013
12
Greifenkämpfe
»Ich weiß nicht, was hier vor sich geht, und ich hoffe, dass du es Meister Thondaril erklären kannst«, sagte Centros Bal zu Gorian, während der Maskierte die messingfarbene Metalltruhe ins Innere der Greifengondel schweben ließ. »Ich jedenfalls übernehme für nichts irgendeine Verantwortung.«
»Es reicht, wenn Ihr uns hier herausbringt!«, drängte Gorian. »Und zwar lebend!«
Zog Yaal und der Namenlose Renegat waren bereits in der Gondel verschwunden. Centros Bal drehte sich wortlos um, ging auf seinen Greifen zu und ließ sich von einer Seilschlange auf dessen Rücken heben.
Gorian bemerkte jedoch, dass die Seilschlange zögerte, die Befehle Centros Bals auszuführen. Er verstand seit seinem Ausflug zur Befreiung von Ar-Don genug von diesen Tieren, um das erkennen zu können. Auch Centros Bals Greif war unruhig und schnappte wie ein wütender Schwan immer wieder mit dem Schnabel in die Luft, was ohrenbetäubend knallte.
Centros Bal versuchte sein Reittier zu beruhigen, indem er bestimmte Bereiche zwischen dem Halsgefieder und dem raubkatzenähnlichen Fell berührte, Druckpunkte, die jeder Greifenreiter kennen musste.
Einer der anderen Greifen flatterte empor. Auf seinem Rücken saß eine der Wachen Oras Bans und lenkte ihn bis zur Höhlendecke. Gorian begriff, dass man sie nicht einfach entkommen lassen wollte, und er spürte auch die Aura Morygors so stark wie nie zuvor, seit er in Felsenburg weilte. Der Herr der Frostfeste schien sich auf diesen Ort zu konzentrieren. Offenbar hing viel für ihn davon ab, was hier geschah.
Doch noch etwas registrierte Gorian, und darüber empfand er große Erleichterung: Seine magischen Sinne funktionierten wieder wie gewohnt.
Er ahnte voraus, was geschehen würde, und so ließ er sowohl Sternenklinge als auch Rächer stecken, als der gegnerische Greif zum Angriffsflug von der Höhlendecke herabstürzte.
Der Maskierte hingegen zog sein Breitschwert, dessen Klinge sich abermals in eine Flamme verwandelte. Er ließ das Schwert durch die Luft wirbeln, und die Flamme löste sich vom Schwertgriff und fauchte dem Greifen entgegen, sich breit auffächernd und sich in einen Feuervogel von gewaltiger Größe verwandelnd.
Weit riss der Flammenvogel den gekrümmten Schnabel auf, und der Greif schreckte zurück und geriet dabei aus der Flugbahn. Sein Reiter konnte sich nur mit Mühe und Not auf seinem Rücken halten, während das Tier zu Boden taumelte und dort eine ziemlich unsanfte Landung hinlegte.
Dann aber durchschaute Gorian die Illusion. Da war kein Feuervogel. Für einen kurzen Moment nur hatte die Illusionsmagie auch den Ordensschüler zu täuschen vermocht.
Der Maskierte steckte das Schwert wieder ein und wies stumm auf die offene Tür der Greifengondel.
In der Einflughöhle der Greifen brach unterdessen das blanke Chaos aus, denn im Gegensatz zu Gorian sahen die Tiere den angreifenden Flammenvogel immer noch und suchten sich vor ihm in Sicherheit zu bringen. Nur der Greif von Centros Bal blieb davon unberührt.
Dass Centros Bal ein überaus geschickter Greifenreiter war, der sein Reittier so gut beherrschte wie kaum einer seiner Zunft sonst, konnte kaum der Grund dafür sein. Offenbar schirmte der Maskierte Centros Bals Greif vom Einfluss seines Illusionszaubers ab, während er gleichzeitig Dutzende der zum Angriff entschlossenen Mischwesen aus Vogel und Riesenlöwe in die Flucht schlug.
Das musste Caladran-Magie auf dem höchsten Niveau sein, ging es Gorian durch den Kopf. Und wenn schon ein Verstoßener und sein maskiertes Faktotum zu solchen Dingen fähig waren, zu was waren dann die Bewohner der Caladran-Inseln in der Lage?
Für einen Moment dachte er an die Himmelsschiffe der Caladran und daran, dass sie einst angeblich sogar zu den Sternen geflogen waren. Er würde ihre Magie erlernen müssen, wollte er Morygor entgegentreten und ihn besiegen, denn auch der war einst ein Caladran gewesen, und seine Macht war die Schattenseite ihrer magischen Künste.
Der Maskierte bestieg die Gondel, und als auch Gorian den Fuß hineinsetzte, hob sie bereits vom Boden ab. Die Seilschlangen strafften sich, dann jagte Centros Bals Greif mit kraftvollem Flügelschlag durch die Einflugshöhle von Felsenburg.
Der Maskierte beugte sich noch einmal durch die offene Gondeltür und richtete sein Schwert nach hinten, denn drei Greifenreitern war es gelungen, ihre Tiere wieder unter ihre Kontrolle zu zwingen und die Verfolgung aufzunehmen. Aus der Klinge des Breitschwerts löste sich eine flackernde Lichtblase, und für einen Moment glaubte auch Gorian, der ebenfalls noch in der Gondeltür stand, dass die Einflughöhle hinter ihnen von massivem Fels verschlossen wurde. Einen Augenaufschlag später durchschaute er auch diese Illusion, doch die Verfolger zügelten ihre Greifen und folgten ihnen nicht weiter.
Als die Gondel die Einflughöhle verlassen hatte, ließ Centros Bal den Greifen einen Bogen über Felsenburg fliegen. Die Nordwestseite war vollkommen vereist. Von oben war zu erkennen, welch verheerende Folgen der Angriff der Kristallbrüder gezeitigt hatte. Ein Großteil der Wachen war zu Eis erstarrt. Manche waren sogar an ihren Katapulten festgefroren, die ebenfalls von einem Eispanzer überzogen waren.
Gorian fragte sich, wie es wohl in den Gebäuden und Höhlen aussah und wie viele der ohnehin nicht sehr zahlreichen Bewohner Felsenburgs noch am Leben waren.
»Zum Turm!«, sandte er einen sehr intensiven Gedanken an Centros Bal, den selbst ein magisch ungeschulter Mensch empfangen musste. Das aber wäre nicht nötig gewesen, denn Centros Bal sah, dass sich Thondaril, Sheera und Torbas dort unten aufhielten.
Die Gondel verharrte direkt über ihnen, während Zog Yaal Seilschlangen durch die noch immer offene Gondeltür hinabließ und die beiden Ordensschüler und ihren Meister nacheinander an Bord holte. Ar-Don folgte ihnen.
Der Körper des Gargoyles war grotesk verformt, so als wäre er aus Bruchstücken falsch zusammengesetzt worden. Fünf Beine ragten aus diesem Körper hervor, und er hatte vier Flügelpaare in verschiedenen Größen, die auch unterschiedlich schnell flatterten. Außerdem wirkte er viel größer; er hatte offenbar etwas von der Substanz der getöteten Wachen und Oras Bans in sich aufgenommen. Dass er sich überhaupt in der Luft halten konnte, war wohl nur durch Magie zu erklären.
Er kroch in eine Ecke der Gondel und veränderte sogleich wieder seine Form.
Mit kräftigen Flügelschlägen schnellte der Greif weiter empor. Der Wind aus Nordosten war eisig und trieb dichten Schnee vor sich her. Bereits die Hälfte des Gebietes zwischen Felsenburg und dem Horizont in Richtung der mitulischen Grenze war inzwischen von dem beständig vordringenden Eispanzer bedeckt. Der gewaltige Gletscher bewegte sich wie eine zähflüssige Substanz voran und schob die hügelartigen Endmoränen aus Geröll und Gesteinsbrocken vor sich her. Die Eismassen würden in der Landschaft Spuren für die Ewigkeit hinterlassen.
Die Leviathane mit den orxanischen Wollnashörnern in ihren Leibern blieben zunächst zurück, um sich mit weiteren Kräften aus Morygors untotem Frostheer zu formieren, bevor sie den Feuerdämonen begegnen würden. Die waren zwar von den Kristallbrüdern hinter die ersten Bergketten zurückgedrängt worden, waren allerdings wieder im Begriff, das verlorene Terrain zurückzuerobern. Die dünne Schicht aus Eis und Schnee, die die ersten Anhöhen überzog, schmolz bereits, und hier und dort drang das glühende Adergeflecht darunter hervor. Auch das pulsierende Stampfen, das bereits schon so gut wie verstummt war, gewann wieder an Intensität.
Die Schlacht zwischen Feuer und Eis war noch lange nicht geschlagen. Beide Seiten sammelten nur Kräfte für einen weiteren Waffengang. Vielleicht würde der Plan der Fledermenschen, die Bedrohung durch das Frostreich mittels der Feuerdämonen aufzuhalten, zumindest für eine Weile aufgehen. Allerdings würde dadurch wohl kaum mehr als ein Aufschub erreicht.
»Es weht verdammt kalt herein«, meinte Torbas. »Was haltet ihr davon, wenn wir die Gondeltür schließen?«
Zog Yaal wollte das bereits tun, aber der Maskierte bedeutete ihm mit einer unmissverständlichen Geste, dass er zurückbleiben sollte. Die ganze Zeit über stand er an der offenen Gondeltür und blickte in die Tiefe. So etwas wie Schwindelgefühl schien er nicht zu kennen und hielt es auch nicht für notwendig, sich irgendwo festzuhalten.
Die Gondel schwebte noch über Felsenburg. Aus der Greifenhöhle flatterten einige Greifen hervor, die offenbar die Flüchtenden verfolgen sollten.
»Mach ein Ende!«, befahl der Namenlose Renegat, der es durch eines der Fenster beobachtete.
Daraufhin streckte der Maskierte sein Breitschwert hinaus, dessen Klinge sich abermals in eine Flamme verwandelte. Sie schoss in die Tiefe, traf auf den Feuerkreis, der nach wie vor das gesamte Felsmassiv schwach schimmernd umgab, und ließ diesen hoch emporzüngeln. Die magischen Flammen – ursprünglich als Schutz vor den Feuerdämonen bestimmt – hüllten auf einmal das gesamte Massiv mitsamt Felsenburg ein. Auch die gerade aus der Höhe schwirrenden Greifenreiter wurden von ihnen erfasst und verglühten zu Asche.
Sogar das Gestein, in das Felsenburg einst hineingeschlagen war, wurde von dem magischen Feuer ergriffen und stand plötzlich in Flammen. Der Fels schmolz nicht auf, sondern zerbröckelte zu schwarzer Asche.
Für eine Weile wirkte die Gesteinssäule von Felsenburg wie eine hell lodernde Fackel, dann brach sie in sich zusammen.
»Euer Handeln gegen jene, die Euch so lange Zeit Unterschlupf gewährten, erscheint mir ziemlich rücksichtslos«, sagte Meister Thondaril.
Er sprach zu dem Namenlosen Renegaten, der an einem der Fenster der Gondel stand und angestrengt hinausstarrte, so als rechnete er mit weiteren Schwierigkeiten.
Nun aber wandte der uralte Caladran den Kopf. »Glaubt mir, ich hatte keine Wahl. Im Übrigen habe ich einmal für mein Mitleid über Gebühr bezahlt, denn es machte mich zum Verdammten und Ausgestoßenen.«
Der Maskierte, der an der Seite des Renegaten stand, murmelte etwas, doch die Sprache, die er benutzte, war so fremdartig, dass nicht einmal die Sprechsteine der Basilisken sie zu übersetzen vermochten. Gorian aber nahm zugleich einen sehr starken Gedanken wahr, und es war das erste Mal, dass er bei dem Maskierten, der sich bisher vollkommen abgeschirmt hatte, überhaupt eine geistige Kraft registrierte. Seine wenigen unverständlichen Worte und dieser Gedanke waren wohl eine Art Kommentar zu dem, was der Namenlose gerade geäußert hatte. Doch ob zumindest der den Maskierten verstanden hatte, blieb ein Geheimnis. Der Renegat blickte zwar auf, doch sein unbeweglich wirkendes Caladran-Gesicht zeigte keinerlei Regung.
Danach herrschte eine Weile Schweigen. Es war Torbas, der es schließlich brach. »Schade um all die magischen Schriften in den Gewölben von Felsenburg. Das darin enthaltene Wissen hätte uns im Kampf gegen Morygor sicher genutzt.«
»Es hätte nur dazu geführt, dass ihr euch selbst in Gefahr bringt«, gab sich der Namenlose Renegat überzeugt. »Menschen sind so ungeschickt in der Anwendung von Magie wie einfältige Kinder, die mit Feuer spielen.«
»Ich hoffe, dass man mir Gelegenheit geben wird, die Magie der Caladran zu erlernen, wenn wir ihre Inseln erreicht haben«, sagte Gorian, der sich von der Äußerung des Namenlosen wenig beeindruckt gab.
Der nickte sogar. »Ja, du bist eine Ausnahme unter den Menschen. Zwar reicht das kurze Aufflackern deines Seelenlichts, das für dich ein ganzes Leben darstellt, kaum aus, um die Künste der Caladran auch nur ansatzweise erfassen zu können, doch du hast dennoch eine beachtenswerte Kraft in dir. Und wer weiß. Das Netz der Schicksalswege wird im Augenblick anscheinend neu geknüpft, Wahrscheinlichkeiten und Gewichte verändern sich. Wir werden sehen, wohin uns das führt.«
»Morygor allerdings scheint die Zukunft und ihre Möglichkeiten sehr deutlich zu sehen«, gab Gorian zu Bedenken.
»Ich bin ein Ausgestoßener, weil ich zu viel Mitleid zeigte. Mit Kreaturen, die es nach Meinung vieler meines Volkes nicht wert sind, dass man ihnen eine derartige Gefühlsregung entgegenbringt. Morygor hingegen ist aus dem gegenteiligen Grund ein Verdammter. Er kennt kein Mitleid. Im Gegenteil, er ergötzt sich am Leid anderer. In der Macht, andere leiden lassen und ihnen Schmerzen zufügen zu können, erweist sich seiner Meinung nach die Macht an sich.«
»War das der Grund, warum man ihn verstoßen hat?«, fragte Gorian, denn er wollte so viel wie möglich über seinen Feind erfahren, und das, was man in den Ländern der Menschen über diesen, wie Gorian glaubte, entscheidenden Punkt wusste, war mehr als bruchstückhaft. »Man sagt, er hätte verbotene Künste angewendet. Ihr aber sprecht von mangelndem Mitleid.«
»Ich habe nur laut gedacht«, behauptete der Namenlose Renegat. »Eine Angewohnheit, die das einsame Leben in der Abgeschiedenheit eines Bibliotheksgewölbes mit sich bringt. Wenn sich die Jahre in ihrer Gleichtönigkeit aneinanderreihen und diejenigen, mit denen man sein Schicksal teilt, zur Schweigsamkeit neigen, missbraucht man schließlich die Illusionsmagie, um sich neue Gesprächspartner zu erschaffen.«
Der Namenlose Renegat warf, während er dies sagte, einen kurzen Seitenblick auf den Maskierten, der allerdings in keiner Weise zu erkennen gab, ob er diese Worte überhaupt zur Kenntnis genommen hatte.
»Erzählt mir mehr über Morygor«, forderte Gorian, der das Gefühl hatte, dass sein Gegenüber mit seinen Ausschweifungen nur ablenken wollte. Aus irgendeinem Grund scheute er vor dem Thema zurück, das Gorian zur Sprache gebracht hatte.
Der Renegat sah ihn wieder an, und zwischen seinen schräg stehenden Caladran-Augen bildete sich eine tiefe Furche. »Möchtest du wissen, was in jedem zukünftigen Augenblick deines Lebens geschieht? Möchtest du alles vorhersehen können, was sich ereignet? Wissen, wie groß die Wahrscheinlichkeiten sind und welchen Weg durch das Gewirr der verschiedenen Zukunftspfade du vermutlich gehen wirst?«
»Was spräche dagegen? Dann wäre ich Morygor ebenbürtig und könnte ebenso wie er im Hier und Jetzt Entscheidungen treffen, die sich in weiter Zukunft günstig für mich auswirken. Ich könnte Dinge zu einem Zeitpunkt in Bewegung setzen, da dies noch keine Mühe und Kraft erfordert, die aber in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten bestimmend für mein Leben sein würden.«
»So denkt man vielleicht, wenn einem nur eine kurze Existenz vergönnt ist.«
»Morygor denkt offenbar genauso«, erwiderte Gorian, »und nach allem, was ich weiß, ist er nicht weniger langlebig als andere Caladran auch.«
»Morygor ist eine Ausnahme. Aber die Grausamkeit eines vorherbestimmten Lebens ist umso größer, je länger es vermutlich andauert. Zumindest ist dieses Empfinden unter den Caladran weit verbreitet. Darum sind bei ihnen bestimmte magische Praktiken bis heute verboten, zum Beispiel ein zu weit reichender Blick in die Zukunft. Ein Wesen, das davon ausgeht, dass sein Leben zu einem Großteil vorherbestimmt ist, ist nicht mehr frei, sondern Sklave seines offenbar feststehenden Schicksals. Ereignisse, die keine große Wahrscheinlichkeit haben, treten mit Sicherheit nicht ein, wenn der Betreffende von ihrer geringen Wahrscheinlichkeit weiß. Zu viel Wissen um die Zukunft schränkt jede Entscheidung ein und macht ein jedes Wesen unfrei. Morygors Interesse jedoch war immer ganz besonders auf die Voraussicht der Schicksalswege gerichtet. Seine Mitleidlosigkeit besteht darin, dass er sein Wissen nicht für sich behält, und das war einer der Gründe, dass er zum Ausgestoßenen wurde. Zumindest, soweit man es mir berichtete. Denn was immer letztlich zu Morygors Verbannung führte, ereignete sich lange, bevor ich ins Exil gehen musste. Sehr lange.«
»Aber man hat Euch davon berichtet, sagtet Ihr gerade«, entgegnete Gorian, der hellhörig geworden war. »Daraus schließe ich, dass Ihr in all den Zeitaltern, da Ihr bei den Greifenreitern weiltet, Kontakt zu den Caladran gehalten habt.« Er wunderte sich zunächst über diese Feststellung, dann aber sagte er sich, dass den Caladran sicherlich noch weitaus bessere magische Techniken zur Verfügung standen als das Handlichtlesen, wie es die Mitglieder des Ordens der Alten Kraft praktizierten, um untereinander auch über weite Entfernungen hinweg in Verbindung zu bleiben.
»Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um über diesen Punkt weiterzusprechen«, sagte der Namenlose Renegat, doch Gorian registrierte, dass ein Ausdruck der Qual das ansonsten regungslos wirkende Gesicht des uralten Caladran prägte.
Nicht nur ihm fiel es auf. »Er scheint ein besonderes Interesse an Morygor zu haben«, meldete sich Sheera mit einer Gedankenbotschaft bei Gorian. »Frag ihn, warum das so ist!«
»Ich weiß nicht, ob das wirklich eine gute Idee wäre«, antwortete ihr Gorian.
»Doch, es ist wichtig. Es besteht eine Verbindung zwischen den beiden, die sehr stark ist. Frag ihn danach, er muss uns darauf antworten!«
»Ich muss gar nichts!«, sagte der Renegat laut. »Außerdem würdet ihr es nicht verstehen. Ihr verdankt meinem maskierten Begleiter und mir euer Leben. Euer Plan wäre gescheitert, hätte ich ihn nicht zu meinem gemacht!« Und stumm fügte er noch sehr eindringlich und mit unmenschlicher Kälte hinzu: »Also seid dankbar und folgt mir!«
 
Centros Bal lenkte den Greifen die Nordostseite des mittelgryphländischen Bergrückens entlang. Schneegestöber und Hagel wechselten einander ab, und manchmal konnte man, wenn man aus den Gondelfenstern blickte, so gut wie nichts sehen.
Aber wo der Einfluss der Feuerdämonen begann, war deutlich ein abrupter Wechsel des Wetters zu erkennen, dort war der Himmel klar und blau. Riesenhafte Feuerfontänen schossen empor, um groteske, vielarmige Flammengestalten zu bilden.
Noch immer tobte der Kampf zwischen Feuer und Eis und wurde auf einer unvorstellbar breiten Front geführt. Die Gletscher hatten inzwischen die äußersten Ausläufer der Berge erreicht und sie unter sich begraben. Sie schoben die geröllhaltigen Endmoränen vor sich her, hinein in das rot geäderte Feuerreich. Aber dieses Geröll wurde von den Feuerdämonen sogleich zurück in den eisigen Nordostwind geschleudert, der seinerseits Schnee und Hagel in die entgegengesetzte Richtung blies.
Die Nacht brach herein, als die Gondel den Schlangenzahn erreichte, ein Gebirge, das nahe der westreichischen Grenze vom mittelgryphländischen Bergrücken abzweigte. Es verlief Richtung Nordosten und reichte bis tief in jenes Gebiet, das sich bereits fest in der Gewalt des Frostreichs befand.
Der Schlangenzahn glühte und sah in der Dunkelheit aus wie feurige Lava. Centros Bal blieb keine Wahl, als das Gebirge zu umfliegen. Zu gefährlich waren die immer wieder aufschießenden Flammenfontänen, die sich sodann in feurige Dämonengestalten verwandelten.
Sie verbreiteten in einem viele Meilen weiten Umkreis flackernden Schein und stürmten auf die in sicherem Abstand wartenden Leviathane zu, die keinerlei Anstalten machten, sich weiter zu nähern, während die Feuerdämonen mit jedem Schritt, den sie zurücklegten, schwächer wurden. Nur einige von ihnen erreichten schließlich Morygors Heer, waren aber dann kaum noch größer als die orxanischen Wollnashornreiter, mit denen sie sich Kämpfe lieferten.
Einmal sah Gorian ein Wollnashorn mit brennendem Fell und in heller Panik durch die verschneite Ebene preschen. Schließlich warf sich das Tier nieder, wälzte sich in Eis und Schnee und löschte so das Feuer.
»Die Wollnashörner sind lebendig, ihre Reiter aber untot«, sagte Sheera. »Ihnen können die Feuerdämonen offenbar weniger anhaben als ihren Tieren.«
»Immerhin sehen wir hier zum ersten Mal eine Macht, die es mit Morygors Horden aufzunehmen vermag«, meinte Gorian.
»Du warst es, der ihnen Einhalt gebot«, erinnerte sie ihn. »Die Kristallbrüder mit ihrem Frosthauch waren durchaus in der Lage, die Front der Feuerdämonen bis weit in die Berge zurückzudrängen. Doch seit die beiden vernichtet sind, ist Morygors Vormarsch auf ganzer Linie ins Stocken geraten.«
Gorian wandte sich an den Namenlosen Renegaten. »Wie ist Eure Einschätzung dazu?«, fragte er. »Wie lange werden die Feuerdämonen Morygors Horden widerstehen können?«
»Deine Gefährtin hat recht«, sagte der Namenlose Renegat. »Die Feuerdämonen wären schon längst überall auf dem Rückzug, wäre es dir nicht gelungen, die Kristallbrüder zu besiegen. Dennoch ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Frostreich den Sieg davontragen wird. Es war schließlich die Magie der Caladran, die einst half, die Feuerdämonen in die Schranken zu weisen. Ganz vernichten lassen sie sich ebenso wenig wie Gargoyles und ein paar andere sehr lästige Mächte, mit deren Existenz man sich wohl auf Dauer abfinden muss.«
»Dann wird Morygor sicherlich jemanden schicken, der die Aufgabe der Kristallbrüder zu Ende führen wird«, meinte Gorian.
»Ohne Zweifel«, stimmte der Namenlose Renegat zu.
»Es fragt sich nur, wie deren Aufgabe eigentlich ausgesehen hat«, mischte sich Meister Thondaril ein und sah Gorian an. »Ich für meinen Teil nehme an, dass sie hauptsächlich deinetwegen geschickt wurden und erst in zweiter Linie, um gegen die Feuerdämonen vorzugehen.«
Auf einmal ging ein Ruck durch Gorian, und plötzlich stürzte er zur Gondeltür, riss sie auf und trat auf den kleinen Balkon, von wo aus sich die Greifenreiter von den Seilschlangen auf den Rücken ihres Reittiers heben ließen. Eiswind schlug ihm entgegen, und sofort hatte er das Gefühl, sein Gesicht würde ihm erfrieren.
Er murmelte einen Befehl an die Seilschlangen. Eine davon wand sich um seinen Oberkörper, hob ihn empor, und einen Augenblick später befand er sich auf dem Rücken des Greifen, der inzwischen ziemlich weit in das verschneite Gebiet des Frostreichs zurückgekehrt war, um den Feuerdämonen auf dem Schlangenzahn zu entgehen.
Die Seilschlange wollte sich gerade lösen, als Gorian ihr einen gegenteiligen Befehl erteilte, denn er wollte nicht ohne irgendeine Sicherung in dieser Höhe auf einem Greifenrücken hocken. Mochte ein routinierter Greifenreiter wie Centros Bal darüber auch keinen Gedanken mehr verschwenden, Gorian fühlte sich sicherer so.
»He, was soll das?«, rief der Nordfahrer. »Passagiere haben hier nichts zu …«
Etwas schnellte wie ein Schatten aus dem Schneegestöber hervor, Flügel schlugen mit klatschenden Lauten. Gorian griff zum Schwert, riss Sternenklinge aus der Rückenscheide und hieb mit der Klinge durch die Luft.
Ein unterdrückter, abrupt abbrechender Vogelruf drang durch die Nacht und mischte sich mit einem wie Protest klingenden Aufstöhnen des Greifen.
Gorians Schwert hatte den Körper einer Eiskrähe genau in dem Moment durchschlagen, als sich der Vogel auf Centros Bal hatte stürzen und seinen Schnabel dolchähnlich in dessen Hals hatte rammen wollen. Gorian hatte den Angriff nach Art der Schwertmeister vorausgeahnt.
Er ließ das Schwert herumfahren und erwischte eine zweite, dann eine dritte und eine vierte Eiskrähe, dann sprang er auf, stand – von der Seilschlange gehalten – auf dem breiten Greifenrücken. Das kraftvolle Spiel der gewaltigen Muskeln des löwenähnlichen Körpers war selbst durch die festen Sohlen von Gorians ledernen Stiefeln deutlich zu spüren. Die Muskelstränge schwollen bei jedem Flügelschlag des Flugtiers an.
Weitere Eiskrähen griffen wie aus dem Nichts heraus an. Blitzartig zuckte Sternenklinge durch die Nacht. Gorians Augen waren pechschwarz geworden. Nach seinem Kampf gegen die Kristallbrüder schien er endlich wieder vollständig über die Alte Kraft zu verfügen.
Mehr als ein Dutzend Eiskrähen tötete er innerhalb weniger Augenblicke. Immer war das Schwert bereits dort, wo der nächste Angriff erfolgen würde. Ihre Körper stürzten in die Tiefe.
Als der letzte Vogelkörper hinabtrudelte, löste sich von ihm eine Lichtaura, dehnte sich aus und formte das Gesicht eines jungen Caladran.
Morygor.
»Du kannst mir nicht entkommen!«, sagte das Gesicht und verzog sich zu einer hasserfüllten Grimasse. »Die Gestirne bestimmen das Schicksal, aber ich herrsche über die Gestirne! Wenn du daran zweifelst, dann sieh empor, wie der Schattenbringer am Tag die Sonne verdeckt, weil ich es ihm gebiete! Du bist wie ein geworfener Stein, dessen Bahn ich erkenne und den ich mit ausgestreckter Hand fange!«
Damit zerplatzte die Lichterscheinung, und der Greif zuckte zusammen, geriet aus der Flugbahn.
Gorian verlor das Gleichgewicht, doch die Seilschlange hielt ihn. Er setzte sich, atmete tief durch und versuchte mithilfe seiner wiedererstarkten magischen Sinne herauszufinden, ob sich noch weitere Eiskrähen in der Nähe befanden, die sich im nächsten Moment auf den Greifenreiter stürzen würden. Denn offensichtlich zielte dieser Angriff auf Centros Bal, der sich nicht gegen die Eiskrähen verteidigen konnte und daher in diesem Spiel der Schwachpunkt war.
»Meine Güte!«, entfuhr es dem Nordfahrer. »Das war wohl knapp!«
»Ich hoffe, Ihr erlaubt mir, noch eine Weile hier bei Euch zu verweilen«, äußerte Gorian, »auch wenn das nicht den Gepflogenheiten der Greifenreitergilde entspricht.«
Centros Bal beugte sich vor und berührte mit seinen Händen ein paar Druckpunkte unter dem Halsgefieder des Greifen, der sich daraufhin wieder beruhigte.
»Die Gefahr ist noch nicht vorüber«, murmelte Gorian.
Wie zur Bestätigung seiner Worte war im nächsten Moment ein lautes, vielstimmiges Krächzen zu hören. Aber es waren Gedankenstimmen, die mit schmerzhafter Intensität in Gorians Kopf widerhallten. Die Gedankenstimmen eines ganzen Eiskrähenschwarms, der von Morygors Kräften gelenkt wurde.
Centros Bal bemerkte nichts davon. »Meine Hochachtung, wie du die Seilschlangen bereits beherrschst«, sagte der Nordfahrer. »Und hab Dank, dass du die Eiskrähen abgewehrt hast. Während meines letzten Flugs zu den Mittlinger Inseln habe ich gesehen, was von denjenigen übrig bleibt, die von diesen Bestien zerfleischt werden. Wenn sie in Schwärmen angreifen, gibt es kaum eine Möglichkeit, sich gegen sie zu verteidigen.«
»Spione und Mörder in einem«, sagte Gorian düster und blickte in die von den Feuern des Schlangenzahns erhellte Nacht. Über dem Gebirge war der Himmel sternenklar, während sich über den eis- und schneebedeckten Ebenen nordöstlich davon schwere Wolken ballten. Nirgends waren weitere Eiskrähen auszumachen. Und doch spürte er sie.
Die Erscheinung von Morygors Gesicht eben war so deutlich gewesen wie ansonsten nur in den Tiefen des Frostreichs. Das bestätigte Thondarils Vermutung, dass die Kristallbrüder nicht in erster Linie die Feuerdämonen hatten bekämpfen sollen. Morygor setzte alles daran, denjenigen, der in Zukunft seine Schicksalslinie kreuzen sollte, zu vernichten, bevor bestimmte Ereignisse eintraten, die für den Herrn der Frostfeste eine Gefahr darstellten. Zum Beispiel die Ankunft Thondarils und vor allem Gorians auf den Caladran-Inseln. Der Kampf gegen die Feuerdämonen schien demgegenüber eine untergeordnete Rolle zu spielen.
Der Maskierte trat auf den kleinen Balkon vor der Gondeltür und blickte kurz zu Gorian empor, schien aber keinerlei Neigung zu verspüren, sich von einer der Seilschlangen hinauftragen zu lassen. Sein Blick glitt ebenfalls suchend umher. Offenbar nahm auch er irgendetwas wahr.
»Haltet den Greifen etwas näher an die Berge«, gebot Gorian dem Nordfahrer.
»Damit uns die Feuerdämonen erwischen?«, entgegnete Centros Bal. »Das werde ich nicht riskieren.«
»Aber etwas näher am Schlangenzahn könntet Ihr Euch schon halten!«, wandte Gorian ein.
»Es ist weit und breit nichts zu sehen, das uns von der weißen Seite her angreifen könnte«, gab Centros Bal zurück; damit meinte er wohl den bereits vom Frost eroberten Bereich.
»Genau das beunruhigt mich«, erklärte Gorian.
Dass der Maskierte trotz des eisigen Winds nicht den Balkon verließ und sich nicht zurück in die Gondel begab, bewies, dass Gorian mit seiner Ahnung nicht allein dastand.
Der Maskierte zog sogar sein Schwert, und die Klinge verwandelte sich in einen Flammenstrahl, der zum Himmel emporschoss und sich dabei auffächerte.
Für einen Moment wurde eine einzelne Eiskrähe sichtbar. Sie glühte kurz auf und verbrannte zu Asche, noch ehe sie einen Schrei ausstoßen konnte.
»Die war ja nahezu unsichtbar!«, stieß der Nordfahrer erschrocken hervor, während der Greif wild mit den Flügeln schlug, sodass die Gondel ins Wanken geriet und sich der Maskierte mit einer Hand am Geländer des Balkons festhalte musste.
»Das war nur ein Spion«, erklärte Gorian. »Morygors Auge. Ich fürchte, wir werden bald auch seine Hand zu spüren bekommen.«
Er erhob sich wieder, gesichert von der Seilschlange, die er mit entsprechenden Befehlen dirigierte, und packte sein Schwert Sternenklinge mit beiden Händen. Dass ein Angriff bevorstand, war für ihn keine Frage mehr.
Die Gewissheit eines Schwertmeisters erfüllte ihn. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein bedeutet bereits den halben Sieg, hieß es in den Axiomen. Er sammelte die Alte Kraft in sich und versuchte mit ihr eins zu werden.
Wieder erreichten ihn die Gedankenstimmen eines Eiskrähenschwarms. Es mussten Tausende sein, und Morygor selbst hatte die Macht über jedes einzelne dieser Geschöpfe, und zwar in einer so vollkommenen Weise, wie es selbst für den Herrn der Frostfeste ungewöhnlich war, zumal dies die alleräußerste Peripherie seines Reiches war. Es sprengte jeden Rahmen, überstieg jegliche Vorstellungskraft, welch immense magischen Energien dazu notwendig waren, dass er so weit vom Zentrum seiner Herrschaft entfernt einen dermaßen starken Einfluss ausübte.
Gorian schauderte, als er daran dachte, welch ein machtvoller Geist sein Gegner war, und ihm wurde in diesem Moment deutlicher als je zuvor, wie verschwindend gering dagegen seine eigenen Kräfte waren. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein – das allein eröffnete die Möglichkeit, einer so überlegenen Macht nicht ganz ohne Aussicht auf Erfolg gegenüberzutreten.
Die Gedankenstimmen des Vogelschwarms schrillten so laut in seinem Kopf, dass er sich dagegen abschirmen musste, und genau dies schien Morygors Kalkül zu entsprechen. Die Fähigkeit der Voraussicht eines bevorstehenden Angriffs brauchte nur für einen Augenblick auszusetzen, ein Moment der Verwirrung reichte dazu schon aus oder ein Verlust der geistigen Verbindung zum Gegner. Und Letzteres trat ein, als Gorian die schmerzende, völlig sinnlose Gedankenflut der Eiskrähen abwehrte.
In diesem Augenblick brach das Eis unter ihnen auf, und ein Leviathan stieg daraus hervor. Offenbar war er mit dem Gletscher hergespült worden, zusammen mit dem Geröll und allem, was das Eis auf seinem Weg mit sich nahm.
Der Leviathan stieg empor wie eine angreifende melagosische Kobra, wie Gorian sie einst bei einem Schlangenbeschwörer in Thisia gesehen hatte. Das kopflose Ende und sein formloses, noch geschlossenes Maul waren auf den heranfliegenden Greifen samt Gondel gerichtet.
Der Greif stieß einen schrillen Schrei aus, Centros Bal bremste den Flug stark ab und ließ das Tier zur Seite ausweichen.
Im gleichen Moment öffnete der Leviathan das Maul. Auf den ersten Blick wirkte das, was daraus hervorkam, wie eine gespaltene weiße Schlangenzunge, in Wahrheit war es ein so dicht gedrängt fliegender Schwarm Eiskrähen, dass es kaum möglich war, einzelne Tiere zu unterscheiden. Nur Magie erlaubte es den Vögeln, in diesem Gedränge überhaupt zu fliegen.
Die Flügel rauschten wie eine Meeresbrandung und schlugen dabei heftig gegeneinander.
Die ersten Angreifer wehrte Gorian mit Sternenklinge ab, und der Maskierte richtete sein Flammenschwert auf den ausströmenden Schwarm. Grell zuckte der Flammenstrahl durch die Nacht, versengte den Kopf des Leviathans und ließ zugleich unzählige Eiskrähen zu Asche verglühen, die mit dem Atem des Leviathans in die Nacht geblasen wurden.