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Gefangener in Dunkelheit
Meister Thondaril war außer sich. Noch in
derselben Nacht suchte er ein weiteres Mal Oras Ban auf, um ihn
dazu zu bewegen, den Befehl des Königs gegenüber dem Namenlosen
durchzusetzen.
Aber das war vergeblich.
Am nächsten Tag rief er die Ordensschüler in sein
Quartier. »Es ist ungewiss, wie lange wir hier noch festgehalten
werden«, erklärte er Gorian, Sheera und Torbas.
»Gibt es keinen Weg, sich mit Gewalt zu holen, was
man uns freiwillig nicht herausrückt?«, fragte Torbas. »Wenn wir
einige der Schriften rauben und dann zu den Caladran fliegen,
werden die uns das vielleicht als Freundschaftsdienst
anrechnen.«
»Das kann ich nicht empfehlen«, mischte sich Sheera
ein. Sie strich sich eine Strähne ihres Haars aus dem Gesicht und
sah Torbas an. »Hast du nicht die gewaltige Kraft gespürt, über die
der Namenlose verfügt?«
»Wir sind zu viert, und unsere Kräfte sind auch
nicht gerade klein. Außerdem haben wir noch das hier.« Er zog
Schattenstich aus der Scheide seines Wehrgehänges. »Wir sind im
Besitz von zwei Klingen aus Sternenmetall, und damit dürfte sich
wohl selbst diese uralte Kreatur besiegen lassen. Ha, bezeichnet
Menschen als Söhne des Todes und
hat seine eigene Zeit doch in Wahrheit längst hinter sich! Ein mit
Magie aufgeladener Untoter, kein bisschen lebendiger als so manche
finstere Gestalt, die in Morygors Reihen kämpft! Davor sollten wir
uns nicht fürchten.« Er steckte Schattenstich zurück in die Scheide
und wandte das Gesicht Thondaril zu. »Was meint Ihr, Meister? Ich
nehme nicht an, dass Ihr als Sohn des Todes, wie der Namenlose Euch
bezeichnet, auch noch ein Sohn der Furcht seid.«
Doch Thondaril hörte Torbas nicht einmal richtig
zu. Er schien mit seinen Gedanken weit entfernt, rieb sich das Kinn
und entschied dann: »Wir werden uns vorerst in Geduld üben. Eine
andere Möglichkeit haben wir nicht. Der Namenlose Renegat ist zu
mächtig, als dass wir ihn uns zum Gegner machen dürfen. Dabei
würden wir nur unsere Kräfte aufreiben, und das käme einzig Morygor
zugute.« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Irgendetwas geht hier
vor. Etwas, das ich noch nicht so recht begreife …«
Er hob die Hand, und ein Lichtstrahl fuhr aus der
Handinnenfläche, traf die Wand und erzeugte dort einen Lichtkegel,
so groß wie ein Kriegerschild. Eine Landkarte war darin zu sehen.
Sie ähnelte jenen Karten aus der Bibliothek der Ordensburg vor
deren Zerstörung und zeigte das Heilige Reich und die angrenzenden
Länder.
»Wie ihr wisst, stehe ich über das Handlichtlesen
ständig mit anderen Ordensbrüdern in Verbindung und kann daher
ungefähr abschätzen, wie weit sich Morygors Reich bereits
ausgedehnt hat und wohin er seine Kräfte wendet.« Die Gebiete, die
bereits von den Horden des Frostherrn erobert worden waren, hatten
auf der Lichtkarte eine eisblaue Färbung. »Quellanien, Garilanien
und der Norden von Nomrigge sind zu Eiswüsten geworden und nun Teil
von Morygors kaltem Reich. Während die Gletscher und seine
Leviathane in Richtung Süden offenbar ins Stocken geraten sind,
dringen sie immer weiter nach Südwesten vor. Anstatt Oquitonien und
Baronea zu überrollen, drängen seine Schergen mit Macht über die
mitulische Grenze und …«
»… nach Felsenburg!«, erkannte Gorian.
Thondaril nickte. »In den Kathedralen von Petaa und
Tulia singen die Menschen dem Verborgenen Gott Dankes-Chöre, weil
er sie erhört zu haben scheint und die Gefahr in Richtung Gryphland
an ihnen vorüberzieht.« Er ließ die Lichtkarte mit einer
Handbewegung verschwinden.
»Morygor ahnt, dass hier eine Kraft ist, die er
bekämpfen muss, weil sie ihm in der Zukunft gefährlich werden
könnte«, war Sheera überzeugt und sagte dann: »Gorian!«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich allein
seinetwegen geschieht«, widersprach Thondaril. »Es sind so viele
Zeichen zu beobachten, die mich nachdenklich machen, aber aus denen
ich noch kein Gesamtbild zu erkennen vermag. Die Flucht der
Fledermenschen zum Beispiel.«
»Wie lange gedenkt Ihr, auf die Entscheidung des
Namenlosen zu warten?«, fragte Torbas im herausfordernden Tonfall,
der Thondaril sichtlich missfiel.
»Das wirst du mir überlassen,
Schüler!«
Die Tage in Felsenburg verliefen nicht sonderlich
ereignisreich. Auffällig war allerdings, dass sich auch an den
folgenden Abenden große Schwärme von Fledermenschen sammelten und
Zugvögeln der nördlichen Länder ähnlich davonflogen.
Zwischenzeitlich empfing Gorian immer wieder fremde
Gedanken, die er für Botschaften von Ar-Don hielt, auch wenn sie
inzwischen kaum noch aus Bildern oder Worten bestanden, die sich in
irgendeiner Weise deuten ließen. Zumeist
waren es nur zerfließende Farben, die sich schließlich in tiefstes
Schwarz verwandelten. Und das Gefühl einer Kälte, die nichts mit
der von Gestein oder Eis oder einer unfreundlichen Witterung gemein
hatte. Es war eine schauderhafte Seelenkälte, die Gorian daran
erinnerte, als er nach dem Kampf am Speerstein von Orxanor dem Tod
näher gewesen war als dem Leben.
Dass ihn Ar-Don damals gerettet hatte, verstärkte
das Gefühl der Verpflichtung, das er gegenüber dem Gargoyle
empfand.
Eines Tages suchte er Fentos Roon auf. Es war gar
nicht so einfach, mit ihm zu sprechen, ohne dass jemand anderes,
allen voran Centros Bal, in der Nähe war. Doch das, was Gorian mit
dem Zweiten Greifenreiter zu bereden hatte, ging sonst niemanden
etwas an.
Fentos Roon war gerade damit beschäftigt, dem
Greifen mit einem langstieligen Besen den Schnabel zu putzen, was
sich die gewaltige Kreatur erstaunlich bereitwillig gefallen ließ.
Centros Bals Greif und seine Gondel befanden sich nach wie vor in
der großen Einflughöhle. Nicht alle Greifen waren so gut erzogen
wie der des Nordfahrers. Immer wieder dröhnte irgendwo ein Schrei
dieser Kreaturen, und dies so laut, dass die gesamte Höhle zu
erzittern schien und man für einige Momente sein eigenes Wort nicht
verstehen konnte.
»Bist du zufällig gekommen, um mir zu helfen?«,
fragte Fentos Roon, während er mit dem Besen an dem geöffneten
Schnabel herumschrubbte. Schon in Gryphenklau war Gorian diese
Vorgehensweise aufgefallen. Nach dem, was er gehört hatte, tat man
es, um Ablagerungen zu vermeiden, die den Schnabel ansonsten
langsam zerfraßen, was dann den Greifen in den Wahnsinn trieb. Da
dies bei älteren, wildlebenden Greifen immer wieder vorkam, kannte
das Gryphländische
die Redewendung »Verrückt wie ein alter Greif mit faulem
Schnabel«.
»Eigentlich bin ich hier, um dich um Hilfe
zu bitten«, erklärte Gorian.
Centros Bals Zweiter Greifenreiter ließ den Besen
sinken. Der Greif klappte den Schnabel mit lautem Klackern zu und
schnaufte, so als wollte er seinen Unmut wegen der Unterbrechung
kundtun.
»Eigentlich sollte mir Zog Yaal helfen, aber der
ist ein fauler Hund«, beschwerte sich Fentos Roon. »Er drückt sich,
wo er kann, dabei hat er ohnehin kaum was zu tun.«
Gorian ging nicht auf Fentos Roons Gejammer ein,
sondern forderte: »Ich möchte, dass du mir zeigst, wie man mit
einer Seilschlange umgeht.«
Fentos verengte die Augen zu Schlitzen, und eine
tiefe Falte erschien auf seiner Stirn. »Was hast du vor?«
»Es gibt keine Möglichkeit, aus Felsenburg heraus
und in die Berge zu gelangen, außer mit einem Greifen.«
»Wenn du in die Berge willst, lass dich von meinem
Herrn dort absetzen. Der Greif muss sich sowieso regelmäßig
bewegen.«
»Nein, das geht nicht«, widersprach Gorian.
»Thondaril sollte möglichst nichts erfahren, aber das würde er in
diesem Fall.« Er überlegte einen Moment, dann entschied er, Fentos
Roon auch noch den Rest zu offenbaren. »Ar-Don wird irgendwo in
einer der Schluchten gefangen gehalten. Torbas und ich wollen ihm
helfen.«
»Ihr wollt euch mit Seilschlangen aus Felsenburg
abseilen?«, fragte Fentos Roon erschrocken und vergaß danach, den
Mund wieder zu schließen.
»Nicht nur das. Wir brauchen sie auch, um in die
Tiefe der dunklen Schluchten zu gelangen.«
»Dorthin, wo die Fledermenschen hausen?«
»Hilfst du uns?«
Fentos Roon atmete tief durch. »Das ist nicht so
einfach, wie ihr beiden vielleicht denkt. Mit Magie hat das nämlich
nichts zu tun. Man muss mit den Seilschlangen reden. Sie hören auf
leises Flüstern, denn ihre Ohren sind empfindlicher, als man es
sich vorzustellen vermag. Und man darf sie nicht verstimmen.«
»Das kann so schwer nicht zu lernen sein«, gab sich
Gorian überzeugt, seine Ungeduld mühsam unterdrückend.
Fentos Roon kratzte sich am Kopf, schien noch etwas
unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. Der durchdringende
Schrei eines anderen Greifen entband ihn für einige Augenblicke von
einer Antwort.
»Ich komme mit euch«, erklärte er dann. »Anders
geht es nicht.«
»Wirst du nicht Ärger mit Centros Bal
bekommen?«
»Natürlich. Aber das nehme ich in Kauf, und sein
Zorn wird sich auch wieder legen. Er weiß ganz genau, was er an mir
hat, und wird mich nicht einfach so aus seinen Diensten entlassen.
Dieser Gargoyle hat dich zurückgebracht, als du mehr tot als
lebendig warst. Er hat dich gerettet. So jemanden darf man nicht im
Stich lassen, selbst wenn es sich um eine derart hässliche Kreatur
wie ihn handelt.«
Es war nach Mitternacht, als Fentos Roon, Torbas
und Gorian durch die Einflugsöffnung der Greifen schlichen. Leicht
war das nicht, denn der Boden war in diesem Teil des Höhlensystems
sehr uneben, mit scharfkantigen Abbrüchen und spitzen Felsen. Nie
hatte es jemand für nötig gehalten, sie abzuschlagen und den Grund
zu ebnen oder einen gangbaren Weg anzulegen, schließlich flogen die
Greifen durch
diesen Teil des Höhlensystems und landeten erst ein ganzes Stück
weiter im Inneren des Bergmassivs, in das die Felsenburg
überwiegend hineingehauen worden war.
Endlich hatte die kleine Gruppe den Rand des
trichterförmigen Tunnels erreicht. Dort ging es nahezu senkrecht in
die Tiefe.
»Hast du Sheera eigentlich in deinen Plan
eingeweiht?«, fragte Torbas den anderen Ordensschüler.
Gorian verzog das Gesicht und antwortete mürrisch:
»Es ist schwer, etwas vor ihr zu verbergen.«
»Das heißt also ja«, stellte Torbas fest. »Nun, ich
habe auch nichts anderes erwartet. Immerhin existiert zwischen euch
– wie soll ich es sagen? – eine besondere Verbindung, wenn
man das so ausdrücken will.«
»Lass uns zusehen, dass wir nach unten kommen, ohne
dass wir uns den Hals brechen«, wechselte Gorian das Thema.
Torbas lachte leise. »Ich verstehe schon, du willst
nicht über Sheera und dich reden.« Dann wurde er wieder ernst.
»Besteht nicht die Gefahr, dass Thondaril sie geistig
ausforscht?«
»Nein.«
»Er könnte es, wenn er wollte.«
»Das schon«, musste Gorian zugeben. »Aber er
verbringt die halbe Nacht damit, über das Handlichtlesen
Informationen von anderen Ordensbrüdern zu erhalten, um mehr über
die allgemeine Lage zu erfahren. Darum wird er auch kaum so schnell
bemerken, dass wir fort sind – es sei denn, jemand von uns ist
unvorsichtig und reißt ihn mit einem aufdringlichen Gedanken aus
der Konzentration.«
»Oder aus den wenigen Stunden Schlaf, die er sich
hin und wieder noch gönnt«, ergänzte Torbas.
Fentos Roon lauschte dem kurzen Gespräch der beiden
Ordensschüler nur mit halbem Ohr. Sie redeten häufig über Dinge,
von denen er nichts verstand, daran hatte er sich längst gewöhnt,
und so fragte er auch nicht nach. Trotzdem mischte er sich in ihre
leise geführte Unterhaltung ein, indem er fragte: »Wie ist es,
wollen wir hinabsteigen, oder möchtet ihr beide die ganze Nacht
über Mutmaßungen über euren Meister anstellen?«
Torbas hatte sein Schwert auf den Rücken gegürtet,
so wie Gorian es zu tragen pflegte, um nicht beim Klettern
behindert zu werden. Jeder von ihnen trug eine Seilschlange über
der Schulter, die Fentos Roon ihnen gegeben hatte. Die kopf- und
seelenlos wirkenden Tiere schlangen sich um den Oberkörper –
allerdings ohne dass einer ihrer Träger dabei das Gefühl hatte, in
irgendeiner Weise eingeschnürt zu sein. Der junge Greifenreiter
hatte seinen beiden Begleitern zudem die wichtigsten Befehle, mit
denen die Seilschlangen gelenkt werden konnten, beigebracht. Die
Worte, die dabei benutzt wurden, entstammten einer sehr frühen Form
der gryphländischen Sprache, sodass ihre genau Bedeutung auch
Gorian unbekannt war.
»Vier oder fünf Grundbefehle reichen für unser
Vorhaben«, hatte Fentos Roon erklärt. »Merkt euch diese Wörter gut,
dann seid ihr für den Notfall gerüstet.«
»Notfall?«, hatte Torbas nachgefragt.
Fentos Roon hatte daraufhin genickt. »Beim Abstieg
werde ich alle drei Schlangen kontrollieren. Sicher ist sicher.
Aber vielleicht werden wir später getrennt, dann müsst ihr
zumindest die wichtigsten Befehle kennen. Ihr müsst die Schlangen
dann auch mit ihren jeweiligen Namen ansprechen, vergesst das
nicht. Aber sprecht sie auf keinen Fall aus, während ich euch in
die Tiefe bringe, denn dann würden
die Tiere augenblicklich nur noch auf eure Befehle hören, und das
würde euch in eine schwierige Lage bringen.«
Seilschlangen fanden so gut wie überall Halt,
vermochten sich selbst an glattem Fels festzusaugen, und nicht
einmal messerscharfe Kanten machten ihnen etwas aus. So wie beim
Reiterwechsel während eines Gondelflugs umschlang das Kopfende den
Oberkörper des zu Tragenden, während sich die Reichweite der
Schlage verkürzte oder verlängerte, indem sie ihren Leib wie eine
Feder spannte oder entspannte und sich sogar noch zusammenzog,
wodurch der Körper dicker wurde, oder sich streckte, wobei der
Durchmesser des Leibes schrumpfte. Bei welcher Länge bei der
jeweiligen Schlange letztlich das Maximum erreicht war, darüber
konnte nur spekuliert werden; selbst Fentos Roon konnte darüber
keine genauen Auskünfte geben und beantwortete Gorians
entsprechende Frage mit den Worten: »Also, die Exemplare, die ich
euch gegeben habe, haben sich beide schon mal auf eine Länge von
über hundert Schritten gestreckt, aber ob noch mehr möglich ist,
weiß ich nicht.«
»Na ja, wenn wir abstürzen, können wir ja noch
versuchen, uns mithilfe unserer Magie abzufedern«, hatte Torbas
gemeint. »Aber darauf verlassen würde ich mich nur ungern.«
Fentos Roon gab den Seilschlangen kurze und
prägnante Befehle, und sie ließen die drei Gefährten hinab, wobei
diese sich mit den Füßen von der Felswand abstoßen mussten. Fentos’
Anweisungen waren dabei kaum zu hören, so leise sprach er. Aber die
drei Schlangen, die er zuvor jeweils mit ihren Namen angesprochen
hatte, reagierten auf jedes Kommando, und überhaupt waren die drei
Exemplare, die er für den Abstieg ausgesucht hatte, gut
dressiert.
Dennoch hatten sie sich eine gewisse
Selbstständigkeit
bewahrt, und so wählten sie allein und mit sicherem Gespür jene
Stellen an der Felswand, an denen sie am besten Halt fanden und
sich festsaugen konnten. Wenn sie sich von diesen Haltepunkten
lösten, pressten sie kurzzeitig andere Teile ihrer lang gezogenen
Körper gegen den Fels und hafteten dort fest.
Manchmal wickelten sie ihre Schwanzenden auch um
kleine Vorsprünge oder klemmten diese in fugenartige Ritzen fest,
wobei sie den hinteren Bereich ihrer Leiber verdickten.
Während er sich dem aus schwarzem Gestein
bestehenden Boden immer mehr näherte, staunte Gorian darüber, wie
schnell der Abstieg vonstattenging. Unten angelangt breitete sich
vor ihnen eine pechschwarze Felsenwüste bis zu den Bergen aus. Hell
funkelten die Sterne am Himmel, doch das dunkle Gestein schien ihr
Licht geradezu aufzusaugen, sodass kaum Einzelheiten auszumachen
waren.
Torbas hob die Hand und ließ darin ein Licht
aufleuchten, so wie beim Handlichtlesen, nur dass der Thiskarener
im Moment mit niemandem Verbindung aufnehmen, sondern nur die
unmittelbare Umgebung beleuchten wollte.
»Lass das besser!«, warnte Gorian.
»Wieso?«, fragte Torbas spöttisch. »Glaubst du,
Thondaril steht oben an den Zinnen und sieht gerade jetzt in die
Tiefe?«
»Thondaril müsste uns nicht einmal sehen, um zu
wissen, was wir tun. Wir können nur hoffen, dass er gerade so sehr
beschäftigt ist, dass er nicht an uns denkt. Aber ich meine jemand
anderen, dessen Aufmerksamkeit du erregen könntest.«
»Diesen seltsamen Caladran, der sich für etwas
Besonderes hält?«
»Ja, den auch. Aber ich dachte eher an Oras Ban.
Sobald einem seiner Wächter hier unten etwas Merkwürdiges auffällt,
wird der Königliche Verwalter es erfahren, und dessen Rolle auf
Felsenburg durchschaue ich noch immer nicht so recht.«
Torbas zuckte mit den Schultern, doch er ließ das
magische Licht in seiner Hand verlöschen. »Dann werden wir eben
aufpassen müssen, dass wir nicht irgendwo hineintreten.«
Sie machten sich auf den Weg, und Gorian führte
die kleine Gruppe an, denn immerhin hatte er ja geistige Verbindung
zu Ar-Don und erkannte am ehesten, wo der Gargoyle zu finden
war.
Es dauerte nicht lange, bis sie die ersten
Ausläufer der nahen Berge erreichten. Immer wieder erhob sich ein
Schwarm Fledermenschen aus einer der tiefsten Felsspalten, und ihre
Rufe durchdrangen die Nacht. Sie kreisten zunächst über den Bergen
und zogen dann davon.
Gorian konzentrierte all seine Sinne auf Ar-Don,
sodass er nicht einmal wahrnahm, wenn Fentos Roon oder Torbas ihn
ansprachen.
»Ich bin ein Straßenjunge und habe oft zu hören
bekommen, ich hätte keine Manieren«, spottete Torbas an Fentos Roon
gewandt, dann deutete er auf Gorian. »Aber was soll man davon
halten? Der Sohn und Enkel eines Schwertmeisters redet offenbar
nicht mit jedem.«
In diesem Moment empfing Gorian ein paar Gedanken
von Ar-Don, die diesmal wieder einigermaßen klar waren. Wieder sah
er vor seinem geistigen Auge den Himmel über einer Schlucht.
Auf einmal spürte er, wie ihn etwas einschnürte,
ihm den Brustkorb zusammenpresste und den Atem raubte.
Die Seilschlange!
Von plötzlicher Panik ergriffen blieb er stehen und
versuchte, die wie eine Schärpe um seinen Oberkörper geschlungene
Schlange abzustreifen, was ihm aber nicht gelang. Im Gegenteil, sie
schien sich nur noch enger um ihn zu schnüren.
Er fiel nieder und rollte über den Boden, als würde
er mit einer Würgeschlange kämpfen, wie sie in Omont und in Teilen
des Ogerlandes gefürchtet wurden.
Schließlich quetschte er einen der Befehle hervor,
die Fentos Roon ihm beigebracht hatte, wobei er nicht vergaß, den
Namen der Schlange zu benutzen.
Plötzlich war der Druck um seine Brust weg, doch
dafür packten ihn Hände bei den Schultern und hielten ihn fest,
keuchend und japsend schnappte er nach Luft, während die
Seilschlange schlaff um seinen Oberkörper hing.
Torbas murmelte eine Kräftigungsformel, wie sie
alle Ordensschüler lernen mussten. Gleichzeitig redete Fentos Roon
beruhigend auf die Seilschlange ein.
»Nehmt mir dieses Ding vom Leib!«, keuchte
Gorian.
»Sie hat dir nichts getan«, widersprach Fentos
Roon. »Du hast sie mit deinem panischen Befehl vollkommen verwirrt,
und weil du ihren Namen genannt hast, konnte sie gar nicht anders,
als darauf zu hören.«
Allmählich gewann Gorian die Beherrschung zurück.
»Sie hat versucht, mich zu zerquetschen.«
»Nein, das ist nicht wahr«, widersprach Fentos Roon
in sehr überzeugt klingendem Tonfall.
Und Torbas bestätigte dies. »Als du zu Boden
gegangen bist, waren wir sofort bei dir, und die Seilschlange hing
ganz locker um deinen Körper.«
Gorian runzelte die Stirn und murmelte schließlich:
»Dann
muss es ein sehr intensiver Gedanke von Ar-Don gewesen
sein.«
Torbas half ihm auf. »Ehrlich gesagt, es beunruhigt
mich, dass Ar-Don einen derart starken Einfluss auf dich auszuüben
vermag.«
»Er hat entsetzliche Angst und befindet sich in
einer verzweifelten Lage.«
»Und seine Gedanken sind offenbar so eindringlich,
dass du sie für deine eigenen gehalten hast«, sagte Torbas. »Das
ist nicht gut, Gorian.«
Gorian kniff den Mund zusammen, nickte aber
zustimmend. Die magische Literatur des Ordens berichtete von
solchen Phänomenen, und die Gefahr war keineswegs zu unterschätzen,
denn bei einer derart engen geistigen Verbindung konnte auch Gorian
Schaden nehmen oder sogar sein Leben verlieren, wenn Ar-Don
starb.
»Du solltest deinen Geist gegen Ar-Don abschirmen,
bevor er dich umbringt oder du eines Tages zu seiner willenlosen
Marionette wirst«, mahnte Torbas.
»Mach dir keine Sorgen«, entgegnete Gorian. »Ich
habe der Aura Morygors widerstanden, da wird mir das auch bei dem
Gargoyle gelingen.« Er wandte sich an Fentos Roon. »Ar-Don befindet
sich in einer Schlucht, und sein Körper ist irgendwie eingeschnürt,
mit etwas, das sich für mich wie eine Seilschlange anfühlte.«
»Es gibt wilde Seilschlangen in den Bergen«,
erklärte Fentos Roon. »Ihre Zahl hat ebenso abgenommen wie die der
wilden Greifen, aber hin und wieder trifft man auf eine.«
»Werden sie von den Fledermenschen
abgerichtet?«
»Darüber gibt es widersprüchliche Geschichten«,
antwortete Fentos Roon. »Vielleicht tun dies nur bestimmte Stämme
oder Horden. Seit dem Sieg der Greifenreiter über die
Fledermenschen hat man sich nie wieder sonderlich mit den
Gebräuchen und Sitten dieser Geschöpfe beschäftigt.«
»Ich verstehe …«, murmelte Gorian. »Und ein Grund,
weshalb Fledermenschen einen Gargoyle gefangen halten könnten,
fällt dir auch nicht ein?«
Fentos Roon schüttelte den Kopf. »Tut mir
leid.«
Gorian schaute wieder nach vorn, zu den ersten
Ausläufern des Gebirges, die sich als schroffe Felsmassive vor
ihnen erhoben wie drohende Riesen aus purer Finsternis. Wie Tore in
ein Schattenreich wirkten sie auf ihn, und er fühlte sich
unwillkürlich daran erinnert, wie er in der Zwischenwelt der
Schattenpfade mit dem Totenalb in vollkommener Dunkelheit gekämpft
hatte.
»Ich nehme an, du spürst die magische Aura
ebenfalls«, wandte er sich an Torbas.
»Nur wer völlig magisch unbegabt ist, würde sie
nicht spüren«, war Torbas’ Ansicht. »Allerdings …«
Er verstummte, doch Gorian sprach aus, was sein
Begleiter nicht in Worte zu fassen vermochte: »Es ist anders als
alles, was mir in dieser Hinsicht je begegnet ist.«
Torbas nickte, hob die Hand und schloss die Augen.
»Sehr alt«, murmelte er. »Älter, als wir es uns vorzustellen
vermögen.«
Die Kraft, die sie beide spürten, war wie ein
Meeresrauschen, das alle anderen Geräusche unterlegte. Ebenso
vermischte sich diese besondere Kraft mit allem, was die beiden
Ordensschüler mit ihren magischen Sinnen sonst noch zu erfassen
vermochten.
Gorian war sich plötzlich sicher, diese uralte
magische Aura bereits verspürt zu haben, als sie die Berge im Süden
Gryphlands überflogen hatten, nur hatte er nicht weiter darauf
geachtet. Er erinnerte sich an eines der Ordens-Axiome,
das besagte: Sehr mächtige Dinge zeigen sich oft durch ihre
stete Präsenz und nicht durch ihre Wirkung auf den
Augenblick.
Wieder tauchte ein Schwarm Fledermenschen aus einer
der Felsspalten auf und kreiste am Himmel. Aber im Gegensatz zu den
Schwärmen, die Gorian bisher beobachtet hatte, blieben diese
Fledermenschen vollkommen stumm. Keine durchdringend schrillen Rufe
erfüllten die Nacht, nur das Rascheln unzähliger Schwingen. Auf
einmal drängten sich Hunderte, ja, Tausende aus anderen Erdspalten
und verdeckten den Sternenhimmel mit einem Teppich schwarzer
Schwingen. Wie ein riesiger Schatten sammelten sich die Kreaturen
genau über Gorian und seinen beiden Begleitern und verschluckten
selbst das Licht des Mondes.
Dann sackten die ersten Fledermenschen hinab,
landeten in einigem Abstand, ihre mit Obsidian-Spitzen versehenen
Speere in den Händen. Innerhalb weniger Augenblicke gingen Hunderte
dieser Geschöpfe ringsum nieder, während die anderen noch in der
Luft blieben und immer engere Kreise über den drei Gefährten
zogen.
Gorian warf einen Blick über die Schulter. Sie
waren eingekreist. Von allen Seiten näherten sich die
Fledermenschen mit drohend gesenkten Speeren, die Flügel auf den
Rücken zusammengefaltet. Ein Chor hochtönender Laute, die Gorian an
das Zirpen von Grillen erinnerten, erfüllte nun die Luft.
Torbas zog Schattenstich und knurrte: »Scheint so,
als wären wir hier nicht willkommen.«