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Die Meister von Havalan
»Wir werden auf jeden Fall frische Vorräte kaufen müssen – und vor allem ein paar zusätzliche Seilschlangen«, erklärte Zog Yaal, während Ar-Don die Gondel über die westreichischen Berge trug. Ein kalter Wind wehte durch die nun unverglasten Fenster, und alle hatten sich in Decken gehüllt auf den Boden gesetzt. Mit Grausen dachte Gorian daran, wie wohl ein Überflug über das Meer von Ost-Erdenrund unter diesen Umständen werden würde.
»Wir sollten auch überlegen, ob wir nicht in einer Glaserwerkstatt vorbeischauen«, meinte Torbas. »Ich meine, hier in Westreich sind wir doch sozusagen im Mutterland der Glasbrennerei, und wenn ich mir vorstelle, dass wir ohne Fensterglas…«
»An den kalten Wind aus Morygors Reich werden wir uns alle gewöhnen müssen«, unterbrach ihn Thondaril. »Aber die Mittel an Silber, die ich auf diese Reise mitgenommen habe, werden sicherlich auch noch für ein paar neue Fenster reichen.«
»Nur dürfen wir keine Zeit verlieren«, warnte der Namenlose Renegat. »Unsere Verfolger haben noch nicht aufgegeben.«
»Möglich, dass sie sogar schon auf uns warten«, murmelte Thondaril.
»In Embador und Havalan landen viele Greifenreiter. Da gibt’s auf den Märkten auch ein gutes Angebot an Seilschlangen«, erklärte Zog Yaal. »Und dort finden wir Handwerker, die die Gondelfenster neu verglasen. Bei den vielen Greifengondeln, die zwischen Westreich und Gryphland unterwegs sind, geht ab und zu mal eine Scheibe zu Bruch, und die Gondelfenster entsprechen einem Einheitsmaß. Wenn ein Greifenreiter in Embador am Morgen landet, um Waren auf dem Markt anzubieten, und eines seiner Fenster ist beschädigt, hat er am frühen Abend ein neues und kann noch in der Nacht den Rückweg antreten.«
»Klingt gut«, meinte Torbas.
»Embador oder Havalan – dazwischen werden wir uns dann wohl entscheiden müssen«, sagte Gorian.
»Der Weg über Embador ist etwas kürzer«, mischte sich der Namenlose ein. »Zu der Zeit, als ich zum Renegaten wurde, befand sich dort ein caladranischer Außenposten, der später aufgegeben wurde.«
»Morygor wird aber damit rechnen, dass wir Embador anfliegen«, gab Gorian zu bedenken. »Ich vermute, dass seine Schergen dort bereits auf uns warten, deshalb plädiere ich dafür, diesen Ort zu meiden.« Er wandte sich an Thondaril. »Havalan ist doch die Hauptstadt Westreichs.«
»Der König residiert dort«, bestätigte Thondaril.
»Dann gibt es dort sicherlich auch eine Gesandtschaft des Ordens, die uns Unterstützung und Schutz gewähren könnte.«
»Ja, der Gesandte dort ist Meister Parrach, einer der besten Schattenpfadgänger des Ordens. Angeblich befand er sich ein ganzes Jahr in der Zwischenwelt der Schattenpfade, ohne dass sein Körper danach irgendwelche Zeichen vorzeitigen Alterns zeigte, was für ein außergewöhnlich großes Talent im Umgang mit der Alten Kraft spricht.«
»Dann verstehe ich nicht, worüber wir hier noch reden. Wir sollten uns nach Havalan wenden. Am besten nehmt Ihr per Handlichtlesen schon einmal Verbindung mit Meister Parrach auf.«
»Genau das werde ich nicht tun«, widersprach Thondaril. »Und dass es dort eine Gesandtschaft gibt, ist auch eher ein Grund, nicht nach Havalan zu fliegen.«
»Wie sollen wir das verstehen?«, frage Sheera. »Ist Meister Parrach etwa ein Verräter?«
»Nun, er wäre nicht der Erste, der sich Morygors Einflüsterungen ergibt. Und nach dem, was wir schon an Verrat innerhalb des Ordens erleben mussten, möchte ich kein Risiko eingehen.«
»Steht Ihr mit jemandem in der Gesandtschaft von Havalan in Handlichtverbindung?«, fragte Gorian. »Hat Euch jemand vor Meister Parrach gewarnt?«
»Ich hatte Verbindung zu Meister Shabran. Er ist der zweitjüngste Ordensschüler, dem je die Meisterwürde angetragen wurde«, erklärte Meister Thondaril und fügte mit einem Gedanken, der nur für Gorian bestimmt war, hinzu: »Du weißt, welcher Narr der jüngste war!« Laut fuhr er fort: »Doch der Kontakt zu Meister Shabran brach ab, und ich muss das Schlimmste befürchten.«
»Also geht es doch nach Embador«, stellte Torbas fest. »Ich hoffe nur, dass das kein Fehler ist.«
Thondaril sah Gorian für einen Moment sehr ernst an. »Ich denke, es ist deine Aufgabe, den Gargoyle in die richtige Richtung zu lenken.«
Gorian nickte. »Ja, Meister.«
Er nahm gedankliche Verbindung zu Ar-Don auf und empfing sogleich einen Schwall von Eindrücken, die zunächst sehr verwirrend auf ihn wirkten. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich das scheinbare Chaos klärte, und Gorian erkannte, dass es sich um Erinnerungen an Flüge nach Embador handelte. Centros Bals Greif war die Strecke offenbar oft genug geflogen, um sich jede markante Einzelheit dieses Fluges einzuprägen.
»Nicht schwierig, den Weg zu finden«, versicherte der Greifengargoyle. »Kenne ihn gut. Oft genug geflogen mit schwerer Gondel.«
»Bist du immer noch Ar-Don?«, fragte Gorian mit einem besorgten Gedanken.
»Wer sonst?«, lautete die Antwort. Aber Gorian kannte den Gargoyle inzwischen gut genug, um zu erkennen, dass da noch etwas anderes war. Um ihn zu beruhigen, fügte der Gargoyle hinzu: »Werde die zusätzliche Körpersubstanz rechtzeitig abstoßen, bevor sie mich verändert. Greifenseele ist schwach, daher besteht keine Gefahr.«
»Wenn du meinst.«
»Der Greif ist schwach«, wiederholte Ar-Don. »Meister Domrich ist stark. Und der Hass auf Morygor unermesslich.«
 
Ein böiger, eisiger Wind blies. Die dunkle, vom Schattenbringer verdeckte Sonne stand im Zenit, und trotzdem wollte es nicht richtig Tag werden. Es erinnerte an eine Sonnenfinsternis, wie sie immer wieder mal an genau vorauszuberechnenden Tagen vorkam. Aber die dauerte nie lange. Dieser Schatten jedoch, der das Sonnenlicht schluckte, blieb. Morygor hatte offenbar die Kraft, den fernen Himmelskörper, den man den Schattenbringer nannte, genau dort zu halten, wo er ihn haben wollte.
Trotz der Kälte und des unangenehmen beißenden Windes stand Meister Thondaril immer wieder an einem der offenen Fenster und blickte hinaus, um diesen beängstigenden Anblick in sich aufzunehmen.
»Der Schattenbringer scheint nicht groß genug zu sein, um die Sonne vollständig zu verdecken«, meinte Sheera, die sich irgendwann zu ihm gesellte. »Es gelangen immer noch wärmende Strahlen bis nach Erdenrund. Offenbar geht Morygors Plan nicht ganz so auf, wie er es sich vorgestellt hat.«
Thondaril wandte den Blick. »Es wäre schön, wenn es so wäre«, sagte er. »Aber reck deinen Daumen, sieh aus dem Fenster, und versuche mit der Daumenkuppe einen weit entfernten Berg, ein Haus, einen gewaltigen Baum oder was auch immer so zu verdecken, dass du das betreffende Objekt nicht mehr siehst. Du kannst mit der Kuppe deines Daumens die größten Gegenstände verdecken, wenn du den Daumen in den richtigen Abstand bringst. Und genau so verhält es sich mit dem Schattenbringer. Morygor wird die Position des Himmelskörpers nach und nach so verändern, dass auch der Lichtkranz, den wir noch sehen, immer kleiner wird, bis er ganz verschwunden ist. Kein Sonnenstrahl wird noch das Erdenrund erreichen, und der Frost wird sich weiter ausbreiten und am Ende sogar das laramontische Meer bis über Margorea hinaus in eine Eiswüste verwandeln.«
»Ich beglückwünsche Euch zu Eurer profunden Erkenntnis«, sagte der Namenlose Renegat höhnisch. »In den Zeiten, da ich König Song Mol half, die Feuerdämonen zu besiegen, war Eurem einfältigen Menschenvolk noch nicht einmal bewusst, dass es dort am Himmel überhaupt irgendwelche beweglichen Körper gibt, und man hielt das Erdenrund für eine Scheibe. Ich gebe zu, dass ich in der Abgeschiedenheit von Felsenburg die Fortschritte menschlichen Wissens nur am Rande mitbekommen habe, aber sie sind durchaus beachtenswert – gemessen an der Begrenztheit, die die Kürze Eurer Lebensspanne mit sich bringt.«
»Ein solches Lob von einem derart berufenen Caladran«, gab Meister Thondaril ebenso spöttisch zurück. »Das hätten Generationen von Hochmeistern des Ordens nicht für möglich gehalten.«
Bevor der Namenlose darauf etwas erwidern konnte, mischte sich Gorian ein, indem er ihn fragte: »Welche Möglichkeiten gibt es, das, was wir am Himmel sehen, wieder rückgängig zu machen?«
»Die wichtigste Voraussetzung dafür bringst du bereits mit, Gorian: Du zweifelst nicht daran, dass es prinzipiell möglich ist. Die Gestirne lassen sich beeinflussen. Diese Ansicht habe ich immer vertreten und wurde dafür angefeindet.«
»Und dann hat ausgerechnet Morygor diese These unter Beweis gestellt«, stellte Meister Thondaril fest. »Was für ein Glück für Euch.«
»Ja, das hat er«, bestätigte der Namenlose.
»Ist es das, was Euch so stark mit ihm verbindet? Dass er Eure Ansichten bestätigt und in die Tat umgesetzt hat?«, fragte Gorian.
Ruckartig hob der Namenlose den Kopf und starrte ihn an.
»Davon verstehst du nichts!«, behauptete er.
 
Am Abend tauchte Embador am Horizont auf. Die Stadt lag an der wilden Steilküste des Meeres von Ost-Erdenrund. Auffällig war der gewaltige Hafen, der von einer mehrere Meilen weit halbkreisförmig ins Meer hineinragenden Mauer umgeben wurde. Hunderte von Galeeren waren an den Kaimauern vertäut.
Die Stadt selbst glich einem Netz aus Mauern, die die einzelnen Viertel voneinander trennten. Es sah so aus, als hätte man immer wieder neu entstandene Stadtviertel mit einer Mauer umgeben, um auch sie vor äußeren Angriffen zu schützen. Irgendwann hatte man diese Vorgehensweise wohl aufgegeben, denn die Stadt wuchs ins Umland hinein, ohne von einer äußeren Mauer begrenzt zu werden.
Ar-Don schien genau zu wissen, wohin er fliegen musste. Es gab einen Landeplatz für Greifenreiter, der sich praktischerweise gleich in der Nähe des Hauptmarktes befand. Dort standen bereits ein Dutzend Gondeln. Nach Zog Yaals Auskünften wurden sie sogar gegen Zahlung einer Gebühr bewacht.
»Die Dienste der Wächter sollten auch wir unbedingt in Anspruch nehmen«, riet Zog Yaal. »Ansonsten kann es leicht passieren, dass sie sich auf andere Weise das Schutzgeld holen, von dem sie glauben, dass es ihnen zusteht.«
Ar-Don ging über dem Landeplatz für die Greifengondeln nieder und setzte die Gondel etwas unbeholfen ab. Von Centros Bals Greifen war man sanftere Landungen gewohnt, aber immerhin ging die Gondel nicht zu Bruch und nahm auch sonst keinen weiteren Schaden.
Die Seilschlangen lösten sich, und Ar-Don landete kurz darauf unmittelbar neben der Gondel.
»Ich hoffe, du weißt dich hier zu benehmen!«, sandte ihm Gorian einen ermahnenden Gedanken, den er mit der Alten Kraft unterlegte, damit der Greifengargoyle auch begriff, wie ernst es ihm war.
»Keine Sorge. Greifen sind dumm und einfältig, habe aber viele Erinnerungen, aus denen Ar-Don schöpfen kann …«
Dass Ar-Don von sich selbst in der dritten Person dachte, war nichts Neues, trotzdem beunruhigte es Gorian.
»Meine Persönlichkeit ist noch nicht im Begriff, zu einer dummen Greifenseele zu werden«, beschwichtigte ihn der Gargoyle erneut. »Habe alle in der Gewalt – Ar-Don, Greif und Meister Domrich …«
Es wurde vereinbart, dass der Namenlose Renegat und der Maskierte bei der Gondel blieben, obwohl man die Dienste der Gondelwächter in Anspruch nehmen wollte. Dem Namenlosen war der Aufenthalt in einer lärmenden Stadt wie Embador zuwider, und zudem wollte er auch nicht die metallene Truhe mit den gestohlenen Schriften unbeaufsichtigt lassen.
Thondaril verließ mit Gorian, Sheera, Torbas und Zog Yaal die Gondel.
Ein Glaserwagen, der von einem Oger gezogen wurde, hatte sich offenbar bereits vom Rand des Gondelplatzes aus in Bewegung gesetzt, als Ar-Don gerade gelandet war.
Zwei Männer mit dem Amulett der Glasmeister-Gilde von Embador begleiteten den Wagen, auf dem mehrere Dutzend Scheiben in den immer gleichen Standardgrößen der Greifenreiter-Gondeln in einem speziellen Gestell befestigt waren. Gut zwanzig Spinnentiere, deren Körper in etwa eine Handspanne maßen, krabbelten zwischen den Scheiben umher.
»Ah, an Eurer Gondel ist ja eine ganze Menge zu tun!«, sprach einer der Glasmeister Thondaril an. »Fünf Silberstücke, und Ihr habt noch vor dem Morgengrauen wieder eine vollständig verglaste Gondel.«
»Wir geben Euch zehn, wenn Ihr vor Mitternacht fertig seid«, erwiderte Meister Thondaril. »Die Hälfte gleich, den Rest holt Ihr Euch bei dem maskierten Mann in der Gondel ab, sobald die Arbeit getan ist.«
»Einverstanden.« Der Glasmeister war begeistert und wandte sich an seinen Partner. »Mach den Haltespinnen schon mal Beine, während wir hier den Handel perfekt machen.«
Noch während Meister Thondaril die ersten fünf Silberstücke abzählte, passten die Haltespinnen bereits die erste Scheibe in eine der Fensteröffnungen ein.
Zog Yaal machte die anderen auf ein paar kräftige und gut bewaffnete Oger aufmerksam, die über den Gondelplatz patrouillierten. »Das sind die Gondelwächter, deren Dienste wir in Anspruch nehmen sollten.«
»Die scheinen mir besser trainiert als jeder Ringer, den ich in Segantia gesehen habe«, meinte Gorian.
»Das sind sie auch«, versicherte Zog Yaal.
»Müssen wir denen das Schutzgeld zahlen?«
»Nein, sie werden nur auf die Gondel aufpassen.« Der Greifenreiter streckte den Arm aus und deutete zu einem zweistöckigen Haus am Rand des Gondelplatzes. »Über den Preis müssen wir dort verhandeln.«
»Verhandeln?«, fragte Meister Thondaril. »Gibt es dafür keine festgelegten Preise?«
Zog Yaal schüttelte den Kopf. »Festgelegte Preise sind gegen jede Händlerehre. Zumindest sieht man das hier in Embador so. Und Fischlinger lieben es zu feilschen.«
»Fischlinger?«, fragte Gorian.
»Das Schutzgeldgeschäft in Embador ist größtenteils in ihrer Hand, so wie auch der Handel mit Meeresfrüchten und zwei Dutzend anderen Gütern. Wenn man ihnen nicht zu viel bezahlt, respektieren sie einen.«
»Wir sollten uns beeilen, sonst bricht die Nacht herein, und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Märkte dann noch offen sind«, meinte Torbas.
»In Embador sind die Märkte Tag und Nacht geöffnet«, widersprach ihm Zog Yaal. »Ist, soweit mir bekannt, in allen westreichischen Städten so. Man sagt hier, dies sei der Hauptgrund für die Erfindung der Glasbrennerkunst gewesen, denn wie sollte man eine Stadt wie Embador ohne gläserne Laternen gut genug beleuchten, dass man auf den Märkten auch bei Nacht die Qualität einer Ware mit dem Auge prüfen und mit den richtigen Münzen bezahlen kann?«
»Eine plausible Erklärung«, meinte Torbas.
Vor dem Eingang des Hauses stand ein großer Oger mit einer Hellebarde in der linken Hand. Er winkte die Neuankömmlinge herein. An der Hellebarde klebte Blut, so als wäre damit erst vor kurzem jemand erschlagen worden.
»Das Blut an der Hellebardenklinge stammt von einem Schwein oder einem Huhn«, raunte Zog Yaal seinen Begleitern zu, als sie die Tür passiert hatten. »Das machen sie hier, um den Gondelfahrern zu zeigen, dass sie auch wirklich was tun für das entrichtete Schutzgeld.«
»Lug und Trug, wohin man sieht«, murmelte Meister Thondaril finster. »Verkommenheit und pures Streben nach Gewinn.«
»Mit Verlaub, Meister Thondaril – aber so ist die Welt«, meinte Zog Yaal.
»Das ist mir nicht unbekannt«, erwiderte Thondaril. »Was mich nur wundert, ist, dass sich das offenbar auch dann nicht ändert, obwohl das Ende all dessen, was unser bisheriges Leben ausmacht, unmittelbar bevorsteht. Ein Blick zum Himmel müsste doch ausreichen, um jedem klarzumachen, wie es um Erdenrund bestellt ist. Selbst wenn unser Plan gelingen sollte und wir Morygor besiegen, wird danach nichts mehr so sein wie bisher.«
Sie gelangten in einen großen Raum, in dessen Mitte sich ein gläserner, nach oben hin offener zylinderförmiger Behälter befand. Darin befand sich offenbar Meerwasser. Darauf deutete jedenfalls der salzige Geruch hin, der den Raum erfüllte.
In diesem mindestens vier Schritt durchmessenden Behälter schwamm ein fischähnliches Wesen. Neben den Seitenflossen wuchs ihm ein Paar sehr kräftiger Arme aus dem Körper. Die Hände hatten fünf breite Finger und einen Daumen mit einem dolchartigen Krallennagel, und zwischen den Fingern spannten sich Schwimmhäute. Das Gesicht hingegen wirkte beinahe menschlich.
Ein Oger-Wächter und ein großköpfiger Zahlenmagier standen links und rechts des gläsernen Wasserbottichs. Die deutlich hervortretenden Adern an dem übergroßen Hinterkopf des Zahlenmagiers begannen schneller zu pulsieren, als er von seinem kleinen Stehpult aufblickte, das er wohl zur Listenführung brauchte. Er betrachtete die Ankömmlinge und schien ein gutes Geschäft zu wittern. Um das zu erkennen, brauchte man kein magisches Talent, ein Blick in seine gierig funkelnden Augen genügte.
»Seid gegrüßt und willkommen!«, sagte der Zahlenmagier dreimal hintereinander in drei verschiedenen Sprachen – Gryphländisch, Westreichisch und Heiligreichisch.
Gorian hatte seinen Sprechstein bereits mit Magie zum Schweigen gebracht, was die anderen nun nachholten.
»Wie lange werdet Ihr in Embador bleiben?«, fragte der Zahlenmagier auf Westreichisch, das dem Heiligreichischen so eng verwandt war, dass es keine großen Verständigungsschwierigkeiten zwischen Angehörigen beider Sprachgruppen gab.
»Ich hoffe, dass wir gegen Mitternacht wieder fort sind«, kündigte Thondaril an.
Der Fischlinger ruderte aufgeregt in seinem gläsernen Wasserbehälter. Der war in ein Gestänge aus dunklem Hartholz eingefasst, sodass Oger ihn wie eine Sänfte tragen konnten.
Die Gesten des Fischlinger waren offenbar eine Art Zeichensprache, die der Zahlenmagier zu deuten wusste. »Mein Herr Greshshsht sagt, dass Ihr den Gondelplatz, den Ihr belegt, dennoch für die ganze Nacht bezahlen müsst. Damit kommt er Euch sehr entgegen, denn normalerweise wird er für ein ganzes Jahr vermietet.«
Thondaril erinnerte sich an Zog Yaals Worte, denen zufolge man den Schutzgeldvermittlern nicht zu viel Geld in den Rachen werfen durfte, wollte man sich ihren Respekt verdienen. »Das Fischgesicht bekommt eine gryphländische Kupfermünze, mehr nicht. Übersetzt ihm das!«
»Das brauche ich nicht«, erklärte der Zahlenmagier. »Die Tatsache, dass Fischlinger fast stumm sind, weil sie nur wenige Laute bilden können, heißt nicht, dass sie auch taub wären. Die Flüssigkeit überträgt den Schall Eurer freundlichen Worte nur noch eindringlicher, und ich versichere Euch, dass er jedes davon versteht. Herr Greshshsht beherrscht nämlich mindestens fünf Menschensprachen. Das sind zumindest die, von denen ich weiß, und Heiligreichisch gehört dazu.«
Der Fischlinger geriet mehr und mehr in Unruhe. Er wand sich mehrfach in seinem gläsernen Wasserbehälter und schien sich gar nicht mehr beruhigen zu wollen.
»Vielleicht ist diese Verhandlungsstrategie doch nicht ganz die richtige«, raunte Torbas dem Greifenreiter zu, und tatsächlich machte Zog Yaal eine Miene, als würde nicht alles so laufen wie von ihm gewünscht.
Doch auf einmal wurde Greshshsht vollkommen ruhig. Er drückte sein abgesehen von der fehlenden Nase sehr menschlich wirkendes Gesicht gegen das Glas und machte große Augen, so als wollte er sich die neuen Kunden ganz genau ansehen. Gorian spürte einen Schwall sehr wirrer Gedanken, zu fremdartig, um sie mithilfe der Alten Kraft zu lesen.
Der Fischlinger machte ein paar Gesten, aus denen der Zahlenmagier offenbar zunächst nicht schlau wurde. Er musste noch einmal nachfragen, was er sowohl in der Zeichensprache als auch auf Westreichisch tat.
Der Fischlinger wiederholte seine Gesten, und Gorian hatte den Eindruck, dass er seine Bewegungen diesmal noch schneller ausführte.
»Er sagt, dass er eine besondere Kraft spüre«, erklärte der Zahlenmagier und wog den übergroßen, völlig haarlosen Kopf. Das Geflecht der dunkelblauen Adern trat noch deutlicher hervor.
»Ich habe nicht gewusst, dass dein Volk die Alte Kraft kennt«, sagte Thondaril an Greshshsht gewandt. Von den Fischlingern wusste man im Heiligen Reich ohnehin nur wenig. Ihre Heimat waren die Weiten des Meeres von Ost-Erdenrund, und Westreich war das einzige Land, in dem sie mit den Menschen in nennenswerter Häufigkeit Kontakt hatten.
Gorian wusste davon nur vom Hörensagen. In der Bucht von Thisilien, wo er aufgewachsen war, hatte es nie Fischlinger gegeben, und so war er auch zuvor noch nie einem von ihnen begegnet.
Greshshsht fuchtelte erneut mit den Armen herum, und der Zahlenmagier übersetzte die Zeichen in Worte. »Die Alte Kraft ist allgegenwärtig, und jedes Wesen kann sie mit mehr oder weniger Geschick einsetzen. Die Fischlinger benutzen sie für die Jagd auf die Neunarmkraken in der Tiefsee, die von den Menschen überall im Westreich als Delikatesse geschätzt werden und …«
»Wir haben nicht viel Zeit«, unterbrach ihn Meister Thondaril. »Lasst uns weiter über das Schutzgeld für unsere Gondel verhandeln.«
»Wir verhandeln vielleicht über Euer Leben«, ließ der Fischlinger durch den Zahlenmagier übersetzen. »Der Preis einer Kupfermünze ist akzeptiert, Eure Gondel steht bis zum Morgengrauen unter unserer Bewachung.«
»Wir danken«, sagte Meister Thondaril.
Der Fischlinger ruderte mit seinen Armen ein wenig zurück und verharrte schließlich fast senkrecht im Wasser, so als würde er dort stehen, den Kopf dabei nach vorn gereckt. Er streckte seine linke Schwimmhaut-Hand aus und deutete mit dem Zeigefinger geradewegs auf Gorian.
»Du!«, stieß er dazu mit dumpfer, sehr tiefer Stimme hervor. »Du!« Er bewegte dabei den Mund mit vorgestülpten Lippen, was ihn sehr viel fischartiger als zuvor wirken ließ. Mehrere hintereinander gestaffelte Zahnreihen wurden dabei sichtbar. Dann begann er erneut hektisch zu gestikulieren.
»Alle sollen den Raum verlassen«, übersetzte der Zahlenmagier und richtete den Blick auf Gorian. »Alle außer dir.«
»Was will Greshshsht von meinem Schüler?«, mischte sich Meister Thondaril ein.
»Greshshsht ist hier der Herr«, erklärte der Zahlenmagier sehr ernst. »Ich würde niemandem empfehlen, sich mit den Ogern anzulegen, die in seinen Diensten stehen.«
»Macht Euch keine Sorgen, Meister«, sagte Gorian. »Ich fühle mich nicht in Gefahr.«
Alle außer Gorian verließen den Raum, auch die Oger-Wachen. Greshshsht wartete ab, bis die Tür hinter ihnen geschlossen war. Dann bedeutete er Gorian näher zu kommen.
»Du!«, drang es noch einmal dumpf aus dem gläsernen Behälter. Greshshsht presste die Stirn an das Glas und bedeutete Gorian mit Gesten, es ihm gleichzutun.
Also legte auch Gorian die Stirn gegen das Gefäß. Dabei spürte er einen ganz schwachen Gedankenstrom. Er war zu wirr und zu fremdartig, um ihm irgendeine Bedeutung entnehmen zu können. Nur eines spürte Gorian sehr deutlich: den unbedingten Wunsch, ihm etwas mitzuteilen, und zwar ausschließlich ihm; niemand sonst sollte davon erfahren.
Und da war auch etwas wie Furcht oder ein eisiger Schauder.
Der Fischlinger presste auch noch die Handflächen gegen das Glas, und Gorian machte es ihm instinktiv nach. Es zischte, als plötzlich bläuliche Blitze durch die Scheibe zwischen den Handflächen hin und her zuckten.
Gorians Augen wurden vollkommen schwarz, und dasselbe geschah auch mit denen Greshshshts. Die Blitze verebbten, und die Gedanken des Fischlingers gewannen plötzlich überraschend an Klarheit und Deutlichkeit.
»Du bist derjenige, der Waffen aus Sternenmetall trägt – einen Dolch und ein Schwert«, flüsterte die Gedankenstimme so verhalten, dass Gorian die Alte Kraft konzentrieren musste, um sie zu verstehen. Auch die Fischlinger benutzten diese Art der Magie, aber auf eine völlig andere Weise, was wohl zur Folge hatte, dass die Verständigung per Gedankenübertragung sehr anstrengend war.
Trotzdem zog es Greshshsht vor, sich auf diesem Weg an Gorian zu wenden, anstatt die Übersetzerdienste des Zahlenmagiers in Anspruch zu nehmen. Offensichtlich wollte er sich mit dem Ordensschüler austauschen, ohne dass ein Zeuge anwesend war. Und da gab es kaum eine andere Möglichkeit der Verständigung als diese, denn der Sprechstein aus dem Basilisken-Reich, den Gorian noch immer bei sich trug, übersetzte nur gesprochene Worte, nicht aber eine Zeichensprache aus Gebärden.
»Woher weißt du von meinen Waffen?«, fragte Gorian mit einem sehr eindringlichen Gedanken. Vielleicht war er etwas zu eindringlich, denn dort, wo sich die Hände von beiden Seiten gegen das Glas drückten, knisterten wieder Blitze, und im nächsten Augenblick geschah dies auch dort, wo Gorians Stirn und die des Fischlinger die Scheibe berührten. Greshshsht stieß einen Laut aus, den Gorian als Äußerung des Schmerzes oder zumindest starken Unbehagens deutete.
Ohne Weiteres war nicht zu erkennen, aus welchem Material Sternenklinge und Rächer bestanden, schon deshalb, weil Gorian seine Waffen nicht offen trug. Und selbst dann hätte nur jemand, der etwas davon verstand, den Unterschied zu gewöhnlichem Metall festgestellt. Oder jemand mit starkem magischem Talent, der die dem Sternenmetall innewohnenden Kräfte zu spüren vermochte. Gorian aber konnte sich nicht vorstellen, dass dies bei dem Fischlinger der Fall war, dem es ja schon große Mühe bereitete, ein paar einfache Gedanken zu übertragen.
»Es war jemand hier, der sich nach dir erkundigt hat«, folgte ein weiterer Gedanke des Fischlinger, und zugleich wurde ein Bild an Gorian übertragen, das sich vor dessen innerem Auge manifestierte: zwei wirbelnde Rauchsäulen, die zu menschlichen Körpern verstofflichten.
»Schattenpfadgänger!«, erkannte Gorian.
»Sie ahnten, dass du und deine Gefährten hier auftauchen würden, und sie wollen deinen Tod, Gorian von Twixlum. So ist doch dein Name, oder?«
Gorian sah vor seinem geistigen Auge einen jungen Mann, kaum älter als er selbst, und einen Grauhaarigen, der schon seine sechzig Winter hinter sich zu haben schien, vielleicht auch mehr. Bei Schattenpfadgängern war das nie so genau zu sagen, denn ihre Kräfte zehrende magische Kunst ließ manche vorzeitig altern, sodass sie in Wahrheit viel jünger waren, als sie aussahen. Andere hingegen schafften es nicht nur, ein vorzeitiges Altern zu verhindern, sie erzielten sogar mithilfe der Alten Kraft einen gegenteiligen Effekt.
»Sie gehören demselben Orden an wie du, Gorian, und sie haben genug dienstbare Geister in Embador. Du musst Acht geben, tausend Augen und Ohren in der Stadt werden dir nachspüren. Jeder fürchtet den Zorn dieser beiden, denn sie tauchen aus dem Nichts auf, als schwarzer Rauch, und morden leise und geschickt. Eigentlich soll ich ihnen eine Botschaft schicken, sobald ich dich sehe.«
»Stattdessen warnst du mich vor ihnen«, stellte Gorian fest. »Warum?«
»Weil diese wandelnden Schatten jener Macht dienen, die alles kälter werden lässt und die uns alle vernichten wird, wenn ihr niemand Einhalt gebietet.«
»Morygor!«
»Ja, diesen Namen habe ich immer wieder vernommen. Meine ersten Geschäfte tätigte ich mit dem Handel von Neunarmkraken. Aber es gibt kaum noch welche vor der westreichischen Küste, die zunehmende Kälte treibt sie in südlichere Gewässer. Früher sind meine Jäger im Sommer bis an die Küste von Eisrigge geschwommen, aber das können sie schon lange nicht mehr. Dich fürchtet der Herr dieser dunklen Mörder, darum will er deinen Tod und versucht jeden, der dir begegnet, zu seinem Helfer zu machen. Aber mein Wille ist nicht so leicht zu beeinflussen.«
»Ich danke für die Warnung.«
»Geh sobald wie möglich. Verlass diese Stadt, solange dich die Mörder noch nicht entdeckt haben. Meine Oger sind die besten Kämpfer Embadors, aber gegen die Mächte, die dich verfolgen, ist ihr Schutz nur eine Kupfermünze wert, und daher werde ich auch nicht mehr verlangen.«
 
»Meister Parrach und Meister Shabran von der Ordensgesandtschaft in Havalan!«, stieß Thondaril grimmig hervor, nachdem Gorian ihm die Erinnerungsbilder, die ihm der Fischlinger übertragen hatte, in seinem Handlicht gezeigt hatte. Gorian schuf dafür keine größere Lichtblase, auf der man die beiden Schattenmeister noch deutlicher hätte erkennen können, um kein weiteres Aufsehen zu erregen.
»Offenbar ist Meister Shabran, zu dem Eure Handleseverbindung abbrach, inzwischen ebenfalls zu einem Diener des Frostreichs geworden«, äußerte Gorian.
»Ja«, murmelte Thondaril finster. »So muss es wohl sein. Nicht mehr lange, und es gibt im Orden mehr von Morygors Dienern als aufrechte Kämpfer gegen ihn.«
»Sie befinden sich hier, in Embador. Wir müssen also jederzeit damit rechnen, dass sie aus dem Nichts auftauchen und zuschlagen.«
»Dann sollten wir unsere Geschäfte hier so schnell wie möglich hinter uns bringen und Greshshshts Rat folgen und die Stadt verlassen«, meinte Sheera.
»Also trennen wir uns«, schlug Zog Yaal vor. »Ich werde zusammen mit Gorian die Seilschlangen, die wir noch brauchen, erstehen. Er hat mir beim Umgang mit den Tieren zugesehen und kennt sich mit ihnen noch besser aus als Torbas. Er kann zwar ihre Qualität nicht beurteilen – das wird meine Aufgabe sein -, aber er kann mir dabei helfen, sie herzuschaffen, ohne dass die verrückt werden, was bei einem Besitzerwechsel leicht passieren kann. Und ihr kümmert euch um die Vorräte. Auf dem Markt herrschen keine besonderen Regeln, die beachtet werden müssen, und die Haltbarkeit und Verträglichkeit der Speisen, die man in eurer Heimat nicht kennt, wird Sheera als Heilerin einschätzen können«
»Heilschülerin«, korrigierte Thondaril, dem der Vorschlag aus irgendeinem Grund nicht zu gefallen schien. Aber er stimmte schließlich dennoch zu, denn so konnten sie die Stadt vielleicht schon lange vor Mitternacht verlassen.
 
Je weiter die Dämmerung voranschritt, desto mehr Laternen wurden in Embador entzündet. Die Stadt glich bald einem einzigen Lichtermeer. Da die Glasbläserkunst in Westreich so weit fortgeschritten war wie nirgends sonst, hatten die Laternen die kunstvollsten Formen. Viele stellten Geistergesichter dar, so filigran bearbeitet, dass man glauben konnte, sie würden jeden Moment zum Leben erwachen.
»Sie sollen Glück bringen«, erklärte Zog Yaal, während er sich zusammen mit Gorian auf dem Weg zu einem Seilschlangenzüchter durch ein Gewirr enger und von vielen Menschen überlaufender Gassen bewegte. Die Priesterschaft des Verborgenen Gottes hatte sich offenbar mit den Geisterdarstellungen der Laternen arrangiert, auch wenn sie ganz sicher nicht den Lehren entsprachen, die der Bischof von Atrantia vertrat. Aber an den Laternenpfählen hingen Gebetszettel aus Pergament mit dem Siegel der Priesterschaft.
Ein Fischlinger ließ sich von zwölf Ogern in seinem Glasbottich eine der Gassen entlangtragen. Das Sänftengestell, in das der Glasbehälter eingepasst war, hatte man mit einem Überzug aus Blattgold versehen. Dahinter zogen weitere Oger einen großen Handkarren, in dem ein toter Neunarmkrake lag. Außerdem folgten mehrere bewaffnete Krieger – sowohl Menschen als auch Oger – und einige Zahlenmagier, die zum Gefolge des Fischlinger zu gehören schienen. Auf dem Handkarren balancierte ein dressierter Affe herum, der beständig damit beschäftigt war, Salz über den Körper des Neunarmkraken zu streuen.
Der Zug kam vom Hafen her und war offenbar auf dem Weg zu einem der Märkte von Embador. Gorian und Zog Yaal blieb nichts anderes übrig, als sich in eine Hausnische zu drücken, so wie andere Passanten auch, von denen einer sagte: »Lange her, dass ein solcher Fang hier angeboten wurde.«
»Darum steigen die Preise für Neunarmkraken mittlerweile ins Unermessliche«, sagte ein anderer.
»Das hier ist noch ein mickriges Exemplar.«
In diesem Moment setzte leichter Schneeregen ein.
 
Die Seilschlangenzüchter von Embador waren alle in derselben Gasse zu finden. Nach Zog Yaals Meinung reichten sechs zusätzliche Schlangen aus, und Gorian hatte keinen Grund, dem Sachverstand des Greifenreiters anzuzweifeln. Der traf seine Wahl sehr schnell und wirkte dabei absolut sicher.
Er überprüfte kurz jede Schlange dahingehend, wie genau sie auf Befehle reagierte. Anschließend gebot er allen sechs, sich derart zusammenzurollen, dass man sie wie Schärpen um den Oberkörper tragen konnte.
Jeder von ihnen nahm drei von ihnen, und Gorian bezahlte mit den Silberstücken, die Meister Thondaril ihm gegeben hatte. Dann machten sie sich auf den Rückweg.
Inzwischen herrschte tiefe Nacht. Mond und Sterne waren in einer so hell erleuchteten Stadt wie Embador ohnehin nicht zu sehen, weil das Licht der Laternen sie überstrahlte, zudem aber hatte sich der Himmel mit einer dunklen, drohenden Wolkendecke zugezogen, und der Schneeregen wurde immer heftiger. Auch wehte mittlerweile ein eisiger Wind und riss hier und dort einige der Gebetszettel von den Laternenmasten, die wie Laub durch die Gassen gewirbelt wurden.
Gorian wunderte sich darüber, dass ihn Zog Yaal auf einem anderen Weg zum Gondelplatz zurückführte als dem, den sie gekommen waren, fragte aber nicht nach dem Grund dafür.
Sie gelangten in eine einsame Gasse, die aber dennoch gut beleuchtet war; etwas anderes schien in Embador nicht geduldet zu werden. So standen auch hier die kunstvollen Laternen mit ihren Geistergesichtern und den Gebetspergamenten in regelmäßigen Abständen. Bei den Gebäuden rechts und links der Gasse musste es sich um Lagerhäuser handeln.
»Wundert mich, dass es in Embador Orte gibt, an denen in der Nacht nichts los ist«, meinte Gorian. »Wo doch sogar die Märkte rund um die Uhr geöffnet sind.«
Plötzlich spürte er, wie sich die drei Seilschlangen, die er um den Oberkörper trug, zusammenschnürten, sodass sie ihm die Luft aus den Lungen drückten. Taumelnd stand er da und glaubte schon, dass ihm diese sonst so dienstbaren Kreaturen die Rippen brechen würden. Er versuchte ihnen den Befehl zu erteilen, ihren Griff zu lösen, doch ihm fehlte der Atem dazu, und so entrang sich nicht mehr als ein schwaches Krächzen seiner Kehle.
Zog Yaal, der zunächst ein paar Schritte weitergegangen war, blieb stehen und drehte sich um. Sein Gesicht wirkte vollkommen verändert, war zu einer verzerrten Fratze geworden, und er bleckte die Zähne wie ein Tier. Er wirkte ergrimmt und von einem Hass erfüllt, der kaum sein eigener sein konnte. Morygors Aura musste zu stark für ihn gewesen sein. Er war den Einflüsterungen des Herrn der Frostfeste, denen er offenbar schon seit einiger Zeit ausgesetzt war, letztendlich erlegen.
Gorians Augen wurden schwarz, er sammelte die Alte Kraft. Aber die Seilschlangen schnürten ihn so zusammen, dass er nicht einmal Rächer oder Sternenklinge hervorreißen konnte, weder mit den Händen noch mit der Kraft seines Geistes.
Es war ein gut geplanter Angriff von jemandem, der alles bedacht hatte, musste Gorian eingestehen. Der Kraftschrei, den er ausstoßen wollte, erstickte in einem schwächlichen, atemlosen Röcheln.
Die drei Seilschlangen, die bis dahin noch um Zog Yaals Leib gewickelt waren, lösten sich, als der Greifenreiter ihnen den Befehl dazu gab, und glitten zu Boden. Ihre Körper veränderten sich, wurden sehr viel kürzer und nahmen dafür an Dicke zu, sodass sie nicht mehr dünnen Kletter- oder Halteseilen, sondern armdicken Würgestricken glichen.
Auch die Seilschlangen, die Gorian bereits gefangen hielten, wandelten sich auf diese Weise, vermutlich weil sie so noch mehr Kraft aufwenden konnten, um den Ordensschüler zu zerquetschen.
Die Seilschlangen am Boden schnellten zunächst mit kobragleich erhobenen Vorderenden auf Gorian zu, dann sprangen sie fast gleichzeitig mehrere Schritt weit durch die Luft. Wie eine Peitsche schlang sich eine von ihnen um Gorians Fesseln und riss ihm die Beine weg, sodass er hart zu Boden fiel. Die anderen wickelten ihn innerhalb weniger Herzschläge ein, sodass er vollkommen hilflos war. Er versuchte sich um die eigene Achse zu drehen, doch nicht einmal das gelang ihm.
Zunächst hatte er geglaubt, seine Magie wäre vollkommen wirkungslos, aber dann begriff er, dass er ohne seine Kräfte sicherlich schon gar nicht mehr am Leben gewesen wäre.
Wieder veränderte sich Zog Yaals Gesicht. Der Hass darin wich einem Ausdruck der Hilflosigkeit. »Es tut mir leid«, wimmerte er. »Die Aura … Die Stimme … Ich war zu schwach, Gorian!«
Die Kräfte, die Zog Yaal zu seinem Verrat getrieben hatten, schienen ihn für einige Augenblicke zumindest teilweise aus ihrer Gewalt zu entlassen. Für Morygors Pläne war er nicht mehr wichtig genug, um sich voll und ganz auf ihn zu konzentrieren.
Im nächsten Moment vernahm Gorian das höhnische Lachen einer Gedankenstimme, so eindringlich, dass eine Welle des Schmerzes vom Kopf aus seinen gesamten Körper durchlief und er für einen Moment die Konzentration auf seine Kräfte zu verlieren drohte.
»Niemand entkommt Morygor! Und niemand kreuzt meine Schicksalslinie, dem ich es nicht erlaube!«
Auf einmal stieß Zog Yaal eine Reihe von Knack- und Zischlauten aus, zweifellos Seilschlangenbefehle, auch wenn Gorian nicht einen einzigen davon erkannte. Aber zu seiner Verwunderung spürte er deutlich, wie die mörderische Umklammerung schwächer wurde, ohne sich jedoch völlig zu lösen, so als ob die Seilschlangen unter widerstreitenden Einflüssen standen.
Gorian konzentrierte sich erneut auf seine Magie. Blitze zuckten aus seinem Körper, und die Seilschlangen lockerten ihren Würgegriff vollends, dann schnellten sie eine nach der anderen davon, während flackernde Lichterscheinungen sie umflorten und sie vor Schmerzen schrill aufschrien.
Gorian rappelte sich auf, zog Sternenklinge und Rächer. Alles, was er bisher erreicht hatte, war, die Seilschlangen ein Stück fortzujagen, aber das musste noch nicht bedeuten, dass der Kampf schon vorbei war.
Er rang nach Luft und murmelte einen einfachen Heil-und Kräftigungszauber.
Im nächsten Moment kehrten die Seilschlangen zurück, krochen blitzschnell über den gepflasterten Boden auf ihn zu und streckten dabei erneut die Vorderenden empor wie Kobras. Alle waren sie extrem kurz geworden, hatten dafür aber einen Durchmesser erreicht, der an den eines durchschnittlichen Oger-Oberschenkels heranreichte.
Die erste von ihnen sprang auf Gorian zu. Der Ordensschüler schleuderte Rächer. Die Dolchklinge aus Sternenmetall durchbohrte die Seilschlange, riss sie mit sich und nagelte sie an den Fachwerkbalken eines der Lagerhäuser. Die zweite zerteilte Gorian mit mehreren Schwerthieben. Dabei konzentrierte er in gewohnter Weise die Alte Kraft auf Sternenklinge, deren Metall von einem bläulichen Leuchten umflort war.
Ein Ruf ertönte.
Es war Zog Yaal, und das Wort, das er hervorstieß, enthielt ungewöhnlich viele jener Knack- und Zischlaute, auf die das Gehör der Seilschlangen so sensibel reagierte, hatte aber andererseits auch mehr Ähnlichkeit mit menschlicher Sprache als jeder andere Seilschlangenbefehl, den Gorian bisher vernommen hatte.
Die angreifenden Kreaturen fielen augenblicklich in eine Art Bewusstlosigkeit. Sie klatschten zu Boden und gewannen dabei wieder an Länge, während ihr Durchmesser entsprechend abnahm, so als wenn sich ein Muskel entspannte. Einen Augenblick später sahen sie fast wie ganz gewöhnliche, leblose Seile aus, wie sie in jeder Hafenseilerei geflochten wurden.
Gorian streckte die Hand aus, und Rächer wirbelte durch die Luft zu ihm zurück. Er steckte beide Waffen ein. Der Brustkorb schmerzte ihm immer noch.
Aber Zog Yaal war schlimmer dran. An mehreren Stellen seines Körpers, wo er von den Eiskrähen verwundet worden war, drang schwarzes Blut durch seine Kleidung, und es lief ihm auch aus Mund und Nase. Gorian machte einen Schritt auf ihn zu, während Zog Yaal vor ihm zurückwich und die Hände abwehrend hob. »Bleib, wo du bist, Gorian! Bleib, wo du bist, und lass mich hier in Embador zurück! Ich bin nur eine Gefahr für dich, denn du kannst mir nicht mehr trauen!«
»Du warst es doch, der mich gerettet hat«, stellte Gorian fest.
»Der Notbefehl für widerspenstige Seilschlangen. Jeder bekommt ihn von den Gildenlehrern beigebracht. Aber er wurde kaum je angewendet, und es dürfte in ganz Gryphland nicht eine Handvoll Greifenreiter geben, die aus eigener Erfahrung garantieren können, dass er überhaupt funktioniert.«
Gorian machte einen weiteren Schritt auf Zog Yaal zu, aber dieser wich erneut zurück, taumelte dabei und fiel zu Boden. Abermals hob er abwehrend die Hände. »Nicht näher kommen!«, rief er, und seine Stimme überschlug sich dabei fast. »Du weißt nicht, wie lange ich Herr meiner eigenen Gedanken und Taten bin. Ich könnte jederzeit wieder zu deinem Feind werden!«
»Das warst du nie.«
»Doch, Gorian. Ich war es, der den Seilschlangen den Befehl gab, dich zu töten. Niemand sonst. Ich war einfach zu schwach, um den Einflüsterungen der Stimme zu widerstehen. Ich war so schwach, Gorian. So verflucht schwach.«
»Aber du hast dich Morygors Einfluss letztlich widersetzt, Zog Yaal! Obwohl du keine Magie einzusetzen vermagst, um dich zu schützen! Es war nur dein Wille und die Stärke deines Charakters – und du hast einen hohen Preis dafür bezahlt!«
Gorian hatte ihn inzwischen erreicht und kniete neben ihm nieder. Er murmelte einen Heilzauber, der die Blutungen vorläufig zum Stillstand brachte.
»Du solltest dich vor mir in Acht nehmen, Gorian.«
»Ich muss mich vor jedem in Acht nehmen, denn niemand ist davor gefeit, Morygors Einflüsterungen zu erliegen. Wirklich niemand! Aber was dich betrifft, mache ich mir in nächster Zeit die geringeren Sorgen, denn du hast dich dem Herrn der Frostfeste erfolgreich widersetzt, und das ist etwas, was nicht einmal der Hochmeister des Ordens der Alten Kraft vermochte.«
Sie schwiegen eine Weile, während Zog Yaal am Boden lag und versuchte, neue Kraft zu schöpfen. Schließlich sagte er: »Die vier übrig gebliebenen Seilschlangen kann man noch verwenden. Vorausgesetzt, es gelingt mir, sie aus ihrem gegenwärtigen Zustand zu erwecken. Aber das dürfte nicht allzu schwierig sein.«
In diesem Augenblick öffnete sich knarrend eine der Türen eines vierstöckigen, in Fachwerkbauweise errichteten Lagerhauses, und zwei große, kräftige Oger traten ins Freie, beide mit Breitschwert, Streitaxt und einer beachtlichen Anzahl von Wurfsternen am Gürtel. In Gürtelschnalle und Lederwams war das Wappen des Handelshauses eingearbeitet, dem offenbar auch das Lagerhaus gehörte, denn das gleiche, aus einer stilisierten Blüte bestehende Wappen prangte auch neben der Tür.
Die beiden Oger-Wächter traten näher und sahen sich um.
»Gibt es hier irgendwelche Schwierigkeiten?«, fragte einer von ihnen und verschränkte die mächtigen Arme vor der Brust. Er sprach ein sehr einfaches Westreichisch, das auch jeder Heiligreicher verstehen konnte.
»Ein paar ungehorsame Seilschlangen, das ist alles«, behauptete Gorian.
»Ist aber kein Grund, hier so einen Krach zu schlagen!«
»Schon klar«, sagte Gorian hastig, da er nicht auf eine längere Diskussion mit den Oger-Wächtern aus war.
Der zweite Oger streckte den Arm aus und deutete auf Zog Yaal. »Es ist mir gleichgültig, warum du den Kerl so zugerichtet hast, aber ich gebe euch den guten Rat, eure Streitigkeiten in Zukunft anderswo auszutragen.«
»Wir sind schon so gut wie weg«, versicherte Gorian.
»Ihr seid doch fremd hier«, begann der andere wieder.
»Das ist richtig«, bestätigte Gorian.
»Und wem bezahlt ihr Schutzgeld?«
»Wir stehen unter dem Schutz von Herrn Greshshsht«, antwortete Gorian schnell, denn er hegte den Verdacht, dass sich die beiden Oger vielleicht ein paar Münzen dazuverdienen wollten, indem sie zwei Schutzlose ausraubten. Zwar zweifelte er nicht daran, notfalls mit ihnen fertig zu werden, denn der Kampfkunst eines Schwertmeisters war auch der stärkste Oger in der Regel nicht gewachsen, aber die Zeit drängte, und davon abgesehen gab es nichts, was Gorian mehr verabscheute als sinnlosen Kampf.
»Herr Gershshsht?«, echote einer der Oger, wobei er das Wort »Herr« auf eine Weise betonte, die Gorian nicht gefiel. »Ich fürchte, euer Schutz ist abgelaufen, und ihr solltet euch schleunigst einen neuen erkaufen.«
»Schließlich sind nicht alle Wächter so nett wie wir«, ergänzte der andere.
In diesem Augenblick spürte Gorian, dass Meister Thondaril versuchte, mit ihm über Handlichtlesen in Verbindung zu treten. Aber er wollte abwarten, bis sich die beiden Oger wieder ins Gebäude zurückgezogen hatten.
»Wenn ihr einen neuen Schutz braucht, dann kommt einfach bei Sonnenaufgang hierher. Bis dahin müsst ihr auf euch allein gestellt überleben, denn vorher untersagen die Gesetze von Embador einen Wechsel des Schutzgebers.«
»Was ist denn mit Greshshsht?«, fragte Zog Yaal.
Einer der Oger wandte den Kopf, um ihm einen finsteren Blick zuzuwerfen, der andere war bereits wieder im Lagerhaus verschwunden. »Er ist tot! Die Nachricht verbreitet sich gerade wie ein Lauffeuer.«
Als auch der zweite Oger weg war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ Gorian ein Licht in seiner Handfläche entstehen, in dem das Gesicht von Meister Thondaril erschien. »Kommt sofort zum Gondelplatz. Mit oder ohne Seilschlangen, das ist vollkommen gleich. Die Dinge haben sich hier sehr ungünstig entwickelt.«
Gorian und Zog Yaal sammelten die verbliebenen vier Seilschlangen ein, und der junge Greifenreiter weckte sie aus ihrem leblosen Zustand, indem er jede an einer ganz bestimmten Stelle berührte. Daraufhin wickelten sie sich von selbst auf, wie man es von ihnen gewohnt war.
»Sie scheinen perfekt zu gehorchen«, bemerkte Gorian.
»Natürlich tun sie das. Das haben sie auch, als sie versucht haben, dich umzubringen.«
Jeder von ihnen hängte sich zwei der Seilschlangen über die Schulter. Gorian zögerte einen kurzen Moment, denn die Erinnerung daran, dass ihn diese Wesen beinahe umgebracht hätten, war noch allzu frisch. Zog Yaal bemerkte es und sagte: »Wenn du jemanden fürchten musst, dann mich und meine innere Schwäche, nicht die Seilschlangen.«
»Was ist mit deinen Wunden?«
»Es geht schon. Du scheinst ein halber Heiler zu sein.«
»Ich wäre vielleicht schon ein ganzer, würde es die Ordensburg auf Gontland noch geben.«
 
Sie beeilten sich, zum Gondelplatz zu gelangen. Zog Yaal hatte keine Schwierigkeiten, mit Gorian mitzuhalten. Er sah mit seinem blutverschmierten Gesicht und der blutdurchtränkten Kleidung furchtbar aus, war aber körperlich wieder bei Kräften. Offenbar sprach er auf einfache Heilmagie gut an. Und vielleicht verlieh ihm auch die wachsende Erkenntnis, dass er tatsächlich einer überlegenen Macht widerstanden hatte, zusätzliche Energie.
Als sie den Gondelplatz erreichten, herrschte dichtes Schneegestöber, und der kalte Wind war noch beißender geworden. Der große Platz bot nicht den Schutz der engen Gassen, und so waren sie Wind und Schnee frei ausgesetzt.
Das Erste, das Gorian auffiel, war die Stille.
Die Sicht war schlecht, trotzdem erkannte er, dass eine ganze Anzahl von Gondeln fehlte. Sie hatten sich in den düsteren Himmel erhoben. Der Wind verschluckte das Krächzen der Greifen.
Es musste einen Grund haben, dass viele Gondelbesitzer es vorzogen, trotz des Unwetters geradezu fluchtartig die Stadt zu verlassen, anstatt wenigstens bis zum Morgengrauen in Embador zu verweilen.
Tote Oger lagen überall auf dem Platz. Ihr Blut rann aus schrecklichen Wunden und versickerte in den Fugen des Pflasters, während sich eine Schicht aus grauweißem Schnee auf ihren leblosen Körpern bildete. Viele hatten noch nicht einmal ihre Waffen ziehen können, bevor sie von Schwerthieben mit ungewöhnlicher Präzision niedergestreckt worden waren. Das deutete auf Schwertmeister des Ordens hin, allerdings waren viele der Oger auch hinterrücks ermordet worden.
Schattenmeister, ging es Gorian durch den Kopf. Nur sie kamen dafür infrage.
Torbas stand bei der Gondel und hatte den Seilschlangen bereits befohlen, sich um den Greifengargoyle Ar-Don zu schlingen. Als er Gorian und Zog Yaal bemerkte, lief er ihnen entgegen. »Na los, worauf wartet ihr? Wir müssen hier weg!«
Gleichzeitig aber erreichte Gorian ein Gedankenbefehl von Meister Thondaril: »Komm her! Sofort!«
Gorian begriff sogleich, dass sich sein Meister in jenem Gebäude befand, wo Greshshsht sie empfangen hatte. Er wandte sich an Zog Yaal und rief: »Geh schon mal zur Gondel und mach sie startklar!«
»Aber …«
»Geh schon!«, drängte Gorian.
Dann lief er zu dem Gebäude.
Auch dort lagen erschlagene Oger-Wachen, und im Haus musste er über die Leiche des Zahlenmagiers steigen, dem man den übergroßen Schädel gespalten hatte.
Der Bottich des Fischlinger war zerstört. Die Glassplitter funkelten in einer riesigen Pfütze aus Salzwasser, und mittendrin lag Greshshsht, die Augen starr und die Arme weit von sich gestreckt. Er war zweifellos nicht mehr am Leben.
Meister Thondaril stand neben der Leiche, das Schwert in beiden Händen. Er sagte kein Wort. Seine Augen waren pechschwarz. Er schien auf etwas zu warten.
Oder auf jemanden, erkannte Gorian, der ebenfalls das Schwert zog.
»Meister Parrach war hier«, wandte sich Meister Thondaril mit einem Gedanken an Gorian. »Es muss sehr schnell gegangen sein. Er kam aus dem Nichts und tötete, bevor seine Anwesenheit wirklich bemerkt wurde.«
»Was tun wir hier?«, fragte Gorian in der Hoffnung, dass sein Meister und Mentor irgendeinen auch nur ansatzweise vernünftigen Plan verfolgte.
In diesem Moment drangen zwei Rauchwirbel durch eine Wand und verstofflichten. Ein jüngerer Mann – kaum älter als Gorian – stand neben einer grauhaarigen, hageren Gestalt von schwer zu schätzendem Alter.
Shabran und Parrach, erkannte Gorian sofort.
Beide hielten Schwerter in den Händen.
»Seid gegrüßt, Meister Thondaril«, sagte Parrach, und ein überlegenes Lächeln glitt über das hagere Gesicht des Leiters der Ordensgesandtschaft von Havalan.
»Ihr habt diesen Fischling ermordet«, stellte Thondaril mit tonloser Stimme fest.
»Er war ein Verräter«, entgegnete Parrach. »Der Narr hat tatsächlich geglaubt, mich hereinlegen zu können. Dabei verdankte er seine Position schon lange meiner Gnade.«
Gorian fragte sich, woher Thondaril gewusst haben mochte, dass Parrach noch einmal in dieses Haus zurückkehren würde. Er schien den abtrünnigen Schattenmeister regelrecht erwartet zu haben, so als könnte er die Schicksalswege vorausberechnen wie Morygor, der Herr der Frostfeste.
»Ich bin hier, um Euren Schüler zu töten, Meister Thondaril«, erklärte Parrach. »Aber das wisst Ihr ja bereits.«
»Ja«, antwortete Thondaril. »Nachdem Meister Shabran wieder Verbindung zu mir aufnahm und mir Eure Absicht ankündigte, rief ich meinen Schüler her.«
Parrach wandte den Kopf und sah Gorian an. »Ich spüre deine Überraschung und die Wut über das, was du als Verrat eines Meisters an seinem Schüler empfinden musst. Beides wird deine Kräfte entscheidend schwächen und deinen Tod erleichtern.«
Gorian konnte nicht fassen, was er hörte. »Meister Thondaril … Ihr doch nicht!«
»Für deinen Meister wird es eine Zukunft geben, aber nicht für dich«, erklärte Parrach.
»Meister! Das ist nicht wahr!«, sandte Gorian einen verzweifelten Gedanken an Thondaril.
Dieser aber verschloss seinen Geist vor seinem Schüler. Da schien nichts mehr zu sein, selbst ein kalter Stein hätte in diesem Moment nicht weniger Seele als Thondaril gehabt. Sein Gesicht war hart und kantig, als sein Blick dem von Gorian begegnete.
»Die Welt wird sich ändern, Gorian«, fuhr Parrach fort. »Nur du stehst dieser Veränderung im Weg. Es tut mir leid. Soweit ich gehört habe, warst du ein ausgesprochen talentierter Schüler, und es wäre sicherlich interessant gewesen, zu beobachten, ob du deinen ehrgeizigen Plan in die Tat hättest umzusetzen können, die Ausbildung in allen fünf Ordenshäusern zu durchlaufen, sodass am Ende fünf Meisterringe an deinen Fingern gesteckt hätten. Nun wird es nicht einmal ein einziger sein.«
Gorian hörte dem Schattenmeister kaum zu. Innerlich war er immer noch mit dem Verrat Meister Thondarils beschäftigt. »Habt Ihr denn Euren Glauben an die Axiome des Ordens völlig verloren?«, fragte er ihn fassungslos. »Oder haben sie Euch in Wahrheit nie etwas bedeutet?«
»Die Zeit des Ordens ist vorbei«, stellte Thondaril klar. »In Wahrheit existiert er nicht mehr. Dein Vater hat das viel früher erkannt als ich, auch wenn er daraus andere Konsequenzen zog.« Der Blick, mit dem er Gorian bedachte, war undurchschaubar. Er wandte den Kopf, um Meister Parrach anzusehen, und sagte: »Tut, was getan werden muss, Parrach. Ich habe diesen Raum mit einer Magie belegt, die es ihm unmöglich machen wird, seine Kunst der Voraussicht gegen Euch einzusetzen.«