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Im Land der Greifenreiter
Schwerter klirrten Funken sprühend gegeneinander,
und magische Blitze zuckten aus den dunklen Klingen.
Gorian ahnte den Angriff seines Kontrahenten voraus
und parierte ihn. Sternenmetall prallte auf Sternenmetall. Mit
einem Kraftschrei konzentrierte Gorian so viel Magie in sein
Schwert, dass es für einen Moment aufglühte, als es auf das Metall
der gegnerischen Waffe traf. Ein zischender Laut ertönte, und der
Gegner wurde durch die Gewalt der Magie gegen die überlebensgroße
Steinstatue eines Greifen geschleudert.
Dieser Steingreif stand am Rand des Felsplateaus,
auf dem sich der Kampf zutrug. Dahinter gähnte ein Abgrund von
zwanzig Klaftern, an dessen Fuß die aufgewühlten Wellen der
gryphländischen See gegen den Felsen schlugen.
Gorian fasste Sternenklinge mit der Rechten. Die
Linke umklammerte den Griff eines Dolchs aus Sternenmetall, dem er
den Namen Rächer gegeben hatte. »Du wirst mich heute nicht
besiegen, Torbas!«
Sein Gegner atmete tief durch. Die falkengrauen
Augen fixierten Gorian mit ihrem durchdringenden Blick. Das dunkle
Haar wirkte wie wirres Geflecht.
Die jungen Männer waren beide in jener Nacht
geboren, als ein Stück des Schattenbringers, der die Sonne
verdunkelte,
glühend zur Erde gestürzt war, aus dessen Erz Gorians Vater die
beiden Schwerter Sternenklinge und Schattenstich sowie den Dolch
namens Rächer geschmiedet hatte. Die Sternenkonstellation schien
ihnen beiden das gleiche magische Talent und ein ähnlich
bedeutungsvolles Schicksal zu verheißen, aber es war schließlich
Gorian gewesen, der am Speerstein von Orxanor mit dem Frostgott
Honyrr gekämpft, ihn besiegt und die beiden geraubten Schwerter aus
Sternenmetall zurückgeholt hatte.
Sternenklinge und Schattenstich …
Zwei Waffen, denen große Kraft innewohnte und die
dafür geschaffen waren, einst auch Morygor, den Herrn der
Frostfeste zu bezwingen.
Torbas’ Gesicht veränderte sich. Entschlossenheit
mischte sich mit einem Zug fast tierhafter Wildheit, den Gorian
bisher noch nicht bei dem Gefährten bemerkt hatte und der ihn im
ersten Moment erschreckte.
Torbas fasste Schattenstich mit beiden Händen und
griff noch einmal an. Seine Augen, die für einige Momente ihre
normale Färbung angenommen hatten, waren wieder vollkommen von
Schwärze ausgefüllt, und der Kraftschrei, den er ausstieß, deutete
an, dass er wirklich alles an Magie einzusetzen versuchte, was er
in sich wachrufen konnte. Schattenstich wirbelte blitzartig durch
die Luft, umflort von einer bläulichen Lichtaura, die bei jeder
Bewegung dieser mit Magie aufgeladenen Klinge aufleuchtete.
Gorian parierte die Schläge scheinbar mühelos.
Immer wieder ließ er das Schwert seines Gegners an seiner eigenen
Klinge abgleiten. Dabei schabte Sternenmetall gegeneinander und
erzeugte durchdringende, unangenehme Geräusche, die manchmal fast
wie ein Aufstöhnen klangen.
Immer heftiger und in immer rascherer Folge kamen
Torbas’
Schläge, und Gorian war gezwungen, sogar mehrere Schritte
zurückzuweichen.
Da war eine ungeheure Wut in Torbas, erkannte
Gorian, und für einen Augenblick fragte er sich schaudernd, welche
Quelle diese Wut wohl haben mochte. Jedenfalls wurde Torbas
stärker. Unbarmherzig setzte er nach, trieb Gorian zwei weitere
Schritte zurück.
Dann folgte ein Schlag, den Gorian fast zu spät
voraussah, ein angetäuschter Hieb, der im letzten Moment gestoppt
und in seiner Richtung so verändert wurde, dass auch jemand, der
diese Technik bis zur Meisterschaft perfektioniert hatte, die
Aktion des Gegners kaum mehr vorausahnen konnte, selbst ein
erfahrener Schwertmeister nicht, der die Kunst der Voraussicht
bereits zu seiner zweiten Natur hatte werden lassen. Gorian konnte
nur noch ganz knapp ausweichen, sodass Schattenstich haarscharf an
seinem Ohr vorbeisauste.
Torbas stieß erneut einen Kraftschrei aus. Gorian
parierte und schlug dann so heftig zu, dass beim Aufeinandertreffen
der beiden Klingen ein greller, kugelförmiger Lichtblitz
aufleuchtete. Gleichzeitig rief er eine Formel, die er bei seiner
begonnenen Ausbildung im Ordenshaus der Magie erlernt hatte, und
Torbas wurde Schattenstich förmlich aus der Hand gerissen. Im hohen
Bogen flog die Waffe davon, kreiste dabei in einer Weise, die jedem
Naturgesetz hohnsprach, mal schneller und dann wieder langsamer um
den eigenen Schwerpunkt und verschwand in dem Abgrund jenseits der
überlebensgroßen Greifenstatue. Das widernatürlich laute Klirren,
mit dem Schattenstich bei seinem Weg in die Tiefe gegen
hervorspringende Klippen prallte, wirkte seltsam gedehnt, so als
wäre die Zeit selbst in die Länge gezogen, und manche der Laute
erinnerten an Schmerzensschreie.
Die Spitze von Gorians Sternenklinge war auf
Torbas’ Brust gerichtet. Dieser atmete tief durch. Seine Züge waren
derart verzerrt, dass es Gorian erschreckte. Torbas’ Augen waren
noch immer vollkommen von Schwärze erfüllt, so als wäre die Magie
der Alten Kraft in ihm weiterhin bis zum höchstmöglichen Maß
wachgerufen. Er wirkte äußerst angespannt und schien diesen Zustand
zunächst auch kaum wieder rückgängig machen zu können, was ein
Schwertschüler des Ordens der Alten Kraft in Torbas’ Stadium der
Ausbildung eigentlich längst beherrschen musste.
»Dies war ein Übungskampf!«, entfuhr es Gorian,
immer noch fassungslos darüber, wie rücksichtslos Torbas gegen ihn
vorgegangen war.
Nur allmählich löste sich die Schwärze in Torbas’
Augen auf und machte wieder der bei ihm üblichen falkengrauen
Färbung Platz. Er blickte auf die Spitze von Sternenklinge und
murmelte: »Du hast wohl gesiegt, so wie es aussieht.«
»Torbas, was war gerade mit dir los?«, fuhr Gorian
ihn an.
Ein mattes Lächeln umspielte Torbas’ Lippen.
»Nichts«, behauptete er. »Es ist alles in Ordnung. Falls ich zu
hart gewesen sein sollte, tut es mir leid. Allerdings glaube ich
nicht, dass du irgendwann in ernsthafter Gefahr gewesen
bist.«
»Ach nein?«
»Du warst mir immer einen entscheidenden Schritt
voraus. Allerdings …« Sein Blick richtete sich auf Gorians
Schulter. Unter dem Lederwams quoll Blut hervor und tränkte das
weiße Hemd.
Es war schwarzes Blut.
Gorian bemerkte es ebenfalls. »Oh …«, murmelte er
und wurde blass. Das Erschrecken konnte er kaum verbergen.
»Ich habe es vielleicht doch etwas übertrieben«,
meinte Torbas. »Das habe ich wirklich nicht gewollt.«
»Nein, das warst du nicht«, entgegnete Gorian. »Das
ist die Wunde, die ich im Kampf gegen Honyrr davontrug.«
»Ich dachte, Sheera hätte sie geheilt.«
»Aber ab und zu fängt die Narbe an zu
bluten.«
»Schwarzes Blut?«
Gorian nickte. »Wir waren sehr weit in Morygors
Reich, Torbas, und die dunklen Kräfte dort waren ausgesprochen
stark. Wir alle waren Morygors Aura ausgesetzt.«
»Erinnere mich nicht daran«, murmelte Torbas, und
er wirkte richtiggehend betrübt dabei.
»Es ist die pure Finsternis, die da nach außen
quillt«, sagte Gorian. »Ich habe offenbar zu viel von dieser
dunklen Magie in mich aufgenommen, als wir auf dem Weg zum
Speerstein waren. Mein Vater hatte an der Hand auch so eine Wunde,
die nicht mehr heilen wollte und von Zeit zu Zeit schwarzes Blut
absonderte. Ich hoffe, dass sich meine Schulterwunde nicht ähnlich
entwickelt.«
Torbas nickte leicht. »Seit wir in Morygors Reich
waren, ist nichts mehr, wie es zuvor gewesen ist, nicht
wahr?«
»Nein«, gab Gorian zu. »Das gilt offenbar für uns
alle.«
»Keiner von uns ist als derjenige zurückgekehrt,
der er war, als wir mit Centros Bals Greifengondel zum Speerstein
von Orxanor flogen. Weder du noch ich – und von Sheera und Meister
Thondaril kann man dasselbe sagen.«
»Woher kommt diese Wut, die seitdem in dir ist?«,
fragte Gorian. Bisher hatte er noch nicht gewagt, Torbas auf diesen
Punkt anzusprechen. Dies, so fand er, war der richtige Augenblick
dafür. Und vielleicht konnte durch eine offene Aussprache das
Befremden vermindert werden, das zwischen ihnen herrschte, seit sie
das Frostreich verlassen hatten.
Torbas schluckte. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur,
dass da manchmal etwas in mir ist, das noch nicht da war, bevor wir
ins Frostreich flogen. Und manchmal höre ich immer noch die Stimme
…«
»Die Stimme?«, fragte Gorian alarmiert.
»Du willst doch sicher nicht behaupten, dass du sie
nicht auch gehört hättest. Morygors Gedankenstimme.«
»Er fürchtet uns, Torbas. Und deshalb versucht er,
uns auf seine Seite zu ziehen. Wir müssen stark bleiben. Die größte
Macht, die Morygor zur Verfügung steht, sind nicht die Horden von
untoten Frostkriegern oder die gewaltigen Leviathane, in deren
Bäuchen ganze Heere Platz haben. Es ist die Macht seiner Gedanken,
die sich in deinen Geist schleichen, ohne dass du es richtig
merkst.«
»Wir werden noch viel Kraft brauchen«, stimmte
Torbas zu. Er drehte sich um und ging zu dem steinernen Greifen. Er
blickte über die hüfthohe Mauer, streckte eine Hand aus und ließ
Schattenstich wieder emporschweben. Ganz kurz füllten sich seine
Augen dabei wieder mit Finsternis. »Eines Tages werde ich mit
diesem Schwert so gut kämpfen, wie du es vermagst, Gorian.«
»Eines Tages werden wir mit diesen Klingen Morygors
Schicksalslinie kreuzen und ihn besiegen!«
»Wir?« Torbas hob die Augenbrauen. »Ich bin gern
dabei, aber Morygor sieht in mir offensichtlich nicht eine so
bedeutende Gefahr für seine Zukunft. Schließlich hat er bisher nur
versucht, dich von seinen Schergen töten zu lassen.«
»Meister Thondaril lässt euch rufen!«, vernahmen
sie beide eine weibliche Stimme.
Gorian drehte sich um. Ein ebenmäßiges Gesicht,
ruhige meergrüne Augen und seidiges, bis über die Schultern
fallendes Haar. Sheera trat aus dem Eingang der Höhlenwohnung,
in der die Gesandtschaft des Ordens der Alten Kraft untergebracht
war.
Die junge Frau blickte von Torbas zu Gorian.
»Warum war dein Geist so verschlossen, dass es unmöglich war,
dich mit einem Gedanken zu rufen?«, fragte Sheera stumm und
ohne dabei auch nur die Lippen zu bewegen. Dann fiel ihr das Blut
auf. »Schon wieder?«, erreichte Gorian ihr Gedanke, in dem
tiefste Besorgnis mitschwang.
Ein mattes Lächeln zeigte sich in seinem Gesicht.
»Es ist nicht so schlimm«, behauptete er.
»Ich werde noch einmal ein paar Heilsteine auflegen
müssen«, sagte sie nun laut. »Aber das scheint das Problem auf
Dauer nicht zu lösen. Vielleicht solltest du doch die Hilfe von
Meister Aarad annehmen.«
Meister Aarad war ein ausgebildeter Heiler, der die
Gesandtschaft des Ordens der Alten Kraft in Gryphenklau leitete. Er
genoss das besondere Vertrauen des Königs von Gryphland, dem Reich
der Greifenreiter, was vornehmlich darin begründet lag, dass er
dessen kränkliche jüngste Tochter bisher am Leben erhalten hatte,
obwohl alle einheimischen Ärzte sie längst aufgegeben hatten. Damit
war er natürlich ein nahezu idealer Botschafter des Ordens beim
gryphländischen König.
Gorian allerdings traute niemandem mehr so ohne
Weiteres, seit sich sogar der Hochmeister des Ordens als Verräter
entpuppt hatte. Und vielleicht fürchtete er auch, die Wahrheit über
diese Wunde zu hören: dass es kein Heilmittel gegen die Blutungen
gab und dass sich sowohl sein Körper als auch seine Seele während
des Aufenthalts in Morygors Reich so sehr mit dunkler Magie
aufgeladen hatten, dass diese Kräfte einfach hinausmussten, in
welcher Form auch immer.
Gorian erwiderte den Blick von Sheeras meergrünen
Augen. Eines der wenigen Dinge, die sich nicht verändert hatten,
seit sie Morygors Reich verlassen hatten und an Bord der Gondel des
Greifenreiters Centros Bal nach Gryphenklau gelangt waren, schien
ihm die grenzenlose Faszination und Zuneigung zu sein, die er für
dieses Mädchen empfand – und die Gewissheit, dass ihrer beider
Schicksalslinien miteinander verwoben waren.
Die eigentümliche Vertrautheit, die Gorian ihr
gegenüber empfand, war nicht im Mindesten erschüttert, und das
beruhigte ihn irgendwie.
Die siebentürmige Kathedrale von Toque am Oberlauf
des Bar war ein Wahrzeichen des Glaubens an den Verborgenen
Gott.
Toque, mitten im Herzland des Heiligen Reichs
gelegen, war auch die Residenzstadt des Herzogs von Quellanien,
aber die Kathedrale allein war etwa doppelt so groß wie das
herzogliche Schloss und die eigentliche Stadt, die ihren Reichtum
vor allem den vielen Pilgern verdankte, die jedes Jahr zu
Hunderttausenden herbeiströmten und das Gebiet um die Kathedrale im
Sommer monatelang zu einer gewaltigen Zeltstadt anschwellen ließen.
Vom heiligen Wasser einiger Heilquellen erhoffte man sich Linderung
von Krankheiten oder gesunden Nachwuchs oder Vergebung von Sünden.
Selbst den einen oder anderen bekehrten Oger-Söldner, der in seinem
früheren Leben Menschenfleisch als Delikatesse empfunden hatte, zog
es her, um in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen zu
werden.
Man sagte, dass jedes zweite Haus in Toque ein
Gasthaus sei und die Zahl der Einwohner im Winter kaum ein Zehntel
dessen erreichte, was man in den reisefreundlichen Sommermonaten
an Volk zu sehen bekam.
Es war Spätsommer, aber es wehte ein so eisiger
Wind über die quellanischen Felder bis in die westlich des Bar
gelegene Tiefebene von Garilanien, wie in manch hartem Winter
nicht. Und immer wieder gab es Schnee- und Hagelschauer aus einem
grauen Himmel. Die Sonne zeigte sich nur als großer verwaschener
Lichtfleck, der durch die Wolkendecke schimmerte und zusätzlich
noch zur Hälfte von etwas Dunklem verdeckt wurde – dem
Schattenbringer, den die Magie Morygors allmählich vor die Sonne
schob, sodass die Erde immer mehr zu einem Reich der Kälte
wurde.
Die Zeltstadt rund um Toque befand sich in
Auflösung, und ihre Bewohner bestanden in diesen Tagen auch nicht
überwiegend aus Pilgern, sondern aus Flüchtlingen, denen es
gelungen war, sich bis nach Toque zu retten. Dass ihnen allerdings
der Nimbus der mächtigen Kathedrale Schutz vor den heranrückenden
Horden Morygors bieten konnte, schienen die wenigsten von ihnen zu
glauben. Stattdessen versuchten einige mit allen Mitteln, das
garilanische Ufer zu erreichen, doch die breite Brücke, die sich
über den Bar spannte, war hoffnungslos verstopft. Manche ließen
sich mit Booten übersetzen oder versuchten einen Platz an Bord
eines der Flussschiffe zu ergattern, mit denen man bis nach Nelbar
in Oquitonien gelangen konnte, wo der Bar in das laramontische Meer
mündete. Ein noch größerer Zug von Menschen bewegte sich allerdings
über die dem quellanischen Ufer folgende Straße nach Süden, was
bedeutete, dass ihnen der breite Strom keinerlei Fluchtmöglichkeit
mehr ließ, wenn der Feind auftauchte.
Und dieser Feind war nahe …
… und unbarmherzig.
Schon seit drei Tagen waren keine weiteren
Flüchtlinge mehr über die Ebene der quellanischen Felder nach Toque
gelangt. Ein Zeichen, das nicht zu missdeuten war.
Am Horizont schob sich ein mehrere Klafter hoher
Eispanzer gen Süden und Westen. Die Geschwindigkeit, mit der dieser
breite Gletscher vordrang, widersprach allem, was man über die
Natur des Eises wusste. Wie eine zähflüssige Masse walzte sich das
Eis vorwärts und begrub alles unter sich, während ein frostiger
Hauch die Verteidiger von Toque erstarren ließ. Voller Verzweiflung
und Hoffnungslosigkeit blickten die wenigen Ritter und
Landsknechte, die noch auf den Mauern und Türmen der Stadt
ausharrten, dieser grauweißen Wand entgegen. Einige zu allem
entschlossene Schwertmeister des Ordens der Alten Kraft befanden
sich unter ihnen, zu erkennen an den Meisterringen, die sie trugen.
Aber ein Großteil der Bewaffneten hatte schon vor Tagen zusammen
mit dem Herzog und seiner Familie und dem Bischof die Stadt
verlassen.
Die graue Wand näherte sich, und noch ehe die
Dunkelheit hereinbrach, walzten die Eismassen die äußeren
Stadtmauern nieder, schoben sich durch die Straßen, drückten
Hauswände ein und begruben bis auf eine Höhe von anderthalb
Klaftern alles unter sich, was ihnen im Weg stand. Das Eis hatte
dabei eine Geschwindigkeit, die dem eines Wanderers mit normalem
Schritttempo entsprach. Da auch die Straße nach Süden auf viele
Meilen von dem heranfließenden Gletscher betroffen war, blieb den
vielen Menschen, die sich noch in der Stadt befanden, nur noch die
Flucht über die völlig überladene Brücke des Bar oder zur
Kathedrale, die ebenso wie das herzögliche Schloss auf einer Anhöhe
gelegen war.
Bald ragte der von Menschen umlagerte Bereich um
die
siebentürmige Kathedrale wie eine Insel aus einem vereisten Ozean.
Das etwas tiefer gelegene herzogliche Schloss hingegen wurde zum
Großteil ebenfalls von den Eismassen fortgerissen. Einzig und
allein der Burgfried hielt noch stand und ragte trotzig aus dem
grauen Eis hervor, das sich weiter voranschob, dem Fluss entgegen,
in den sich das Eis schließlich als zähflüssiger Strom
ergoss.
Immer wieder brachen Gletscherstücke ab und wurden
südwärts getrieben. Manchmal brachten diese Eisstücke Boote und
Flussschiffe in arge Bedrängnis, und es war nur noch eine Frage der
Zeit, bis auf dem Oberlauf des Flusses, der eigentlich auf der
gesamten Länge zwischen Toque bis Nelbar schiffbar war, jeglicher
Transport eingestellt werden musste.
Die Eismassen brachten schließlich auch die Pfeiler
der Brücke zum Einsturz. Ein Treck von Tausenden, die niemand mehr
davon hatte abhalten können, trotz aller drohenden Gefahr die
völlig überfüllte Brücke zu betreten, stürzte in die Tiefe. Aber
ihr Schreien ging unter in den manchmal eher stöhnenden, dann
wieder mehr schabenden oder krachenden Lauten, die das Eis bei
seinem Vormarsch verursachte.
Dichtes Schneegestöber setzte ein, und der eisige
Wind frischte auf, so als hätten sich alle in Morygors Diensten
stehenden Frostgötter dazu entschlossen, im selben Moment ihren
kalten Hauch über das Land zu verbreiten.
Aus der Kathedrale drangen die Gesänge
verzweifelter Gläubiger sowie einiger Geistlicher aus den niederen
Rängen der Priesterschaft des Verborgenen Gottes. Gesänge, die um
magische Hilfe jener mächtigen Wesenheit baten, denn nach
Auffassung der Priesterschaft war jede Magie eine gnädige Gabe des
Verborgenen Gottes und nicht ein Talent
des Einzelnen, wovon die Lehre des Ordens der Alten Kraft ausging.
Aber der Verborgene Gott schien taub gegenüber dem Flehen seiner
Gläubigen.
Bis zum Morgengrauen wurde das Schneetreiben immer
dichter. Den Fluss zu überqueren war nahezu unmöglich geworden. Er
war zwar inzwischen halb zugefroren, und immer größere Eisstücke
brachen von dem heranfließenden Gletscher ab und lagerten sich
aneinander, aber es war lebensgefährlich, den Fuß auf dieses
Brucheis zu setzen. Dennoch gab es genug Verzweifelte, die es
trotzdem versuchten. Ihre Schreie gingen im allgemeinen Lärm
unter.
Die quellanischen Felder, wie man die Ebene östlich
des oberen Bar allgemein nannte, waren inzwischen eine einzige
grauweiße und mit einer hüfthohen Schneeschicht bedeckte Einöde.
Auch der letzte Turm des herzoglichen Schlosses war unter dem Druck
des Eises zerbrochen. Einzig die gewaltigen Mauern der
siebentürmigen Kathedrale trotzten noch dem frostigen Hauch aus
Morygors Reich, aber Schneeverwehungen türmten sich klafterhoch an
ihnen auf.
Der Schneefall hörte auf, und eine kalte, fahle
Sonne stand am Himmel, gut die Hälfte verdeckt von der Schwärze des
Schattenbringers. Die Luft war eisig klar, und man konnte weit über
die Ebenen sehen. Hundert Leviathane rückten in breiter Front über
den Horizont, jeder von ihnen zwanzig oder mehr Schiffslängen
messend und im Bauch jeweils eine ganze Armee von Frostkriegern,
die jederzeit ausgespien werden konnten.
Schneller als westreichische Galeeren und
heiligreichische Koggen das Meer von Ost-Erdenrund durchpflügten,
glitten die gewaltigen Wesen über die weiße Decke aus Eis und
Schnee. Untote Armbrustschützen aus Torheim hatten
sich auf den Rücken der Giganten positioniert, die breiter als
jede Brücke und jede Straße waren, die je von Menschen-oder
Ogerhand erschaffen worden war. Die jeweilige Eskorte, bestehend
aus Tausenden von orxanischen Wollnashornreitern, stand nicht
selten in Gefahr, von den gewaltigen Leibern der Leviathane
erdrückt zu werden, zumal diese trotz ihrer beachtlichen Größe eine
enorme Geschwindigkeit vorlegten, bei der die Wollnashörner gerade
noch mithalten konnten.
Wie eine Flutwelle drang diese Streitmacht auf
einer Breite, die den gesamten Horizont einnahm, in Richtung des
Flusses Bar voran. Während die Gesänge in der Kathedrale anhielten,
stürzte bereits der erste der sieben Türme unter dem Druck eines
der Leviathane in sich zusammen …
Gorian starrte auf die verblassenden Bilder in der
ovalen, etwa mannsgroßen, flimmernden magischen Sphäre, die Meister
Thondaril erzeugt hatte. Thondaril hob die Hand mit den Ringen
eines Meisters in den Ordenshäusern der Magie und des Schwertes und
ließ die Sphäre langsam in seiner Handfläche verschwinden. Sein wie
aus Stein gemeißeltes Gesicht wirkte noch ernster, als man es
ohnehin schon von ihm gewohnt war.
Außer Gorian und Meister Thondaril befanden sich
noch Torbas, Sheera und Meister Aarad in dem Raum, der zur
Wohnhöhle der Ordensgesandtschaft in Gryphenklau gehörte. Die Stadt
der Greifenreiter war nahezu völlig in ein gewaltiges Felsmassiv
hineingeschlagen worden. Künstliche Wohnhöhlen waren mit dem
natürlichen Höhlensystem verbunden worden – Höhlen, in denen früher
wilde Greifen gelebt hatten und die nun als Stallungen für diese
riesenhaften Mischwesen aus Vogel und Löwe dienten.
Dass es dem Orden gestattet war, seine
Gesandtschaft in einer dieser Wohnhöhlen einzurichten, konnte
durchaus als Ausdruck besonderer Wertschätzung angesehen werden.
Die Gesandtschaft des Heiligreichischen Kaisers jedenfalls befand
sich in der zu Gryphenklau gehörenden separaten Hafenstadt am Fuß
des Felsmassivs, und obwohl sowohl der Orden als auch der Kaiser
beide Repräsentanten desselben Landes waren, zeigte der König auf
diese Weise ziemlich deutlich, wessen Anwesenheit am
gryphländischen Königshof höher geschätzt wurde.
Gorian betastete mit der Hand die Schulter, an der
er während seines Kampfes mit Honyrr verletzt worden war. Rächer –
sein eigener Dolch – hätte ihn beinahe getötet. Gorian hatte sich
noch schnell ein frisches Hemd angezogen, bevor er schließlich als
Letzter den Raum betreten hatte. Aber von den bewegten Bildern, die
Meister Thondarils Magie gezeigt hatte, hatte er dennoch genug
gesehen, um zu ermessen, wie ernst die Lage war.
»Das, was ich euch gerade zeigte, sandte mir
Schwertmeister Sarenthorm durch Handlichtlesen«, erklärte
Thondaril. »Leider habe ich die Verbindung zu ihm verloren und
befürchte das Schlimmste.«
»Bis Toque sind sie also schon«, murmelte Meister
Aarad, und sein von schlohweißem Haar umrahmtes Gesicht bekam noch
zusätzlich ein paar tiefe Sorgenfalten. Seit sie in Gryphenklau
weilten, war der Leiter der Ordensgesandtschaft Gorian immer wie
ein Sinnbild innerer Gelassenheit und des seelischen Gleichmuts
vorgekommen. Aber das war wie verflogen, und die Verstörung war ihm
nur allzu deutlich anzusehen. »Die Kathedrale von Toque dem
Erdboden gleichgemacht …« Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wie
kann der Verborgene Gott so etwas zulassen? Wie
kann er tatenlos mitansehen, wie eines der Wahrzeichen des
Glaubens an ihn in Grund und Boden gewalzt wird?«
»Ich fürchte, dass sich das Heilige Reich in
Auflösung befindet«, erklärte Thondaril, und seine Stimme klang
hart und klar dabei. »Der Kaiser ist nach Arabur in seine
laramontische Stammlande geflohen, aber es ist nicht anzunehmen,
dass Laramont von Morygors Horde lange verschont bleiben wird. Der
Oberlauf des Bar wird inzwischen gefroren sein, und nachdem Toque
gefallen ist, werden die Leviathane jetzt über das Tiefland von
Garilanien herfallen. In Atanien befindet sich nur noch ein
schmaler Küstenstreifen nicht in der Gewalt des Feindes, was wohl
nur der Tatsache geschuldet ist, dass die zerklüfteten Höhen des
mittelatanischen Gebirges das Vordringen der Leviathane etwas
verlangsamen oder sie zu Umwegen zwingen. Zwei Drittel des Heiligen
Reichs sind schon von Morygor erobert worden. Von Pantanela und
einem Großteil des nördlichen Ogerlandes können wir das nur
vermuten, weil uns von dort schon seit langem keine Nachrichten
mehr erreichen. Bis zu den Inseln der Dreilande ist das Meer
gefroren – und das Eis breitet sich unaufhaltsam weiter nach Süden
und Westen aus.« Thondaril atmete tief durch. »Und es gibt keinen
Grund anzunehmen, dass Morygor, wenn seine Schergen die südlichen
Grenzen des Heiligen Reichs erreicht haben, plötzlich die Tugend
der Bescheidenheit für sich entdeckt. Die Leviathane werden
Garilanien im Eiltempo durchqueren und Mitulien erreichen – und
danach auch den Norden Gryphlands.«
»Es müssten sich alle Mächte zusammenschließen, die
noch zum Widerstand in der Lage sind«, meinte Gorian.
»Daran arbeite ich, seit der Krieg ausgebrochen ist
und sich gezeigt hat, dass offenbar kein Heer dieser Welt
Morygors Horden allein aufzuhalten vermag«, erklärte ihm Meister
Aarad. »Aber das ist leichter gesagt als getan. Nicht einmal alle
überlebenden Großen innerhalb des Heiligen Reichs sind sich
wirklich einig – und hier in Gryphland oder in Westreich scheint
man darauf zu hoffen, dass der eisige Hauch über das eigene Land
hinwegzieht wie ein vorübergehendes Unwetter.«
»Jeder, der zum Himmel aufblickt und sieht, um wie
vieles mehr der Schattenbringer die Sonne verdeckt als noch vor ein
paar Wochen, muss doch begreifen, dass sich dieser Wunsch nicht
erfüllen kann«, sagte Gorian voll grimmigem Unverständnis über
solche falschen Hoffnungen.
»Ja, aber du wirst zugeben, dass es leichter fällt,
gegen einen Feind ins Feld zu ziehen, gegen den zu siegen zumindest
eine Möglichkeit besteht«, entgegnete Torbas. »Ehrlich gesagt, kann
ich die in diesem Fall bislang nicht erkennen.«
Er wandte den Kopf und sah Gorian an, und sein
Blick hatte einen Ausdruck, den Gorian nicht so recht zu deuten
wusste. Wo war die selbstbewusste, spöttische Überheblichkeit, die
sonst so kennzeichnend für Torbas war? Wo die Unerschrockenheit,
die sich nicht selten in purer Respektlosigkeit gegenüber allem und
jedem geäußert hatte? Gorian war sich mittlerweile sicher, dass
sich diese Wandlung in den eisigen Weiten des Frostreichs ereignet
hatte. Torbas hatte offenbar eine Form von Furcht kennengelernt,
die ihm zuvor unbekannt gewesen war – und vor allem auch die
Grenzen der eigenen Fähigkeiten und Kräfte.
Schließlich hatte er es nicht vermocht, der Aura
Morygors zu widerstehen und Gorian trotz aller gegen ihn
gerichteten Magie und ihn bedrängenden Einflüsterungen bis zum
Speerstein zu folgen. Stattdessen hatte er ebenso aufgeben
müssen wie Sheera und sogar der zweifache Ordensmeister Thondaril.
Ein tief greifendes Erlebnis, das Torbas zweifellos als Niederlage
empfunden hatte. Als Niederlage gegenüber Gorian – aber auch als
Versagen gegenüber den Ansprüchen, die er an sich selbst gestellt
hatte.
»Du lebst in der Überzeugung, dass Morygor dich
aufgrund irgendwelcher Vorhersagen, die kein Mensch wirklich zu
durchschauen oder nachzuvollziehen vermag, fürchtet wie die Pest«,
fuhr er fort, an Gorian gerichtet. »Das verleiht dir vielleicht
etwas mehr Mut als anderen.«
»Nein, das ist nicht wahr«, entgegnete Gorian.
»Auch ich habe keinerlei Gewissheit.«
»Ach nein?«
»Möchtet ihr beide euren privaten Disput erst zu
Ende führen, oder wollt ihr hören, was ich vorzuschlagen habe?«,
ging Thondaril in scharfem Tonfall dazwischen.
Sowohl Torbas als auch Gorian verstummten und
drehten sich zu ihrem Meister um. Beide neigten sie als Zeichen der
Demut und des Respekts das Haupt.
Meister Thondaril stemmte die Arme in die Hüften
und atmete tief ein. »Meister Aarad wird weiterhin versuchen, ein
Bündnis aller verbliebenen Kräfte zustande zu bringen. Aber solange
Morygor über den Schattenbringer gebietet, ist jede Schlacht gegen
seine Schergen von vornherein verloren. Der Schattenbringer sorgt
für den widernatürlichen Winter, den wir erleben. Zumindest trägt
er den Hauptteil dazu bei, darin sind sich alle Gelehrten einig.
Mag sein, dass auch der eine oder andere Frostgott, den Morygor
durch das Weltentor holte, mit seinem Eishauch dazu beiträgt, aber
fest steht, dass Morygors Horden niemals so weit nach Süden hätten
vordringen können, hätten sie dort nicht Bedingungen vorgefunden,
die ihnen die Existenz überhaupt
erst ermöglichten: Leviathane, untote Orxanier und Torheimer – sie
alle sind Geschöpfe der Kälte, und nur in so einer Umgebung können
sie sich wirklich entfalten. Es gibt seit langem eine Theorie, dass
sich der Schattenbringer beeinflussen lässt, und zwar durch eine
Kombination verschiedener Kräfte und magischer Prinzipien.
Schwerter aus Sternenmetall sind sicherlich besser als irgendetwas
sonst geeignet, die Kräfte zu bündeln, auf die es dabei ankommt.
Wir werden unsere Art der Magie mit der der Caladran kombinieren
müssen, denn niemand versteht die Gestirne so gut wie sie.«
»Die Caladran sind dafür bekannt, dass sie ihre
Magie geheim halten und nicht mit anderen teilen«, stellte Sheera
fest. »Ehrwürdiger Meister, wie wollt Ihr sie dazu überreden, uns
zu helfen?«
»Morygor ist selbst ein Caladran, wenn auch ein
Abtrünniger«, antwortete Thondaril. »Oder vielleicht sollte man
besser sagen: Er war einst ein Caladran, denn er hat sich
längst zu einer ganz anderen Wesenheit entwickelt, von der niemand
wirklich etwas weiß. Ich gehe davon aus, dass man nirgends so gut
um die Gefahr weiß, die von Morygor und seinem Frostreich ausgeht,
als bei den Caladran. Zudem werden auch deren Inseln früher oder
später vom Eis eingeschlossen werden, und die Leviathane walzen
dann die legendären Städte dieses Volkes genauso nieder, wie es mit
der siebentürmigen Kathedrale von Toque geschehen ist. Die Caladran
werden uns helfen!«
»Oder sie werden einfach ihre Himmelsschiffe
besteigen und davonfliegen«, meinte Torbas. »Angeblich waren sie
früher sogar imstande, zu den Sternen zu fliegen.«
»Nach allem, was dem Orden bekannt ist, entspricht
das den Tatsachen«, sagte Aarad bedächtig.
»Dann verstehe ich nicht, warum sie nicht ihre alte
Kunst benutzen, um mit ein paar Himmelsschiffen zum Schattenbringer
zu fliegen und ihn von der Sonne fortzuziehen«, sagte Torbas. »Kann
das denn so schwer sein? Vor hundert Jahren schon hätten sie das
tun sollen!«
»Sie haben manche ihrer alten Künste vergessen, und
letztlich haben wir auch nur Hinweise, aber keinen wirklichen
Beweis dafür, dass ihre Magie und ihre Schifffahrt einst zu solch
großartigen Taten fähig waren«, gab Aarad zu bedenken. »Doch du
solltest dir Meister Thondarils Vorschlag zu Ende anhören.«
Offenbar hatte Thondaril zuerst mit Aarad über
seine Pläne gesprochen, erkannte Gorian und wechselte einen Blick
mit Sheera.
»Das gefällt dir nicht, was?«, empfing er
ihren Gedanken.
Gorian war überrascht. Er fragte sich, weshalb er
manchmal ihre Gedanken klar erkennen konnte und in anderen
Situationen keine Verbindung zu ihr hatte.
»Es liegt an dir, Gorian«, behauptete Sheera
mit einem weiteren Gedanken. »Daran, wie sehr du deinen Geist
öffnest. Das gehört eigentlich zum Heilertalent dazu, und du willst
doch die Meisterschaft in allen fünf Häusern des Ordens erringen,
richtig?«
»In der Gruft von Felsenburg werden uralte
Caladran-Schriften aufbewahrt«, fuhr Thondaril zwischenzeitlich
fort. »Schriften, aus denen wir vielleicht etwas mehr darüber
erfahren, ob sich der Schattenbringer durch die Sternenmagie der
Caladran beeinflussen lässt. Meister Aarad hat auch schon beim
Landesherrscher angefragt, ob uns die Reise nach Felsenburg
gestattet wird.«
»Kann man denn in Gryphland nicht frei reisen?«,
fragte Gorian erstaunt.
»Nicht nach Felsenburg. Dorthin darf man nur nach
vorheriger Genehmigung, denn auch der gryphländische Reichsschatz
ist dort untergebracht. Die Burg liegt in einem nahezu unbewohnten
und wüstenartigen Ödland zwischen den mittelgryphländischen Bergen
und Mitulien. Das Gebiet ist so unwegsam, dass man ohne Greifen
kaum dorthin gelangt.«
»Es ist die menschenfeindlichste Gegend, die ich je
gesehen habe«, erklärte Aarad.
»Ihr seid also schon dort gewesen«, sagte
Gorian.
Der Ordensgesandte in Gryphenklau nickte. »Ja, vor
Jahren erhielt ich zur Vervollkommnung meiner Heiler-Fähigkeiten
die Erlaubnis, in den alten Schriften dort zu forschen. Damals
stand es sehr schlecht um die Tochter des Königs, und ich nehme an,
dass ich nur deswegen die Erlaubnis erhielt. Übrigens tauchen immer
wieder mal bruchstückhafte und wohl auch falsche Abschriften aus
den Beständen Felsenburgs auf dem Schwarzmarkt von Gryphenklau auf
und werden dort zu horrenden Preisen gehandelt.«
»Warum fliegen wir nicht gleich zu den Caladran?«,
wollte Gorian wissen. »Wenn man noch irgendetwas gegen Morygor
ausrichten will, wird man ohnehin ein Bündnis aller noch freien
Völker schmieden müssen, und da sollten nicht ausgerechnet die
mächtigsten Magier fehlen, oder?«
»Die erste Schwierigkeit besteht schon allein
darin, einen Gryphländer zu finden, der uns mit seinem Greifen zu
den Inseln der Caladran fliegt«, antwortete Aarad. »Beide Länder
sind nämlich traditionell miteinander verfeindet, auch wenn das im
Heiligen Reich wenig bekannt ist, denn es hat schon seit tausend
Jahren keine offenen kriegerischen Auseinandersetzungen mehr
zwischen Caladran und Greifenreitern gegeben. Der Grund dafür ist,
dass keiner stark genug
wäre, den anderen zu besiegen, jedenfalls nicht, ohne einen
unverhältnismäßig hohen Preis dafür zu zahlen. Diese Feindschaft
hat mit den Caladran-Schriften in Felsenburg zu tun. Sie wurden
nämlich geraubt.«
Thondaril ergriff wieder das Wort. »Würden wir eine
der Schriften mit zu den Inseln der Caladran bringen, würde man das
als Friedensangebot verstehen – jedenfalls wenn wir in einer
Greifengondel reisen oder zumindest ein Dokument vorweisen, mit dem
wir beweisen, im Auftrag des Königs von Gryphland zu handeln. Dann
gelänge es uns vielleicht, die Caladran als Verbündete zu
gewinnen.«
»Dann sollten wir so bald wie möglich nach
Felsenburg aufbrechen«, meinte Gorian.
»Die Zustimmung des Königs steht noch aus«, sagte
Aarad.
»Haltet Ihr es für möglich, dass ihm bereits von
anderer Seite Versprechungen gemacht wurden?«, äußerte Sheera eine
Befürchtung, die ihr auf einmal kam.
»Von Morygor?«, fragte Aarad.
»Wenn er das Geflecht der Schicksalslinien und
Wahrscheinlichkeiten so gut zu überblicken vermag, wie wir
annehmen, dann weiß er von unserem Plan und wird versuchen, ihn zu
vereiteln«, stimmte Thondaril ihrer Sorge zu.
»Ich kenne den Herrscher seit langem und kann mir
das eigentlich nicht vorstellen«, erklärte Aarad. »Andererseits
weiß ich nicht, was er tun wird, stünde es so schlecht um seine
Tochter, dass auch ich ihr nicht mehr zu helfen vermag …«