Wesen schnellte aus der Tiefe hervor. Es war ungefähr so groß wie ein erwachsener Elbenkrieger und so dick wie ein ausgestreckter Arm.

Das Maul des Eiswurms war weit aufgerissen, schnappte nach Rarax' Füßen, und das Riesenfledertier schrie auf, als der Wurm zubiss.

Zähne waren in dem Maul des Wurms zwar nicht zu sehen, aber das bedeutete nicht, dass er nicht allein mit den Kiefern kraftvoll zubeißen konnte.

Rarax flatterte in wilder Panik empor, während ihm der Wurm am Hinterbein hing.

Thamandor nahm eine seiner Einhand-Armbrüste, beugte sich vor und zielte. Aber der Wurm schwankte zur Seite, denn Rarax versuchte, diesen Quälgeist abzuschütteln. Der Bolzen aus Thamandors Armbrust verfehlte das Wesen und traf auf die Oberfläche des Eises, wo ein greller Blitz aufflammte. Das musste daran liegen, dass sich das magische Gift in Thamandors Armbrustbolzen nicht mit der magischen Kraft, die in dem Eis schlummerte, vertrug.

„Ah!“, stöhnte Thamandor auf, der direkt in den grellen Blitz geblickt hatte. Seine empfindlichen Elbenaugen waren dadurch erst einmal geblendet, sodass er für einen Moment nichts mehr sehen konnte. Er wäre um ein Haar in die Tiefe gestürzt, als Rarax erneut eine sehr abrupte Flugbewegung ausführte.

Der in den Fuß des Riesenfledertiers verbissene Wurm schwang heftig hin und her. Sarwen beugte sich über Rarax' Schulter und streckte beide Hände aus, während Daron weiterhin versuchte, das Riesenfledertier unter seiner geistigen Kontrolle zu halten. Die Augen des Elbenmädchens wurden vollkommen schwarz, bläuliche Blitze schossen aus ihren Fingerspitzen und trafen den Wurm.

Es zischte, der Griff seines Mauls lockerte sich, und er fiel in die Tiefe, während die Blitze noch um seinen Körper zuckten. Mit einem dumpfen Klatschen schlug er aufs Eis.

Wieder gab es eine grelle Lichterscheinung, von einem Augenblick zum anderen schmolz das Eis in einem Umkreis von zwanzig Schritten, und der Wurm sank zischend darin ein. Nur einen Augenaufschlag später war das Eis wieder erstarrt und von dem Geschöpf nichts mehr zu sehen.

Rarax jaulte auf. Der Fuß, an dem der Eiswurm gehangen hatte, schien ihn zu schmerzen.

„Keine Sorge, Rarax, es wird in Meergond mit Sicherheit einen Elbenheiler geben“, versprach Sarwen.

„Du sprichst mit diesem Riesenfledertier, als würde es dich verstehen“, hielt ihr Thamandor vor.

„Wenn es unsere Gedankenbefehle versteht, warum nicht auch unsere Worte?“, fragte Sarwen. „Wir sind es, die leider seine Gedanken nicht verstehen können.“

„Wenn er die euren versteht und euch gehorcht, genügt das doch völlig“, meinte Thamandor.

„Und genauso denkt Ihr von den Eismenschen?“, fragte Sarwen und hob eine Augenbraue.

„Oder sie von uns“, meinte Daron. „Und dann ist es kein Wunder, wenn keine Verständigung mit diesen Wesen zustande kommt!“

 

 

Rarax landete im inneren Burghof von Meergond.

Mehr als hundert Burgbewohner erwarteten dort die Ankömmlinge und sahen mit einer Mischung aus Neugier und gespannter Erwartung zu, wie sie vom Rücken des Riesenfledertiers kletterten.

Daron ließ den Blick schweifen. „Fühlst du dich auch so beobachtet?“

„Furchtbar. Aber daran sollten wir uns allmählich doch gewöhnt haben. Schließlich sind wir die Enkel des Königs.“

„Mag sein …“

Unter denen, die sie anstarrten, waren etwa gleich viele Elben und Menschen. Außerdem waren auch mehrere Zentauren in schimmernden messingfarbenen Rüstungen und ein paar Halblinge, Kleinlinge und einige zylopische Riesen anwesend. Letztere waren dreimal so groß wie ein hoch gewachsener Elb oder Mensch. Die überwältigende Mehrheit der Riesen aus Zylopien hatte sechs Arme, aber es wurden auch immer wieder welche mit vier geboren. Deren Arme waren dann aber noch sehr viel kräftiger, als es bei den Zylopiern ohnehin der Fall war.

Darum waren die Vierarmigen als Träger, Bauarbeiter oder Wagenzieher noch begehrter als Sechsarmige ihrer Art. Aber vor allen Dingen wurden sie aufgrund ihrer unglaublich kräftigen Arme und schaufelartigen Hände als Steinschleuderer eingesetzt. Man nannte sie deswegen auch „Lebende Katapulte“.

In den Diensten von Herzog Asagorn standen Riesen beider Sorte.

Asagorn von Meerland und sein Gefolge eilten auf die Ankömmlinge zu.

„Seid gegrüßt!“, rief Asagorn Daron und Sarwen zu. „So hat doch eine unserer vielen verzweifelten Nachrichten Elbenhaven erreicht! Wir brauchen eure magische Unterstützung dringender denn je!“

„Seid ebenfalls gegrüßt, werter Asagorn!“, erwiderte Daron. „Wir werden tun, was wir können, um der Bedrohung aus dem Eisland Einhalt zu gebieten.“

Asagorn betrachtete Daron eingehender. „Du bist gewachsen, seid ich dich das letzte Mal sah“, stellte er fest. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich nicht wie einen Erwachsenen anreden sollte.“

„Tut das ruhig, damit er sich daran gewöhnt“, mischte sich Sarwen ein.

„Nein, haltet es wie immer, Asagorn!“, widersprach Daron entschieden. „Ihr kennt Sarwen und mich bereits seit frühester Kindheit, und es käme mir seltsam vor, würdet Ihr mich jetzt mit ›Eure prinzliche Majestät‹ oder so einen Unsinn anreden.“

„Ganz wie du wünschst.“

Asagorn begrüßte auch Sarwen hocherfreut und wandte sich schließlich Thamandor zu, der zuallererst seinen neuen Flammenspeer von Rarax’ Rücken abgeschnallt hatte. So stand er nun in voller Bewaffnung vor dem Herzog von Meerland. Der Griff seines Schwertes „Leichter Tod“ ragte ihm über die Schulter, an den Seiten trug er die Einhand-Armbrüste, am Gürtel ein paar dicke Taschen voller Bolzen, und in den Händen hielt er den neuen Flammenspeer, der im Kampf gegen die magischen Eismassen zum ersten Mal zum Einsatz kommen sollte.

Asagorn lächelte, als er das sah. „Ihr lasst Euer Eigentum nicht einmal für einen kurzen Augenblick auf dem Rücken Eures Reittieres zurück.“

Thamandor hob den Flammenspeer leicht an. „Weil dies hier unersetzlich ist. Der neue Flammenspeer ist fertig – und er entfaltet seine Wirkung sehr viel besser als der Spiegel, den ich Euch vor einiger Zeit übergab und der eigentlich die Verbindung zwischen uns aufrechterhalten sollte.“

„Ich glaube nicht, dass es ein Fehler beim Weitseher-Spiegel war, dass die Verbindung zwischen uns nicht richtig zustande kam.“ Asagorn deutete auf einen Elben in seinem Gefolge. Er war sehr hellhaarig und trug das Amulett der Magiergilde an einer Kette um den Hals. „Mein Hofmagier Goladorn ist sich sicher, dass der Einfluss der starken Eismagie dafür verantwortlich ist. Und diese Magie muss auch die Sinne der Tauben größtenteils verwirren.“

„Dieser Hofmagier mag uns nicht“, übermittelte Daron einen Gedanken an Sarwen.

„Kein Wunder, schließlich sollen wir hier seine Arbeit übernehmen.“

„Weil die Mitglieder der Magiergilde dazu zu schwach sind!“

„Ich bin mir aber sicher, dass er weiß, dass er uns braucht – so wie alle anderen hier“, fügte Sarwen noch hinzu. Laut sagte sie: „Unser Riesenfledertier ist verletzt. Habt Ihr einen Heiler hier in Meergond?“

Asagorn wies auf eine junge Elbin. „Dies ist meine Tochter Emwén. Sie hat die Kunst des Heilens bei keiner Geringeren als der ehrenwerten Nathranwen erlernt. Für einige Jahre war sie bei ihr in Elbenhaven, und ich darf froh sein, dass sie danach zu mir nach Meerland zurückkehrte.“

„Das muss während der zwanzig Jahre gewesen sein, die wir im Land der Geister waren“, dachte Daron, denn weder er noch Sarwen hatten jemals etwas davon bemerkt, dass Nathranwen eine Schülerin ausgebildet hatte.

„Es freut mich, euch beide kennenzulernen“, sagte Emwén freundlich. Ihr Haar war seidig und fiel lang herab.

Irgendetwas kam Daron vertraut an ihr vor. Etwas, das sie von den anderen Elben unterschied. Er konnte nicht sagen, was es war. Vielleicht ein flüchtiger Gedanke oder ein Gefühl, das er wahrgenommen hatte.

Emwén sah ihn einen Moment lang an. Daron spürte ihre Verwunderung recht deutlich.

„Die hat sich einen Zweihundertjährigen offenbar etwas erwachsener vorgestellt“, meldete sich Sarwen mit einem Gedanken bei ihm.

„Ich werde sofort nach eurem Fledertier sehen“, sagte Emwén. Sie ging zu Rarax, der inzwischen in seltsam verrenkter Haltung dalag und an seinem Fuß herumleckte.

Als die Heilerin in seine Nähe kam, hob er den Kopf. Sie streckte die Hand nach ihm aus, die leicht zu leuchten begann, während Emwén eine Formel murmelte.

Rarax wurde daraufhin ganz ruhig. Er streckte sich aus und legte den Kopf auf den Boden. Ein tiefes Brummen drang aus seinem geschlossenen Maul, und gefrierender Atem dampfte aus seinen Nasenlöchern.

Emwén berührte leicht den Fuß des Riesenfledertiers. Rarax ließ es sich sogar gefallen, dass sie die einzelnen Zehen des pfotenähnlichen Körperteils auseinanderspreizte. Dann sprach sie ein paar Worte.

Rarax entfuhr daraufhin ein Laut, der an ein erleichtertes Seufzen erinnerte.

„Sein Fuß war gebrochen, aber wenn er ihn ein paar Stunden lang nicht beansprucht, müsste er vollständig heilen“, wandte sie sich an Daron und Sarwen.

„Wir danken dir“, sagte Daron.

„Widerstrebt es dir, jemanden wie einen Erwachsenen anzureden, weil er gerade mal ein Neuntel so alt ist wie du?“, sandte ihm Sarwen einen spöttischen Gedanken.

„Sei still!“

„Das bin ich!“

„Auch auf geistiger Ebene!“

„Willst du mir meine Gedanken verbieten?“

„Nein. Aber sie sind unangemessen.“

„Warum so gereizt, Bruder? Na, jedenfalls versteht sie was von der Heilkkunst, das sieht man gleich. Aber Nathranwen ist ja auch eine gute Lehrerin.“

Emwén blickte etwas verwirrt von einem der Zwillinge zum anderen. Vielleicht waren Sarwens eifersüchtige Gedanken eine Spur zu unbeherrscht und intensiv gewesen, sodass die magisch begabte Heilerin etwas davon aufgefangen hatte.

Sie behielt allerdings ihr Lächeln bei und sagte: „Die kleinen Eiswürmer sind schon eine lästige Plage.“

„Ich wusste gar nicht, dass solche Geschöpfe im Eisland leben“, bekannte Daron.

„Es ist noch gar nicht lange her, dass wir das auch nicht wussten“, gestand Emwén. „Und diese kleinen sind ja auch eigentlich harmlos. Wenn sie aber erwachsen sind, ist ihr Maul größer als das Hauptstadttor von Elbenhaven. Eis-Leviathane nennen wir sie dann.“

„So einer hätte uns dann wohl mit einem einzigen Happen und mitsamt Riesenfledertier verschlungen“, meinte Daron.

„So etwas ist schon geschehen“, berichtete Emwén. „Und je weiter das Eis nach Süden drängt, desto mehr seiner Bewohner folgen.“

„Ich habe einen der Eismenschen gesehen. Deswegen flog ich überhaupt über die Gletscher“, erklärte Daron.

„Sie entsenden immer wieder Kundschafter und beobachten uns“, sagte Emwén, und Daron fragte sich erneut, was ihm an ihr so vertraut vorkam.

„Niemand weiß, was die Eismenschen vorhaben“, mischte sich Asagorn ein. „Um das herauszufinden, sind Lirandil und Sandrilas nach Norden aufgebrochen. Leider sind wir ohne jede Nachricht von ihnen und haben keine Hoffnung mehr, dass sie noch am Leben sind.“

Brechende Mauern und die Magie des Eises

 

Wenig später befanden sie sich im hohen Turmzimmer des Herzogs, um die Lage zu besprechen. Es hatte nach allen Seiten hin hohe Fenster, mit einem Glas versehen, das sich bei starkem Sonnenschein dunkel verfärbte, damit die empfindlichen Elbenaugen nicht geblendet wurden. Darüber hinaus hatte Daron das Gefühl, beim Blick durch die Fenster noch viel weiter und schärfer sehen zu können, als dies bei ihm ohnehin der Fall war.

„Da ist Magie im Spiel“, vernahm er einen Gedanken von Sarwen, der das offenbar auch gleich aufgefallen war. „Das Glas vergrößert ferne Dinge, wenn man sich darauf konzentriert.“

„Wie praktisch. Asagorn scheint einen fähigen Hofmagier zu haben“, antwortete Daron.

„Mag sein. Aber wie ich dir schon sagte, dieser Goladorn mag uns nicht. Und das nicht nur, weil er eifersüchtig auf unsere magische Stärke ist, sondern …“

„Was?“

„Es war nur ein kurzer unbeherrschter Gedanke, den ich von ihm aufgefangen habe, aber ich glaube, er mag grundsätzlich keine Halbelben. Und die Aussicht, dass du mal König werden sollst, empört ihn zutiefst.“

Mit dieser Haltung stand Goladorn innerhalb der Elbenheit leider nicht allein. Immer wieder trafen Daron und Sarwen auf Misstrauen, weil ihre Mutter eine Menschenfrau gewesen war. Einem Teil der Elbenheit wäre es sicherlich lieber gewesen, wäre auch in Zukunft ein reinblütiger Elb König des Elbenreichs gewesen. König Keandir hatte in dieser Hinsicht schon eine Menge Überzeugungsarbeit geleistet, doch es würde dennoch immer einige Elben geben, die Vorurteile gegen die beiden Halbelben nur aufgrund ihrer Abstammung hegten.

Außer Asagorn und seiner Tochter Emwén waren auch Asagorns Vater Herzog Isidorn von Nordbergen und Herzog Mirgamir von Noram anwesend. Sie waren schon vor einer ganzen Weile in Meergond eingetroffen, um Asagorn beizustehen. Zudem würde die Gefahr aus dem Eisland früher oder später auch ihre Herzogtümer bedrohen.

„In den Mauern der Stadt befinden sich viel Flüchtlinge aus dem Norden von Meerland“, berichtete Asagorn. „Es sind zumeist Elben, aber auch Menschen, Halblinge und Zylopier sind darunter, die ich angeworben habe, damit sie sich im Land ansiedeln – denn wir Elben sind ja allein nicht zahlreich genug, um dieses riesige Gebiet zu bevölkern und zu kultivieren.“

„Ich habe meinem Sohn geraten, Meergond aufzugeben“, meldete sich Isidorn von Nordbergen zu Wort. „Die Eismassen haben alle Bauwerke in den nördlichen Gebieten niedergewalzt. Die Mauern von Meergond werden auf Dauer niemanden schützen.“

„Das ist nicht so einfach, wie Ihr meint, Vater“, entgegnete Asagorn, und es wurde allen Anwesenden deutlich, dass sie wohl schon häufiger über dieses Thema geredet hatten. „Das Meer ist so weit zugefroren, dass wir alle Einwohner gut hundert Meilen weiter nach Süden bringen müssten, wo sich vielleicht noch eisfreie Anfurten befinden.“

„Wie auch immer, jetzt wird ja mit dieser Eisplage aufgeräumt“, meinte Thamandor und hob den Flammenspeer.

„Eine langfristige Lösung des Problems ist das sicherlich nicht“, befürchtete Herzog Mirgamir. „Es treiben bereits Eisberge an die Küste von Noram. Das hat es bisher noch nie gegeben. Schon gar nicht im Frühling. Ich wage gar nicht daran zu denken, wie der Winter werden wird.“

„Auch die Bucht von Nordgond ist vollkommen mit Eis bedeckt“, berichtete Isidorn von Nordbergen. „Genau wie der Seeweg ums Eisland herum. Ich habe vergeblich versucht, per Schiff nach Meerland zu gelangen, und sah mich schließlich gezwungen, ein Elbenpferd zu nehmen.“

Thamandor legte seinen Flammenspeer auf die runde Tafel, die sich in der Mitte des Turmzimmers befand. „Wie gesagt, ich denke, dass wir der Lage Herr werden können. Und was dort draußen im Eis an kriegerischen Kreaturen auch kreucht und fleucht, es wird sicher rasch eingeschüchtert sein, wenn ich diesen Speer ein paar Mal auf die richtige Weise zum Einsatz gebracht habe. Auf Magie allein würde ich mich jedenfalls nicht verlassen!“

„Das tun wir auch nicht“, entgegnete Goladorn, der sich durch Thamandors Bemerkung angegriffen fühlte.

„Das stimmt“, erklärte Asagorn. „Schon seit langem sorge ich dafür, dass alle Mauern, die zunächst nur durch Magie errichtet waren, nach und nach zu echten Steinmauern werden. Darum beschäftige ich auch so viele zylopische Riesen.“

„Was nicht heißt, dass ich den Zauber der Gemäuer nicht regelmäßig erneuere“, ergänzte Goladorn mürrisch.

„Wir kennen das Problem auch aus anderen Teilen des Elbenreichs“, sagte Thamandor. „Langsam, aber sicher schwindet die Macht der alten Bauzauber, und wenn man da nichts tut, bricht alles zusammen.“

Emwén wandte sich leise an Daron. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Wispern und störte das Gespräch der Herzöge nicht. „Die Mauern von Meergond sind so stark, wie es bei kaum einer anderen Elbenfestung der Fall ist“, sagte sie. „Zudem wurde ihre Magie immer wieder erneuert. Aber ich glaube trotzdem nicht, dass sie dem Eis standhalten werden.“

„Und woher nimmst du diese Gewissheit?“, frage Daron und sprach ebenfalls so leise, dass man schon beinahe glauben konnte, es wäre nur ein sehr intensiver Gedanke.

„Ich spüre es“, sagte sie.

„Dann scheinst du die Stärke von Magie deutlicher zu erkennen als dein Vater.“

„Das mag wohl sein. Deine Magie zum Beispiel ist für mich sehr deutlich spürbar.“

„Ich habe mich schon gewundert, wie furchtlos du dich dem verletzten Rarax genähert hast. Zudem gibt es nicht viele Heiler, die sich so gut auf ihre Kunst verstehen, zumal noch bei einem Geschöpf der Finsternis, was sicher eine besondere Herausforderung darstellt.“

Emwén lächelte. „Wenn ich nichts anderes könnte, als Elben zu heilen, wäre ich hier in Meerland fehl am Platz und meinem Vater kaum eine Hilfe dabei, dieses Herzogtum zu regieren. Du hast ja gesehen, wie viele zylopische Riesen, Menschen und Halblinge hier leben. Wesen, sie sich kaum notfalls selber heilen können wie wir Elben und zudem noch ziemlich anfällig für Verletzungen und Krankheiten sind. Selbst die Robbenkrieger kommen hin und wieder nach Meergond, um sich von mir behandeln zu lassen.“

„Robbenkrieger?“, fragte Daron. Es schien in diesem fernen Winkel des Elbenreichs noch Dinge zu geben, von denen selbst der Thronfolger des Königs noch nichts gehört hatte.

„Ja, sie leben im Meer, vorzugsweise an der Eisgrenze. Aber seitdem sich das Eis ausgebreitet hat, findet man auch sie jetzt weiter südlich.“

In diesem Moment wurde eine Tür geöffnet, und eine Frau mit feuerrotem Haar trat ein. Sie trug ein prächtiges Gewand aus dunklem Samt. Auf dem Arm hielt sie ein Kind, das nicht älter als ein paar Monate sein konnte.

„Dies ist meine Gemahlin Hadra von Apesia“, stellte Asagorn sie vor. „Und der Kleine ist mein Sohn Olfalas.“

„Eine Menschenfrau!“, durchfuhr es Daron. Schon ihre roten Haare machten das auf den ersten Blick deutlich, denn von einer Elbin mit einem Feuerschopf war selbst in der alten Zeit in Athranor nichts bekannt.

Während Asagorn davon berichtete, wie er Hadra von Apesia auf einer seiner Seereisen an die Küsten des Menschenreichs von Kossarien kennengelernt hatte, wandte sich Daron wieder an Emwén. „Jetzt verstehe ich manches“, sagte er leise.

„Es wird in Zukunft immer mehr von uns Halbelben geben“, war Emwén überzeugt. „Und irgendwann wird einer davon ja wohl König sein.“

„Wir werden sehen, was die Zukunft bringt“, erwiderte Daron ausweichend.

Und dabei fiel ihm auf, dass der kleine Olfalos zwar die spitzen Ohren seines Vaters, aber auch die roten Haare seiner Mutter geerbt hatte.

Emwén schien Darons Gedanken zu erraten. „Olfalos wird es schwerer haben als du oder ich, denn ihm wird jeder ansehen, dass er anders ist.“

„Dann kann man ihm nur empfehlen, mit dem Wachsen so lange zu warten, bis es niemanden mehr im Elbenreich gibt, der Vorurteile gegen Halbelben hegt“, murmelte Daron.

Emwén lachte. „Genau das tut er anscheinend. Er ist nämlich schon zwanzig und scheint vorerst nicht wachsen zu wollen. Ich habe inzwischen aus Blütenblättern der Sinnlosen und ein paar anderen Heilpflanzen ein Mittel zusammengebraut, das endlich den Wachstumswillen des kleinen Olfalas wecken soll.“

Ein Gedanke von Sarwen erreichte Daron. „Na, dieser kleine Olfalas ist dann ja wohl der passende Spielgefährte für dich!“

In diesem Moment ertönte ein Hornsignal. Gleichzeitig war von draußen ein Geräusch zu hören, das nach zerbrechendem Stein klang.

Daron sah aus dem Fenster. Einer der nördlichen Wachtürme neigte sich bedenklich zur Seite. Risse zogen sich durch das Mauerwerk. Bläuliche Blitze zuckten das Gemäuer entlang.

Sarwens Augen wurden schwarz. „Diese magischen Entladungen sind kaum zu ertragen!“, sandte sie einen schmerzvollen Gedanken an ihren Bruder.

Daron ging es nicht besser. Und Emwén auch nicht, wie der zukünftige Elbenkönig feststellte.

Der kleine Olfalas begann auf dem Arm seiner Mutter wütend zu schreien.

Die anderen Elben litten weniger unter den freigesetzten Kräften, und Thamandor sah sich nur stirnrunzelnd um und schien sich zu fragen, warum sich so mancher im Raum den Kopf hielt.

Daron konzentrierte seine Kräfte und murmelte eine Formel, die ihm dabei half, seinen Geist besser abzuschirmen. Dann trat er näher ans Fenster – und glaubte im nächsten Moment, seinen Augen nicht trauen zu dürfen!

Das Eis hatte sich hinter dem Turm auf eine völlig unnatürliche Weise in die Höhe geschoben. Es quoll wie ein langsam fließender Strom über die äußere Stadtmauer und drückte so stark gegen den Turm, dass er jeden Moment einzustürzen drohte. Die ersten Steine brachen bereits aus dem Gemäuer und stürzten in die Tiefe. Die Risse breiteten sich aus, und die magischen Blitze folgten ihnen und ließen sie aufleuchten.

„Schnell! Wir müssen etwas tun!“, rief Daron.

„Endlich geht es los!“, sagte Thamandor und nahm den Flammenspeer in beide Hände.

 

 

Darin und Sarwen verließen das Turmzimmer und rannten die Treppe hinunter. Die anderen folgten ihnen.

Rarax hatte sich anscheinend tatsächlich ganz gut von seiner Verletzung erholt. Aber das Krachen und bersten eines einstürzenden Turms, die aufgeregten Schreie und Rufe aus den Kehlen der unterschiedlichsten Geschöpfe, die Meergond bevölkerten, und die durchdringenden Hornsignale verunsicherten das Riesenfledertier.

Mehrere Zentaurenkrieger preschten in den inneren Burghof. Offenbar dienten sie am Hof von Herzog Asagorn als Meldereiter. Die menschlichen Oberkörper, die aus den Pferdeleibern ragten, wurden von Harnischen geschützt, in die das Wappen Asagorns eingraviert war, und an den Helmen trugen sie blau gefärbte Federn, denn das war die Farbe dieses Herzogtums.

Daron wandte sich an einen von ihnen. „Bringt uns zu dem einstürzenden Turm!“

Der Zentaur schnaubte wie ein Pferd, und es klang unwillig.

„Tu, was er sagt!“, rief Asagorn.

Daraufhin erlaubte der Zentaur Daron und Sarwen, auf seinen Rücken zu steigen, und galoppierte los. Thamandor folgte ihnen wenig später auf einem anderen Zentaur.

In halsbrecherischem Tempo ging es durch die engen Gassen von Meergond. Zylopische Riesen und winzige Kleinlinge wichen ihnen aus.

„Wir hätten Rarax nehmen sollen. Er hatte sich doch ausreichend erholt“, meldete sich Sarwen mit einem Gedanken bei Daron.

„Da bin ich mir keineswegs sicher“, gab der Elbenjunge zur Antwort. „Emwén hat schließlich gesagt, dass Rarax ein paar Stunden Ruhe haben muss und seinen Fuß auf keinen Fall beanspruchen darf.“

„Aber du hast Rarax doch gerade gesehen. Wer kann denn wohl besser abschätzen, ob alles mit ihm in Ordnung ist – sie oder wir?“

„Bist du eine Heilerin?“

„Zählt ihr Wort schon so viel für dich? Das ging ja schnell!“

„Sarwen, wir brauchen Rarax noch, wenn wir uns auf die Suche nach Lirandil und Sandrilas begeben. Dann muss er voll im Besitz seiner Kräfte sein.“

Sie erreichten den Platz vor dem Turm. Hunderte von Stadtbewohnern und Flüchtlingen aus den nördlichen Gebieten von Meerland hatten sich dort eingefunden. Einige der Zylopier hatten auf dem Platz sogar Zelte aufgeschlagen, in denen sie sich anscheinend wohler fühlten als in den Gebäuden von Meergond. In beides – Gebäude und Zelte – konnten sich diese Riesen ohnehin nur kriechend und auf allen vieren begeben.

Fassungslos standen auch viele Elben, Menschen, Kleinlinge und Halblinge da und sahen hilflos mit an, wie der Turm von dem sich erhebenden Eis ins Wanken gebracht wurde.

Daron und Sarwen glitten vom Rücken des Zentauren.

Der obere Teil des Turms brach in diesem Moment in sich zusammen, und das Eis quoll gleichzeitig an beiden Seiten über die Stadtmauer. Längst hatten die Wächter die Wehrgänge verlassen.

„Jetzt!“, dachte Sarwen.

Die Zwillinge hoben die Hände. Vollkommene Schwärze füllte ihre Augen aus, ein äußeres Zeichen dafür, wie sehr sie ihre Kräfte konzentrierten.

Sie murmelten eine Formel. Leise sprachen sie dieselben uralten Worte, und aus ihren Handflächen schossen kugelförmige blaue Lichtblasen.

Zischend trafen diese das Eis, das von Blitzen umflorte Mauerwerk und den zrtbrechenden Turm, und für einen Moment wurde alles in so grellem Licht gehüllt, dass man nichts mehr sehen konnte. Da war nur gleißende Helligkeit, als würde man geradewegs in die Sonne blicken.

Die Geschöpfe auf dem Platz vor dem Turm wichen erschrocken zurück. Zentauren stellten sich auf ihre hinteren Pferdebeine und stießen erschrockene, an ein Wiehern erinnernde Laute aus, und selbst die anwesenden Zylopier – gleichgültig ob sechs-oder vierarmig – gerieten in Panik.

Doch im nächsten Moment war das magische Licht verschwunden und ebenfalls die Blitze, die gerade noch über das zerbrechende Mauerwerk zuckten.

Der Turm stand vollkommen schief, als wäre sein Sturz mitten in der Bewegung aufgehalten worden. Gleiches galt für die Stadtmauer zu beiden Seiten des Turms, die halb eingedrückt, aber ebenfalls erstarrt war.

Ein letzter Stein brach aus dem Turmgemäuer und fiel in die Tiefe, und für einen kurzen Moment schien es, als würde das Bauwerk doch noch gänzlich in sich zusammenbrechen.

Daron und Sarwen sandten aus ihren Fingerspitzen schwache Lichtstrahlen zu dem Turm. Für einen Moment leuchteten alle Fugen im Mauerwerk auf. Der Turm hielt, auch wenn er eigentlich hätte umkippen müssen. Nur die Magie sorgte dafür, dass das nicht geschah.

 

 

Arbeit für den Flammenspeer

 

Auch Thamandor hatte inzwischen den Platz vor dem Turm erreicht. Er stieg vom Rücken des Zentauren, der ihn hergebracht hatte, starrte auf die schiefen Mauern und den geneigten Turm und schüttelte den Kopf.

„Manchmal bedaure ich schon, dass ich magisch so unbegabt bin“, gestand er ein. „Was könnte man alles erschaffen, wenn man die Kraft der Magie mit der Technik meiner Erfindungen verbinden könnte.“ Er senkte den Flammenspeer und betätigte einen Hebel, der die Waffe sicherte. Mit den VorgängerModellen hatte es mehrere Unfälle gegeben.

Das über die Mauern quellende Eis war durch Darons und Sarwens Magie zum Stillstand gekommen. Allerdings waren die Kräfte, die darin schlummerten, immer noch spürbar.

„Sie werden wieder erwachen und das Eis dann weiter vordrängen“, glaubte Sarwen.

„Meinst du, Thamandors Flammenspeer kann da etwas ausrichten?“, fragte Daron.

„Lass uns erst noch einen Vertreibungszauber ausführen. Sonst gibt es vielleicht ein paar unerwünschte magische Nebenwirkungen, wenn unser Waffenmeister versucht, das Eis wegzuschmelzen.“

„In Ordnung.“

Die beiden Elbenkinder murmelten eine Formel. Es handelte sich um eine abgewandelte Form jenes Zaubers, den sie bei der Bekämpfung der Quallenkrabbler-Plage in Nordbergen angewendet hatten und damit Herzog Isidorn aus großer Bedrängnis halfen.

Ein Rascheln und Knarren war zu hören, so als würde irgendein geisterhaftes Wesen im Eis wohnen. Hin und wieder wurde es von Lauten unterbrochen, die an die Rufe von Robben erinnerten, nur dass diese hier sehr viel tiefer waren.

Aus den Augenwinkeln heraus sah Daron, dass inzwischen auch Asagorn, Isidorn und Mirgamir eingetroffen waren und beobachteten, wie die Zwillinge ihre magische Kunst anwendeten. Zwischen den Herzögen entdeckte er auch Emwén.

„Die Kräfte im Eis wollen nicht weichen!“, stellte Daron fest.

„Wir werden es ihnen trotzdem nicht gestatten zu bleiben!“, antwortete Sarwen ihrem Bruder mit einem entschlossenen Gedanken. „Und wenn du deine ganze Gedankenkraft auf den Vertreibungszauber sammeln würdest, anstatt darüber nachzudenken, wie du bei einer ganz bestimmten Halbelbin Eindruck schinden kannst, würden wir es vielleicht schaffen!“

„Und worauf konzentrierst du dich? Offenbar nicht nur auf die Vertreibung der Kräfte im Eis!“

Ein dumpfer, heulender Laut ertönte aus dem Eis. Zuerst war er sehr tief, aber mit der Zeit wurde er immer höher und schließlich so schrill, dass es selbst für völlig unempfindliche Menschenohren kaum zu ertragen war.

Daron und Sarwen murmelten die abgewandelte Form des Verteibungszaubers ein zweites und drittes Mal.

Das Geräusch aus dem Eis wurde schließlich zu einem kaum noch hörbaren Quietschen und verstummte schließlich.

Dafür schossen auf einmal rote Blitze aus dem Eis und zuckten in Richtung Norden. Wie davonlaufende Spinnen aus rotem Licht wirkten sie, doch je weiter sich diese Lichterscheinungen entfernten, desto mehr nahmen sie eine bläuliche Färbung an, bis sie sich schließlich so sehr der Farbe des Eises anpassten, dass sie nicht mehr auszumachen waren.

Daron wandte sich an Thamandor. „Jetzt! Schnell! Wir haben nicht viel Zeit, sonst kehren diese Kräfte zurück!“

„Worum immer es sich bei ihnen auch handeln mag!“, fügte Sarwen in Gedanken hinzu. Denn diese Magie, auf die sie da gestoßen waren, schien völlig verschieden von allem, was sie bisher kennengelernt hatten.

Thamandor ließ einen breitgefächerten Feuerstrahl aus seinem Flammenspeer schießen. Innerhalb weniger Augenblicke schmolz das Eis. Eine Wasserlache, groß wie ein Teich, bildete sich, Dampf stieg in grauweißem Nebel zum Himmel. Das zum Teil eingestürzte Mauerwerk wurde schwarz vom Ruß, den das Feuer aus dem Flammenspeer verursachte. Thamandor schwenkte die Waffe herum und sorgte auch dafür, dass das Eis, das am Turm aufgeschichtet war, schmolz.

Das meiste davon verdampfte, sodass sich über der Stadt ein paar große und sich immer höher auftürmende Wolken bildeten.

„Ein einfacher Wetterzauber müsste genügen, um sie ins Eisland zu treiben“, vermutete Sarwen und probierte das gleich aus. Die Formel, die ihr über die Lippen kam, war uralt. Die Elben von Athranor hatten sie dazu benutzt, die Regenmenge genau zu regulieren, die bestimmte Heilkräuter besonders gut wachsen ließ.

Langsam setzten sich die Wolken in Bewegung und zogen hinaus auf die bis zum Horizont reichende Eisfläche. Dort war es so kalt, dass aus ihnen Schnee fiel.

 

 

Anschließend machte sich Thamandor daran, einen Streifen jenseits der Stadtmauer mit seinem neuen Flammenspeer vom Eis zu befreien. Auch an diesen Stellen drückten die Gletscher bereits bedenklich gegen die Mauer der Stadt, und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis sie eingestürzt wäre.

Daron und Sarwen führten sicherheitshalber ihren Vertreibungszauber noch an fünf anderen Stellen durch. Aber ihnen war klar, dass das nur eine vorübergehende Lösung sein konnte. Die Kräfte im Eis würden dafür sorgen, dass die Mauern von Meergond schon sehr bald wieder in Gefahr waren.

„Es ist ein Aufschub“, sagte Daron später zu Asagorn, der zusammen Emwén und dem Magier Goladorn aufmerksam alles verfolgt hatte, was die beiden Elbenkinder an magischen Ritualen durchführten.

„Ich weiß nicht, was du hast“, entgegnete Asagorn. „Das Eis hat sich zurückgezogen, und sogar der Turm und die Mauern stehen noch.“ Seinen Worten war die große Freude über diesen Erfolg anzuhören.

„Der Turm wird nur durch Magie gehalten!“, sagte Sarwen sehr ernst. „Und dieser Zauber muss regelmäßig erneuert werden.“ Sie wandte sich an Goladorn. „Traut Ihr Euch das zu?“

„Gewiss!“, antwortete der Magier. Er schien ein bisschen empört darüber, dass Sarwen seine Fähigkeiten anzweifelte.

„Ihr seid das einzige Mitglied der Magiergilde hier in Meergond?“, fragte sie.

„Meerland ist ein sehr dünn besiedeltes Herzogtum“, erklärte Goladorn. „Es gibt weiter südlich in Meerhaven noch ein paar Mitglieder unserer Gilde und sogar einen Schamanen.“

„Worauf ich hinaus will, ist, dass Ihr bei dieser Aufgabe nur auf Euch selbst gestellt seit, werter Goladorn“, sagte Sarwen ruhig. „Dass die Mauern von Meergond so viele echte Steine enthalten und nicht nur aus Magie errichtet wurden, ist sicherlich ein Vorteil, aber das Eis wird zweifellos zurückkehren. Wenn Ihr wollt, unterrichte ich Euch in dem Vertreibungszauber, den mein Bruder und ich angewendet haben.“

Goladorn war deutlich anzusehen, wie wenig es ihm gefiel, dass sich er – immerhin ein anerkanntes Mitglied der Gilde der Elbenmagier - diesen Zauber von einem Kind beibringen lassen musste!

Mochte dieses Kind auch zweihundert Jahre alt sein, das spielte keine Rolle. Goladorn war zutiefst beleidigt.

„Was hätte ich machen sollen? Wenn ihm den Vertreibungszauber niemand zeigt, wird er ihn nicht hinbekommen“, wandte sich Sarwen in Gedanken an Daron. „Wir sind doch bald nicht mehr hier. Schließlich wollen wir noch ins Eisland, um Lirandil und Sandrilas zu finden.“

„Du kannst nichts dafür, dass dieser Magier so eitel ist, Sarwen“, sandte Daron einen tröstenden Gedanken zurück. Dann wandte er sich an Asagorn, indem er laut sagte: „Ihr solltet die Verschnaufpause, die Euch und Eurer Stadt vergönnt wurde, dazu nutzen, um alle Bewohner – gleichgültig ob Elb, Mensch, Zentaur, Zylopier oder wer sonst noch hier lebt – nach Süden zu bringen!“

„Wie ich schon sagte, es sind gut hundert Meilen bis zu den nächsten Anfurten, die noch eisfrei sind“, gab Asagorn stirnrunzelnd zu bedenken.

„Aber jetzt könnt Ihr diesen Weg noch schaffen. Wenn sich das Eis erneut ausbreitet, wird Meergond nicht mehr zu halten sein.“

„Dieser Zauber, den ihr gerade angewendet habt und den sicher auch mein Hofmagier lernen kann, müsste doch ausreichen, um die Stadt halten zu können.“

„Nein“, war Daron überzeugt.

„Und Thamandors Flammenspeer?“

„Thamandor wird uns begleiten, wenn wir ins Eisland aufbrechen, um nach Lirandil und Sandrilas zu suchen“, erklärte Daron. „Selbst wenn es Eurem gewiss sehr fähigen Magier gelingen sollte, das Eis von der Stadt fernzuhalten, was ich sehr bezweifle, wären die Bewohner bald eingeschlossen.“

Asagorn schien der Gedanke, Meergond aufgeben zu müssen, nicht zu gefallen. Er hatte sich beim Aufbau dieser Stadt und ihrer Burg besonders viel Mühe gegeben und ja schließlich auch dafür gesorgt, dass nach und nach die meisten nur durch Magie errichteten Gebäude Mauern aus richtigen Steinen erhalten hatten. Nicht umsonst hatte Asagorn seinen Hof nach Meergond verlegt. Dass die Eismassen erneut vordringen und die ganze Stadt unter sich begraben konnten, musste ihm wie der schlimmste Albtraum erscheinen.

„Ich werde Meergond nicht aufgeben“, erklärte er schließlich trotzig.

„Dann sind alle Bewohner in Gefahr, wenn der Weg zu den Anfurten erst durch das Eis versperrt ist!“, versuchte Daron ihn zu überzeugen.

„Wir werden sehen“, murmelte Asagorn düster und ging davon.

Daron wechselte einen kurzen Blick mit Emwén, die alles mitangehört hatte. „Vielleicht kannst du deinen Vater überzeugen, dass es die einzige Möglichkeit ist.“

„Ich werde es es versuchen“, versprach sie.

 

 

Mirgamir und Isidorn begleiteten inzwischen Thamandor bei seiner Arbeit mit dem Flammenspeer. Was der größte Erfinder und Waffenmeister der Elbenheit damit vollbrachte, interessierte sie sehr.

„Das ist fast wie in alten Zeiten, als wir gegen den Dunklen Herrscher Xaror kämpften“, meinte Isidorn, und Mirgamir konnte ihm nur zustimmen.

„Ich meine sogar, dass Euer neuer Flammenspeer noch sehr viel wirkungsvoller ist als die beiden Modelle, die Ihr vorher verwendet habt“, sagte der Herzog von Noram.

„Das kann man wohl sagen!“, tönte Thamandor großspurig. „Zurzeit habe ich nur einen Bruchteil dessen gezeigt, was dieser Speer alles kann!“ Mit diesen Worten legte er einen der Hebel um, und als er dann erneut einen Feuerstrahl aus dem Trichter am vorderen Ende des Speers schießen ließ, war der so grell, dass die beiden Herzöge sofort den Blick zur Seite wenden mussten, um nicht geblendet zu werden. Zudem murmelten sie eine magische Formel, die die Empfindlichkeit ihrer Augen herabsetzte.

Der Feuerstrahl war so stark, dass ein zwanzig Schritt langes Stück in der Stadtmauer nicht nur von jeglichem Eis befreit, sondern völlig eingeschmolzen wurde. Die Steine im Mauerwerk zerschmolzen zu einem lavaähnlichen Brei. Die geringen Anteile an Magie, die in dem Mauerstück eingesetzt waren, wurden durch grünliche und bläuliche Lichterscheinungen sichtbar, die aber nur kurz aufflackerten.

Innerhalb eines Elbenherzschlags war von dem Mauerstück nichts als eine zähflüssige, glühende Masse geblieben, die zischend erkaltete.

Weder die Herzöge noch der Waffenmeister äußerten zunächst ein Wort.

„Ups“, sagte Thamandor schließlich. „Das war vielleicht etwas zu viel.“

„Na ja, zum Glück haben wir genug zylopische Riesen in der Stadt, die dieses Loch kurzfristig wieder schließen können“, meinte Herzog Isidorn, der sichtlich schockiert war. Mit einem sehr nachdenklichen Gesicht sah er den Waffenmeister eine Weile lang an und fügte hinzu: „Wie viele Zeitalter kennen wir uns nun schon, Freund Thamandor? Eure Neigung zur Unvorsicht habt Ihr allem Anschein nach noch immer nicht abgelegt.“

„Sie ist sogar stärker geworden!“, ergänzte Mirgamir.

Während sich Thamandor eingehend Hebel an seinem Flammenspeer ansah, um herauszufinden, was er eigentlich falsch gemacht hatte, legte ihm Isidorn eine Hand auf die Schulter. „Nachdem Ihr nun mit Elbenhaven und Meergond gleich zwei Elbenstädte beinahe niedergebrannt hättet, werdet Ihr wahrscheinlich irgendwann als der Vernichter der Elbenzivilisation in die Geschichte unseres Volkes eingehen!“, spottete der Herzog von Nordbergen.

Aber Thamandor fand das im Augenblick kein bisschen witzig.

 

 

Herzog Asagorn ordnete an, dass das Loch in der Stadtmauer noch vor Einbruch der Nacht mit Steinen geschlossen wurde. Schließlich wollte man nicht, dass womöglich Spione der Eismenschen in die Stadt eindrangen. Der Hofmagier Goladorn schlug zwar vor, das Problem vorerst allein durch den Einsatz von Magie zu lösen, aber Asagorn war strickt dagegen. Angesichts der Gefahren, die Meergond aus den eisigen Weiten drohten, war ihm das zu unsicher.

„Ihr könnt den Lückenschluss gern durch Magie verstärken. Aber allein auf Eure Kräfte oder die irgendeines anderen Magiers möchte ich mich da nicht verlassen“, erklärte der Herzog von Meerland.

Thamandor, Daron und Sarwen wurden im Haupthaus der Burg einquartiert. Rarax blieb im Burghof.

Daron und Sarwen sahen noch einmal nach seiner Verletzung.

„Eins muss man Emwén lassen: Sie ist wirklich eine gute Heilerin“, stellte Sarwen fest, nachdem sie den Fuß des Riesenfledertiers noch einmal mittels Magie untersucht hatte.

„Ich hoffe nur, dass sie Herzog Asagorn davon überzeugen kann, mit den Bewohnern der Stadt nach Süden zu ziehen“, sagte Daron.

„Glaubst du, er hört auf sie?“

Daron zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Asagorn fällt es sehr schwer, die Stadt aufzugeben. Er hat sie gegründet und aufgebaut.“

„Als du mit Asagorn darüber gesprochen hast, hörte sich das fast so an, als würde unser Großvater sprechen“, sagte Sarwen nach einer kurzen Pause. Sie lächelte. „Es ist mir nur so aufgefallen.“

Rarax presste einen gurgelnden Laut hervor, der fast wie eine Zustimmung klang. Daron tätschelte dem Riesenfledertier die Flanke. „Sei still, du warst gar nicht dabei“, sagte er scherzhaft. An Sarwen gewandt fuhr er in Gedanken fort: „Ich bin dafür, so schnell wie möglich nach Norden aufzubrechen. Wer weiß, ob es für Lirandil und Sandrilas nicht längst zu spät ist!“

„Es wäre gut, wenn wir etwas mehr über die Eismenschen wüssten.“

„Alles, was wir wissen müssen, werden wir von ihnen selbst erfahren.“

„Bisher hat sich niemand mit ihnen verständigen können.“

„Es muss aber einen Weg geben, mit ihnen in Verbindung zu treten, Sarwen. Wenn sie keine Sprache haben, dann funktioniert es vielleicht mittels Magie.“ Er seufzte, und sein Blick wanderte zu Rarax, der ihn mit seinen vollkommen schwarzen Augen ansah.

„Er versteht zwar, was wir von ihm wollen, aber umgekehrt klappt es bis heute nicht“, sagte Sarwen. „Keiner von uns hat jemals einen klaren Gedanken dieses Wesens vernehmen können. Und wir müssen damit rechnen, dass wir bei den Eismenschen auch nicht weiter kommen.“