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Greifenwahn
Von allen Seiten kamen die Schattenreiter heran. Aber sie schienen keine Eile zu haben. Sie bildeten einen Ring um das gesamte Tal und ritten in breiter Front die steilen Hänge hinab, die kein gewöhnliches Pferd hätte bewältigen können, ohne sich dabei den Hals zu brechen. Den achtbeinigen Riesenpferden der Schattenreiter aber bereitete dies keine Schwierigkeiten.
Unter den Sonnenflüchtern verbreitete sich Unruhe. Ihre zirpenden Laute und das Schaben ihrer Beißwerkzeuge erfüllten die Luft, bis ihr riesenhafter Anführer einen Ruf ausstieß, der alle anderen Geräusche im Tal übertönte und der von einem Gedanken begleitet wurde, dessen Klarheit und Eindringlichkeit der Lautstärke des Rufs entsprachen. »Nichts von dem, was die vergänglichen Völker Magie nennen, kann unseren Willen brechen! So war es früher, als wir gegen die schrägäugigen, beißwerkzeuglosen Bestien mit ihren Himmelsschiffen kämpften! Und dies gilt auch heute noch, da uns ein Abkömmling dieser sterblichen Brut vor die Wahl stellt, ihm zu gehorchen oder vernichtet zu werden!«
Der Chor von Lauten, der dem riesenhaften Anführer antwortete, unterschied sich deutlich von dem, was bisher zu hören gewesen war. Statt die Beißwerkzeuge aneinanderzuschaben, ließ ein erheblicher Teil der Sonnenflüchter sie nun gegeneinanderschlagen, in einem Rhythmus, der immer schneller wurde und dem sich mehr und mehr Sonnenflüchter anschlossen. Drei schnellen Schlägen folgten drei langsame und ein einzelner. Diese Abfolge wurde ununterbrochen wiederholt und von einem mächtigen Gedanken des Anführers unterlegt, den auch Gorian deutlich erfasste.
»Überdauert!«
Die Gedanken, mit denen die anderen Sonnenflüchter antworteten, konnte Gorian nicht verstehen, denn sie waren ein ganzer Strom von Botschaften, und womöglich hatte der Krieg gegen die Caladran sie gelehrt, ihre Gedanken nach Belieben abzuschirmen, so wie sie sich auch gegen magische Beeinflussungen schützten.
»Hilf mir! Ich brauche deine Kraft!«, erreichte Gorian durch all dieses Chaos eine geistige Botschaft von Sheera.
Sogleich bahnte er sich einen Weg durch die Reihen der Sonnenflüchter.
Sheera berührte noch immer mit beiden Händen den Kopf des Greifen. Ihre Augen waren schwarz. Keine der Wunden blutete mehr, dennoch schien sich der Zustand des Greifen verschlechtert zu haben. Er lag nicht mehr reglos da, sondern atmete heftig, und ein Schwall wirrer Gedanken ging von ihm aus, zu fremdartig und verworren, um ihnen eine Bedeutung zuordnen zu können.
»Es ist die Heilmagie der Caladran, die der Namenlose angewendet hat«, glaubte Sheera. »Der Greif verträgt sie nicht!«
»Was geschieht mit ihm?«, fragte Gorian.
»Ich fürchte, er wird wahnsinnig.«
Auch Zog Yaal war herbeigeeilt, denn ihm war aufgefallen, dass mit dem Greifen etwas nicht stimmte.
»Komm her, konzentrieren wir unsere Kraft«, verlangte Sheera von Gorian, und stumm fügte sie hinzu: »Sonst kann ihn niemand mehr halten.«
Doch es war bereits zu spät, der Greif richtete sich urplötzlich auf, schlug mit seinen mächtigen Tatzen um sich, und Sheera wurde zur Seite gestoßen.
Die Sonnenflüchter stoben irritiert davon. Einer von ihnen, den der Greif mit einem Prankenschlag erwischte, schrumpfte zusammen und wurde zu einem Stein von der doppelten Größe einer Männerfaust. Er rollte über den Boden davon und verwandelte sich dann wieder zurück.
Der Greif stand auf den Hinterbeinen und stieß ein lautes Krächzen aus, das an ein irres Kichern erinnerte. Er schlug mit den vorderen Tatzen und schnappte mit dem gewaltigen Schnabel nach unsichtbaren Feinden.
Sheera taumelte nach hinten und in den See, stakste dann wieder ans Ufer und richtete die Hände gegen den Greifen. Nadelfeine Lichtstrahlen schossen aus ihren Fingerspitzen, während sie eine Heilformel rief. Sie stammte von dem Ersten Meister, der damit einst den Wahn eines seiner Anhänger geheilt hatte, der durch den unbedachten Umgang mit der Alten Kraft zum Berserker geworden war.
Die nadelfeinen Strahlen trafen den Kopf des Greifen, der wütend knurrte.
Auch Gorian kannte diesen Zauber, hatte ihn aber noch nie angewendet. Er gehörte zum Grundwissen im Haus der Heiler, wo auch er ausgebildet worden war.
Auch er richtete die Hände gegen den Greifen, murmelte die Formel und konzentrierte alles an Magie, was er aufbringen konnte, in diesen Zauber.
Von zwei Seiten wurde der Kopf des irren Mischwesens von den äußerst feinen, fast wie ein Gespinst wirkenden Strahlen getroffen.
»Gut so!«, vernahm Gorian einen erleichterten Gedanken Sheeras.
Aber dann bildete sich eine Lichtaura um den Greifenkopf, an der die Strahlen abprallten, und der Greif wirbelte herum, schnellte auf Gorian zu.
Die Kunst der Voraussicht rettete ihm das Leben. Er sprang zur Seite und riss Zog Yaal mit sich. Dort, wo sie beide gerade noch gestanden hatten, fegte eine riesenhafte löwenartige Tatze durch die Luft, deren messerscharfe Krallen den felsigen Boden aufpflügten.
Ein Sonnenflüchter, der von dem Prankenschlag nur gestreift wurde, verwandelte sich sogleich in einen Stein. Das aber rettete ihn nicht, denn als der Greif daraufhin aufstampfte, zermalmte er den Stein unter sich.
»Solltest du irgendein Mittel kennen, einen wild gewordenen Greifen zu bändigen, dann wende es jetzt an!«, forderte Gorian von Zog Yaal, dem er wieder auf die Beine half.
»Ich hatte es noch nie mit Greifenwahn zu tun!«, gestand dieser hilflos.
Die Schattenreiter hatten unterdessen ihren Abstieg nicht weiter fortgesetzt, sondern auf halbem Weg angehalten. Ein mächtiger Gedankenchor erhob sich. Eben hatte es noch so ausgesehen, als suchten sie die Entscheidung in einem frontalen Angriff, doch auf einmal schienen sie einen anderen Plan zu verfolgen.
Ihr Gedankenchor bestand aus einer formelhaften Aneinanderreihung von Worten, die zum Teil der caladranischen Sprache entstammten. Doch in einem geringeren Anteil erkannte Gorian auch Alt-Nemorisch, die Sprache der Magie der Alten Kraft, wie sie im Orden gelehrt und bewahrt wurde. Offenbar wusste Morygor das magische Wissen der gefallenen Ordensmeister für sich zu nutzen und ließ es mit der Caladran-Magie zu etwas Neuem verschmelzen.
Die Schattenreiter hoben ihre nur als Umrisse erkennbaren Schwerter und richteten die Spitzen in den Nachthimmel. Schwarze Strahlen schossen daraus hervor, spannten sich bogenförmig über das Tal und senkten sich dann nieder in den See, wo sich die Schwärze innerhalb weniger Augenblicke ausbreitete und das Wasser aussehen ließ, als würde es aus zähflüssiger Dunkelheit bestehen. Dann zog sich das schwarze, nun ölig wirkende Wasser zurück, die Finsternis komprimierte sich und legte den mit Wasserpflanzen bewachsenen Grund des Sees frei.
Die Finsternis aber, zu der das Wasser geworden war, formte den Schatten eines großen Vogels, der sich in die Luft erhob und dabei einen durchdringenden, sehr tiefen Schrei ausstieß, der im ganzen Tal widerhallte.
Gorian riss Sternenklinge hervor und wich taumelnd einen Schritt zurück. Im Kopf der magischen Kreatur leuchteten zwei glühende Augen auf, purpurrot und schimmernd, deren Blick sich sogleich auf Gorian richtete.
»Du einfältiger Narr, der du glaubst, den großen Plan durchkreuzen zu können. Das wird dir nicht gelingen, denn hier und jetzt wirst du sterben!«
 
In diesem Moment aber stürzte Ar-Don herab.
Der Gargoyle war zuvor hoch emporgestiegen und hatte beobachtet, was sich im Tal ereignete. Nun jagte er in die Tiefe, schneller als ein Katapultgeschoss, und bildete zwei dornenartige Fortsätze, die sich tief ins Fleisch des Greifen bohrten.
Dieser brüllte markerschütternd auf, wirbelte herum, versuchte mit dem Schnabel nach dem Angreifer zu schnappen, doch er hatte den Kampf bereits verloren.
Der Körper des Greifen versteinerte, verwandelte sich in bröckelnden Staub, der sich aber sogleich neu zusammenfügte, als der Gargoyle die Körpersubstanz in sich aufnahm. Greif und Gargoyle verschmolzen miteinander und bildeten ein riesenhaftes Wesen, einen überdimensionalen Gargoyle, dem allerdings manche Eigenschaften eines Greifen eigen waren.
Die beiden großen Flügel glichen jenen des Greifen, aber das Wesen hatte zusätzliche, kleinere und jeweils unpaarige Flügel. Der Schnabel hatte innen steinerne Zacken, die wie ein nicht ganz geglückter Versuch wirkten, Gargoyle-Zähne in einem Greifenschnabel nachzubilden. Der Leib veränderte sich mehrfach, der Kopf wurde zwischenzeitlich so groß, dass er fast die Hälfte der Körpermasse ausmachte, dann schrumpfte er wieder auf ungefähr ein Drittel zusammen, während sich der Schnabel verlängerte. Außerdem bildeten sich am Rumpf gewaltige, mit Steinkrallen bewehrte Pranken.
Auch die Farbe des Wesens wandelte sich mehrmals, der warme Braunton des Greifenfells wich einem kalten Blau, so als würde die Kreatur aus Gestein und Eis bestehen. Aber das währte nur einen Augenblick, dann wurde der Körper purpurfarben und glühte auf, als würde er jeden Moment zu Lava zerfließen.
Der gewaltige schwarze Schattenvogel über dem Tal stob währenddessen krächzend empor, konnte aber dem Angriff Ar-Dons nicht mehr entkommen. Der schoss nach oben, den verlängerten und zu Stein gewordenen Schnabel vorgestreckt. Im nächsten Moment bohrte er sich wie ein gewaltiger Dolch in den Schattenvogel, dessen Krächzen zu einem erbärmlichen Wimmern wurde.
Beide stürzten herab, wälzten sich durch den schlammigen Seegrund. Der Schattenvogel zerfiel zunächst zu einer zähen Flüssigkeit, die dann aber zu dunklem Staub gerann.
Daraufhin griffen die Schattenreiter von allen Seiten an. Sie waren ungeheuer schnell. Schon kreuzten sie ihre Schattenschwerter mit den Klingen der ersten Sonnenflüchter. Die wehrten sich auch mit ihren metallenen Blitzwerfern; immer wieder zuckte deren grelles Licht durch die Dunkelheit, und wenn ein Schattenreiter mehrmals davon getroffen wurde, zerfiel er schließlich zu Staub.
Überall entbrannte die Schlacht. Die Schattenreiter preschten tief in die Reihen ihrer Gegner hinein. Gorian ließ Sternenklinge wirbeln und stieß das Schwert in eine der schattenhaften Gestalten, die daraufhin zu Staub zerfiel.
Bald schon hatte er das Gefühl, dass seinen Gegnern die letzte Entschlossenheit im Kampf gegen ihn fehlte. Sie ahnten vielleicht, dass ihre eigene Qual ein Ende fand, wenn Gorian sein Vorhaben in die Tat umsetzte und irgendwann Morygors Schicksalslinie kreuzte.
Sheera und Zog Yaal hielten sich in seiner Nähe. Die Ordensschülerin setzte ihre magischen Fähigkeiten ein, und auch der Maskierte griff mit seinem Flammenschwert in den Kampf ein, sodass keiner der Schattenreiter bis zu Zog Yaal durchdringen konnte.
Auch Torbas und Thondaril hatten ein überraschend leichtes Spiel mit ihren Gegnern. Der Namenlose wiederum hielt sich die Schattenreiter mit der überlegenen Kraft seiner Caladran-Magie vom Leib. Die Schläge der Schattenschwerter glitten von einer unsichtbaren, jedoch undurchdringlichen Hülle ab, die ihn schützte. Mehr noch, hin und wieder vernichtete er einen der Angreifer, indem er ihn mit seiner Magie dazu zwang, sich in die eigene Klinge zu stürzen.
Von den Sonnenflüchtern fielen verhältnismäßig wenige den Schattenreitern zum Opfer; auf drei vernichtete Schattenreiter kam in der Regel nur ein Gefallener der käferartigen Krieger. Wenn ein Schattenschwert einen der Sonnenflüchter traf, verwandelte sich dieser zumeist gerade noch rechtzeitig zu einem Stein und konnte sich so vorerst retten. Erst wenn auch dieser Stein zerschlagen wurde und dabei zu viele Bruchstücke entstanden, war der Sonnenflüchter vernichtet.
Vollkommen hilflos hingegen waren die Steinmahre. In ihrer versteinerten Schlafgestalt wären sie kaum in Gefahr gewesen, aber die meisten von ihnen waren nicht vernünftig genug, in diesem Zustand zu verharren, bis der Kampf zu Ende war. Sie walzten, von heller Panik erfüllt, mit ihren breiartigen Körpern durch das Tal, stießen glucksende Schreie aus. Von ihnen ging zwar keine Gefahr für die Schattenreiter aus, aber die Sonnenflüchter ernährten sich von diesen Wesen, und das bedeutete, dass man ihnen mit der Vernichtung jedes einzelnen Steinmahrs auf die Dauer erheblich schadete, und so schlugen die Schattenreiter mit ihren Schwertern nach ihnen, wann immer sie während des Kampfes zufällig in ihre Nähe gerieten. Wenn sie an ihnen vorbeipreschten, rissen sie ihnen mit ihren Schwertern klaffende Wunden in die Außenhaut, und die Steinmahre stießen dröhnende Schmerzenslaute aus, versuchten sich dann doch noch in Steine zu verwandeln, schafften es aber oft genug nicht mehr rechtzeitig, sodass sie als groteske Mischgestalten verendeten.
Die stärkste Waffe gegen die angreifenden Schattenreiter war Ar-Don. Der ins Riesenhafte gewachsene Gargoyle schwang sich auf seinen dunklen Schwingen zunächst hoch empor, stieß dann ins Tal hinab und zog im Tiefflug seine verheerenden Kreise. Lange Greifenarme schlugen nach den Schattenreitern, die, wenn sie von einem Prankenhieb getroffen wurden, kurz aufglühten und dann zu Staub zerfielen. Andere spießte der gewaltige Schnabel einfach auf.
Schließlich stoben die verbliebenen Schattenreiter davon. Es war kein geordneter Rückzug, sondern glich eher einer Flucht.
 
»Wer hätte gedacht, dass der erste Sieg über Morygors Macht hier in diesem einsamen Tal gelingt«, sagte Meister Thondaril, als sich die Angreifer bereits wieder über die umliegenden Berge zurückgezogen hatten.
Ar-Don setzte ihnen noch nach und tötete so viele wie möglich. Und auch der Maskierte folgte ihnen und überholte sie per Steinreise mehrmals, tauchte unvermittelt aus dem felsigen Untergrund vor ihnen auf und griff sie an. Sein Flammenschwert verbrannte sie, wenn es sie berührte. Allerdings wirkte es nicht aus der Entfernung, dann war der Flammenstrahl, zu dem die Klinge des Breitschwerts werden konnte, wohl zu schwach.
Der riesenhafte Anführer der Sonnenflüchter trommelte sich mit den Fäusten triumphierend auf den Brustharnisch und sandte einen Gedanken an sein Volk und die Fremden, die mit der Greifengondel in dem Tal notgelandet waren.
»Dies ist unsere Zuflucht, hier werden wir die Zeit überdauern, und wir werden uns diese Zuflucht von niemandem nehmen lassen! Die Zukunft ist unser, denn der Stein überdauert alles!«
Das tosende Geklapper von Beißwerkzeugen antwortete ihm und wollte gar nicht mehr enden, bis der Riesenhafte schließlich die Hände hob.
Das Mondlicht schien auf das Unterwassergras des nun trockenen Sees, und ein fauliger Geruch zog von dort über das Tal. Hier und dort zuckten noch Fische im Schlamm. Der Gestank würde in den nächsten Tagen noch sehr viel schlimmer werden.
Ar-Don kehrte zurück, während der Maskierte den Schattenreitern noch weiter folgte. Er landete recht unbeholfen, denn er war es nicht gewohnt, einen derart riesigen Körper zu lenken.
»Muss üben!«, sandte er einen Gedanken, von dem Gorian annahm, dass er für ihn bestimmt war. »Muss schließlich die Gondel tragen.«
 
»So eine Kreatur werde ich nicht reiten!«, stieß Zog Yaal hervor und wies auf das steinerne Wesen, das von Augenblick zu Augenblick immer mehr Ähnlichkeit mit Centros Bals Greifen annahm.
Zog Yaal stand noch ganz unter dem Eindruck des Geschehenen und war noch immer ziemlich verstört. Doch was diesen einen Punkt anbetraf, war er sehr entschieden.
Der Gargoyle war offenbar darum bemüht, den Greifen nahezu perfekt nachzubilden, was schon beinahe unheimlich wirkte. Und doch war nicht zu übersehen, dass sein Körper aus Stein bestand und nicht aus Fleisch und Blut wie eine sterbliche Kreatur.
»Niemand verlangt, dass du Ar-Don reitest«, erklärte Gorian. »Und ich glaube auch nicht, dass er das zulassen würde. Es ist daher völlig ausreichend, wenn du dafür sorgst, dass die Seilschlangen die Gondel halten, dann werden wir schon zurechtkommen.«
»Du denkst wirklich, wir sollten uns von dieser … Kreatur zu den Inseln der Caladran fliegen lassen?«, fragte Thondaril, der sein Schwert noch immer nicht eingesteckt hatte, so als erwartete er, dass die Schattenreiter zurückkehrten.
»Haben wir eine Wahl?«, fragte Gorian.
»Er hat den Greifen getötet«, erinnerte ihn der zweifache Ordensmeister. »Und wenn wir aus irgendeinem Grund seinen Zielen im Weg stehen, würde er nicht einen Augenblick zögern, auch uns umzubringen oder in Steinmonster zu verwandeln.«
»Ar-Don kämpft gegen Morygor!«, sandte der Gargoyle einen Gedanken an alle, den offensichtlich selbst der magisch völlig unbegabte Zog Yaal mitbekam, denn er fasste sich an den Kopf und verzog das Gesicht.
»Ah … ein Greif sollte nicht in die Köpfe seiner Reiter und Passagiere eindringen«, fand er. »Dagegen kann man ja nicht einmal die Ohren verschließen!«
»Mich zu hören ist ganz gewiss nicht unangenehmer, als wenn Morygors Stimme zu dir spricht«, entgegnete der auf einmal ungewohnt mitteilsame Ar-Don, »und über den hast du dich nicht beklagt.« Erneut ließ er alle an diesen Gedanken teilhaben.
Thondaril wandte sich an Zog Yaal. »Morygor hat zu dir gesprochen?«, fragte er streng.
Zog Yaal wirkte ziemlich betreten. Er suchte zunächst nach den richtigen Worten und brachte schließlich nur ein wirres Gestotter hervor. »Da … war ein… ein Gewisper und Gemurmel in meinem Kopf, das ist wahr …«
»Bedrängende Gedanken?«, hakte Thondaril nach.
»Ja, auch das. Aber schon vor Antritt dieser Reise warnte mich Centros Bal, dass Morygors Aura sehr mächtig ist, und seit sich das Frostreich bis über Felsenburg hinaus ausgedehnt hat, sind wir doch ständig unter seinem Einfluss, oder nicht?«
»Ja, das trifft zu«, bestätigte Thondaril. »Und was wollte Morygor von dir?«
»Seine Worte waren… unverständlich. Ja, unverständlich, aber zugleich auch irgendwie einschmeichelnd.«
Thondaril trat an Zog Yaal heran, legte ihm eine Hand auf den Kopf und konzentrierte seine Kräfte. Seine Augen wurden dabei schwarz, und die Hand leuchtete für einen Moment von innen heraus, sodass die Knochen zu sehen waren.
Als er sie zurückzog, taumelte der Greifenreiter einen Schritt zurück. »Was … habt Ihr getan, Meister Thondaril?«
Der gab darauf keine Antwort. Stattdessen sagte er: »Wenn sich Morygor noch einmal an dich wendet, dann offenbare dies sofort!«
»Ja«, murmelte der Greifenreiter mit starren, weit aufgerissenen Augen. Dann fragte er zaghaft: »Glaubt Ihr, ich werde seinen Einflüsterungen ein weiteres Mal widerstehen können? Schließlich verfüge ich über keinerlei magisches Talent.«
»Ein solches Talent ist keineswegs eine Garantie, wie ich inzwischen aus eigener Erfahrung weiß. Niemand ist vor Morygors Einfluss wirklich gefeit.«
Bevor an einen Aufbruch zu denken war, musste die Gondel zumindest notdürftig repariert werden. Die Verglasung war zersplittert, und die noch in den Fensterrahmen steckenden Glasstücke wurden entfernt, damit sich niemand daran verletzte.
Zog Yaal und Gorian überprüften unterdessen die Seilschlangen. Ein paar von ihnen waren beim Überfall der Schattenreiter erschlagen worden.
»Das war kein Zufall«, glaubte Zog Yaal. »Denen war klar, dass wir genug Seilschlangen brauchen, wenn wir von hier fortwollen.«
»Reichen die vorhandenen noch aus, um die Reise fortzusetzen?«, fragte Gorian.
Zog Yaal nickte. »Ich denke schon. Allerdings bin ich gespannt, wie sie darauf reagieren, wenn sie auf einmal an einem Riesengargoyle hängen.«
»Lassen wir es darauf ankommen«, meinte Gorian.
 
Bis zum Morgengrauen brauchten sie für die Reisevorbereitungen. Die Sonnenflüchter weckten unterdessen die Steinmahre. Überall gerieten die Felsen in Bewegung und verwandelten sich in breiartige, formlose Körper, die zu dem trockenen See hinrutschten. Gierig begannen sie die Wasserpflanzen zu verzehren. Offenbar waren die Sonnenflüchter bestrebt, auch den letzten Steinmahr aus seiner Starre zu wecken und auf den schlammigen Seegrund zu treiben.
»Sie werden lange nicht mehr grasen können, sobald die Sonne die Wasserpflanzen verdorrt«, sagte Sheera, die etwas abseits stand. Gorian suchte ihre Nähe, weil sie sich seit dem Tod des Greifen gedanklich noch mehr zurückgezogen hatte. Die Tatsache, dass ihre Augen noch immer vollkommen schwarz waren, obwohl der Kampf mit den Schattenreitern längst vorbei war, bestätigte seinen Verdacht, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte.
»Der See wird irgendwann wieder Wasser führen«, sagte er. »Die Sonnenflüchter und Steinmahre werden in ihrer versteinerten Form so lange ausharren.«
Sheera nickte und sah ihn mit ihren vollkommen schwarzen, blicklosen Augen an. »Ich habe vergeblich versucht, die schädlichen Auswirkungen der Caladran-Heilmagie zu bekämpfen«, erklärte sie. »Aber ich war nicht stark genug. Die Heilmagie des Namenlosen war wie Gift für den Greifen.«
»Die unsere konnte ihm aber auch nicht helfen.«
»Ja, das mag sein.«
»Ar-Don wird uns sicherer ans Ziel bringen, als jeder Greif das vermag.«
»Ich hoffe, du behältst recht.«
»Sheera?«
»Ja?«
»Warum verschließt du deine Gedanken auf einmal vor mir?«, fragte Gorian stumm.
Sie aber antwortete mit ihrer normalen Stimme: »Verbindung ist Stärke.«
»Eines der Axiome des Ordens«, erkannte er.
»Und ich bin schwach. Das ist die Erklärung, Gorian. Nichts weiter.« Stumm fügte sie hinzu: »Es gibt keinen anderen Grund.«
Die Sonne stieg über die Berge und bot einen Anblick, der alle bis ins tiefste Mark schaudern ließ. Der Schattenbringer bedeckte so gut wie die gesamte Sonnenscheibe und ließ nur einen schmalen Lichtkranz von ihr sehen.
»Die Nacht wird von nun an nicht mehr vom Tag abgelöst, sondern nur noch von der Dämmerung«, sagte Sheera erschüttert. »Die Macht Morygors spiegelt sich am Himmel wider. Er kontrolliert selbst die Gestirne. Was hier in diesem Tal geschehen ist, war kein Sieg, sondern nur eine Rettung für den Moment.«
Auch Thondaril blickte kurz zu der dunklen Sonne hoch, deren Feuer nur noch ein rötlicher Flammenkranz war. Dann konzentrierte er sich wieder darauf, die Meisterringe der vernichteten Schattenkrieger einzusammeln, soweit er sie finden konnte. Torbas half ihm dabei, und auch Gorian und Sheera beteiligten sich daran.
In dem steinigen Boden dieses Hochtals war es unmöglich, die Ringe zu begraben, und so geschah dies in dem wasserlosen See, dessen von Wasserpflanzen überwucherter Grund von einer dicken Schicht aus fruchtbarer Erde bedeckt war. Der riesenhafte Anführer der Sonnenflüchter wies einige der käferartigen Krieger an, eine Grube auszuheben, ohne dass Thondaril oder einer seiner Schüler ihn darum gebeten hatte. Das bestätigte ihren Verdacht, dass die Sonnenflüchter sehr viel mehr von den Gedanken anderer mitbekamen, als sie zuzugeben bereit waren.
Der Namenlose Renegat zeigte bei alledem keinerlei Anteilnahme. Er hielt sich abseits und schritt auf und ab, von einer inneren Unruhe getrieben, die für ihn eher ungewöhnlich war. Dann ging er in die Gondel und wandte sich der Truhe mit den gestohlenen Caladran-Schriften zu. Seine Hände begannen zu leuchten, als er das Metall berührte, und er schloss die Augen.
Als Gorian, Sheera und Torbas in die Gondel zurückkehrten, verharrte der Namenlose noch immer so. Ob er der Truhe Kraft entnahm oder Kraft an sie abgab, war nicht feststellbar. Nicht einmal Thondaril wusste das Verhalten des Namenlosen zu deuten.
Der Caladran löste sich aus seiner Erstarrung. Seine Augen wirkten für einen Moment wie glühende Kohlen, ehe sie wieder ihre normale Färbung annahmen, die an Bernstein erinnerte.
Er blickte auf und sagte sichtlich erleichtert: »Es wurde nichts geraubt. Die Schriften sind in einem guten Zustand, und der Schutzzauber, mit dem ich sie versehen habe, wirkt.«
»Ihr habt befürchtet, die Schattenkrieger hätten es bei ihrem Angriff auch auf die Schriften abgesehen gehabt?«, fragte Thondaril.
Der Namenlose hob die Schultern in einer unbestimmten Geste. »Morygor versucht uns zu schaden, wo immer er kann. Es wäre nicht abwegig, würde er versuchen, die Schriften zu zerstören, auch wenn sein Hauptziel zweifellos ein anderes ist.«
Mein Tod!, ging es Gorian durch den Kopf, aber er sprach es nicht aus.
»Sehr richtig«, bestätigte ein Gedanke des Namenlosen. »Aber du solltest deine Bedeutung nicht überschätzen. Es gibt noch ein paar andere Dinge, die das Schicksal Erdenrunds in die richtige Bahn lenken könnten.«
 
Sie hielten eine kurze Begräbniszeremonie nach Art des Ordens ab und vergruben die Meisterringe der Schattenkrieger. Sie waren gerade damit fertig, als der Maskierte zurückkehrte.
Er übergab Meister Thondaril etwa zwei Dutzend weitere Meisterringe. »Für manche Seele ist das Ende eine Erlösung«, äußerte er mit seiner Gedankenstimme.
»Die Seelen dieser Schwertmeister werden Euch danken, was Ihr für sie getan habt«, erwiderte Thondaril, »denn nichts ist schlimmer, als Gefangener einer fremden Magie zu sein.«
»Behaltet sie und begrabt sie nicht wie die anderen«, schlug der Namenlose Renegat vor. »In solchen Artefakten ist immer eine besondere Kraft, die sich vielleicht eines Tages nutzen lässt.«
»Nein«, widersprach Thondaril. »Die Seelen dieser Unglücklichen, die unter Morygors Einfluss gerieten, sind schon viel zu lange nichts als Werkzeuge gewesen. Ich werde diesen Zustand nicht noch länger anhalten lassen.«
So ging Meister Thondaril noch einmal hinab in den ausgetrockneten See und vergrub auch diese Ringe im schlammigen Boden.
Zog Yaal legte unterdessen die Seilschlangen an der Gondel an. Gorian half ihm dabei und hörte aufmerksam zu, wie der Greifenreiter den Schlangen Befehle erteilte. Es war ein Unterschied, ob man nur eines oder zwei dieser Wesen kontrollieren musste oder wie in diesem Fall ein ganzes Dutzend.
»Jetzt kannst du deinen Gargoyle-Freund herbefehlen, und dann lass uns beten, dass die Seilschlangen ihn auch akzeptieren.«
»Könnte das ein Problem sein?«
»Seilschlangen sind sehr sensibel und schlingen sich nicht um jeden beliebigen Greifen. Eines der vorrangigen Ziele bei der Seilschlangenzucht ist es deshalb, dass die Schlangen möglichst viele Greifen annehmen. Was aber dieses Steinmonstrum angeht, werden wir sehen müssen.«
»Notfalls helfen wir mit Magie nach«, schlug Gorian vor.
»Wenn man den Willen einer Kreatur bricht, wird sie dadurch noch nicht zu einem treuen Diener, Gorian. Im Gegenteil, sie wird nur auf die Gelegenheit warten, es dir heimzuzahlen.«
»Du redest ja schon wie ein alter Ordensmeister, obwohl du vermutlich nie die Axiome gelesen hast«, mischte sich Torbas ein, der in der Nähe stand.
Zog Yaal drehte sich zu ihm um. »Ich gebe nur das wieder, was ich von erfahrenen Greifenreitern und Seilschlangenzüchtern gelernt habe.«
Schließlich begaben sich alle an Bord der Gondel. Zog Yaal und Gorian stellten sich auf den kleinen Balkon vor der Tür, und Gorian forderte Ar-Don mittels Gedankenbefehl dazu auf, sich der Gondel so weit zu nähern, dass die Seilschlangen ihn erreichen konnten.
»Endlich!«, lautete die Gedankenantwort des Gargoyle, der sich sofort mit kräftigen Schlägen seiner Flügel emporschwang. Dazu stieß er einen krächzenden Laut aus, der den Rufen eines Greifen so täuschend ähnlich klang, dass selbst Zog Yaal beeindruckt war.
»Beim Verborgenen Gott, hätte ich die Augen geschlossen, ich hätte keinen Unterschied bemerkt.«
Ar-Don flog einen Bogen über das Tal, kehrte zurück und verminderte die Geschwindigkeit, bis er schließlich über der Gondel zum Stillstand kam. Mit den Flügeln flatternd schwebte er auf der Stelle.
Die Seilschlangen reckten sich zögerlich empor. Zog Yaal rief ein paar laute Befehle, die aus Zisch- und Knacklauten bestanden. Danach half Gorian dem Greifenreiter hinauf aufs Gondeldach, damit er die Seilschlangen besser beeinflussen konnte. Besonders zwei von ihnen bedurften einer energischen Ermahnung, doch schließlich schlangen auch sie sich über den Rücken des riesenhaften Mischwesens aus Gargoyle und Greif.
Ar-Don wartete nicht, bis alle Seilschlangen richtig positioniert waren, sondern flog empor. Mit einem Ruck löste sich die Gondel vom Boden. Einige der Seilschlangen stießen seltsam quiekende Laute aus. Offenbar befürchteten sie, die Last nicht allein tragen zu können. Da aber schlangen sich auch die letzten vier Seilschlangen um den Rücken des Flugungeheuers.
Ein Fauchen drang aus dessen Schnabel, dann folgte ein Greifenkrächzen. Die Gondel schwebte höher und höher, und die Seilschlangen beruhigten sich.
Zog Yaal kletterte ohne die Hilfe einer Seilschlange vom Dach und zurück auf den Balkon. Er wollte wohl keine der Tiere im Hinblick auf ihre eigentliche Aufgabe verunsichern. Dann begab er sich in die Gondel.
Die zahlreichen Sonnenflüchter blickten der Gondel nach.
»Wir haben bereits neue Verbündete gewonnen«, meinte Torbas. »Obwohl ich bezweifle, dass die Sonnenflüchter dem nächsten Angriff des Frostreichs noch standhalten werden.«