
16
Greifenwahn
Von allen Seiten kamen die Schattenreiter heran.
Aber sie schienen keine Eile zu haben. Sie bildeten einen Ring um
das gesamte Tal und ritten in breiter Front die steilen Hänge
hinab, die kein gewöhnliches Pferd hätte bewältigen können, ohne
sich dabei den Hals zu brechen. Den achtbeinigen Riesenpferden der
Schattenreiter aber bereitete dies keine Schwierigkeiten.
Unter den Sonnenflüchtern verbreitete sich Unruhe.
Ihre zirpenden Laute und das Schaben ihrer Beißwerkzeuge erfüllten
die Luft, bis ihr riesenhafter Anführer einen Ruf ausstieß, der
alle anderen Geräusche im Tal übertönte und der von einem Gedanken
begleitet wurde, dessen Klarheit und Eindringlichkeit der
Lautstärke des Rufs entsprachen. »Nichts von dem, was die
vergänglichen Völker Magie nennen, kann unseren Willen brechen! So
war es früher, als wir gegen die schrägäugigen, beißwerkzeuglosen
Bestien mit ihren Himmelsschiffen kämpften! Und dies gilt auch
heute noch, da uns ein Abkömmling dieser sterblichen Brut vor die
Wahl stellt, ihm zu gehorchen oder vernichtet zu werden!«
Der Chor von Lauten, der dem riesenhaften Anführer
antwortete, unterschied sich deutlich von dem, was bisher zu hören
gewesen war. Statt die Beißwerkzeuge aneinanderzuschaben, ließ ein
erheblicher Teil der Sonnenflüchter sie
nun gegeneinanderschlagen, in einem Rhythmus, der immer schneller
wurde und dem sich mehr und mehr Sonnenflüchter anschlossen. Drei
schnellen Schlägen folgten drei langsame und ein einzelner. Diese
Abfolge wurde ununterbrochen wiederholt und von einem mächtigen
Gedanken des Anführers unterlegt, den auch Gorian deutlich
erfasste.
»Überdauert!«
Die Gedanken, mit denen die anderen Sonnenflüchter
antworteten, konnte Gorian nicht verstehen, denn sie waren ein
ganzer Strom von Botschaften, und womöglich hatte der Krieg gegen
die Caladran sie gelehrt, ihre Gedanken nach Belieben abzuschirmen,
so wie sie sich auch gegen magische Beeinflussungen
schützten.
»Hilf mir! Ich brauche deine Kraft!«,
erreichte Gorian durch all dieses Chaos eine geistige Botschaft von
Sheera.
Sogleich bahnte er sich einen Weg durch die Reihen
der Sonnenflüchter.
Sheera berührte noch immer mit beiden Händen den
Kopf des Greifen. Ihre Augen waren schwarz. Keine der Wunden
blutete mehr, dennoch schien sich der Zustand des Greifen
verschlechtert zu haben. Er lag nicht mehr reglos da, sondern
atmete heftig, und ein Schwall wirrer Gedanken ging von ihm aus, zu
fremdartig und verworren, um ihnen eine Bedeutung zuordnen zu
können.
»Es ist die Heilmagie der Caladran, die der
Namenlose angewendet hat«, glaubte Sheera. »Der Greif
verträgt sie nicht!«
»Was geschieht mit ihm?«, fragte Gorian.
»Ich fürchte, er wird wahnsinnig.«
Auch Zog Yaal war herbeigeeilt, denn ihm war
aufgefallen, dass mit dem Greifen etwas nicht stimmte.
»Komm her, konzentrieren wir unsere Kraft«,
verlangte
Sheera von Gorian, und stumm fügte sie hinzu: »Sonst kann ihn
niemand mehr halten.«
Doch es war bereits zu spät, der Greif richtete
sich urplötzlich auf, schlug mit seinen mächtigen Tatzen um sich,
und Sheera wurde zur Seite gestoßen.
Die Sonnenflüchter stoben irritiert davon. Einer
von ihnen, den der Greif mit einem Prankenschlag erwischte,
schrumpfte zusammen und wurde zu einem Stein von der doppelten
Größe einer Männerfaust. Er rollte über den Boden davon und
verwandelte sich dann wieder zurück.
Der Greif stand auf den Hinterbeinen und stieß ein
lautes Krächzen aus, das an ein irres Kichern erinnerte. Er schlug
mit den vorderen Tatzen und schnappte mit dem gewaltigen Schnabel
nach unsichtbaren Feinden.
Sheera taumelte nach hinten und in den See, stakste
dann wieder ans Ufer und richtete die Hände gegen den Greifen.
Nadelfeine Lichtstrahlen schossen aus ihren Fingerspitzen, während
sie eine Heilformel rief. Sie stammte von dem Ersten Meister, der
damit einst den Wahn eines seiner Anhänger geheilt hatte, der durch
den unbedachten Umgang mit der Alten Kraft zum Berserker geworden
war.
Die nadelfeinen Strahlen trafen den Kopf des
Greifen, der wütend knurrte.
Auch Gorian kannte diesen Zauber, hatte ihn aber
noch nie angewendet. Er gehörte zum Grundwissen im Haus der Heiler,
wo auch er ausgebildet worden war.
Auch er richtete die Hände gegen den Greifen,
murmelte die Formel und konzentrierte alles an Magie, was er
aufbringen konnte, in diesen Zauber.
Von zwei Seiten wurde der Kopf des irren
Mischwesens von den äußerst feinen, fast wie ein Gespinst wirkenden
Strahlen getroffen.
»Gut so!«, vernahm Gorian einen
erleichterten Gedanken Sheeras.
Aber dann bildete sich eine Lichtaura um den
Greifenkopf, an der die Strahlen abprallten, und der Greif wirbelte
herum, schnellte auf Gorian zu.
Die Kunst der Voraussicht rettete ihm das Leben. Er
sprang zur Seite und riss Zog Yaal mit sich. Dort, wo sie beide
gerade noch gestanden hatten, fegte eine riesenhafte löwenartige
Tatze durch die Luft, deren messerscharfe Krallen den felsigen
Boden aufpflügten.
Ein Sonnenflüchter, der von dem Prankenschlag nur
gestreift wurde, verwandelte sich sogleich in einen Stein. Das aber
rettete ihn nicht, denn als der Greif daraufhin aufstampfte,
zermalmte er den Stein unter sich.
»Solltest du irgendein Mittel kennen, einen wild
gewordenen Greifen zu bändigen, dann wende es jetzt an!«, forderte
Gorian von Zog Yaal, dem er wieder auf die Beine half.
»Ich hatte es noch nie mit Greifenwahn zu tun!«,
gestand dieser hilflos.
Die Schattenreiter hatten unterdessen ihren Abstieg
nicht weiter fortgesetzt, sondern auf halbem Weg angehalten. Ein
mächtiger Gedankenchor erhob sich. Eben hatte es noch so
ausgesehen, als suchten sie die Entscheidung in einem frontalen
Angriff, doch auf einmal schienen sie einen anderen Plan zu
verfolgen.
Ihr Gedankenchor bestand aus einer formelhaften
Aneinanderreihung von Worten, die zum Teil der caladranischen
Sprache entstammten. Doch in einem geringeren Anteil erkannte
Gorian auch Alt-Nemorisch, die Sprache der Magie der Alten Kraft,
wie sie im Orden gelehrt und bewahrt wurde. Offenbar wusste Morygor
das magische
Wissen der gefallenen Ordensmeister für sich zu nutzen und ließ es
mit der Caladran-Magie zu etwas Neuem verschmelzen.
Die Schattenreiter hoben ihre nur als Umrisse
erkennbaren Schwerter und richteten die Spitzen in den Nachthimmel.
Schwarze Strahlen schossen daraus hervor, spannten sich bogenförmig
über das Tal und senkten sich dann nieder in den See, wo sich die
Schwärze innerhalb weniger Augenblicke ausbreitete und das Wasser
aussehen ließ, als würde es aus zähflüssiger Dunkelheit bestehen.
Dann zog sich das schwarze, nun ölig wirkende Wasser zurück, die
Finsternis komprimierte sich und legte den mit Wasserpflanzen
bewachsenen Grund des Sees frei.
Die Finsternis aber, zu der das Wasser geworden
war, formte den Schatten eines großen Vogels, der sich in die Luft
erhob und dabei einen durchdringenden, sehr tiefen Schrei ausstieß,
der im ganzen Tal widerhallte.
Gorian riss Sternenklinge hervor und wich taumelnd
einen Schritt zurück. Im Kopf der magischen Kreatur leuchteten zwei
glühende Augen auf, purpurrot und schimmernd, deren Blick sich
sogleich auf Gorian richtete.
»Du einfältiger Narr, der du glaubst, den
großen Plan durchkreuzen zu können. Das wird dir nicht gelingen,
denn hier und jetzt wirst du sterben!«
In diesem Moment aber stürzte Ar-Don herab.
Der Gargoyle war zuvor hoch emporgestiegen und
hatte beobachtet, was sich im Tal ereignete. Nun jagte er in die
Tiefe, schneller als ein Katapultgeschoss, und bildete zwei
dornenartige Fortsätze, die sich tief ins Fleisch des Greifen
bohrten.
Dieser brüllte markerschütternd auf, wirbelte
herum, versuchte
mit dem Schnabel nach dem Angreifer zu schnappen, doch er hatte
den Kampf bereits verloren.
Der Körper des Greifen versteinerte, verwandelte
sich in bröckelnden Staub, der sich aber sogleich neu
zusammenfügte, als der Gargoyle die Körpersubstanz in sich aufnahm.
Greif und Gargoyle verschmolzen miteinander und bildeten ein
riesenhaftes Wesen, einen überdimensionalen Gargoyle, dem
allerdings manche Eigenschaften eines Greifen eigen waren.
Die beiden großen Flügel glichen jenen des Greifen,
aber das Wesen hatte zusätzliche, kleinere und jeweils unpaarige
Flügel. Der Schnabel hatte innen steinerne Zacken, die wie ein
nicht ganz geglückter Versuch wirkten, Gargoyle-Zähne in einem
Greifenschnabel nachzubilden. Der Leib veränderte sich mehrfach,
der Kopf wurde zwischenzeitlich so groß, dass er fast die Hälfte
der Körpermasse ausmachte, dann schrumpfte er wieder auf ungefähr
ein Drittel zusammen, während sich der Schnabel verlängerte.
Außerdem bildeten sich am Rumpf gewaltige, mit Steinkrallen
bewehrte Pranken.
Auch die Farbe des Wesens wandelte sich mehrmals,
der warme Braunton des Greifenfells wich einem kalten Blau, so als
würde die Kreatur aus Gestein und Eis bestehen. Aber das währte nur
einen Augenblick, dann wurde der Körper purpurfarben und glühte
auf, als würde er jeden Moment zu Lava zerfließen.
Der gewaltige schwarze Schattenvogel über dem Tal
stob währenddessen krächzend empor, konnte aber dem Angriff Ar-Dons
nicht mehr entkommen. Der schoss nach oben, den verlängerten und zu
Stein gewordenen Schnabel vorgestreckt. Im nächsten Moment bohrte
er sich wie ein gewaltiger Dolch in den Schattenvogel, dessen
Krächzen zu einem erbärmlichen Wimmern wurde.
Beide stürzten herab, wälzten sich durch den
schlammigen Seegrund. Der Schattenvogel zerfiel zunächst zu einer
zähen Flüssigkeit, die dann aber zu dunklem Staub gerann.
Daraufhin griffen die Schattenreiter von allen
Seiten an. Sie waren ungeheuer schnell. Schon kreuzten sie ihre
Schattenschwerter mit den Klingen der ersten Sonnenflüchter. Die
wehrten sich auch mit ihren metallenen Blitzwerfern; immer wieder
zuckte deren grelles Licht durch die Dunkelheit, und wenn ein
Schattenreiter mehrmals davon getroffen wurde, zerfiel er
schließlich zu Staub.
Überall entbrannte die Schlacht. Die Schattenreiter
preschten tief in die Reihen ihrer Gegner hinein. Gorian ließ
Sternenklinge wirbeln und stieß das Schwert in eine der
schattenhaften Gestalten, die daraufhin zu Staub zerfiel.
Bald schon hatte er das Gefühl, dass seinen Gegnern
die letzte Entschlossenheit im Kampf gegen ihn fehlte. Sie ahnten
vielleicht, dass ihre eigene Qual ein Ende fand, wenn Gorian sein
Vorhaben in die Tat umsetzte und irgendwann Morygors
Schicksalslinie kreuzte.
Sheera und Zog Yaal hielten sich in seiner Nähe.
Die Ordensschülerin setzte ihre magischen Fähigkeiten ein, und auch
der Maskierte griff mit seinem Flammenschwert in den Kampf ein,
sodass keiner der Schattenreiter bis zu Zog Yaal durchdringen
konnte.
Auch Torbas und Thondaril hatten ein überraschend
leichtes Spiel mit ihren Gegnern. Der Namenlose wiederum hielt sich
die Schattenreiter mit der überlegenen Kraft seiner Caladran-Magie
vom Leib. Die Schläge der Schattenschwerter glitten von einer
unsichtbaren, jedoch undurchdringlichen Hülle ab, die ihn schützte.
Mehr noch, hin und wieder vernichtete er einen der Angreifer, indem
er ihn mit seiner Magie dazu zwang, sich in die eigene Klinge zu
stürzen.
Von den Sonnenflüchtern fielen verhältnismäßig
wenige den Schattenreitern zum Opfer; auf drei vernichtete
Schattenreiter kam in der Regel nur ein Gefallener der käferartigen
Krieger. Wenn ein Schattenschwert einen der Sonnenflüchter traf,
verwandelte sich dieser zumeist gerade noch rechtzeitig zu einem
Stein und konnte sich so vorerst retten. Erst wenn auch dieser
Stein zerschlagen wurde und dabei zu viele Bruchstücke entstanden,
war der Sonnenflüchter vernichtet.
Vollkommen hilflos hingegen waren die Steinmahre.
In ihrer versteinerten Schlafgestalt wären sie kaum in Gefahr
gewesen, aber die meisten von ihnen waren nicht vernünftig genug,
in diesem Zustand zu verharren, bis der Kampf zu Ende war. Sie
walzten, von heller Panik erfüllt, mit ihren breiartigen Körpern
durch das Tal, stießen glucksende Schreie aus. Von ihnen ging zwar
keine Gefahr für die Schattenreiter aus, aber die Sonnenflüchter
ernährten sich von diesen Wesen, und das bedeutete, dass man ihnen
mit der Vernichtung jedes einzelnen Steinmahrs auf die Dauer
erheblich schadete, und so schlugen die Schattenreiter mit ihren
Schwertern nach ihnen, wann immer sie während des Kampfes zufällig
in ihre Nähe gerieten. Wenn sie an ihnen vorbeipreschten, rissen
sie ihnen mit ihren Schwertern klaffende Wunden in die Außenhaut,
und die Steinmahre stießen dröhnende Schmerzenslaute aus,
versuchten sich dann doch noch in Steine zu verwandeln, schafften
es aber oft genug nicht mehr rechtzeitig, sodass sie als groteske
Mischgestalten verendeten.
Die stärkste Waffe gegen die angreifenden
Schattenreiter war Ar-Don. Der ins Riesenhafte gewachsene Gargoyle
schwang sich auf seinen dunklen Schwingen zunächst hoch empor,
stieß dann ins Tal hinab und zog im Tiefflug seine
verheerenden Kreise. Lange Greifenarme schlugen nach den
Schattenreitern, die, wenn sie von einem Prankenhieb getroffen
wurden, kurz aufglühten und dann zu Staub zerfielen. Andere spießte
der gewaltige Schnabel einfach auf.
Schließlich stoben die verbliebenen Schattenreiter
davon. Es war kein geordneter Rückzug, sondern glich eher einer
Flucht.
»Wer hätte gedacht, dass der erste Sieg über
Morygors Macht hier in diesem einsamen Tal gelingt«, sagte Meister
Thondaril, als sich die Angreifer bereits wieder über die
umliegenden Berge zurückgezogen hatten.
Ar-Don setzte ihnen noch nach und tötete so viele
wie möglich. Und auch der Maskierte folgte ihnen und überholte sie
per Steinreise mehrmals, tauchte unvermittelt aus dem felsigen
Untergrund vor ihnen auf und griff sie an. Sein Flammenschwert
verbrannte sie, wenn es sie berührte. Allerdings wirkte es nicht
aus der Entfernung, dann war der Flammenstrahl, zu dem die Klinge
des Breitschwerts werden konnte, wohl zu schwach.
Der riesenhafte Anführer der Sonnenflüchter
trommelte sich mit den Fäusten triumphierend auf den Brustharnisch
und sandte einen Gedanken an sein Volk und die Fremden, die mit der
Greifengondel in dem Tal notgelandet waren.
»Dies ist unsere Zuflucht, hier werden wir
die Zeit überdauern, und wir werden uns diese Zuflucht von
niemandem nehmen lassen! Die Zukunft ist unser, denn der Stein
überdauert alles!«
Das tosende Geklapper von Beißwerkzeugen antwortete
ihm und wollte gar nicht mehr enden, bis der Riesenhafte
schließlich die Hände hob.
Das Mondlicht schien auf das Unterwassergras des
nun trockenen Sees, und ein fauliger Geruch zog von dort über
das Tal. Hier und dort zuckten noch Fische im Schlamm. Der Gestank
würde in den nächsten Tagen noch sehr viel schlimmer werden.
Ar-Don kehrte zurück, während der Maskierte den
Schattenreitern noch weiter folgte. Er landete recht unbeholfen,
denn er war es nicht gewohnt, einen derart riesigen Körper zu
lenken.
»Muss üben!«, sandte er einen Gedanken, von
dem Gorian annahm, dass er für ihn bestimmt war. »Muss
schließlich die Gondel tragen.«
»So eine Kreatur werde ich nicht reiten!«, stieß
Zog Yaal hervor und wies auf das steinerne Wesen, das von
Augenblick zu Augenblick immer mehr Ähnlichkeit mit Centros Bals
Greifen annahm.
Zog Yaal stand noch ganz unter dem Eindruck des
Geschehenen und war noch immer ziemlich verstört. Doch was diesen
einen Punkt anbetraf, war er sehr entschieden.
Der Gargoyle war offenbar darum bemüht, den Greifen
nahezu perfekt nachzubilden, was schon beinahe unheimlich wirkte.
Und doch war nicht zu übersehen, dass sein Körper aus Stein bestand
und nicht aus Fleisch und Blut wie eine sterbliche Kreatur.
»Niemand verlangt, dass du Ar-Don reitest«,
erklärte Gorian. »Und ich glaube auch nicht, dass er das zulassen
würde. Es ist daher völlig ausreichend, wenn du dafür sorgst, dass
die Seilschlangen die Gondel halten, dann werden wir schon
zurechtkommen.«
»Du denkst wirklich, wir sollten uns von dieser …
Kreatur zu den Inseln der Caladran fliegen lassen?«, fragte
Thondaril, der sein Schwert noch immer nicht eingesteckt hatte, so
als erwartete er, dass die Schattenreiter zurückkehrten.
»Haben wir eine Wahl?«, fragte Gorian.
»Er hat den Greifen getötet«, erinnerte ihn der
zweifache Ordensmeister. »Und wenn wir aus irgendeinem Grund seinen
Zielen im Weg stehen, würde er nicht einen Augenblick zögern, auch
uns umzubringen oder in Steinmonster zu verwandeln.«
»Ar-Don kämpft gegen Morygor!«, sandte der
Gargoyle einen Gedanken an alle, den offensichtlich selbst der
magisch völlig unbegabte Zog Yaal mitbekam, denn er fasste sich an
den Kopf und verzog das Gesicht.
»Ah … ein Greif sollte nicht in die Köpfe seiner
Reiter und Passagiere eindringen«, fand er. »Dagegen kann man ja
nicht einmal die Ohren verschließen!«
»Mich zu hören ist ganz gewiss nicht
unangenehmer, als wenn Morygors Stimme zu dir spricht«,
entgegnete der auf einmal ungewohnt mitteilsame Ar-Don, »und
über den hast du dich nicht beklagt.« Erneut ließ er alle an
diesen Gedanken teilhaben.
Thondaril wandte sich an Zog Yaal. »Morygor hat zu
dir gesprochen?«, fragte er streng.
Zog Yaal wirkte ziemlich betreten. Er suchte
zunächst nach den richtigen Worten und brachte schließlich nur ein
wirres Gestotter hervor. »Da … war ein… ein Gewisper und Gemurmel
in meinem Kopf, das ist wahr …«
»Bedrängende Gedanken?«, hakte Thondaril
nach.
»Ja, auch das. Aber schon vor Antritt dieser Reise
warnte mich Centros Bal, dass Morygors Aura sehr mächtig ist, und
seit sich das Frostreich bis über Felsenburg hinaus ausgedehnt hat,
sind wir doch ständig unter seinem Einfluss, oder nicht?«
»Ja, das trifft zu«, bestätigte Thondaril. »Und was
wollte Morygor von dir?«
»Seine Worte waren… unverständlich. Ja,
unverständlich, aber zugleich auch irgendwie
einschmeichelnd.«
Thondaril trat an Zog Yaal heran, legte ihm eine
Hand auf den Kopf und konzentrierte seine Kräfte. Seine Augen
wurden dabei schwarz, und die Hand leuchtete für einen Moment von
innen heraus, sodass die Knochen zu sehen waren.
Als er sie zurückzog, taumelte der Greifenreiter
einen Schritt zurück. »Was … habt Ihr getan, Meister
Thondaril?«
Der gab darauf keine Antwort. Stattdessen sagte er:
»Wenn sich Morygor noch einmal an dich wendet, dann offenbare dies
sofort!«
»Ja«, murmelte der Greifenreiter mit starren, weit
aufgerissenen Augen. Dann fragte er zaghaft: »Glaubt Ihr, ich werde
seinen Einflüsterungen ein weiteres Mal widerstehen können?
Schließlich verfüge ich über keinerlei magisches Talent.«
»Ein solches Talent ist keineswegs eine Garantie,
wie ich inzwischen aus eigener Erfahrung weiß. Niemand ist vor
Morygors Einfluss wirklich gefeit.«
Bevor an einen Aufbruch zu denken war, musste die
Gondel zumindest notdürftig repariert werden. Die Verglasung war
zersplittert, und die noch in den Fensterrahmen steckenden
Glasstücke wurden entfernt, damit sich niemand daran
verletzte.
Zog Yaal und Gorian überprüften unterdessen die
Seilschlangen. Ein paar von ihnen waren beim Überfall der
Schattenreiter erschlagen worden.
»Das war kein Zufall«, glaubte Zog Yaal. »Denen war
klar, dass wir genug Seilschlangen brauchen, wenn wir von hier
fortwollen.«
»Reichen die vorhandenen noch aus, um die Reise
fortzusetzen?«, fragte Gorian.
Zog Yaal nickte. »Ich denke schon. Allerdings bin
ich
gespannt, wie sie darauf reagieren, wenn sie auf einmal an einem
Riesengargoyle hängen.«
»Lassen wir es darauf ankommen«, meinte
Gorian.
Bis zum Morgengrauen brauchten sie für die
Reisevorbereitungen. Die Sonnenflüchter weckten unterdessen die
Steinmahre. Überall gerieten die Felsen in Bewegung und
verwandelten sich in breiartige, formlose Körper, die zu dem
trockenen See hinrutschten. Gierig begannen sie die Wasserpflanzen
zu verzehren. Offenbar waren die Sonnenflüchter bestrebt, auch den
letzten Steinmahr aus seiner Starre zu wecken und auf den
schlammigen Seegrund zu treiben.
»Sie werden lange nicht mehr grasen können, sobald
die Sonne die Wasserpflanzen verdorrt«, sagte Sheera, die etwas
abseits stand. Gorian suchte ihre Nähe, weil sie sich seit dem Tod
des Greifen gedanklich noch mehr zurückgezogen hatte. Die Tatsache,
dass ihre Augen noch immer vollkommen schwarz waren, obwohl der
Kampf mit den Schattenreitern längst vorbei war, bestätigte seinen
Verdacht, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte.
»Der See wird irgendwann wieder Wasser führen«,
sagte er. »Die Sonnenflüchter und Steinmahre werden in ihrer
versteinerten Form so lange ausharren.«
Sheera nickte und sah ihn mit ihren vollkommen
schwarzen, blicklosen Augen an. »Ich habe vergeblich versucht, die
schädlichen Auswirkungen der Caladran-Heilmagie zu bekämpfen«,
erklärte sie. »Aber ich war nicht stark genug. Die Heilmagie des
Namenlosen war wie Gift für den Greifen.«
»Die unsere konnte ihm aber auch nicht
helfen.«
»Ja, das mag sein.«
»Ar-Don wird uns sicherer ans Ziel bringen, als
jeder Greif das vermag.«
»Ich hoffe, du behältst recht.«
»Sheera?«
»Ja?«
»Warum verschließt du deine Gedanken auf einmal
vor mir?«, fragte Gorian stumm.
Sie aber antwortete mit ihrer normalen Stimme:
»Verbindung ist Stärke.«
»Eines der Axiome des Ordens«, erkannte er.
»Und ich bin schwach. Das ist die Erklärung,
Gorian. Nichts weiter.« Stumm fügte sie hinzu: »Es gibt keinen
anderen Grund.«
Die Sonne stieg über die Berge und bot einen
Anblick, der alle bis ins tiefste Mark schaudern ließ. Der
Schattenbringer bedeckte so gut wie die gesamte Sonnenscheibe und
ließ nur einen schmalen Lichtkranz von ihr sehen.
»Die Nacht wird von nun an nicht mehr vom Tag
abgelöst, sondern nur noch von der Dämmerung«, sagte Sheera
erschüttert. »Die Macht Morygors spiegelt sich am Himmel wider. Er
kontrolliert selbst die Gestirne. Was hier in diesem Tal geschehen
ist, war kein Sieg, sondern nur eine Rettung für den Moment.«
Auch Thondaril blickte kurz zu der dunklen Sonne
hoch, deren Feuer nur noch ein rötlicher Flammenkranz war. Dann
konzentrierte er sich wieder darauf, die Meisterringe der
vernichteten Schattenkrieger einzusammeln, soweit er sie finden
konnte. Torbas half ihm dabei, und auch Gorian und Sheera
beteiligten sich daran.
In dem steinigen Boden dieses Hochtals war es
unmöglich, die Ringe zu begraben, und so geschah dies in dem
wasserlosen See, dessen von Wasserpflanzen überwucherter Grund von
einer dicken Schicht aus fruchtbarer Erde bedeckt war. Der
riesenhafte Anführer der Sonnenflüchter
wies einige der käferartigen Krieger an, eine Grube auszuheben,
ohne dass Thondaril oder einer seiner Schüler ihn darum gebeten
hatte. Das bestätigte ihren Verdacht, dass die Sonnenflüchter sehr
viel mehr von den Gedanken anderer mitbekamen, als sie zuzugeben
bereit waren.
Der Namenlose Renegat zeigte bei alledem keinerlei
Anteilnahme. Er hielt sich abseits und schritt auf und ab, von
einer inneren Unruhe getrieben, die für ihn eher ungewöhnlich war.
Dann ging er in die Gondel und wandte sich der Truhe mit den
gestohlenen Caladran-Schriften zu. Seine Hände begannen zu
leuchten, als er das Metall berührte, und er schloss die
Augen.
Als Gorian, Sheera und Torbas in die Gondel
zurückkehrten, verharrte der Namenlose noch immer so. Ob er der
Truhe Kraft entnahm oder Kraft an sie abgab, war nicht
feststellbar. Nicht einmal Thondaril wusste das Verhalten des
Namenlosen zu deuten.
Der Caladran löste sich aus seiner Erstarrung.
Seine Augen wirkten für einen Moment wie glühende Kohlen, ehe sie
wieder ihre normale Färbung annahmen, die an Bernstein
erinnerte.
Er blickte auf und sagte sichtlich erleichtert: »Es
wurde nichts geraubt. Die Schriften sind in einem guten Zustand,
und der Schutzzauber, mit dem ich sie versehen habe, wirkt.«
»Ihr habt befürchtet, die Schattenkrieger hätten es
bei ihrem Angriff auch auf die Schriften abgesehen gehabt?«, fragte
Thondaril.
Der Namenlose hob die Schultern in einer
unbestimmten Geste. »Morygor versucht uns zu schaden, wo immer er
kann. Es wäre nicht abwegig, würde er versuchen, die Schriften zu
zerstören, auch wenn sein Hauptziel zweifellos ein anderes
ist.«
Mein Tod!, ging es Gorian durch den Kopf,
aber er sprach es nicht aus.
»Sehr richtig«, bestätigte ein Gedanke des
Namenlosen. »Aber du solltest deine Bedeutung nicht
überschätzen. Es gibt noch ein paar andere Dinge, die das Schicksal
Erdenrunds in die richtige Bahn lenken könnten.«
Sie hielten eine kurze Begräbniszeremonie nach Art
des Ordens ab und vergruben die Meisterringe der Schattenkrieger.
Sie waren gerade damit fertig, als der Maskierte
zurückkehrte.
Er übergab Meister Thondaril etwa zwei Dutzend
weitere Meisterringe. »Für manche Seele ist das Ende eine
Erlösung«, äußerte er mit seiner Gedankenstimme.
»Die Seelen dieser Schwertmeister werden Euch
danken, was Ihr für sie getan habt«, erwiderte Thondaril, »denn
nichts ist schlimmer, als Gefangener einer fremden Magie zu
sein.«
»Behaltet sie und begrabt sie nicht wie die
anderen«, schlug der Namenlose Renegat vor. »In solchen Artefakten
ist immer eine besondere Kraft, die sich vielleicht eines Tages
nutzen lässt.«
»Nein«, widersprach Thondaril. »Die Seelen dieser
Unglücklichen, die unter Morygors Einfluss gerieten, sind schon
viel zu lange nichts als Werkzeuge gewesen. Ich werde diesen
Zustand nicht noch länger anhalten lassen.«
So ging Meister Thondaril noch einmal hinab in den
ausgetrockneten See und vergrub auch diese Ringe im schlammigen
Boden.
Zog Yaal legte unterdessen die Seilschlangen an der
Gondel an. Gorian half ihm dabei und hörte aufmerksam zu, wie der
Greifenreiter den Schlangen Befehle erteilte. Es war ein
Unterschied, ob man nur eines oder zwei dieser Wesen kontrollieren
musste oder wie in diesem Fall ein ganzes Dutzend.
»Jetzt kannst du deinen Gargoyle-Freund
herbefehlen, und dann lass uns beten, dass die Seilschlangen ihn
auch akzeptieren.«
»Könnte das ein Problem sein?«
»Seilschlangen sind sehr sensibel und schlingen
sich nicht um jeden beliebigen Greifen. Eines der vorrangigen Ziele
bei der Seilschlangenzucht ist es deshalb, dass die Schlangen
möglichst viele Greifen annehmen. Was aber dieses Steinmonstrum
angeht, werden wir sehen müssen.«
»Notfalls helfen wir mit Magie nach«, schlug Gorian
vor.
»Wenn man den Willen einer Kreatur bricht, wird sie
dadurch noch nicht zu einem treuen Diener, Gorian. Im Gegenteil,
sie wird nur auf die Gelegenheit warten, es dir
heimzuzahlen.«
»Du redest ja schon wie ein alter Ordensmeister,
obwohl du vermutlich nie die Axiome gelesen hast«, mischte sich
Torbas ein, der in der Nähe stand.
Zog Yaal drehte sich zu ihm um. »Ich gebe nur das
wieder, was ich von erfahrenen Greifenreitern und
Seilschlangenzüchtern gelernt habe.«
Schließlich begaben sich alle an Bord der Gondel.
Zog Yaal und Gorian stellten sich auf den kleinen Balkon vor der
Tür, und Gorian forderte Ar-Don mittels Gedankenbefehl dazu auf,
sich der Gondel so weit zu nähern, dass die Seilschlangen ihn
erreichen konnten.
»Endlich!«, lautete die Gedankenantwort des
Gargoyle, der sich sofort mit kräftigen Schlägen seiner Flügel
emporschwang. Dazu stieß er einen krächzenden Laut aus, der den
Rufen eines Greifen so täuschend ähnlich klang, dass selbst Zog
Yaal beeindruckt war.
»Beim Verborgenen Gott, hätte ich die Augen
geschlossen, ich hätte keinen Unterschied bemerkt.«
Ar-Don flog einen Bogen über das Tal, kehrte zurück
und verminderte die Geschwindigkeit, bis er schließlich über der
Gondel zum Stillstand kam. Mit den Flügeln flatternd schwebte er
auf der Stelle.
Die Seilschlangen reckten sich zögerlich empor. Zog
Yaal rief ein paar laute Befehle, die aus Zisch- und Knacklauten
bestanden. Danach half Gorian dem Greifenreiter hinauf aufs
Gondeldach, damit er die Seilschlangen besser beeinflussen konnte.
Besonders zwei von ihnen bedurften einer energischen Ermahnung,
doch schließlich schlangen auch sie sich über den Rücken des
riesenhaften Mischwesens aus Gargoyle und Greif.
Ar-Don wartete nicht, bis alle Seilschlangen
richtig positioniert waren, sondern flog empor. Mit einem Ruck
löste sich die Gondel vom Boden. Einige der Seilschlangen stießen
seltsam quiekende Laute aus. Offenbar befürchteten sie, die Last
nicht allein tragen zu können. Da aber schlangen sich auch die
letzten vier Seilschlangen um den Rücken des Flugungeheuers.
Ein Fauchen drang aus dessen Schnabel, dann folgte
ein Greifenkrächzen. Die Gondel schwebte höher und höher, und die
Seilschlangen beruhigten sich.
Zog Yaal kletterte ohne die Hilfe einer
Seilschlange vom Dach und zurück auf den Balkon. Er wollte wohl
keine der Tiere im Hinblick auf ihre eigentliche Aufgabe
verunsichern. Dann begab er sich in die Gondel.
Die zahlreichen Sonnenflüchter blickten der Gondel
nach.
»Wir haben bereits neue Verbündete gewonnen«,
meinte Torbas. »Obwohl ich bezweifle, dass die Sonnenflüchter dem
nächsten Angriff des Frostreichs noch standhalten werden.«