
10
Berserker aus Kristall
Gorian, Sheera und Torbas folgten Meister
Thondaril auf den höchsten Turm von Felsenburg, um einen besseren
Überblick zu bekommen. Wieder ließ Thondaril die Linsen entstehen.
Eine schimmernde Wand hatte sich hinter der dritten Gebirgskette
gebildet, und auch in den anderen Gebieten befand sich das
Feuergeflecht auf dem Rückzug. Der Herzschlag des glutroten
Adergeflechts war nur noch ganz leise wie aus weiter Ferne zu
hören.
Gleichzeitig walzte der Eispanzer aus Nordosten
heran. Auch wenn er längst nicht so hoch war und bedrohlich wirkte
wie in jenen Gebieten, in denen die Magie Morygors mehr
Feuchtigkeit aus dem Boden ziehen und zu Eis gefrieren lassen
konnte, so war es doch allenfalls noch eine Frage von einem halben
Tag, wenn nicht weniger, bis das ganze Gebiet zwischen den Bergen
und dem nordöstlichen Horizont zu einer eisigen Ödnis geworden
war.
Doch Aggr und Paggr hatten den Kampf gegen die
Feuerdämonen keineswegs spurlos überstanden. Als ihr Frosthauch
endlich versiegte, waren sie deutlich geschrumpft. Sie reckten die
Arme empor, wobei sich die Mäuler in ihren Pranken weit öffneten,
und zum ersten Mal sandten sie Gedanken aus, deren Sinn sich Gorian
offenbarte. Er verstand zwar nicht, was die Gedankenstimmen der
beiden Kristallbrüder
sagten, aber es war ihm sofort klar, dass es sich dabei um
Zaubersprüche der Caladran handelte.
Strahlen aus Schwarzlicht schossen daraufhin vom
Schattenbringer herab und fuhren in die Prankenmäuler der
Eisriesen.
Die Kristallwesen wuchsen wieder, gaben grunzende
Laute von sich, mit denen sie offenbar ihr Wohlbefinden zum
Ausdruck brachten, und ihre bläulich schimmernden Augen leuchteten
stärker als zuvor.
Wieder spürte Gorian, dass auch Sternenklinge und
der Rächer auf die Kräfte des Schattenbringers reagierten.
Er griff zum Schwert. Sein Instinkt für Gefahren
paarte sich in diesem Augenblick mit der Kunst der Vorausahnung,
wie sie die Schwertmeister im Kampf zu praktizieren pflegten.
Aggr – der mutigere der beiden Kristallbrüder –
richtete die Mäuler an den Enden seiner Arme auf jene Turmspitze,
auf der Gorian und seine Gefährten standen.
Gorian stieß einen Kraftschrei aus, richtete das
Schwert aus Sternenmetall gerade in dem Moment auf Aggr, als aus
dessen Prankenmäulern mit Schwarzlicht gemischter Frosthauch
austrat und innerhalb eines Augenaufschlags die gesamte Turmspitze
einhüllte. Auf alle hatte diese Magie eine vollkommen lähmende
Wirkung.
Auch Gorian wurde von einer Kälte erfasst, wie er
sie nie zuvor verspürt hatte. Hinzu kam das Gefühl der Ohnmacht,
der Schwäche und des nahen Todes, ähnlich wie er es in jenem Moment
empfunden hatte, als er am Speerstein von Orxanor von seinem
eigenen Dolch verletzt worden war.
Die Klinge seines Schwertes glühte auf. Er
umklammerte den Griff mit beiden Händen, spürte, wie eine
unwiderstehliche Kraft an der Klinge riss, und er selbst wurde von
dieser Macht emporgerissen und einem Katapultgeschoss gleich auf
Aggr zugeschleudert.
Rasend schnell überwand er die Distanz, und als er
den Frostgott erreichte, drang Sternenklinge bis ans Heft zischend
in das rechte Auge des Kristallriesen ein. Blaues Licht, gemischt
mit zuckenden Fetzen aus schwarzen Schatten, zuckte um ihn herum,
und goldfarben sprühte es aus dem Stichkanal von Sternenklinge
heraus.
Es war die Macht des Schattenbringers, der noch
immer mit Gorians Waffe verbunden war, die das Schwert mit
unbändiger magischer Kraft angezogen hatte. Das wurde Gorian klar,
ohne dass er darüber nachdenken musste. Die düstere Energie, die
Aggr in sich hineingesogen hatte, damit sie ihn stärkte, war ihm
zum Verhängnis geworden.
Aggr taumelte ein paar Schritte zurück. Aus seinem
riesigen Maul mit den bläulich leuchtenden Zähnen knisterten Blitze
zu Gorian hinauf, erfassten ihn und ließen ihn zucken.
Gorian versuchte all seine inneren Kräfte zu
mobilisieren. Seine Augen waren vollkommen schwarz. Er stieß einen
weiteren Kraftschrei aus und ließ mit der Macht seines Geistes
Rächer aus der Gürtelscheide schnellen. Der Dolch aus Sternenmetall
flog in die Höhe. Ein weiterer Kraftschrei folgte, dazu ein
konzentrierter Gedanke, in alt-nemorischer Sprache
formuliert…
… und Aggrs Kristallkopf platzte auf!
Ein breiter Strahl aus Schwarzlicht drang daraus
hervor, traf den sich in der Luft drehenden Dolch und wurde von
diesem hinauf zum Schattenbringer gelenkt.
Der Kristallriese begann zu zittern, machte noch
einen taumelnden Schritt zurück, fiel dann krachend auf den Rücken,
und der schwarze Strahl aus seinem Kopf versiegte.
Alle Kraft kehrt zu ihrem Ursprung zurück.
Gorian erinnerte
sich an dieses Axiom des Ordens, das ebenfalls dem Ersten Meister
zugeschrieben wurde.
Rächer schwebte noch immer in der Luft, allen
Naturgesetzen zum Trotz, drehte sich um sich selbst und glühte auf.
Dann richtete sich die Spitze nach unten, und er schoss plötzlich
mit einer Wucht in die Tiefe, die ebenso gegen die Fallgesetze
verstieß wie die scheinbare Gewichtslosigkeit des Dolchs zuvor.
Gorian konnte sich gerade noch zur Seite rollen, bevor sich Rächer
genau dort in den Kristallkörper des Frostgottes bohrte, wo er
gerade noch gelegen hatte.
Zitternd blieb die Waffe stecken, die Gorian
zweifellos durchbohrt hätte, hätte er sich nicht schnell genug in
Sicherheit gebracht, und zwar genau an der Schulter, an der ihn der
Dolch bereits während des Kampfes am Speerstein verletzt hatte. Nur
die schwertmeisterliche Kunst der Vorausahnung hatte Gorian davor
bewahrt.
Alle Kraft kehrt zu ihrem Ursprung zurück …
Offenbar galt dieses Axiom auch in diesem Falle.
Gorian griff nach dem Dolch und zog ihn ebenso wie
Sternenklinge aus dem Körper des regungslos daliegenden und all
seiner Existenzenergie beraubten Kristallriesen. Das blaue Leuchten
des noch intakten rechten Auges war erloschen. Und auf einmal
begann Aggr zu schmelzen, die Oberfläche seines Körpers wurde
feucht und rutschig.
Gorian steckte sein Schwert ein und benutzte Rächer
wie einen Eispickel, um von dem gewaltigen Kristallkörper
hinabzusteigen. Selbst mit magischer Unterstützung war das ziemlich
heikel, und schließlich rutschte er aus und fiel von Aggrs eckigem
Kristallkopf auf den steinigen, von einer dünnen Schicht aus Eis
und Schnee bedeckten Boden.
Es gelang ihm, den Sturz mit Magie abzufedern,
sodass er mit ein paar blauen Flecken davonkam.
Er rappelte sich wieder auf, seine Augen verloren
ihre Schwärze.
»Gorian!«, empfing er Sheeras
Gedanken.
»Alles in Ordnung!«, sandte er ihr
zurück.
Ein lautes Brüllen ließ ihn aufblicken.
Dutzende von Katapulten nahmen den zweiten der
Kristallbrüder unter Beschuss. Der als vorsichtiger und bedächtiger
geltende Paggr hatte sich wohl zunächst einige Augenblicke sammeln
müssen, nachdem er gesehen hatte, was seinem Bruder widerfahren
war.
Nun wurde er mehrere Riesenschritte zurückgedrängt,
denn die Katapulte verschossen glühende Metallkugeln, die zischend
in den Kristallkörper schlugen. Ganze Stücke wurden aus dem eisigen
Leib herausgesprengt.
Gorian spürte sofort, um welches Material es sich
bei den Geschossen handelte: Die besondere Aura von Sternenmetall
war unverkennbar. Zudem waren die Kugeln von den Bewohnern von
Felsenburg magisch aufgeladen worden. Der Namenlose Renegat musste
es Oras Bans Männern beigebracht haben, damit sie sich auf diese
Weise verteidigen konnten.
Lag die Ruhe, die der Namenlose Renegat trotz der
Bedrohung an den Tag gelegt hatte, vielleicht in dem Wissen
begründet, wie gut Felsenburg auf einen Angriff seitens der
Feuerdämonen und des Frostreichs vorbereitet war?
Weder den Verteidigern von Ameer noch denen der
Ordensburg war es trotz des Einsatzes von Magie gelungen, Morygors
Horden für längere Zeit standzuhalten. Aber vielleicht war die
Caladran-Magie des Namenlosen Renegaten ja stärker.
Gorian suchte hinter dem schmelzenden Körper des
toten Kristallriesen Schutz, während weitere magisch aufgeladene
Geschosse hoch über ihn hinwegpfiffen und Paggr trafen.
Doch nun war Paggrs berserkerhafte Wut geweckt, er
öffnete sein riesiges Maul und hob gleichzeitig die Arme, an deren
Pranken sich wieder Mäuler bildeten, und entließ den tödlichen
Eishauch.
In Kürze bildete sich eine Eisschicht an der Paggr
zugewandten Seite des Massivs von Felsenburg. Die Menschen an den
Zinnen erstarrten augenblicklich zu Eis, die Schießhöhlen, in denen
die Katapulte standen, wurden von dicken Frostschichten
verschlossen, und auch jene Katapulte, die auf den Wehrgängen im
Freien standen, würde man für einige Zeit nicht mehr einsetzen
können, da ihre Mechanismen vereisten.
Paggr stieß einen dröhnenden, trompetenden Laut
aus, eine Mischung aus Wut- und Triumphgeheul. Durch die
Katapulttreffer hatte er an Substanz verloren und war noch mehr
geschrumpft. Dennoch war er weiterhin riesig.
Gorian kauerte noch immer hinter Aggrs leblosem
Kristallkörper, der allerdings schon seine eckigen Konturen
verloren hatte und weiter zusammenschmolz. Der Ordensschüler
schlich zum Fuß des toten Eisriesen und spähte zu der Felsensäule,
deren eine Seite vollkommen von einer dicken Eisschicht überzogen
war. Der Feuerkreis, der Felsenburg hatte schützen sollen, war
gegen Paggrs Frosthauch wirkungslos, die Flammen waren kaum noch zu
sehen, der Kreis selber geschrumpft.
Paggr richtete den Blick seiner blau leuchtenden
Augen auf den schmelzenden Leichnam seines Bruders – und sah auf
einmal Gorian!
Der Kristallriese stieß einen Wutschrei aus, und
erneut erreichte Gorian ein Schwall von Gedanken. Diesmal aber
waren sie geordneter, Gedanken, in denen sich Trauer, Wut und
blanker Hass auf eine Weise mischten, die von menschlichen
Empfindungen nicht weit entfernt waren.
Paggr kniete neben dem immer mehr zerfließenden
Körper seines Bruders nieder.
»Aggr! Mein Bruder! Ermordet!«
Er berührte ihn mit der rechten Pranke, woraufhin
sie mit Aggrs Kristallkörper verschmolz. Es knisterte, Blitze
zuckten, und die kristallinen, eckigen Formen Aggrs stellten sich
teilweise wieder her, zerflossen aber kurz darauf erneut. Selbst
die Augen leuchteten noch einmal kurz bläulich auf, verloschen
jedoch gleich wieder.
Da war einfach keine Lebenskraft mehr in Aggr. Sein
eisiger Körper war entseelt, und so viel Magie sein Bruder auch in
den toten Körper sandte, er konnte den verloschenen Lebensfunken
nicht wieder zünden.
Seine Aufmerksamkeit wandte sich Gorian zu.
»Du Wurm! Mörder!«
Es hätte nicht einmal jener besonderen Art der
Vorahnung bedurft, wie sie im Haus des Schwertes gelehrt wurde, um
den Angriff des Kristallriesen vorauszusehen. Paggr öffnete das
Maul, aber noch ehe sein Frosthauch Gorian erfasste, hatte dieser
Sternenklinge hervorgerissen und einen Abwehrzauber gerufen. Er
ließ die Klinge wie einen Fächer wirbeln, wobei sie eine bläuliche
Spur hinter sich herzog, die sich für einen kurzen Moment zu einem
durchsichtigen schimmernden Schirm aufspannte und Paggrs Frosthauch
abfing.
Paggr brüllte auf, als er erkannte, dass sein
Angriff abgewehrt worden war, und er überschüttete Gorian mit einem
so heftigen Schwall von Hassgedanken, dass dieser Mühe hatte, sich
gegen ihren bedrängenden Einfluss zu wehren.
Dann spie der Frostgott einen weiteren Eishauch
aus, heftiger und kälter als der erste. Zwar gelang es Gorian, auch
diesen mittels Magie abzuwehren, aber die pure Kraft, mit der der
Eiswind auf den bläulich schimmernden Schirm traf, schleuderte den
Ordensschüler fast zwanzig Schritt zurück.
Gorian rollte sich über die Schulter ab, rappelte
sich auf und stand im nächsten Moment wieder da, Sternenklinge in
der Rechten. Er konzentrierte seine Kräfte. Einen Augenblick lang
überlegte er, Rächer oder Sternenklinge nach Art der Schwertmeister
gegen seinen Gegner zu schleudern, aber er verwarf den Gedanken
schnell wieder. So würde er ein Wesen wie Paggr nicht besiegen
können, zumal er diesmal nicht wie bei Aggr die Kräfte des
Schattenbringers gegen denjenigen richten konnte, der sie gerufen
hatte.
Aber was war, wenn er diese Kraft selbst zu rufen
versuchte? Warum sollte ihm das nicht gelingen? Schließlich waren
seine Waffen aus dem Metall des geheimnisvollen düsteren
Himmelskörpers geschmiedet. Der Kampf gegen Aggr hatte bewiesen,
dass er stark genug war, die Kräfte des Schattenbringers immerhin
zu lenken.
Gorian konzentrierte seine magischen Sinne auf den
Schattenbringer und richtete Sternenklinge in den Himmel. Er spürte
ein Vibrieren, das den Stahl der Klinge durchlief, sich über seine
Hände, die den Griff umfassten, fortsetzte und schließlich Arme und
Schultern erfasste.
Er begann zu zittern. Seine Augen waren von
Schwärze erfüllt, aber diesmal tränte ihm die Finsternis sogar als
dunkles Blut aus Augen, Nase und Ohren. Gleichzeitig spürte er
einen höllischen Schmerz an jener Stelle, wo ihn Rächer im Kampf am
Speerstein verwundet hatte. Wahrscheinlich war die Wunde gerade
wieder aufgebrochen.
Die Verbindung zum Schattenbringer war allerdings
nur schwach, und Gorian wurde von Verzweiflung gepackt. Ihn
schwindelte. Alles begann sich vor seinen Augen zu drehen. Offenbar
hatte er seine Kräfte überschätzt.
Oder wusste er einfach nicht, wie er sie in diesem
Fall wirkungsvoll anwenden musste?
Es blieb ihm keine Zeit mehr, darüber lange
nachzudenken. Paggr war so von Wut ergriffen, dass er vollends zum
tobenden Berserker wurde. Er stieg über seinen schmelzenden toten
Bruder hinweg, sackte in die Knie, und wie ein gewaltiger Hammer
sauste seine zur Faust geballte Pranke herab und krachte auf den
Boden. Um ein Haar hätte sie Gorian zermalmt. Nur mit knapper Not
gelang es ihm, sich rechtzeitig zur Seite zu werfen.
Ein weiterer Schlag folgte, Gorian taumelte davon,
nur die Ordenskunst der unmittelbaren Voraussicht rettete sein
Leben.
Die Arme des Frostgottes wuchsen an und wurden
derart lang, dass Paggr wie ein Zerrbild seiner selbst aussah.
Während Gorian davonhetzte und den Schlägen immer wieder ganz knapp
ausweichen konnte, setzte ihm der Kristallriese nach, versuchte
auch, Gorian unter seinen stampfenden Füßen zu zertreten, doch
seine Angriffe waren leicht vorhersehbar, und allein diesem Umstand
hatte es Gorian zu verdanken, dass er noch lebte.
»Zerquetschen werde ich dich, Mörder!«
Je wütender Paggr wurde, desto schlechter waren
seine Schläge gezielt.
Gorian hatte sich bei seiner Flucht immer mehr dem
Flammenkreis genähert, den der Maskierte entzündet hatte. Er fragte
sich, ob es ihm wohl möglich war, den Feuerkreis einfach zu
durchschreiten. Aggr hatte dies versucht und
nicht geschafft, aber Gorian war kein magisches Wesen wie die
Frostgötter.
Er verharrte dicht vor dem Flammenkreis. Der
Kristallriese sank auf alle viere nieder und näherte sich ihm wie
eine Katze auf der Jagd. Er bewegte sich langsam und hob die rechte
Faust, in der sich gleichzeitig ein Maul und zwei Augen bildeten.
Außerdem wuchsen ihm zusätzliche Arme aus dem Leib, manche lang und
dünn und mit Spitzen an den Enden. Sie wirkten wie Schlangen aus
Eis, und Paggr ließ sie peitschengleich über den Boden
schnellen.
Eine davon erwischte Gorian, wickelte sich um seine
Beine und riss ihn von den Füßen. Paggr zog ihn zu sich
heran.
Doch Gorian durchschlug den eisigen Schlangenarm
mit seinem Schwert und befreite sich rasch von jenem Stück, das
sich wie eine Fessel um seine Beine geschlungen hatte. Es war nicht
weiter schwer, es loszuwerden, denn es schmolz bereits.
Dann richtete Gorian das Schwert gegen den
Kristallriesen und konzentrierte noch einmal alle Magie, die er
noch in sich wachrufen konnte, in das Metall der Klinge.
Alle Kraft in einen einzigen Moment legen, das war
die wahre Kunst der Schwertmeister. Mit der Macht seines Geistes
erfasste er die Katapultgeschosse aus Sternenmetall, die überall in
der weiteren Umgebung umherlagen, hob sie vom Boden und ließ sie
durch die Luft schnellen, wie er es ansonsten mit seinem Schwert
oder dem Dolch tat.
Dutzendfach durchschlugen die Metallkugeln den
Körper des kristallenen Frostgottes, wobei sie aufglühten und auf
absurden Flugbahnen wieder zurückkehrten, um den Eisriesen erneut
zu traktieren. Ein paar trafen auch den Sockel der Felsensäule und
sprengten ganze Stücke aus
dem Gestein. Der Flammenkreis um Felsenburg konnte sie nicht
abfangen. Das magische Feuer reagierte zwar, indem die Flammen
deutlich sichtbarer aufloderten, aber mehr geschah nicht.
Paggrs Eiskristallkörper wurde von den magisch
aufgeladenen Geschossen regelrecht zerschlagen und lag schließlich
zerschmettert am Boden.
Aber seine Augen leuchteten noch, die Krater in
seinem Kristallleib begannen sich wieder zu schließen, und
abgeschlagene Stücke bildeten sich nach.
Gorian musste den Lebensfunken dieses Gottes ebenso
auslöschen, wie es ihm bei Aggr gelungen war. Eine zweite
Gelegenheit würde er nicht erhalten. Wenn er zu lange zögerte und
sich der Eisriese wieder erholte, war alles vergebens.
Gorian fühlte seine Schwäche. Die letzte Attacke
gegen seinen Gegner hatte ihm alles abverlangt. Da war keine innere
Kraft mehr in ihm. Er konnte sie zumindest nicht spüren, was ihn
zutiefst erschreckte, denn diese besonderen Kräfte hatten von
Beginn an sein Leben geprägt.
Er entsann sich wieder an jenen Moment, als er im
Alter von zwei Jahren im Boot seines Vaters erwacht war und die
Augen geöffnet hatte. Die erste Erinnerung seines Lebens, der
Moment, in dem alles begonnen hatte. Nur Augenblicke später hatte
er den Angriff eines fliegenden Fisches vorhergesehen.
Er hatte damals natürlich nicht gewusst, welch
besonderer Natur die Kräfte waren, die in ihm schlummerten. Zu
selbstverständlich waren sie für ihn gewesen, zu sehr ein Teil
seines innersten Selbst.
Und nun schienen sie fort zu sein. Nicht einmal ein
magischer Sinn schien noch vorhanden.
Gorian stand wankend und zitternd da und sah
hilflos zu, wie sich der darniederliegende Frostgott wieder
zusammenfügte und erholte.
Das durfte nicht geschehen, dachte er voller
Verzweiflung und sank auf die Knie.
Im entscheidenden Moment ohne die Macht, das zu
tun, was richtig war …
Wie übel musste es das Schicksal mit ihm meinen,
wenn dies seine Bestimmung sein sollte.
In diesem Augenblick bemerkte er eine Bewegung aus
den Augenwinkeln. Er wandte den Kopf und sah, wie sich eine Gestalt
aus dem grauen Stein der Felsensäule schälte. Da anscheinend selbst
Gorians Gedanken von einer lähmenden Schwäche befallen waren,
dauerte es einen Moment, bis er begriff, dass es sich um den
Maskierten handelte.
Der Unheimliche zog ein Schwert und murmelte eine
Beschwörung, woraufhin der Flammenkreis auf einer Länge von etwa
einem Dutzend Schritt verlosch. Der Maskierte schritt durch die
entstandene Lücke und näherte sich dem noch lebenden
Kristallbruder. Sein Breitschwert wurde wieder zur Flammenklinge,
und mit dieser berührte er Paggrs eisigen Schädel.
Der Frostgott schrie noch einmal auf und sandte
einen Schwall Hassgedanken aus, die Gorian schmerzhaft im Kopf
dröhnten, da er sich nicht mehr dagegen abschirmen konnte.
Gleichzeitig schmolzen Paggrs Überreste, und es dauerte nur
Augenblicke, dann war nichts mehr von ihm vorhanden.
Das Flammenschwert des Maskierten verwandelte sich
in eine breite Klinge zurück. Er steckte die Waffe ein und drehte
sich zu Gorian um.
Dieser wollte etwas sagen, doch ein dicker Kloß
verstopfte ihm die Kehle, und so war er nicht in der Lage, einen
einzigen Ton hervorzubringen.
Auch der Maskierte sagte kein Wort, sondern deutete
nur auf die Felsensäule. Dann durchschritt er wieder die Lücke im
Flammenkreis und wiederholte seine Geste. Offenbar sollte Gorian
ihm folgen, wohin auch immer.
Seine Beine waren schwer, so als wären sie mit Blei
gefüllt. Er steckte Sternenklinge zurück in die Rückenscheide und
wandte den Blick zum Horizont, von wo sich der Eispanzer immer
näher heranschob.
Heute Abend, dachte er. Heute Abend würden die
Horden Morygors Felsenburg erreichen, und wenn das Eis selbst die
Felsensäule nicht niederriss, würden es die Leviathane tun.
Er folgte dem Maskierten, und nachdem er die Lücke
im Flammenkreis durchschritten hatte, schloss sie sich wieder. Der
Maskierte stand vor dem Felsen und schien auf Gorian zu
warten.
Gorian zögerte. »Und wie geht es jetzt weiter? Du
scheinst ja durch Gestein gehen zu können, aber ich wüsste nicht,
dass dies je einem Angehörigen des Ordens möglich gewesen
wäre.«
Der Maskierte bedeutete Gorian näher zu kommen und
ergriff dessen Hand. Ein Blitz zuckte aus der des Maskierten und
tauchte Gorian in eine Aura aus golden schimmerndem Licht.
Noch ehe Gorian sich versah, zog ihn der Maskierte
einfach in den Felsen hinein, ohne dass das massive Gestein
irgendeinen Widerstand bot.