
17
Die Meister von Havalan
»Wir werden auf jeden Fall frische Vorräte kaufen
müssen – und vor allem ein paar zusätzliche Seilschlangen«,
erklärte Zog Yaal, während Ar-Don die Gondel über die
westreichischen Berge trug. Ein kalter Wind wehte durch die nun
unverglasten Fenster, und alle hatten sich in Decken gehüllt auf
den Boden gesetzt. Mit Grausen dachte Gorian daran, wie wohl ein
Überflug über das Meer von Ost-Erdenrund unter diesen Umständen
werden würde.
»Wir sollten auch überlegen, ob wir nicht in einer
Glaserwerkstatt vorbeischauen«, meinte Torbas. »Ich meine, hier in
Westreich sind wir doch sozusagen im Mutterland der Glasbrennerei,
und wenn ich mir vorstelle, dass wir ohne Fensterglas…«
»An den kalten Wind aus Morygors Reich werden wir
uns alle gewöhnen müssen«, unterbrach ihn Thondaril. »Aber die
Mittel an Silber, die ich auf diese Reise mitgenommen habe, werden
sicherlich auch noch für ein paar neue Fenster reichen.«
»Nur dürfen wir keine Zeit verlieren«, warnte der
Namenlose Renegat. »Unsere Verfolger haben noch nicht
aufgegeben.«
»Möglich, dass sie sogar schon auf uns warten«,
murmelte Thondaril.
»In Embador und Havalan landen viele Greifenreiter.
Da gibt’s auf den Märkten auch ein gutes Angebot an Seilschlangen«,
erklärte Zog Yaal. »Und dort finden wir Handwerker, die die
Gondelfenster neu verglasen. Bei den vielen Greifengondeln, die
zwischen Westreich und Gryphland unterwegs sind, geht ab und zu mal
eine Scheibe zu Bruch, und die Gondelfenster entsprechen einem
Einheitsmaß. Wenn ein Greifenreiter in Embador am Morgen landet, um
Waren auf dem Markt anzubieten, und eines seiner Fenster ist
beschädigt, hat er am frühen Abend ein neues und kann noch in der
Nacht den Rückweg antreten.«
»Klingt gut«, meinte Torbas.
»Embador oder Havalan – dazwischen werden wir uns
dann wohl entscheiden müssen«, sagte Gorian.
»Der Weg über Embador ist etwas kürzer«, mischte
sich der Namenlose ein. »Zu der Zeit, als ich zum Renegaten wurde,
befand sich dort ein caladranischer Außenposten, der später
aufgegeben wurde.«
»Morygor wird aber damit rechnen, dass wir Embador
anfliegen«, gab Gorian zu bedenken. »Ich vermute, dass seine
Schergen dort bereits auf uns warten, deshalb plädiere ich dafür,
diesen Ort zu meiden.« Er wandte sich an Thondaril. »Havalan ist
doch die Hauptstadt Westreichs.«
»Der König residiert dort«, bestätigte
Thondaril.
»Dann gibt es dort sicherlich auch eine
Gesandtschaft des Ordens, die uns Unterstützung und Schutz gewähren
könnte.«
»Ja, der Gesandte dort ist Meister Parrach, einer
der besten Schattenpfadgänger des Ordens. Angeblich befand er sich
ein ganzes Jahr in der Zwischenwelt der Schattenpfade, ohne dass
sein Körper danach irgendwelche Zeichen vorzeitigen Alterns zeigte,
was für ein außergewöhnlich
großes Talent im Umgang mit der Alten Kraft spricht.«
»Dann verstehe ich nicht, worüber wir hier noch
reden. Wir sollten uns nach Havalan wenden. Am besten nehmt Ihr per
Handlichtlesen schon einmal Verbindung mit Meister Parrach
auf.«
»Genau das werde ich nicht tun«, widersprach
Thondaril. »Und dass es dort eine Gesandtschaft gibt, ist auch eher
ein Grund, nicht nach Havalan zu fliegen.«
»Wie sollen wir das verstehen?«, frage Sheera. »Ist
Meister Parrach etwa ein Verräter?«
»Nun, er wäre nicht der Erste, der sich Morygors
Einflüsterungen ergibt. Und nach dem, was wir schon an Verrat
innerhalb des Ordens erleben mussten, möchte ich kein Risiko
eingehen.«
»Steht Ihr mit jemandem in der Gesandtschaft von
Havalan in Handlichtverbindung?«, fragte Gorian. »Hat Euch jemand
vor Meister Parrach gewarnt?«
»Ich hatte Verbindung zu Meister Shabran. Er ist
der zweitjüngste Ordensschüler, dem je die Meisterwürde angetragen
wurde«, erklärte Meister Thondaril und fügte mit einem Gedanken,
der nur für Gorian bestimmt war, hinzu: »Du weißt, welcher Narr
der jüngste war!« Laut fuhr er fort: »Doch der Kontakt zu
Meister Shabran brach ab, und ich muss das Schlimmste
befürchten.«
»Also geht es doch nach Embador«, stellte Torbas
fest. »Ich hoffe nur, dass das kein Fehler ist.«
Thondaril sah Gorian für einen Moment sehr ernst
an. »Ich denke, es ist deine Aufgabe, den Gargoyle in die richtige
Richtung zu lenken.«
Gorian nickte. »Ja, Meister.«
Er nahm gedankliche Verbindung zu Ar-Don auf und
empfing sogleich einen Schwall von Eindrücken, die zunächst sehr
verwirrend auf ihn wirkten. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich
das scheinbare Chaos klärte, und Gorian erkannte, dass es sich um
Erinnerungen an Flüge nach Embador handelte. Centros Bals Greif war
die Strecke offenbar oft genug geflogen, um sich jede markante
Einzelheit dieses Fluges einzuprägen.
»Nicht schwierig, den Weg zu finden«,
versicherte der Greifengargoyle. »Kenne ihn gut. Oft genug
geflogen mit schwerer Gondel.«
»Bist du immer noch Ar-Don?«, fragte Gorian
mit einem besorgten Gedanken.
»Wer sonst?«, lautete die Antwort. Aber
Gorian kannte den Gargoyle inzwischen gut genug, um zu erkennen,
dass da noch etwas anderes war. Um ihn zu beruhigen, fügte der
Gargoyle hinzu: »Werde die zusätzliche Körpersubstanz
rechtzeitig abstoßen, bevor sie mich verändert. Greifenseele ist
schwach, daher besteht keine Gefahr.«
»Wenn du meinst.«
»Der Greif ist schwach«, wiederholte Ar-Don.
»Meister Domrich ist stark. Und der Hass auf Morygor
unermesslich.«
Ein böiger, eisiger Wind blies. Die dunkle, vom
Schattenbringer verdeckte Sonne stand im Zenit, und trotzdem wollte
es nicht richtig Tag werden. Es erinnerte an eine Sonnenfinsternis,
wie sie immer wieder mal an genau vorauszuberechnenden Tagen
vorkam. Aber die dauerte nie lange. Dieser Schatten jedoch, der das
Sonnenlicht schluckte, blieb. Morygor hatte offenbar die Kraft, den
fernen Himmelskörper, den man den Schattenbringer nannte, genau
dort zu halten, wo er ihn haben wollte.
Trotz der Kälte und des unangenehmen beißenden
Windes
stand Meister Thondaril immer wieder an einem der offenen Fenster
und blickte hinaus, um diesen beängstigenden Anblick in sich
aufzunehmen.
»Der Schattenbringer scheint nicht groß genug zu
sein, um die Sonne vollständig zu verdecken«, meinte Sheera, die
sich irgendwann zu ihm gesellte. »Es gelangen immer noch wärmende
Strahlen bis nach Erdenrund. Offenbar geht Morygors Plan nicht ganz
so auf, wie er es sich vorgestellt hat.«
Thondaril wandte den Blick. »Es wäre schön, wenn es
so wäre«, sagte er. »Aber reck deinen Daumen, sieh aus dem Fenster,
und versuche mit der Daumenkuppe einen weit entfernten Berg, ein
Haus, einen gewaltigen Baum oder was auch immer so zu verdecken,
dass du das betreffende Objekt nicht mehr siehst. Du kannst mit der
Kuppe deines Daumens die größten Gegenstände verdecken, wenn du den
Daumen in den richtigen Abstand bringst. Und genau so verhält es
sich mit dem Schattenbringer. Morygor wird die Position des
Himmelskörpers nach und nach so verändern, dass auch der
Lichtkranz, den wir noch sehen, immer kleiner wird, bis er ganz
verschwunden ist. Kein Sonnenstrahl wird noch das Erdenrund
erreichen, und der Frost wird sich weiter ausbreiten und am Ende
sogar das laramontische Meer bis über Margorea hinaus in eine
Eiswüste verwandeln.«
»Ich beglückwünsche Euch zu Eurer profunden
Erkenntnis«, sagte der Namenlose Renegat höhnisch. »In den Zeiten,
da ich König Song Mol half, die Feuerdämonen zu besiegen, war Eurem
einfältigen Menschenvolk noch nicht einmal bewusst, dass es dort am
Himmel überhaupt irgendwelche beweglichen Körper gibt, und man
hielt das Erdenrund für eine Scheibe. Ich gebe zu, dass ich in der
Abgeschiedenheit von Felsenburg die Fortschritte menschlichen
Wissens nur am Rande mitbekommen habe, aber sie sind durchaus
beachtenswert – gemessen an der Begrenztheit, die die Kürze Eurer
Lebensspanne mit sich bringt.«
»Ein solches Lob von einem derart berufenen
Caladran«, gab Meister Thondaril ebenso spöttisch zurück. »Das
hätten Generationen von Hochmeistern des Ordens nicht für möglich
gehalten.«
Bevor der Namenlose darauf etwas erwidern konnte,
mischte sich Gorian ein, indem er ihn fragte: »Welche Möglichkeiten
gibt es, das, was wir am Himmel sehen, wieder rückgängig zu
machen?«
»Die wichtigste Voraussetzung dafür bringst du
bereits mit, Gorian: Du zweifelst nicht daran, dass es prinzipiell
möglich ist. Die Gestirne lassen sich beeinflussen. Diese Ansicht
habe ich immer vertreten und wurde dafür angefeindet.«
»Und dann hat ausgerechnet Morygor diese These
unter Beweis gestellt«, stellte Meister Thondaril fest. »Was für
ein Glück für Euch.«
»Ja, das hat er«, bestätigte der Namenlose.
»Ist es das, was Euch so stark mit ihm verbindet?
Dass er Eure Ansichten bestätigt und in die Tat umgesetzt hat?«,
fragte Gorian.
Ruckartig hob der Namenlose den Kopf und starrte
ihn an.
»Davon verstehst du nichts!«, behauptete er.
Am Abend tauchte Embador am Horizont auf. Die
Stadt lag an der wilden Steilküste des Meeres von Ost-Erdenrund.
Auffällig war der gewaltige Hafen, der von einer mehrere Meilen
weit halbkreisförmig ins Meer hineinragenden Mauer umgeben wurde.
Hunderte von Galeeren waren an den Kaimauern vertäut.
Die Stadt selbst glich einem Netz aus Mauern, die
die einzelnen Viertel voneinander trennten. Es sah so aus, als
hätte man immer wieder neu entstandene Stadtviertel mit einer Mauer
umgeben, um auch sie vor äußeren Angriffen zu schützen. Irgendwann
hatte man diese Vorgehensweise wohl aufgegeben, denn die Stadt
wuchs ins Umland hinein, ohne von einer äußeren Mauer begrenzt zu
werden.
Ar-Don schien genau zu wissen, wohin er fliegen
musste. Es gab einen Landeplatz für Greifenreiter, der sich
praktischerweise gleich in der Nähe des Hauptmarktes befand. Dort
standen bereits ein Dutzend Gondeln. Nach Zog Yaals Auskünften
wurden sie sogar gegen Zahlung einer Gebühr bewacht.
»Die Dienste der Wächter sollten auch wir unbedingt
in Anspruch nehmen«, riet Zog Yaal. »Ansonsten kann es leicht
passieren, dass sie sich auf andere Weise das Schutzgeld holen, von
dem sie glauben, dass es ihnen zusteht.«
Ar-Don ging über dem Landeplatz für die
Greifengondeln nieder und setzte die Gondel etwas unbeholfen ab.
Von Centros Bals Greifen war man sanftere Landungen gewohnt, aber
immerhin ging die Gondel nicht zu Bruch und nahm auch sonst keinen
weiteren Schaden.
Die Seilschlangen lösten sich, und Ar-Don landete
kurz darauf unmittelbar neben der Gondel.
»Ich hoffe, du weißt dich hier zu
benehmen!«, sandte ihm Gorian einen ermahnenden Gedanken, den
er mit der Alten Kraft unterlegte, damit der Greifengargoyle auch
begriff, wie ernst es ihm war.
»Keine Sorge. Greifen sind dumm und
einfältig, habe aber viele Erinnerungen, aus denen Ar-Don schöpfen
kann …«
Dass Ar-Don von sich selbst in der dritten Person
dachte, war nichts Neues, trotzdem beunruhigte es Gorian.
»Meine Persönlichkeit ist noch nicht im Begriff,
zu einer dummen Greifenseele zu werden«, beschwichtigte ihn der
Gargoyle erneut. »Habe alle in der Gewalt – Ar-Don, Greif und
Meister Domrich …«
Es wurde vereinbart, dass der Namenlose Renegat und
der Maskierte bei der Gondel blieben, obwohl man die Dienste der
Gondelwächter in Anspruch nehmen wollte. Dem Namenlosen war der
Aufenthalt in einer lärmenden Stadt wie Embador zuwider, und zudem
wollte er auch nicht die metallene Truhe mit den gestohlenen
Schriften unbeaufsichtigt lassen.
Thondaril verließ mit Gorian, Sheera, Torbas und
Zog Yaal die Gondel.
Ein Glaserwagen, der von einem Oger gezogen wurde,
hatte sich offenbar bereits vom Rand des Gondelplatzes aus in
Bewegung gesetzt, als Ar-Don gerade gelandet war.
Zwei Männer mit dem Amulett der Glasmeister-Gilde
von Embador begleiteten den Wagen, auf dem mehrere Dutzend Scheiben
in den immer gleichen Standardgrößen der Greifenreiter-Gondeln in
einem speziellen Gestell befestigt waren. Gut zwanzig Spinnentiere,
deren Körper in etwa eine Handspanne maßen, krabbelten zwischen den
Scheiben umher.
»Ah, an Eurer Gondel ist ja eine ganze Menge zu
tun!«, sprach einer der Glasmeister Thondaril an. »Fünf
Silberstücke, und Ihr habt noch vor dem Morgengrauen wieder eine
vollständig verglaste Gondel.«
»Wir geben Euch zehn, wenn Ihr vor Mitternacht
fertig seid«, erwiderte Meister Thondaril. »Die Hälfte gleich, den
Rest holt Ihr Euch bei dem maskierten Mann in der Gondel ab, sobald
die Arbeit getan ist.«
»Einverstanden.« Der Glasmeister war begeistert und
wandte sich an seinen Partner. »Mach den Haltespinnen schon mal
Beine, während wir hier den Handel perfekt machen.«
Noch während Meister Thondaril die ersten fünf
Silberstücke abzählte, passten die Haltespinnen bereits die erste
Scheibe in eine der Fensteröffnungen ein.
Zog Yaal machte die anderen auf ein paar kräftige
und gut bewaffnete Oger aufmerksam, die über den Gondelplatz
patrouillierten. »Das sind die Gondelwächter, deren Dienste wir in
Anspruch nehmen sollten.«
»Die scheinen mir besser trainiert als jeder
Ringer, den ich in Segantia gesehen habe«, meinte Gorian.
»Das sind sie auch«, versicherte Zog Yaal.
»Müssen wir denen das Schutzgeld zahlen?«
»Nein, sie werden nur auf die Gondel aufpassen.«
Der Greifenreiter streckte den Arm aus und deutete zu einem
zweistöckigen Haus am Rand des Gondelplatzes. »Über den Preis
müssen wir dort verhandeln.«
»Verhandeln?«, fragte Meister Thondaril. »Gibt es
dafür keine festgelegten Preise?«
Zog Yaal schüttelte den Kopf. »Festgelegte Preise
sind gegen jede Händlerehre. Zumindest sieht man das hier in
Embador so. Und Fischlinger lieben es zu feilschen.«
»Fischlinger?«, fragte Gorian.
»Das Schutzgeldgeschäft in Embador ist größtenteils
in ihrer Hand, so wie auch der Handel mit Meeresfrüchten und zwei
Dutzend anderen Gütern. Wenn man ihnen nicht zu viel bezahlt,
respektieren sie einen.«
»Wir sollten uns beeilen, sonst bricht die Nacht
herein, und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Märkte dann
noch offen sind«, meinte Torbas.
»In Embador sind die Märkte Tag und Nacht
geöffnet«,
widersprach ihm Zog Yaal. »Ist, soweit mir bekannt, in allen
westreichischen Städten so. Man sagt hier, dies sei der Hauptgrund
für die Erfindung der Glasbrennerkunst gewesen, denn wie sollte man
eine Stadt wie Embador ohne gläserne Laternen gut genug beleuchten,
dass man auf den Märkten auch bei Nacht die Qualität einer Ware mit
dem Auge prüfen und mit den richtigen Münzen bezahlen kann?«
»Eine plausible Erklärung«, meinte Torbas.
Vor dem Eingang des Hauses stand ein großer Oger
mit einer Hellebarde in der linken Hand. Er winkte die
Neuankömmlinge herein. An der Hellebarde klebte Blut, so als wäre
damit erst vor kurzem jemand erschlagen worden.
»Das Blut an der Hellebardenklinge stammt von einem
Schwein oder einem Huhn«, raunte Zog Yaal seinen Begleitern zu, als
sie die Tür passiert hatten. »Das machen sie hier, um den
Gondelfahrern zu zeigen, dass sie auch wirklich was tun für das
entrichtete Schutzgeld.«
»Lug und Trug, wohin man sieht«, murmelte Meister
Thondaril finster. »Verkommenheit und pures Streben nach
Gewinn.«
»Mit Verlaub, Meister Thondaril – aber so ist die
Welt«, meinte Zog Yaal.
»Das ist mir nicht unbekannt«, erwiderte Thondaril.
»Was mich nur wundert, ist, dass sich das offenbar auch dann nicht
ändert, obwohl das Ende all dessen, was unser bisheriges Leben
ausmacht, unmittelbar bevorsteht. Ein Blick zum Himmel müsste doch
ausreichen, um jedem klarzumachen, wie es um Erdenrund bestellt
ist. Selbst wenn unser Plan gelingen sollte und wir Morygor
besiegen, wird danach nichts mehr so sein wie bisher.«
Sie gelangten in einen großen Raum, in dessen Mitte
sich
ein gläserner, nach oben hin offener zylinderförmiger Behälter
befand. Darin befand sich offenbar Meerwasser. Darauf deutete
jedenfalls der salzige Geruch hin, der den Raum erfüllte.
In diesem mindestens vier Schritt durchmessenden
Behälter schwamm ein fischähnliches Wesen. Neben den Seitenflossen
wuchs ihm ein Paar sehr kräftiger Arme aus dem Körper. Die Hände
hatten fünf breite Finger und einen Daumen mit einem dolchartigen
Krallennagel, und zwischen den Fingern spannten sich Schwimmhäute.
Das Gesicht hingegen wirkte beinahe menschlich.
Ein Oger-Wächter und ein großköpfiger Zahlenmagier
standen links und rechts des gläsernen Wasserbottichs. Die deutlich
hervortretenden Adern an dem übergroßen Hinterkopf des
Zahlenmagiers begannen schneller zu pulsieren, als er von seinem
kleinen Stehpult aufblickte, das er wohl zur Listenführung
brauchte. Er betrachtete die Ankömmlinge und schien ein gutes
Geschäft zu wittern. Um das zu erkennen, brauchte man kein
magisches Talent, ein Blick in seine gierig funkelnden Augen
genügte.
»Seid gegrüßt und willkommen!«, sagte der
Zahlenmagier dreimal hintereinander in drei verschiedenen Sprachen
– Gryphländisch, Westreichisch und Heiligreichisch.
Gorian hatte seinen Sprechstein bereits mit Magie
zum Schweigen gebracht, was die anderen nun nachholten.
»Wie lange werdet Ihr in Embador bleiben?«, fragte
der Zahlenmagier auf Westreichisch, das dem Heiligreichischen so
eng verwandt war, dass es keine großen
Verständigungsschwierigkeiten zwischen Angehörigen beider
Sprachgruppen gab.
»Ich hoffe, dass wir gegen Mitternacht wieder fort
sind«, kündigte Thondaril an.
Der Fischlinger ruderte aufgeregt in seinem
gläsernen Wasserbehälter. Der war in ein Gestänge aus dunklem
Hartholz eingefasst, sodass Oger ihn wie eine Sänfte tragen
konnten.
Die Gesten des Fischlinger waren offenbar eine Art
Zeichensprache, die der Zahlenmagier zu deuten wusste. »Mein Herr
Greshshsht sagt, dass Ihr den Gondelplatz, den Ihr belegt, dennoch
für die ganze Nacht bezahlen müsst. Damit kommt er Euch sehr
entgegen, denn normalerweise wird er für ein ganzes Jahr
vermietet.«
Thondaril erinnerte sich an Zog Yaals Worte, denen
zufolge man den Schutzgeldvermittlern nicht zu viel Geld in den
Rachen werfen durfte, wollte man sich ihren Respekt verdienen. »Das
Fischgesicht bekommt eine gryphländische Kupfermünze, mehr nicht.
Übersetzt ihm das!«
»Das brauche ich nicht«, erklärte der Zahlenmagier.
»Die Tatsache, dass Fischlinger fast stumm sind, weil sie nur
wenige Laute bilden können, heißt nicht, dass sie auch taub wären.
Die Flüssigkeit überträgt den Schall Eurer freundlichen Worte nur
noch eindringlicher, und ich versichere Euch, dass er jedes davon
versteht. Herr Greshshsht beherrscht nämlich mindestens fünf
Menschensprachen. Das sind zumindest die, von denen ich weiß, und
Heiligreichisch gehört dazu.«
Der Fischlinger geriet mehr und mehr in Unruhe. Er
wand sich mehrfach in seinem gläsernen Wasserbehälter und schien
sich gar nicht mehr beruhigen zu wollen.
»Vielleicht ist diese Verhandlungsstrategie doch
nicht ganz die richtige«, raunte Torbas dem Greifenreiter zu, und
tatsächlich machte Zog Yaal eine Miene, als würde nicht alles so
laufen wie von ihm gewünscht.
Doch auf einmal wurde Greshshsht vollkommen ruhig.
Er drückte sein abgesehen von der fehlenden Nase sehr menschlich
wirkendes Gesicht gegen das Glas und machte große Augen, so als
wollte er sich die neuen Kunden ganz genau ansehen. Gorian spürte
einen Schwall sehr wirrer Gedanken, zu fremdartig, um sie mithilfe
der Alten Kraft zu lesen.
Der Fischlinger machte ein paar Gesten, aus denen
der Zahlenmagier offenbar zunächst nicht schlau wurde. Er musste
noch einmal nachfragen, was er sowohl in der Zeichensprache als
auch auf Westreichisch tat.
Der Fischlinger wiederholte seine Gesten, und
Gorian hatte den Eindruck, dass er seine Bewegungen diesmal noch
schneller ausführte.
»Er sagt, dass er eine besondere Kraft spüre«,
erklärte der Zahlenmagier und wog den übergroßen, völlig haarlosen
Kopf. Das Geflecht der dunkelblauen Adern trat noch deutlicher
hervor.
»Ich habe nicht gewusst, dass dein Volk die Alte
Kraft kennt«, sagte Thondaril an Greshshsht gewandt. Von den
Fischlingern wusste man im Heiligen Reich ohnehin nur wenig. Ihre
Heimat waren die Weiten des Meeres von Ost-Erdenrund, und Westreich
war das einzige Land, in dem sie mit den Menschen in nennenswerter
Häufigkeit Kontakt hatten.
Gorian wusste davon nur vom Hörensagen. In der
Bucht von Thisilien, wo er aufgewachsen war, hatte es nie
Fischlinger gegeben, und so war er auch zuvor noch nie einem von
ihnen begegnet.
Greshshsht fuchtelte erneut mit den Armen herum,
und der Zahlenmagier übersetzte die Zeichen in Worte. »Die Alte
Kraft ist allgegenwärtig, und jedes Wesen kann sie mit mehr oder
weniger Geschick einsetzen. Die Fischlinger benutzen
sie für die Jagd auf die Neunarmkraken in der Tiefsee, die von den
Menschen überall im Westreich als Delikatesse geschätzt werden und
…«
»Wir haben nicht viel Zeit«, unterbrach ihn Meister
Thondaril. »Lasst uns weiter über das Schutzgeld für unsere Gondel
verhandeln.«
»Wir verhandeln vielleicht über Euer Leben«, ließ
der Fischlinger durch den Zahlenmagier übersetzen. »Der Preis einer
Kupfermünze ist akzeptiert, Eure Gondel steht bis zum Morgengrauen
unter unserer Bewachung.«
»Wir danken«, sagte Meister Thondaril.
Der Fischlinger ruderte mit seinen Armen ein wenig
zurück und verharrte schließlich fast senkrecht im Wasser, so als
würde er dort stehen, den Kopf dabei nach vorn gereckt. Er streckte
seine linke Schwimmhaut-Hand aus und deutete mit dem Zeigefinger
geradewegs auf Gorian.
»Du!«, stieß er dazu mit dumpfer, sehr tiefer
Stimme hervor. »Du!« Er bewegte dabei den Mund mit vorgestülpten
Lippen, was ihn sehr viel fischartiger als zuvor wirken ließ.
Mehrere hintereinander gestaffelte Zahnreihen wurden dabei
sichtbar. Dann begann er erneut hektisch zu gestikulieren.
»Alle sollen den Raum verlassen«, übersetzte der
Zahlenmagier und richtete den Blick auf Gorian. »Alle außer
dir.«
»Was will Greshshsht von meinem Schüler?«, mischte
sich Meister Thondaril ein.
»Greshshsht ist hier der Herr«, erklärte der
Zahlenmagier sehr ernst. »Ich würde niemandem empfehlen, sich mit
den Ogern anzulegen, die in seinen Diensten stehen.«
»Macht Euch keine Sorgen, Meister«, sagte Gorian.
»Ich fühle mich nicht in Gefahr.«
Alle außer Gorian verließen den Raum, auch die
Oger-Wachen. Greshshsht wartete ab, bis die Tür hinter ihnen
geschlossen war. Dann bedeutete er Gorian näher zu kommen.
»Du!«, drang es noch einmal dumpf aus dem gläsernen
Behälter. Greshshsht presste die Stirn an das Glas und bedeutete
Gorian mit Gesten, es ihm gleichzutun.
Also legte auch Gorian die Stirn gegen das Gefäß.
Dabei spürte er einen ganz schwachen Gedankenstrom. Er war zu wirr
und zu fremdartig, um ihm irgendeine Bedeutung entnehmen zu können.
Nur eines spürte Gorian sehr deutlich: den unbedingten Wunsch, ihm
etwas mitzuteilen, und zwar ausschließlich ihm; niemand sonst
sollte davon erfahren.
Und da war auch etwas wie Furcht oder ein eisiger
Schauder.
Der Fischlinger presste auch noch die Handflächen
gegen das Glas, und Gorian machte es ihm instinktiv nach. Es
zischte, als plötzlich bläuliche Blitze durch die Scheibe zwischen
den Handflächen hin und her zuckten.
Gorians Augen wurden vollkommen schwarz, und
dasselbe geschah auch mit denen Greshshshts. Die Blitze verebbten,
und die Gedanken des Fischlingers gewannen plötzlich überraschend
an Klarheit und Deutlichkeit.
»Du bist derjenige, der Waffen aus Sternenmetall
trägt – einen Dolch und ein Schwert«, flüsterte die
Gedankenstimme so verhalten, dass Gorian die Alte Kraft
konzentrieren musste, um sie zu verstehen. Auch die Fischlinger
benutzten diese Art der Magie, aber auf eine völlig andere Weise,
was wohl zur Folge hatte, dass die Verständigung per
Gedankenübertragung sehr anstrengend war.
Trotzdem zog es Greshshsht vor, sich auf diesem Weg
an Gorian zu wenden, anstatt die Übersetzerdienste des
Zahlenmagiers in Anspruch zu nehmen. Offensichtlich wollte er
sich mit dem Ordensschüler austauschen, ohne dass ein Zeuge
anwesend war. Und da gab es kaum eine andere Möglichkeit der
Verständigung als diese, denn der Sprechstein aus dem
Basilisken-Reich, den Gorian noch immer bei sich trug, übersetzte
nur gesprochene Worte, nicht aber eine Zeichensprache aus
Gebärden.
»Woher weißt du von meinen Waffen?«, fragte
Gorian mit einem sehr eindringlichen Gedanken. Vielleicht war er
etwas zu eindringlich, denn dort, wo sich die Hände von beiden
Seiten gegen das Glas drückten, knisterten wieder Blitze, und im
nächsten Augenblick geschah dies auch dort, wo Gorians Stirn und
die des Fischlinger die Scheibe berührten. Greshshsht stieß einen
Laut aus, den Gorian als Äußerung des Schmerzes oder zumindest
starken Unbehagens deutete.
Ohne Weiteres war nicht zu erkennen, aus welchem
Material Sternenklinge und Rächer bestanden, schon deshalb, weil
Gorian seine Waffen nicht offen trug. Und selbst dann hätte nur
jemand, der etwas davon verstand, den Unterschied zu gewöhnlichem
Metall festgestellt. Oder jemand mit starkem magischem Talent, der
die dem Sternenmetall innewohnenden Kräfte zu spüren vermochte.
Gorian aber konnte sich nicht vorstellen, dass dies bei dem
Fischlinger der Fall war, dem es ja schon große Mühe bereitete, ein
paar einfache Gedanken zu übertragen.
»Es war jemand hier, der sich nach dir erkundigt
hat«, folgte ein weiterer Gedanke des Fischlinger, und zugleich
wurde ein Bild an Gorian übertragen, das sich vor dessen innerem
Auge manifestierte: zwei wirbelnde Rauchsäulen, die zu menschlichen
Körpern verstofflichten.
»Schattenpfadgänger!«, erkannte
Gorian.
»Sie ahnten, dass du und deine Gefährten hier
auftauchen würden,
und sie wollen deinen Tod, Gorian von Twixlum. So ist doch dein
Name, oder?«
Gorian sah vor seinem geistigen Auge einen jungen
Mann, kaum älter als er selbst, und einen Grauhaarigen, der schon
seine sechzig Winter hinter sich zu haben schien, vielleicht auch
mehr. Bei Schattenpfadgängern war das nie so genau zu sagen, denn
ihre Kräfte zehrende magische Kunst ließ manche vorzeitig altern,
sodass sie in Wahrheit viel jünger waren, als sie aussahen. Andere
hingegen schafften es nicht nur, ein vorzeitiges Altern zu
verhindern, sie erzielten sogar mithilfe der Alten Kraft einen
gegenteiligen Effekt.
»Sie gehören demselben Orden an wie du,
Gorian, und sie haben genug dienstbare Geister in Embador. Du musst
Acht geben, tausend Augen und Ohren in der Stadt werden dir
nachspüren. Jeder fürchtet den Zorn dieser beiden, denn sie tauchen
aus dem Nichts auf, als schwarzer Rauch, und morden leise und
geschickt. Eigentlich soll ich ihnen eine Botschaft schicken,
sobald ich dich sehe.«
»Stattdessen warnst du mich vor ihnen«,
stellte Gorian fest. »Warum?«
»Weil diese wandelnden Schatten jener Macht
dienen, die alles kälter werden lässt und die uns alle vernichten
wird, wenn ihr niemand Einhalt gebietet.«
»Morygor!«
»Ja, diesen Namen habe ich immer wieder
vernommen. Meine ersten Geschäfte tätigte ich mit dem Handel von
Neunarmkraken. Aber es gibt kaum noch welche vor der
westreichischen Küste, die zunehmende Kälte treibt sie in
südlichere Gewässer. Früher sind meine Jäger im Sommer bis an die
Küste von Eisrigge geschwommen, aber das können sie schon lange
nicht mehr. Dich fürchtet der Herr dieser dunklen Mörder, darum
will er deinen Tod und
versucht jeden, der dir begegnet, zu seinem Helfer zu machen. Aber
mein Wille ist nicht so leicht zu beeinflussen.«
»Ich danke für die Warnung.«
»Geh sobald wie möglich. Verlass diese Stadt,
solange dich die Mörder noch nicht entdeckt haben. Meine Oger sind
die besten Kämpfer Embadors, aber gegen die Mächte, die dich
verfolgen, ist ihr Schutz nur eine Kupfermünze wert, und daher
werde ich auch nicht mehr verlangen.«
»Meister Parrach und Meister Shabran von der
Ordensgesandtschaft in Havalan!«, stieß Thondaril grimmig hervor,
nachdem Gorian ihm die Erinnerungsbilder, die ihm der Fischlinger
übertragen hatte, in seinem Handlicht gezeigt hatte. Gorian schuf
dafür keine größere Lichtblase, auf der man die beiden
Schattenmeister noch deutlicher hätte erkennen können, um kein
weiteres Aufsehen zu erregen.
»Offenbar ist Meister Shabran, zu dem Eure
Handleseverbindung abbrach, inzwischen ebenfalls zu einem Diener
des Frostreichs geworden«, äußerte Gorian.
»Ja«, murmelte Thondaril finster. »So muss es wohl
sein. Nicht mehr lange, und es gibt im Orden mehr von Morygors
Dienern als aufrechte Kämpfer gegen ihn.«
»Sie befinden sich hier, in Embador. Wir müssen
also jederzeit damit rechnen, dass sie aus dem Nichts auftauchen
und zuschlagen.«
»Dann sollten wir unsere Geschäfte hier so schnell
wie möglich hinter uns bringen und Greshshshts Rat folgen und die
Stadt verlassen«, meinte Sheera.
»Also trennen wir uns«, schlug Zog Yaal vor. »Ich
werde zusammen mit Gorian die Seilschlangen, die wir noch brauchen,
erstehen. Er hat mir beim Umgang mit den Tieren zugesehen und kennt
sich mit ihnen noch besser aus als
Torbas. Er kann zwar ihre Qualität nicht beurteilen – das wird
meine Aufgabe sein -, aber er kann mir dabei helfen, sie
herzuschaffen, ohne dass die verrückt werden, was bei einem
Besitzerwechsel leicht passieren kann. Und ihr kümmert euch um die
Vorräte. Auf dem Markt herrschen keine besonderen Regeln, die
beachtet werden müssen, und die Haltbarkeit und Verträglichkeit der
Speisen, die man in eurer Heimat nicht kennt, wird Sheera als
Heilerin einschätzen können«
»Heilschülerin«, korrigierte Thondaril, dem
der Vorschlag aus irgendeinem Grund nicht zu gefallen schien. Aber
er stimmte schließlich dennoch zu, denn so konnten sie die Stadt
vielleicht schon lange vor Mitternacht verlassen.
Je weiter die Dämmerung voranschritt, desto mehr
Laternen wurden in Embador entzündet. Die Stadt glich bald einem
einzigen Lichtermeer. Da die Glasbläserkunst in Westreich so weit
fortgeschritten war wie nirgends sonst, hatten die Laternen die
kunstvollsten Formen. Viele stellten Geistergesichter dar, so
filigran bearbeitet, dass man glauben konnte, sie würden jeden
Moment zum Leben erwachen.
»Sie sollen Glück bringen«, erklärte Zog Yaal,
während er sich zusammen mit Gorian auf dem Weg zu einem
Seilschlangenzüchter durch ein Gewirr enger und von vielen Menschen
überlaufender Gassen bewegte. Die Priesterschaft des Verborgenen
Gottes hatte sich offenbar mit den Geisterdarstellungen der
Laternen arrangiert, auch wenn sie ganz sicher nicht den Lehren
entsprachen, die der Bischof von Atrantia vertrat. Aber an den
Laternenpfählen hingen Gebetszettel aus Pergament mit dem Siegel
der Priesterschaft.
Ein Fischlinger ließ sich von zwölf Ogern in seinem
Glasbottich
eine der Gassen entlangtragen. Das Sänftengestell, in das der
Glasbehälter eingepasst war, hatte man mit einem Überzug aus
Blattgold versehen. Dahinter zogen weitere Oger einen großen
Handkarren, in dem ein toter Neunarmkrake lag. Außerdem folgten
mehrere bewaffnete Krieger – sowohl Menschen als auch Oger – und
einige Zahlenmagier, die zum Gefolge des Fischlinger zu gehören
schienen. Auf dem Handkarren balancierte ein dressierter Affe
herum, der beständig damit beschäftigt war, Salz über den Körper
des Neunarmkraken zu streuen.
Der Zug kam vom Hafen her und war offenbar auf dem
Weg zu einem der Märkte von Embador. Gorian und Zog Yaal blieb
nichts anderes übrig, als sich in eine Hausnische zu drücken, so
wie andere Passanten auch, von denen einer sagte: »Lange her, dass
ein solcher Fang hier angeboten wurde.«
»Darum steigen die Preise für Neunarmkraken
mittlerweile ins Unermessliche«, sagte ein anderer.
»Das hier ist noch ein mickriges Exemplar.«
In diesem Moment setzte leichter Schneeregen
ein.
Die Seilschlangenzüchter von Embador waren alle in
derselben Gasse zu finden. Nach Zog Yaals Meinung reichten sechs
zusätzliche Schlangen aus, und Gorian hatte keinen Grund, dem
Sachverstand des Greifenreiters anzuzweifeln. Der traf seine Wahl
sehr schnell und wirkte dabei absolut sicher.
Er überprüfte kurz jede Schlange dahingehend, wie
genau sie auf Befehle reagierte. Anschließend gebot er allen sechs,
sich derart zusammenzurollen, dass man sie wie Schärpen um den
Oberkörper tragen konnte.
Jeder von ihnen nahm drei von ihnen, und Gorian
bezahlte
mit den Silberstücken, die Meister Thondaril ihm gegeben hatte.
Dann machten sie sich auf den Rückweg.
Inzwischen herrschte tiefe Nacht. Mond und Sterne
waren in einer so hell erleuchteten Stadt wie Embador ohnehin nicht
zu sehen, weil das Licht der Laternen sie überstrahlte, zudem aber
hatte sich der Himmel mit einer dunklen, drohenden Wolkendecke
zugezogen, und der Schneeregen wurde immer heftiger. Auch wehte
mittlerweile ein eisiger Wind und riss hier und dort einige der
Gebetszettel von den Laternenmasten, die wie Laub durch die Gassen
gewirbelt wurden.
Gorian wunderte sich darüber, dass ihn Zog Yaal auf
einem anderen Weg zum Gondelplatz zurückführte als dem, den sie
gekommen waren, fragte aber nicht nach dem Grund dafür.
Sie gelangten in eine einsame Gasse, die aber
dennoch gut beleuchtet war; etwas anderes schien in Embador nicht
geduldet zu werden. So standen auch hier die kunstvollen Laternen
mit ihren Geistergesichtern und den Gebetspergamenten in
regelmäßigen Abständen. Bei den Gebäuden rechts und links der Gasse
musste es sich um Lagerhäuser handeln.
»Wundert mich, dass es in Embador Orte gibt, an
denen in der Nacht nichts los ist«, meinte Gorian. »Wo doch sogar
die Märkte rund um die Uhr geöffnet sind.«
Plötzlich spürte er, wie sich die drei
Seilschlangen, die er um den Oberkörper trug, zusammenschnürten,
sodass sie ihm die Luft aus den Lungen drückten. Taumelnd stand er
da und glaubte schon, dass ihm diese sonst so dienstbaren Kreaturen
die Rippen brechen würden. Er versuchte ihnen den Befehl zu
erteilen, ihren Griff zu lösen, doch ihm fehlte der Atem dazu, und
so entrang sich nicht mehr als ein schwaches Krächzen seiner
Kehle.
Zog Yaal, der zunächst ein paar Schritte
weitergegangen war, blieb stehen und drehte sich um. Sein Gesicht
wirkte vollkommen verändert, war zu einer verzerrten Fratze
geworden, und er bleckte die Zähne wie ein Tier. Er wirkte ergrimmt
und von einem Hass erfüllt, der kaum sein eigener sein konnte.
Morygors Aura musste zu stark für ihn gewesen sein. Er war den
Einflüsterungen des Herrn der Frostfeste, denen er offenbar schon
seit einiger Zeit ausgesetzt war, letztendlich erlegen.
Gorians Augen wurden schwarz, er sammelte die Alte
Kraft. Aber die Seilschlangen schnürten ihn so zusammen, dass er
nicht einmal Rächer oder Sternenklinge hervorreißen konnte, weder
mit den Händen noch mit der Kraft seines Geistes.
Es war ein gut geplanter Angriff von jemandem, der
alles bedacht hatte, musste Gorian eingestehen. Der Kraftschrei,
den er ausstoßen wollte, erstickte in einem schwächlichen,
atemlosen Röcheln.
Die drei Seilschlangen, die bis dahin noch um Zog
Yaals Leib gewickelt waren, lösten sich, als der Greifenreiter
ihnen den Befehl dazu gab, und glitten zu Boden. Ihre Körper
veränderten sich, wurden sehr viel kürzer und nahmen dafür an Dicke
zu, sodass sie nicht mehr dünnen Kletter- oder Halteseilen, sondern
armdicken Würgestricken glichen.
Auch die Seilschlangen, die Gorian bereits gefangen
hielten, wandelten sich auf diese Weise, vermutlich weil sie so
noch mehr Kraft aufwenden konnten, um den Ordensschüler zu
zerquetschen.
Die Seilschlangen am Boden schnellten zunächst mit
kobragleich erhobenen Vorderenden auf Gorian zu, dann sprangen sie
fast gleichzeitig mehrere Schritt weit durch die Luft. Wie eine
Peitsche schlang sich eine von ihnen um
Gorians Fesseln und riss ihm die Beine weg, sodass er hart zu
Boden fiel. Die anderen wickelten ihn innerhalb weniger Herzschläge
ein, sodass er vollkommen hilflos war. Er versuchte sich um die
eigene Achse zu drehen, doch nicht einmal das gelang ihm.
Zunächst hatte er geglaubt, seine Magie wäre
vollkommen wirkungslos, aber dann begriff er, dass er ohne seine
Kräfte sicherlich schon gar nicht mehr am Leben gewesen wäre.
Wieder veränderte sich Zog Yaals Gesicht. Der Hass
darin wich einem Ausdruck der Hilflosigkeit. »Es tut mir leid«,
wimmerte er. »Die Aura … Die Stimme … Ich war zu schwach,
Gorian!«
Die Kräfte, die Zog Yaal zu seinem Verrat getrieben
hatten, schienen ihn für einige Augenblicke zumindest teilweise aus
ihrer Gewalt zu entlassen. Für Morygors Pläne war er nicht mehr
wichtig genug, um sich voll und ganz auf ihn zu
konzentrieren.
Im nächsten Moment vernahm Gorian das höhnische
Lachen einer Gedankenstimme, so eindringlich, dass eine Welle des
Schmerzes vom Kopf aus seinen gesamten Körper durchlief und er für
einen Moment die Konzentration auf seine Kräfte zu verlieren
drohte.
»Niemand entkommt Morygor! Und niemand kreuzt
meine Schicksalslinie, dem ich es nicht erlaube!«
Auf einmal stieß Zog Yaal eine Reihe von Knack- und
Zischlauten aus, zweifellos Seilschlangenbefehle, auch wenn Gorian
nicht einen einzigen davon erkannte. Aber zu seiner Verwunderung
spürte er deutlich, wie die mörderische Umklammerung schwächer
wurde, ohne sich jedoch völlig zu lösen, so als ob die
Seilschlangen unter widerstreitenden Einflüssen standen.
Gorian konzentrierte sich erneut auf seine Magie.
Blitze zuckten aus seinem Körper, und die Seilschlangen lockerten
ihren Würgegriff vollends, dann schnellten sie eine nach der
anderen davon, während flackernde Lichterscheinungen sie umflorten
und sie vor Schmerzen schrill aufschrien.
Gorian rappelte sich auf, zog Sternenklinge und
Rächer. Alles, was er bisher erreicht hatte, war, die Seilschlangen
ein Stück fortzujagen, aber das musste noch nicht bedeuten, dass
der Kampf schon vorbei war.
Er rang nach Luft und murmelte einen einfachen
Heil-und Kräftigungszauber.
Im nächsten Moment kehrten die Seilschlangen
zurück, krochen blitzschnell über den gepflasterten Boden auf ihn
zu und streckten dabei erneut die Vorderenden empor wie Kobras.
Alle waren sie extrem kurz geworden, hatten dafür aber einen
Durchmesser erreicht, der an den eines durchschnittlichen
Oger-Oberschenkels heranreichte.
Die erste von ihnen sprang auf Gorian zu. Der
Ordensschüler schleuderte Rächer. Die Dolchklinge aus Sternenmetall
durchbohrte die Seilschlange, riss sie mit sich und nagelte sie an
den Fachwerkbalken eines der Lagerhäuser. Die zweite zerteilte
Gorian mit mehreren Schwerthieben. Dabei konzentrierte er in
gewohnter Weise die Alte Kraft auf Sternenklinge, deren Metall von
einem bläulichen Leuchten umflort war.
Ein Ruf ertönte.
Es war Zog Yaal, und das Wort, das er hervorstieß,
enthielt ungewöhnlich viele jener Knack- und Zischlaute, auf die
das Gehör der Seilschlangen so sensibel reagierte, hatte aber
andererseits auch mehr Ähnlichkeit mit menschlicher Sprache als
jeder andere Seilschlangenbefehl, den Gorian bisher vernommen
hatte.
Die angreifenden Kreaturen fielen augenblicklich in
eine Art Bewusstlosigkeit. Sie klatschten zu Boden und gewannen
dabei wieder an Länge, während ihr Durchmesser entsprechend abnahm,
so als wenn sich ein Muskel entspannte. Einen Augenblick später
sahen sie fast wie ganz gewöhnliche, leblose Seile aus, wie sie in
jeder Hafenseilerei geflochten wurden.
Gorian streckte die Hand aus, und Rächer wirbelte
durch die Luft zu ihm zurück. Er steckte beide Waffen ein. Der
Brustkorb schmerzte ihm immer noch.
Aber Zog Yaal war schlimmer dran. An mehreren
Stellen seines Körpers, wo er von den Eiskrähen verwundet worden
war, drang schwarzes Blut durch seine Kleidung, und es lief ihm
auch aus Mund und Nase. Gorian machte einen Schritt auf ihn zu,
während Zog Yaal vor ihm zurückwich und die Hände abwehrend hob.
»Bleib, wo du bist, Gorian! Bleib, wo du bist, und lass mich hier
in Embador zurück! Ich bin nur eine Gefahr für dich, denn du kannst
mir nicht mehr trauen!«
»Du warst es doch, der mich gerettet hat«, stellte
Gorian fest.
»Der Notbefehl für widerspenstige Seilschlangen.
Jeder bekommt ihn von den Gildenlehrern beigebracht. Aber er wurde
kaum je angewendet, und es dürfte in ganz Gryphland nicht eine
Handvoll Greifenreiter geben, die aus eigener Erfahrung garantieren
können, dass er überhaupt funktioniert.«
Gorian machte einen weiteren Schritt auf Zog Yaal
zu, aber dieser wich erneut zurück, taumelte dabei und fiel zu
Boden. Abermals hob er abwehrend die Hände. »Nicht näher kommen!«,
rief er, und seine Stimme überschlug sich dabei fast. »Du weißt
nicht, wie lange ich Herr meiner eigenen
Gedanken und Taten bin. Ich könnte jederzeit wieder zu deinem
Feind werden!«
»Das warst du nie.«
»Doch, Gorian. Ich war es, der den
Seilschlangen den Befehl gab, dich zu töten. Niemand sonst. Ich war
einfach zu schwach, um den Einflüsterungen der Stimme zu
widerstehen. Ich war so schwach, Gorian. So verflucht
schwach.«
»Aber du hast dich Morygors Einfluss letztlich
widersetzt, Zog Yaal! Obwohl du keine Magie einzusetzen vermagst,
um dich zu schützen! Es war nur dein Wille und die Stärke deines
Charakters – und du hast einen hohen Preis dafür bezahlt!«
Gorian hatte ihn inzwischen erreicht und kniete
neben ihm nieder. Er murmelte einen Heilzauber, der die Blutungen
vorläufig zum Stillstand brachte.
»Du solltest dich vor mir in Acht nehmen,
Gorian.«
»Ich muss mich vor jedem in Acht nehmen, denn
niemand ist davor gefeit, Morygors Einflüsterungen zu erliegen.
Wirklich niemand! Aber was dich betrifft, mache ich mir in nächster
Zeit die geringeren Sorgen, denn du hast dich dem Herrn der
Frostfeste erfolgreich widersetzt, und das ist etwas, was nicht
einmal der Hochmeister des Ordens der Alten Kraft vermochte.«
Sie schwiegen eine Weile, während Zog Yaal am Boden
lag und versuchte, neue Kraft zu schöpfen. Schließlich sagte er:
»Die vier übrig gebliebenen Seilschlangen kann man noch verwenden.
Vorausgesetzt, es gelingt mir, sie aus ihrem gegenwärtigen Zustand
zu erwecken. Aber das dürfte nicht allzu schwierig sein.«
In diesem Augenblick öffnete sich knarrend eine der
Türen eines vierstöckigen, in Fachwerkbauweise errichteten
Lagerhauses, und zwei große, kräftige Oger traten ins Freie,
beide mit Breitschwert, Streitaxt und einer beachtlichen Anzahl
von Wurfsternen am Gürtel. In Gürtelschnalle und Lederwams war das
Wappen des Handelshauses eingearbeitet, dem offenbar auch das
Lagerhaus gehörte, denn das gleiche, aus einer stilisierten Blüte
bestehende Wappen prangte auch neben der Tür.
Die beiden Oger-Wächter traten näher und sahen sich
um.
»Gibt es hier irgendwelche Schwierigkeiten?«,
fragte einer von ihnen und verschränkte die mächtigen Arme vor der
Brust. Er sprach ein sehr einfaches Westreichisch, das auch jeder
Heiligreicher verstehen konnte.
»Ein paar ungehorsame Seilschlangen, das ist
alles«, behauptete Gorian.
»Ist aber kein Grund, hier so einen Krach zu
schlagen!«
»Schon klar«, sagte Gorian hastig, da er nicht auf
eine längere Diskussion mit den Oger-Wächtern aus war.
Der zweite Oger streckte den Arm aus und deutete
auf Zog Yaal. »Es ist mir gleichgültig, warum du den Kerl so
zugerichtet hast, aber ich gebe euch den guten Rat, eure
Streitigkeiten in Zukunft anderswo auszutragen.«
»Wir sind schon so gut wie weg«, versicherte
Gorian.
»Ihr seid doch fremd hier«, begann der andere
wieder.
»Das ist richtig«, bestätigte Gorian.
»Und wem bezahlt ihr Schutzgeld?«
»Wir stehen unter dem Schutz von Herrn Greshshsht«,
antwortete Gorian schnell, denn er hegte den Verdacht, dass sich
die beiden Oger vielleicht ein paar Münzen dazuverdienen wollten,
indem sie zwei Schutzlose ausraubten. Zwar zweifelte er nicht
daran, notfalls mit ihnen fertig zu werden, denn der Kampfkunst
eines Schwertmeisters war auch der stärkste Oger in der Regel nicht
gewachsen, aber die Zeit
drängte, und davon abgesehen gab es nichts, was Gorian mehr
verabscheute als sinnlosen Kampf.
»Herr Gershshsht?«, echote einer der Oger, wobei er
das Wort »Herr« auf eine Weise betonte, die Gorian nicht gefiel.
»Ich fürchte, euer Schutz ist abgelaufen, und ihr solltet euch
schleunigst einen neuen erkaufen.«
»Schließlich sind nicht alle Wächter so nett wie
wir«, ergänzte der andere.
In diesem Augenblick spürte Gorian, dass Meister
Thondaril versuchte, mit ihm über Handlichtlesen in Verbindung zu
treten. Aber er wollte abwarten, bis sich die beiden Oger wieder
ins Gebäude zurückgezogen hatten.
»Wenn ihr einen neuen Schutz braucht, dann kommt
einfach bei Sonnenaufgang hierher. Bis dahin müsst ihr auf euch
allein gestellt überleben, denn vorher untersagen die Gesetze von
Embador einen Wechsel des Schutzgebers.«
»Was ist denn mit Greshshsht?«, fragte Zog
Yaal.
Einer der Oger wandte den Kopf, um ihm einen
finsteren Blick zuzuwerfen, der andere war bereits wieder im
Lagerhaus verschwunden. »Er ist tot! Die Nachricht verbreitet sich
gerade wie ein Lauffeuer.«
Als auch der zweite Oger weg war und die Tür hinter
sich geschlossen hatte, ließ Gorian ein Licht in seiner Handfläche
entstehen, in dem das Gesicht von Meister Thondaril erschien.
»Kommt sofort zum Gondelplatz. Mit oder ohne Seilschlangen, das ist
vollkommen gleich. Die Dinge haben sich hier sehr ungünstig
entwickelt.«
Gorian und Zog Yaal sammelten die verbliebenen vier
Seilschlangen ein, und der junge Greifenreiter weckte sie aus ihrem
leblosen Zustand, indem er jede an einer ganz bestimmten Stelle
berührte. Daraufhin wickelten sie sich von selbst auf, wie man es
von ihnen gewohnt war.
»Sie scheinen perfekt zu gehorchen«, bemerkte
Gorian.
»Natürlich tun sie das. Das haben sie auch, als sie
versucht haben, dich umzubringen.«
Jeder von ihnen hängte sich zwei der Seilschlangen
über die Schulter. Gorian zögerte einen kurzen Moment, denn die
Erinnerung daran, dass ihn diese Wesen beinahe umgebracht hätten,
war noch allzu frisch. Zog Yaal bemerkte es und sagte: »Wenn du
jemanden fürchten musst, dann mich und meine innere Schwäche, nicht
die Seilschlangen.«
»Was ist mit deinen Wunden?«
»Es geht schon. Du scheinst ein halber Heiler zu
sein.«
»Ich wäre vielleicht schon ein ganzer, würde es die
Ordensburg auf Gontland noch geben.«
Sie beeilten sich, zum Gondelplatz zu gelangen.
Zog Yaal hatte keine Schwierigkeiten, mit Gorian mitzuhalten. Er
sah mit seinem blutverschmierten Gesicht und der blutdurchtränkten
Kleidung furchtbar aus, war aber körperlich wieder bei Kräften.
Offenbar sprach er auf einfache Heilmagie gut an. Und vielleicht
verlieh ihm auch die wachsende Erkenntnis, dass er tatsächlich
einer überlegenen Macht widerstanden hatte, zusätzliche
Energie.
Als sie den Gondelplatz erreichten, herrschte
dichtes Schneegestöber, und der kalte Wind war noch beißender
geworden. Der große Platz bot nicht den Schutz der engen Gassen,
und so waren sie Wind und Schnee frei ausgesetzt.
Das Erste, das Gorian auffiel, war die
Stille.
Die Sicht war schlecht, trotzdem erkannte er, dass
eine ganze Anzahl von Gondeln fehlte. Sie hatten sich in den
düsteren Himmel erhoben. Der Wind verschluckte das Krächzen der
Greifen.
Es musste einen Grund haben, dass viele
Gondelbesitzer
es vorzogen, trotz des Unwetters geradezu fluchtartig die Stadt zu
verlassen, anstatt wenigstens bis zum Morgengrauen in Embador zu
verweilen.
Tote Oger lagen überall auf dem Platz. Ihr Blut
rann aus schrecklichen Wunden und versickerte in den Fugen des
Pflasters, während sich eine Schicht aus grauweißem Schnee auf
ihren leblosen Körpern bildete. Viele hatten noch nicht einmal ihre
Waffen ziehen können, bevor sie von Schwerthieben mit
ungewöhnlicher Präzision niedergestreckt worden waren. Das deutete
auf Schwertmeister des Ordens hin, allerdings waren viele der Oger
auch hinterrücks ermordet worden.
Schattenmeister, ging es Gorian durch den Kopf. Nur
sie kamen dafür infrage.
Torbas stand bei der Gondel und hatte den
Seilschlangen bereits befohlen, sich um den Greifengargoyle Ar-Don
zu schlingen. Als er Gorian und Zog Yaal bemerkte, lief er ihnen
entgegen. »Na los, worauf wartet ihr? Wir müssen hier weg!«
Gleichzeitig aber erreichte Gorian ein
Gedankenbefehl von Meister Thondaril: »Komm her!
Sofort!«
Gorian begriff sogleich, dass sich sein Meister in
jenem Gebäude befand, wo Greshshsht sie empfangen hatte. Er wandte
sich an Zog Yaal und rief: »Geh schon mal zur Gondel und mach sie
startklar!«
»Aber …«
»Geh schon!«, drängte Gorian.
Dann lief er zu dem Gebäude.
Auch dort lagen erschlagene Oger-Wachen, und im
Haus musste er über die Leiche des Zahlenmagiers steigen, dem man
den übergroßen Schädel gespalten hatte.
Der Bottich des Fischlinger war zerstört. Die
Glassplitter
funkelten in einer riesigen Pfütze aus Salzwasser, und mittendrin
lag Greshshsht, die Augen starr und die Arme weit von sich
gestreckt. Er war zweifellos nicht mehr am Leben.
Meister Thondaril stand neben der Leiche, das
Schwert in beiden Händen. Er sagte kein Wort. Seine Augen waren
pechschwarz. Er schien auf etwas zu warten.
Oder auf jemanden, erkannte Gorian, der ebenfalls
das Schwert zog.
»Meister Parrach war hier«, wandte sich
Meister Thondaril mit einem Gedanken an Gorian. »Es muss sehr
schnell gegangen sein. Er kam aus dem Nichts und tötete, bevor
seine Anwesenheit wirklich bemerkt wurde.«
»Was tun wir hier?«, fragte Gorian in der
Hoffnung, dass sein Meister und Mentor irgendeinen auch nur
ansatzweise vernünftigen Plan verfolgte.
In diesem Moment drangen zwei Rauchwirbel durch
eine Wand und verstofflichten. Ein jüngerer Mann – kaum älter als
Gorian – stand neben einer grauhaarigen, hageren Gestalt von schwer
zu schätzendem Alter.
Shabran und Parrach, erkannte Gorian sofort.
Beide hielten Schwerter in den Händen.
»Seid gegrüßt, Meister Thondaril«, sagte Parrach,
und ein überlegenes Lächeln glitt über das hagere Gesicht des
Leiters der Ordensgesandtschaft von Havalan.
»Ihr habt diesen Fischling ermordet«, stellte
Thondaril mit tonloser Stimme fest.
»Er war ein Verräter«, entgegnete Parrach. »Der
Narr hat tatsächlich geglaubt, mich hereinlegen zu können. Dabei
verdankte er seine Position schon lange meiner Gnade.«
Gorian fragte sich, woher Thondaril gewusst haben
mochte, dass Parrach noch einmal in dieses Haus zurückkehren würde.
Er schien den abtrünnigen Schattenmeister regelrecht
erwartet zu haben, so als könnte er die Schicksalswege
vorausberechnen wie Morygor, der Herr der Frostfeste.
»Ich bin hier, um Euren Schüler zu töten, Meister
Thondaril«, erklärte Parrach. »Aber das wisst Ihr ja
bereits.«
»Ja«, antwortete Thondaril. »Nachdem Meister
Shabran wieder Verbindung zu mir aufnahm und mir Eure Absicht
ankündigte, rief ich meinen Schüler her.«
Parrach wandte den Kopf und sah Gorian an. »Ich
spüre deine Überraschung und die Wut über das, was du als Verrat
eines Meisters an seinem Schüler empfinden musst. Beides wird deine
Kräfte entscheidend schwächen und deinen Tod erleichtern.«
Gorian konnte nicht fassen, was er hörte. »Meister
Thondaril … Ihr doch nicht!«
»Für deinen Meister wird es eine Zukunft geben,
aber nicht für dich«, erklärte Parrach.
»Meister! Das ist nicht wahr!«, sandte
Gorian einen verzweifelten Gedanken an Thondaril.
Dieser aber verschloss seinen Geist vor seinem
Schüler. Da schien nichts mehr zu sein, selbst ein kalter Stein
hätte in diesem Moment nicht weniger Seele als Thondaril gehabt.
Sein Gesicht war hart und kantig, als sein Blick dem von Gorian
begegnete.
»Die Welt wird sich ändern, Gorian«, fuhr Parrach
fort. »Nur du stehst dieser Veränderung im Weg. Es tut mir leid.
Soweit ich gehört habe, warst du ein ausgesprochen talentierter
Schüler, und es wäre sicherlich interessant gewesen, zu beobachten,
ob du deinen ehrgeizigen Plan in die Tat hättest umzusetzen können,
die Ausbildung in allen fünf Ordenshäusern zu durchlaufen, sodass
am Ende fünf Meisterringe an deinen Fingern gesteckt hätten. Nun
wird es nicht einmal ein einziger sein.«
Gorian hörte dem Schattenmeister kaum zu. Innerlich
war er immer noch mit dem Verrat Meister Thondarils beschäftigt.
»Habt Ihr denn Euren Glauben an die Axiome des Ordens völlig
verloren?«, fragte er ihn fassungslos. »Oder haben sie Euch in
Wahrheit nie etwas bedeutet?«
»Die Zeit des Ordens ist vorbei«, stellte Thondaril
klar. »In Wahrheit existiert er nicht mehr. Dein Vater hat das viel
früher erkannt als ich, auch wenn er daraus andere Konsequenzen
zog.« Der Blick, mit dem er Gorian bedachte, war undurchschaubar.
Er wandte den Kopf, um Meister Parrach anzusehen, und sagte: »Tut,
was getan werden muss, Parrach. Ich habe diesen Raum mit einer
Magie belegt, die es ihm unmöglich machen wird, seine Kunst der
Voraussicht gegen Euch einzusetzen.«