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Steinmahre und Schattenreiter
Sheera versorgte die Wunden ihrer Gefährten. Die Steine, die überall im Tal zu finden waren, benutzte sie dafür als Heilsteine. Letztlich ging es ja nur darum, ihre eigenen Heilkräfte auf die Steine zu übertragen.
Anschließend versetzte sie Torbas und Zog Yaal in einen tiefen Schlaf, der den Heilungsprozess fördern sollte. Anders wäre es auch kaum möglich gewesen, Zog Yaal für eine Weile ruhigzustellen, denn der nun einzige Greifenreiter sorgte sich sehr um Centros Bals Greifen. Gorian hatte allerdings den Eindruck, dass der Grund dafür weniger das Mitleid mit der geschundenen Kreatur war, als vielmehr die Furcht um das eigene Leben, denn ohne den Greifen waren sie in dieser einsamen Gegend gestrandet.
Greifenreiter, die nach Westreich flogen, um Waren zu den großen Hafenstädten Westrig, Havalan oder Embador zu bringen, pflegten offenbar allenfalls eine kurze Rast an diesem See einzulegen, wenn ihre Greifen von großem Durst geplagt wurden, aber niemand wagte es, hier zu nächtigen. Die menschliche Bevölkerung in den westreichischen Bergen galt nicht unbedingt als empfehlenswerte Gesellschaft. Es handelte sich zumeist um vom Aberglauben geprägte, verschworene Dorfgemeinschaften, für die Gastfreundschaft ein Fremdwort war. Außerdem hausten in den Bergen Räuberbanden, die stets darauf lauerten, dass eine überladene Greifengondel zu tief flog, sodass man sie mit Langbögen und Armbrüsten vom Himmel holen konnte, und Zog Yaal berichtete, bevor er einschlief, auch von wilden Stämmen, die geflügelte Affen dressierten, um Greifenreiter und ihre Gondeln zu kapern.
Auch waren in den Bergen angeblich uralten Kreaturen beheimatet. Über sie hatte Gorian zwar in den Hafenstraßen von Port Gryphenklau an jeder Ecke einen Geschichtenerzähler fabulieren gehört, aber niemand schien wirklich etwas über sie zu wissen. Von Steinmahren und Riesenschlangen war die Rede. Und von den Sonnenflüchtern – Wesen, die im Licht der Sonne zu Stein erstarrten und nur bei Dämmerung zum Leben erwachten. Angeblich wurden sie immer aktiver, je mehr sich der Schattenbringer vor die Sonne schob, und erstarrten nur noch um die Tagesmitte zu Stein, wenn die Sonne im Zenit stand.
Auch Zog Yaal hatte über diese Wesen nicht mehr erzählen können. Nun lag er in der Gondel und schlief so tief und fest wie wohl nie zuvor in seinem Leben.
Der Namenlose Renegat allerdings, der sich inzwischen bequemt hatte, die Gondel zu verlassen, erklärte auf Thondarils Nachfrage hin, dass es tatsächlich uralte Geschöpfe in dieser Gegend gab, die vor langer Zeit einmal sehr mächtig gewesen waren, diese Macht dann aber nach und nach verloren hatten.
»Den Sonnenflüchtern gehörten einst einige der Inseln, die heutzutage von den Caladran bewohnt werden«, fuhr er fort. »Als die ersten Himmelsschiffe der Caladran diesen Kontinent erreichten, führten sie Krieg gegen die Sonnenflüchter und ihre Verbündeten. Aber das ist lange her.«
»Scheint, als wären die Sonnenflüchter Morygors geborene Verbündete«, meinte Thondaril. »Schließlich verbessert sich ihre Lage, je mehr der Schattenbringer die Sonne verdeckt.«
»Vorausgesetzt, dass es überhaupt noch eine nennenswerte Anzahl dieser Wesen gibt, habt Ihr sicherlich recht«, stimmte ihm der Namenlose Renegat zu. »Aber anstatt uns den Kopf über Gefahren zu zerbrechen, die in grauer Vorzeit bestanden haben, sollten wir uns auf die Bedrohungen konzentrieren, mit denen wir es zu tun kriegen könnten.«
Thondaril verstand sofort, worauf der Namenlose hinauswollte. »Auch Ihr könnt Euch nicht vorstellen, dass Morygor die Verfolgung aufgegeben hat.«
»Nein, das halte ich für völlig ausgeschlossen.«
»Was glaubt Ihr, wird er tun?«
»Ich glaube, dass er genau weiß, wo wir uns gerade befinden und wie unsere Situation aussieht. Das heißt, er weiß auch, dass er sich mit einem Angriff nicht zu beeilen braucht, denn einstweilen sitzen wir hier fest. Aber er wird seine Zeit nutzen, und wir sollten in Erfahrung bringen, was er vorhat.« Er wandte sich dem wie gewohnt schweigsamen Maskierten zu und sagte zu ihm ein paar Worte in einer Sprache, von der Gorian überzeugt war, dass es sich nicht um Caladranisch handelte. Nicht einmal der basiliskische Sprechstein konnte sie übersetzen.
Daraufhin eilte der Maskierte im Laufschritt davon, auf das Seeufer zu und zu einem Felsbrocken an dessen Ufer, in den er verschwand.
»Er reist durch die Steine«, stellte Gorian fest.
»Eine überall sehr nützliche Kunst«, bestätigte der Namenlose Renegat. »Vor allem, wenn man sich als Kundschafter betätigt.«
Gorian unterstützte Sheera dabei, den Greifen zu heilen. Zog Yaal konnte ihnen dabei nicht zur Hand gehen, und auch mit seinem Wissen über das Verhalten der Tiere konnte er ihnen nicht helfen. So waren sie auf das angewiesen, was sie darüber bisher während ihrer Flüge mit Centros Bal und ihres Aufenthalts in Gryphenklau mitbekommen hatten.
Der Greif war zwar so schwach, dass er sich ohnehin alles gefallen ließ, dennoch wendete Sheera vorsorglich noch einen starken Beruhigungszauber an, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob der auch bei Greifen wirkte.
»Sieh nur zu, dass er nicht für immer einschläft«, mahnte Gorian. »Dann sähe es ziemlich übel für uns aus.«
Es würde Wochen dauern, wenn sie gezwungen waren, sich über Land bis zur Küste durchzuschlagen, um dann in Havalan oder Embador ein Schiff zu besteigen, das sie zu den Inseln der Caladran brachte. Vorausgesetzt, sie fanden überhaupt einen Kapitän, der bereit war, dorthin zu fahren. Denn wie die Lage auf den Caladran-Inseln aussah, darüber gab es nicht einmal Gerüchte. Selbst Meister Thondaril, der über die Kunst des Handlichtlesens Verbindungen zu anderen Ordensmeistern in nahezu allen Ländern von Ost-Erdenrund unterhielt, die noch nicht von Morygors Horden erobert waren, war hinsichtlich des Geschehens bei den Caladran so ahnungslos wie alle anderen.
Allerdings war es allenfalls eine Frage der Zeit, bis sich das Frostreich auch auf die Inseln ausdehnen und sie unter seinem Eispanzer begraben würde, wie es mit dem Großteil von Ost-Erdenrund bereits geschehen war.
Sheera platzierte zahlreiche Heilsteine auf den Wunden des Greifen, der sich auf die Seite gelegt hatte. Damit die Steine auf den furchtbaren Verletzungen, die ihm der Eiskrähenschwarm zugefügt hatte, hafteten, musste Gorian sie mit einem entsprechenden Zauber besprechen. Das war einfache, grundlegende Magie und gehörte nicht zu dem Spezialwissen, das in den fünf Häusern des Ordens gelehrt wurde.
Einige der Wunden schlossen sich bereits, verschorften und bildeten Krusten.
Der Greif lag mit ausgestrecktem Hals da und hielt den Schnabel in das Uferwasser des Sees, sodass er jederzeit, wenn ihm danach war, trinken konnte. Seine Augen zeigten einen matten Glanz, und auch wenn Gorians Wissen hinsichtlich dieser Tiere beschränkt war, spürte er doch deutlich, dass nicht mehr viel Lebenskraft in ihm steckte.
»Wir werden uns vielleicht an den Gedanken gewöhnen müssen, unseren Weg ohne ihn fortzusetzen«, sagte Sheera leise, als fürchtete sie, der Greif könnte ihre Worte verstehen.
»Eine Heilerin darf nicht an ihren Fähigkeiten zweifeln«, entgegnete Gorian.
»Ich bin erschöpft, Gorian. Schon Torbas’ Schulterwunde zu versorgen hat viel meiner Heilkraft aufgezehrt. Und für den Greifen kam, so fürchte ich, meine Hilfe bereits zu spät.« Sie seufzte und sprach nicht laut weiter, sondern benutzte ihre Gedankenstimme. »Vielleicht aber lässt sich der Namenlose Renegat dazu herab, uns mit seiner Caladran-Magie zu unterstützen.«
»Bisher sieht er einfach nur in aller Seelenruhe zu, wie das Reittier, das uns von hier fortbringen könnte, zu krepieren droht«, gab Gorian ergrimmt zurück. »Dieser Kerl wird mir immer unheimlicher, wenn ich ehrlich bin.«
»Genau wie sein seltsamer Begleiter, dieser Maskierte.«
»Ich frage mich, woher der Namenlose Renegat so gut über Morygor Bescheid weiß. Als König Song Mol mit seiner Hilfe die Feuerdämonen besiegte, war Morygor nicht einmal geboren. Die beiden sind sich niemals begegnet, und doch muss es eine Verbindung zwischen ihnen geben.«
»Ich glaube allerdings nicht, dass Morygor ihn beherrscht und zum Verräter gemacht hat«, wandte Sheera ein. »Dazu ist die Magie des Namenlosen zu stark. Außerdem hätte er in diesem Fall genug Gelegenheit gehabt, uns dem Feind auszuliefern oder zu töten.«
Gorian warf einen Blick zu dem Namenlosen hinüber, der sich etwas abseits auf den Boden niedergelassen hatte. Er hatte die Beine untergeschlagen, die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen geschlossen und wirkte, als würde er sich stark konzentrieren.
»Er hält uns nicht für wert, uns in seine wahren Pläne einzubeziehen«, stellte Gorian fest und fragte sich zugleich, ob der Namenlose seinen Gedankenaustausch mit Sheera mitbekam.
Gorian machte sich auch Sorgen um Ar-Don. Der war zwar nicht von den Eiskrähen verletzt worden, aber er wirkte stark verändert. Seit ihrer unfreiwilligen Landung in den westreichischen Bergen hockte er, zur steinernen Statue erstarrt, in der Greifengondel. Auf Gorians Gedanken reagierte er abwehrend, und Gorian erschienen die Gedanken des Gargoyles, die er durchaus empfing, vollkommen wirr.
Er fragte Meister Thondaril um Rat. »Was könnte mit ihm los sein? Selbst als er mich umbringen wollte, habe ich seine Gedanken besser verstanden als jetzt.«
»Wieder einmal erweist sich die unglaubliche Stärke von Morygors Aura«, sagte der zweifache Ordensmeister. »Niemand kann vorhersagen, wie sie auf den Einzelnen wirkt. Ar-Don hat vielleicht keine äußerlich sichtbaren Verletzungen davongetragen, aber auf seinen Geist muss das nicht zutreffen.«
»Ich verstehe«, sagte Gorian. »Ihr wollt mich erneut vor ihm warnen.«
»Nein, nur zur Vorsicht mahnen. Vielleicht erholt er sich und ist in Kürze schon wieder ganz der Alte.«
 
Der Maskierte kehrte zurück und brachte ein paar Kräuter mit, die in dieser kargen Landschaft vereinzelt wuchsen. Er ging zu dem Namenlosen Renegaten, der bis dahin für niemanden ansprechbar gewesen war, und sagte ein paar Worten auf Caladranisch zu ihm.
Der Renegat öffnete die Augen, und der Maskierte reichte ihm die Kräuter, die in den verschiedensten Farben zu schimmern begannen, als sie die Handfläche des Caladran berührten.
»Das habe ich gebraucht!«, stieß dieser hervor und schloss die dürre Hand um die Pflanzen.
Er erhob sich und ging zu Gorian und Thondaril. »Ihr glaubt, dass ich untätig bin und andere ihrem Schicksal überlasse. Aber ich sammle nur Kraft für das, was uns noch bevorsteht.« Er hob die Hand mit den Kräutern, öffnete sie, und es wurde offenbar, dass sie zu einem bläulich schimmernden Staub geworden waren. »Dies ist jene Substanz, die Oras Ban so lange über das Ende seiner Zeit hinaus am Leben erhielt. Allerdings hat Oras Ban sie aufgrund der besonderen Empfindlichkeit seines menschlichen Körpers immer nur in gelöster und stark verdünnter Form zu sich nehmen können, sonst hätte ihn die Lebenskraft des Elixiers wahnsinnig werden lassen. Nun, vielleicht ist er es zum Schluss dennoch geworden. Wenn ich dies dem Greifen gebe, könnte es ihn retten.«
»Dann tut es«, forderte Gorian. »Und beweist, dass die Heilkunst der Caladran der einer Heilschülerin des Ordens der Alten Kraft überlegen ist!«
»Es könnte auch geschehen, dass die Substanz ihn tötet«, warnte der Namenlose. »Oder sie lässt ihn zu einem wahnsinnigen, nicht zu bändigenden Monstrum werden. Es hängt ganz allein von der Dosis ab und von der begleitenden Magie. Ihr solltet zu eurem Verborgenen Gott beten, dass mein Versuch glückt.«
Der Namenlose ging auf den träge daliegenden Greifen zu, dessen Körper von mindestens hundert Heilsteinen bedeckt war. Viele hatten die rötliche Färbung verloren und die Schwärze des Bluts angenommen, das nach wie vor aus verschiedenen Wunden hervorquoll.
Das riesige Geschöpf hatte die Augen inzwischen geschlossen und lag regungslos da, fast wie tot, und atmete nur noch schwach. Wenn es die Luft durch das einzige Nasenloch ausblies, entstand dabei ein Laut, der an eine verendende Krähe erinnerte.
»Bleibt zurück!«, forderte der Namenlose von allen anderen.
Gorian spürte, wie sehr Sheera das widerstrebte. »Er wird schon wissen, was er tut!«, wandte er sich in Gedanken an sie.
»Das will ich hoffen«, antwortete sie skeptisch. »Aber ich traue ihm nicht. Er verfolgt nur seine eigenen Ziele.«
»Vorsicht, er liest in unseren Seelen und Gedanken!«
»Aber vermutlich nicht in diesem Moment, denn im Augenblick erfordert es seine ganze Konzentration, noch die Seele des Greifen zu erreichen.«
Der Namenlose blieb stehen, rührte sich für eine Weile nicht mehr, sondern murmelte leise eine Formel der Caladran. Ein leichtes Zittern durchlief den Körper des Greifen. Drei der Heilsteine, die Sheera angelegt hatte, fielen von ihm ab, als hätte sich die Magie, die sie an seinem Leib gehalten hatte, aufgelöst, und erneut quoll Blut aus den Wunden.
Gorian konnte spüren, wie sich Sheeras Zweifel in Widerwillen wandelten und dass es ihr schwerfiel, sich zu bezähmen und nicht einzugreifen. Das Leben des Greifen hing an einem seidenen Faden, und Sheera befürchtete, dass der Caladran diesen Faden überspannte.
Der Namenlose schritt zu dem Kopf des Greifen, dessen geöffneter Schnabel halb im Wasser lag, und murmelte wieder etwas in caladranischer Sprache. Selbst aus der Entfernung spürte Gorian noch die eigentümliche Kraft, die von diesen Worten ausging. Es war eine Magie, die sich fundamental von der menschlichen Zauberkunst unterschied. Dabei handelte es sich um die gleiche Kraft, die auch die Mitglieder des Ordens benutzten, aber sie wurde völlig anders angewendet.
Der Namenlose streckte die Hand mit dem Staub aus und öffnete sie. Die bläulich schimmernden Staubteilchen stiegen wie Rauch empor und zogen in das wie bei einem Falken oberhalb des Schnabels sitzende Nasenloch der Kreatur. Daraufhin begannen die noch am Greifenkörper haftenden Heilsteine bläulich zu schimmern.
Ein schmerzerfüllter stöhnender Laut erfüllte das Hochtal, aber der Greif bewegte sich nicht. Es war nur ein Gedankenschrei, erkannte Gorian.
Die Löwenbrust des Greifen hatte sich bis dahin ganz leicht gehoben und gesenkt, mit jedem Atemzug einmal. Nun aber rührte sich dort nichts mehr, die Kreatur wirkte vollkommen starr, so als wäre überhaupt kein Leben mehr in ihr.
Das bläuliche Schimmern aber setzte sich überallhin fort. Die Heilsteine fielen einer nach dem anderen ab, verloren ihr Leuchten und zerfielen zu schwarzer Asche.
Der zuvor trotz der Heilmagie unstillbare Blutfluss hörte einfach auf. Nirgends drang noch ein Tropfen von schwarzem Blut aus einer der Wunden. Aber geheilt waren sie ganz sicher noch nicht.
Der Namenlose Renegat stand eine Weile regungslos da. Sein Blick war auf das gewaltige Mischwesen gerichtet. Daumen und Zeigefinger beider Hände presste er gegen die Schläfen.
»Wir werden abwarten müssen«, sagte er schließlich und ließ die Arme sinken.
»Wie lange?«, fragte Sheera.
»Eine Nacht und einen Tag. Morgen um diese Stunde werden wir wissen, ob wir noch einen Greifen haben, der unsere Gondel zu tragen vermag.«
»Es ist wertvolle Zeit, die uns zwischen den Fingern zerrinnt«, bedauerte Thondaril. »Zeit, die Morygor in die Hände spielt.«
»Vergesst nicht, dass dieser Greif nicht der Einzige unter uns ist, der eine Ruhepause benötigt«, gab der Namenlose Renegat zu bedenken. Er drehte sich zu Thondaril um und sah ihn herablassend an. »Was glaubt Ihr wohl, weshalb ich so lange gezögert habe, Felsenburg zu verlassen? Es war gegen jede Wahrscheinlichkeit, dass wir überleben. Dass wir bis hierher gekommen sind, solltet Ihr als Erfolg werten.«
»Ich habe mich nach Möglichkeit immer vom Haus der Seher ferngehalten«, erklärte Thondaril. »Und dafür hatte ich auch einen guten Grund.«
»Und der wäre?«
»Manchmal ist es besser, sein Handeln nicht von einem berechnenden Blick in die Zukunft leiten zu lassen, sondern aus dem Augenblick heraus seine Entscheidungen zu treffen.«
»Aus der begrenzten Sicht eines Menschen mag das so scheinen. Aber ich teile Eure Ansicht nicht.«
Thondaril deutete auf den so schweigsamen maskierten Begleiter des Namenlosen Renegaten. »Was hat Euer Kundschafter über unsere Verfolger herausgefunden? Oder war er nur unterwegs, um magische Kräuter zu sammeln?«
Der Namenlose wandte sich an den Maskierten. »Komm näher und sag es ihnen selbst. Ich weiß, dass es die Reinheit des Gedankens verletzt, wenn man ihn in Worte fasst, aber diese Sterblichen sind nun mal in ihrem beschränkten Verständnis darauf angewiesen. Und warum soll andauernd nur ich mich dieser ermüdenden Qual unterziehen.«
Gorian vernahm diese Worte und begriff erst einen Augenblick später, dass es sich um eine Gedankenbotschaft des Namenlosen an den Maskierten handelte, der eigentlich für niemand anderen bestimmt gewesen war.
Der Ordensschüler spürte für einen kurzen Moment auch die Verwunderung des Caladran, als dieser bemerkte, dass Gorian seinen Gedanken ebenfalls empfangen hatte. Er war wohl der Meinung, ungefragt in den Seelen anderer zu lesen wäre allein sein Vorrecht, und er bedachte Gorian mit einem Blick, den dieser nicht zu deuten wusste. »Deine Kraft scheint noch zuzunehmen. Alle Achtung. Vielleicht unterschätze ich dich immer noch.«
Diesmal spürte Gorian, wie der Namenlose seinen Geist durchforschte. Er wollte mit aller Macht herausfinden, was der junge Ordensschüler sonst noch aus seinen Gedanken erfahren haben mochte, und es gab für Gorian keine Möglichkeit, sich dagegen abzuschirmen. Er versuchte es zwar, und seine Augen wurden dabei schwarz, so sehr konzentrierte er dafür die Alte Kraft in sich, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen; die Magie seines Gegenübers war stärker.
Doch immerhin hatte er zum ersten Mal gespürt, wie der Namenlose einen Blick in seine Seele nahm, wie der es zu nennen pflegte. Das war der erste Schritt, dachte er sich. Nur der erste …
Dem Namenlosen, der diesen Gedanken mit Sicherheit mitbekam, musste es wie eine Drohung erscheinen, und Gorian hatte nichts dagegen. Seine Augen verloren ihre vollkommene Schwärze, und sein Blick begegnete dem des Caladran.
Der kommentierte das Geschehene weder mit Worten noch mit einem Gedanken.
»Ich bin bis zum Grabenbruch vorgedrungen, der Gryphland und Westreich voneinander trennt«, berichtete nun der Maskierte.
»So schnell?«, fragte Thondaril.
»In einem felsigen Land wie diesem ist es einfach, sich durch Stein zu bewegen, wenn man diese Kunst beherrscht«, erklärte der Namenlose für seinen Begleiter. »Sobald wir in grasbewachsene Tiefländer gelangen, wird es schwieriger, durchgehende Steinadern im Boden zu finden, die man dafür nutzen kann. Davon abgesehen ist auch nicht jede Gesteinsart für schnelles Reisen geeignet, es gibt da gewisse Unterschiede.«
»Morygors Schattenreiter sammeln sich am Grabenbruch«, fuhr der Maskierte fort. »Es sind sehr viele. Sie schweben in der Luft wie ein Schwarm von Insekten und scheinen auf jemanden oder etwas zu warten, der oder das ihnen Richtung und Ziel angibt.«
»Schattenreiter …«, murmelte Gorian. Er erinnerte sich nur zu gut an ihren ersten Angriff auf den Hof seines Vaters, als sie über das Meer gekommen waren, um ihn zu töten. Der Gargoyle Ar-Don war ihr Begleiter und ihr Mordwerkzeug gewesen. Untote Seelen von ehemaligen Schwertmeistern waren sie, die im Kampf gegen Morygor gefallen waren und die der Herr des Frostreichs in seine Dienste gezwungen hatte.
»Was hindert sie daran, uns nach Westreich zu folgen?«, fragte sich Gorian laut. »Morygor weiß mit Sicherheit, wie er uns finden kann.«
»Vielleicht erwarten sie noch irgendeinen der Frostgötter, den Morygor auf uns hetzen will«, vermutete Thondaril. »Oder er will einfach den richtigen Zeitpunkt abpassen, der sich aus seinen Berechnungen der zukünftigen Schicksalsmöglichkeiten ergibt.«
»Er sucht Verbündete«, widersprach der Maskierte.
Meister Thondaril wirkte verblüfft, auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Falten. »Was für Verbündete? Morygor kennt nur Diener und Sklaven. Er schätzt die Gefolgschaft von Abhängigen und Untoten, deren Widerstandsgeist erloschen ist. Auch die Frostgötter und sonstigen Kreaturen, die er nun schon seit hundertfünfzig Jahren durch das Weltentor nach Erdenrund holt, würde ich nicht als seine Verbündeten bezeichnen. Sie sind nicht weniger seine willenlosen Diener als jeder Untote, der ihm folgt.«
»Meine Fähigkeit, die Absichten dieser Schattenreiter, wie ihr sie nennt, zu erkennen, ist begrenzt«, erklärte der Maskierte vollkommen ungerührt. »Allerdings schätze ich, dass Morygors Verbündete in diesem Land beheimatet sind.«
»Das wird kaum der König von Westreich und seine Armee sein«, war Thondaril überzeugt.
»Wir werden Vorbereitungen treffen«, erklärte der Namenlose Renegat, der es nicht für nötig hielt, weitere Erklärungen abzugeben.
»Und worin sollen die bestehen?«, fragte Thondaril. Gorian spürte, dass es dem zweifachen Ordensmeister missfiel, mit welcher Selbstverständlichkeit der Namenlose die Führung für sich beanspruchte.
»Wir werden den Schattenreitern mit einer geeigneten magischen Abwehr begegnen und sie zumindest für eine Weile zurückschlagen«, prophezeite der Maskierte – und verschwand, sank einfach in das Gestein zu seinen Füßen und war im nächsten Moment nicht mehr zu sehen.
»Mein treuer Begleiter verliert nicht gern viele Worte«, erklärte der Namenlose Renegat. »Er macht sich stattdessen lieber sofort ans Werk.«
Es dauerte nicht lange, und Gorian sah auf einem der schroffen Felsmassive, die das Tal auf der anderen Seite des Sees begrenzten, eine Gestalt, die sich gegen das Sonnenlicht abhob. Als sie ein Schwert zog und sich dessen Klinge in eine Flamme verwandelte, war klar, dass es sich um den Maskierten handelte. Mit dem Flammenschwert entzündete er einen Stein, aus dem daraufhin Feuer emporschoss. Anders als bei dem Flammenkreis, den der Maskierte um Felsenburg gezogen hatte, war dieses Feuer jedoch nicht bläulich, sondern flackerte grün. Es schrumpfte rasch wieder zusammen und war nur noch als blasser Schimmer auszumachen.
Der Maskierte rannte daraufhin davon, lief einen schmalen Grat entlang und verschwand wieder im Fels, nur um kurz darauf an anderer Stelle erneut aufzutauchen und ein weiteres magisches Feuer zu entzünden. Nach und nach bildete sich so ein Ring um das ganze Tal.
 
Es dämmerte bereits, als der Maskierte zurückkehrte. Zog Yaal und Torbas waren inzwischen erwacht. Beiden ging es sichtlich besser.
Sie verließen die Gondel und setzten sich an ein Feuer, das der Maskierte auf blankem Boden entzündet hatte, weil es weit und breit kein Brennholz gab.
Das Lagerfeuer war jedoch von anderer Natur als jene magischen Flammen, mit denen er die Feinde abwehren wollte. Es glich einem natürlichen Feuer, nur war es deutlich weniger heiß. Die in der Gondel noch vorhandenen Vorräte ließen sich darüber allerdings zubereiten. Centros Bal hatte stets darauf geachtet, größere Mengen getrockneten Fisches auf seinen Reisen mitzunehmen. Notrationen, die nur dann angetastet werden durften, wenn sonst keine Nahrungsquellen zur Verfügung standen.
»Nicht selten hat sich Centros Bal für diese Angewohnheit den Spott der anderen Gildenmitglieder gefallen lassen müssen«, sagte Zog Yaal, während er auf einem Stück Trockenfisch kaute, das über dem Feuer noch einmal gebraten und dadurch knusprig geworden war, ganz so, wie man es in den Garküchen von Port Gryphenklau angeboten bekam. »›Du fährst doch von Markt zu Markt, von Stadt zu Stadt, weshalb nimmst du da Vorräte mit?‹, hat man ihm immer wieder vorgehalten und ihn ausgelacht, weil er wertvollen Stauraum verschwenden würde. Und ehrlich gesagt, als ich bei ihm anfing, habe ich genauso gedacht, denn die Vorräte wurden am Ende regelmäßig weggeworfen, weil sie irgendwann eben doch ungenießbar geworden waren.«
Auch Torbas hatte sich ans Feuer gesetzt. Das an der Schulter zerfetzte, blutdurchtränkte Wams hatte er gegen eines jener Kleidungsstücke ausgetauscht, die Centros Bal in seiner Gondel mitgeführt hatte. Auch in diesem Punkt war der Nordfahrer stets für alle Eventualitäten und vor allem für jede Witterung gerüstet gewesen.
Zog Yaal sah Torbas an, und der Ausdruck im Gesicht des jungen Greifenreiters veränderte sich dabei. »Es ist seltsam, dich in seinen Kleidern zu sehen«, fand er.
Torbas nickte. Seine Augen wurden schwarz. Er schien noch viel der Alten Kraft aufwenden zu müssen, um sich zu stärken und den Heilungsprozess zu fördern. Vorsichtig betastete er die Schulter, die Sheera zuvor noch einmal untersucht und mit einem Heilstein behandelt hatte. »Ich verstehe, was du meinst.« Er sprach leiser als sonst und wirkte sehr in sich gekehrt und nachdenklich. »Aber so, wie ich ihn kennengelernt habe, wird er nichts dagegen haben, wenn seine Sachen jetzt jemand anderen wärmen.«
»Niemand kann etwas aus dieser Welt mitnehmen, wenn er vor den Verborgenen Gott tritt«, stimmte Zog Yaal düster zu.
»Das ist wahr.«
Thondaril aß nur mit sehr wenig Appetit. Zu viele Gedanken gingen dem zweifachen Ordensmeister durch den Kopf. »Du bist der letzte Gryphländer unter uns, Zog Yaal«, stellte er fest, »der letzte Greifenreiter.«
»Ich werde mich bemühen, mich als würdig zu erweisen«, versprach Zog Yaal. »Und was die Summe betrifft, die Ihr für Centros Bals Dienst ausgehandelt habt, so könnt Ihr Euch darauf verlassen, dass ich alles seinem Erben aushändigen werde.«
»Weißt du, wer als sein Erbe vorgesehen ist?«, fragte Thondaril.
»Nein, aber Centros Bal wird einen versiegelten Brief bei der Gilde hinterlegt haben, in dem er ihn bestimmt hat. So ist es üblich bei den Greifenreitern. Ein Greif aber kann nur an ein anderes Mitglied der Gilde vererbt werden.«
»Ich wollte auf etwas anderes hinaus«, erklärte Thondaril.
»Wenn es Euch lieber ist, einen erfahrenen Mann anzuheuern, der Euch zu den Inseln der Caladran bringt, solltet Ihr Euer Glück im Hafen von Embador versuchen. Dorthin, zu den Märkten, bringen viele Greifenreiter ihre Waren, und wenn es auch eigentlich der Gildenehre widerspricht, lässt sich sicherlich der eine oder andere Zweite Greifenreiter abwerben.«
Thondaril schüttelte den Kopf. »Darauf wollte ich nicht hinaus. Centros Bal hätte dich wohl kaum ausgesucht, wenn dein Talent zum Greifenreiten nicht ausreichen würde, um uns zu den Caladran zu fliegen.«
»Ich danke Euch für Eure Worte, Meister Thondaril.«
»Nur hoffe ich, dass die caladranische Heilmagie überhaupt bei dem Greifen wirkt, was ja wohl noch nicht ganz sicher ist. Nein, es geht mir um etwas anderes, Zog Yaal. Da du der letzte Greifenreiter unter uns bist, musst du auch noch in anderer Hinsicht in die Fußstapfen deines Herrn treten.«
»In welcher Hinsicht?«
»Du wirst der Botschafter Gryphlands sein, wenn wir die gestohlenen Schriften zu den Caladran zurückbringen«, erklärte Thondaril. »Jedenfalls wird man dich als solchen ansehen, dessen kannst du dir sicher sein. Und darauf solltest du dich innerlich einstellen. Es wird viel von dir abhängen, wenn es darum geht, die Caladran zu Verbündeten im Kampf gegen Morygor zu gewinnen.«
»Nun übertreibt nicht«, mischte sich der Namenlose Renegat ein, der dieser Unterhaltung zunächst scheinbar gleichgültig zugehört hatte. »Auf den Inseln der Caladran interessiert man sich vorwiegend für sich selbst und seinesgleichen. Das, was die meisten Caladran gegenüber den Greifenreitern empfinden, ist bestenfalls Verachtung, aber ihren Hass haben sie auf mich gerichtet.«
»Mit Verlaub, es ist eine Ewigkeit her, dass Ihr jene Inseln verlassen habt«, erklärte Thondaril, ungehalten wegen der Einmischung des Namenlosen. »Wie wollt Ihr da wissen, auf wen die Caladran ihren Hass richten und wen sie verachten?«
Weil er mit ihnen geistig auf irgendeine schwer fassbare Art verbunden ist, erkannte Gorian. Genau wie mit Morygor.
Der Namenlose hob ruckartig den Kopf, und der Blick seiner wässrigen Augen schien Gorian für einen Moment geradezu zu durchbohren.
»He, da bewegt sich was!«, rief plötzlich Zog Yaal. Er war kreidebleich geworden und streckte den Arm in Richtung des Sees aus. Inzwischen schien das Mondlicht hell auf die kahlen Felshänge hinab. Aus einem dieser Hänge hatte sich ein Stück herausgelöst, als wäre das Gestein zu einer weichen Masse geworden, die langsam, einem zähflüssigen Tropfen gleich, den Hang hinunterrutschte. Zuerst langsam, dann immer schneller bewegte sich dieses riesenhafte Etwas mit breiähnlicher Konsistenz in die Tiefe, und für einen kurzen Moment spiegelte sich das Mondlicht in zwei schlangenhaften Augen, unter denen ein großes, zahnloses Maul gähnte, aus dem gurgelnde Töne drangen.
Dann versank das Wesen im Schatten der Felsen, wurde eins mit der Finsternis, die dort herrschte. Mit einem schabenden Geräusch rutschte es über den Boden. Der Laut war im ganzen Tal zu hören und wurde als Echo vielfach zurückgeworfen, sodass innerhalb kürzester Zeit ein Klangteppich entstand, der an Meeresrauschen erinnerte. Da im Moment kein Wind blies und das Wasser des Sees spiegelglatt und ohne jeglichen Wellengang war, wirkte dieses Geräusch befremdend.
»Bei der Allmacht des Verborgenen Gottes!«, entfuhr es Zog Yaal. »Was war das denn?«
»Was auch immer, es wirkte sehr lebendig«, lautete Torbas’ Kommentar. »Aber … ich spüre keinerlei Lebenskraft. Keinen Gedanken.«
»Ich auch nicht«, betätigte Sheera.
»Das ist ein Steinmahr«, erklärte der Namenlose Renegat. »Es ist lange her, dass ich einen gesehen habe. Bevor die Feuerdämonen weite Teile des heutigen Gryphlands verwüsteten, sah man noch viele von ihnen über jene Ebenen wandern, die heute die Aschewüste genannt wird. Aber das ist wirklich sehr lange her.«
»In den Geschichten der Legendenerzähler wird ihr Aussehen ganz anders geschildert«, sagte Zog Yaal.
»Das liegt daran, dass keiner von ihnen jemals wirklich einem Steinmahr begegnet ist«, erklärte der Namenlose.
»Sollten wir nicht irgendetwas unternehmen?«, fragte der Greifenreiter beunruhigt. »Offenbar ist doch mehr dran an diesen Geschichten, die man sich über diesen verwunschenen Landstrich erzählt.«
»Kein Grund zur Sorge«, entgegnete der Namenlose. »Steinmahre sind so harmlos wie eine Herde Rinder oder Schafe. Vor ihren Herren sollten wir uns allerdings in Acht nehmen.« Er ließ suchend den Blick schweifen. »Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob das Exemplar, das wir gerade gesehen haben, zu den Wildlebenden seiner Art gehört.«
Ein weiterer Steinmahr löste sich aus einem Fels heraus, und plötzlich gerieten mehr als ein Dutzend Berghänge unversehens in Bewegung. Überall schien das Gestein aufzuweichen, und die formlosen Wesen rutschten in die Tiefe und dem See entgegen. Der war ihr Ziel, wie sich wenig später zeigte. Der Strand auf der gegenüberliegenden Seeseite wurde sowohl durch das Mondlicht als auch durch die blassgrünen magischen Feuer, die der Maskierte gesetzt hatte, relativ gut beleuchtet. Als die ersten Steinmahre dort auftauchten, waren sie deutlich zu sehen. Sie walzten auf das Seeufer zu und begannen dann zu trinken, worauf sich ihre breiartigen Körper aufzublähen begannen.