18
Meisterblut
Gorian umfasste Sternenklinge mit beiden
Händen.
Welche magischen Manipulationen mochte Thondaril
wohl vorgenommen haben? Gorian versuchte, sie zu erspüren. Und
tatsächlich, da waren Kraftpunkte im Raum, die sich ganz nach der
Magie des Ordens anfühlten. Zweifellos war hier etwas geschehen,
was die Bedingungen des bevorstehenden Kampfes entscheidend
veränderte, indem es die Voraussicht eines Schwertmeisters dämpfte
oder gar ganz außer Kraft setzte.
In einem Duell mit einem Schattenmeister war das
von entscheidender Bedeutung, denn so war es Parrach möglich,
plötzlich im Rücken seines Gegners aufzutauchen und zuzustechen,
ohne dass Gorian den Angriff vorausahnen und parieren konnte.
Für einen kurzen Moment erwog er, seinen Dolch
Rächer nach Parrach zu schleudern, solange der Schattenmeister noch
verstofflicht vor ihm stand. Aber vielleicht war es genau das, was
der Feind von ihm erwartete, der Fehler, der Gorians Tod bedeutet
hätte.
Parrach hielt zwei Schwerter in den Händen, eines
von gewöhnlicher Länge und eines mit kurzer, dafür aber recht
breiter Klinge. Er stürmte auf Gorian zu und begann sich dabei in
dunkle, rauchartige Teilchen aufzulösen.
Da aber prallte er gegen eine bläulich schimmernde
Lichtbarriere, die ihn und Meister Shabran plötzlich wie eine
gläserne Glocke umfing.
Parrach verstofflichte wieder, und Entsetzen
zeichnete seine Züge. Er wollte eine Formel ausstoßen, aber kaum
hatte er die ersten Silben über die Lippen gebracht, hatte bereits
Meister Shabran sein Schwert gezogen, einen Kraftschrei ausgestoßen
und ihm die Klinge in den Leib gestoßen.
Meister Parrach sank zu Boden und blieb regungslos
liegen.
»Ohne Eure Hilfe wäre es nicht möglich gewesen,
den Verräter zu stellen«, sagte Meister Shabran. Er beugte sich
nieder und nahm dem toten Parrach den Meisterring ab. »Ich werde
trotz allem dafür sorgen, dass eine entsprechende
Begräbniszeremonie abgehalten wird, während sein Ring vergraben
wird. Man soll sich an Parrachs gute Taten erinnert, nicht an den
Tag, an dem ihn seine innere Schwäche zum Verräter werden
ließ.«
Thondarils Antwort war ein stummes Nicken, dann
sprach er eine Formel und hob dabei beide Hände. Seine Augen wurden
schwarz, und aus seinen Fingern schossen bläuliche Blitze. Sie
trafen die Lichtglocke, die Shabran und den toten Parrach nach wie
vor umgab, die sich aber daraufhin auflöste.
»Ich gebe zu, Meister Shabran, ich befürchtete
schon für einen Moment, auch Ihr könntet auf Morygors Seite
gewechselt sein«, gestand Thondaril, dann wandte er sich an Gorian.
»Es tut mir leid, dass ich dich nicht einweihen konnte. Wären deine
Verwunderung und deine Verzweiflung nicht echt gewesen, hätte
Parrach das sofort gemerkt und wäre misstrauisch
geworden. Und tatsächlich habe ich auch diesen Raum magisch
manipuliert, genau so wie Parrach es von mir verlangte.«
»Und nur deswegen konnte er meinen Angriff nicht
voraussehen«, ergänzte Shabran, der nun ungehindert näher trat.
»Denn die Fähigkeit zur Voraussicht war hier tatsächlich gedämpft,
und zwar auch für ihn.«
Gorian stieß sein Schwert zurück in die
Rückenscheide. »Ihr habt mich als Köder benutzt«, stellte er
grimmig fest.
»Ich habe versucht, dich zu schützen«, widersprach
Thondaril. »Meister Parrach war zu Morygors Knecht geworden. Er
hätte sich an unsere Fersen geheftet und uns verfolgt, bis er dich
getötet hätte. Und es stand zu befürchten, dass ihm das auch
gelungen wäre, denn er war ein mächtiger Schattenpfadgänger.«
Meister Shabran schüttelte den Kopf, und sein
Gesichtsausdruck war von tiefer Bitterkeit und Schmerz geprägt.
»Was ich heute getan habe, wird mich den Rest meines Lebens
verfolgen. Parrach war einst mein Meister und Mentor, und ich habe
ihn lange Jahre respektiert und bewundert.«
»Was haltet Ihr davon, uns zu den Inseln der
Caladran zu begleiten«, schlug Meister Thondaril vor. »Wir haben in
unserer Gruppe niemanden, der die Kunst der Schattenpfadgeherei
beherrscht.«
»Es wäre mir eine Ehre, Meister Thondaril«,
antwortete Shabran. »Aber ich halte es für klüger, wenn ich
schnellstmöglich nach Havalan zurückkehre, um jedes unnötige
Aufsehen zu vermeiden. Das würde unserer Sache nur schaden. Aber
wir bleiben in Verbindung.« Er sah Gorian an und sagte: »Wenn es
jemand schaffen kann, die Caladran
auf unsere Seite zu ziehen, dann bist du es. Und genau das ist es,
was Morygor so fürchtet.«
»Wir müssen jetzt aufbrechen«, drängte Meister
Thondaril. »Der Tod von Herrn Greshshsht hat sich bereits in der
Stadt herumgesprochen, und das macht die Situation hier
kompliziert.«
Meister Shabran sah traurig auf den toten
Fischlinger hinab. »So bestraft Morygor jene, die ihm abtrünnig
werden. Aber ihr Schicksal ist noch vergleichsweise gnädig im
Vergleich zu denen, die er über den Tod hinaus zu seinen Sklaven
macht.«
»Meister Parrach hat Herrn Greshshsht und dessen
Gefolge nicht allein getötet«, sagte Gorian und sah Shabran dabei
anklagend an.
Der junge Ordensmeister hielt seinem Blick stand,
während er bekannte: »Was du sagst, trifft leider zu.«
»So habt Ihr an Parrachs Seite Unschuldige
getötet«, hielt ihm Gorian vor.
»Ich hatte keine Wahl, Parrach hätte mir sonst
misstraut. Ich weiß, eines der Axiome des Ordens lautet, dass man
die Unschuldigen nicht erschlagen soll, um die Schuldigen zu
treffen, aber …«
»Ja, so sagte der Erste Meister«, unterbrach ihn
Gorian mit harter Stimme.
»Niemand, der das Böse bekämpft, kann ohne eigene
Schuld bleiben, Gorian«, sagte Shabran, dann wandte er sich wieder
an Thondaril. »Eines solltet Ihr noch wissen, bevor Ihr zu den
Inseln der Caladran aufbrecht.«
»Was?«, fragte Thondaril.
»In letzter Zeit mehrten sich Gerüchte, die von
diesen Inseln zu uns dringen, und das allein ist schon
ungewöhnlich, da dieses Volk in selbst gewählter Abgeschiedenheit
lebt. Eines dieser Gerüchte besagt, dass die Caladran die Kunst
des Sternenflugs wieder aufnehmen wollen.«
»Heißt das, die Caladran wollen Erdenrund
verlassen?«, fragte Gorian erstaunt.
Meister Shabran zuckte mit den Schultern. »Niemand
weiß das. Allerdings haben auch die Caladran Augen im Kopf und
sehen dasselbe wie jeder andere, nämlich einen Schattenbringer, der
die Sonne verdunkelt.«
»Das sähe ihnen ähnlich«, schimpfte Thondaril.
»Sich einfach davonzumachen und alles dem Chaos zu überantworten,
statt sich dem Übel entgegenzustellen.«
»Einem Übel, das zudem noch in Gestalt von Morygor
seine Wurzeln im Volk der Caladran hat«, stimmte ihm Shabran zu.
»Aber es gibt noch ein anderes Gerücht, das genau das Gegenteil
bedeuten könnte. Danach befindet sich auf der Insel Pela eine große
Apparatur im Bau, die angeblich dem Zweck dienen soll, die Gestirne
zu beeinflussen.«
Gorian horchte auf. »Ist nach Eurer Einschätzung an
diesem Gerücht etwas dran?«
»Ich habe mich über die Schattenpfade nach Pela
begeben, um es zu überprüfen. Dort gibt es tatsächlich ein Bauwerk,
das noch seltsamer aussieht als alles, was ich bisher von den
Caladran kenne. Aber wozu es dient, konnte ich nicht in Erfahrung
bringen. Es wird sehr streng bewacht und mit einer äußerst
wirksamen Magie abgeschirmt, sodass ich es nur von einem
benachbarten Berg aus betrachten konnte.« Er hob die Hand, und in
der Innenfläche bildete sich ein Licht. »Seht euch an, was ich
gesehen habe. Vielleicht werden euch die Caladran mehr über dieses
Bauwerk verraten, wenn es euch gelingt, sie zu Verbündeten zu
machen.«
Während sich Meister Shabran in schwarzen
Rauchteilchen auflöste, um das Gebäude und die Stadt über die
Schattenpfade zu verlassen, befanden sich Gorian und Meister
Thondaril bereits auf dem Weg ins Freie.
»Ihr werdet mir noch viele Fragen beantworten
müssen, Meister«, sagte Gorian, während er neben Thondaril
herlief.
»Später, Gorian, später!«, wehrte dieser ab.
Draußen herrschte mittlerweile so heftiges
Schneegestöber, dass man kaum weiter als zwei Dutzend Schritt zu
sehen vermochte. Am Rand des Gondelplatzes bekämpften sich zwei
Gruppen Oger. Ihre Schreie gellten durch die Nacht.
Unmittelbar vor Gorian wuchs plötzlich eine Gestalt
aus dem Boden. Er schreckte zurück und konnte aufgrund seiner
Fähigkeit zur unmittelbaren Voraussicht gerade noch verhindern, mit
demjenigen zusammenzuprallen.
Es handelte sich um den Maskierten. »Beeilt euch!
Der Tod von Herrn Greshshsht hat überall zu Kämpfen um die
Verteilung seiner Pfründe und Schutzgeldrechte geführt. Eine Gondel
steht schon in Flammen.«
Sie rannten weiter durch das Schneegestöber. Der
Maskierte verzichtete darauf, den für ihn vermutlich
unbeschwerlicheren Weg durch das Pflastergestein zu nehmen. Ein
paar Oger-Söldner, von denen nicht ganz klar war, für oder gegen
wen sie eigentlich kämpften, erschreckte er mit seinem
Flammenschwert so sehr, dass sie sofort die Flucht ergriffen.
»Leider bist du der Einzige, auf den der
Greifengargoyle hört!«, rief der zweifache Ordensmeister Gorian zu,
während sie auf die bereits leicht eingeschneite Gondel
zuliefen.
Ar-Don wandte den Kopf, um ihnen entgegenzusehen,
und kommentierte Meister Thondarils Worte mit der
Gedankenbotschaft: »Ar-Don ist eigener Herr!«
Auf einmal schien sein Körper zu glühen und wurde
dunkelrot. Er breitete die Flügel aus und stieg empor, verharrte
dann über der Gondel und fegte mit schnellem Flügelschlag den
Schnee von ihr hinunter.
Zog Yaal hatte Torbas’ eher provisorische und wenig
fachgerechte Anordnung der Seilschlangen korrigiert und die vier
weiteren Exemplare, die Gorian und er erworben hatten, bereits
eingesetzt.
Gorian lief in die Gondel, gefolgt von Meister
Thondaril und dem Maskierten.
Dann hoben sie ab.
»Gut, dass die Glasermeister fertig geworden sind,
bevor es hier ungemütlich wurde«, meinte Torbas. »Und Vorräte haben
wir ebenfalls genug an Bord.«
»Dann steht dem Flug zu den Inseln der Caladran ja
nichts mehr im Weg«, meinte Thondaril. »Abgesehen vielleicht von
schlechtem Wetter und Gegenwind. Aber damit sollten wir fertig
werden.«
»Ar-Don weiß den Weg«, meldete sich der
Gargoyle mit einem sehr intensiven Gedanken bei Gorian, »und hat
Kraft genug für Flug bei jedem Wetter!«
Gorian blickte aus dem Fenster in die sturmumtoste
Nacht, während Zog Yaal eine Öllampe entzündete, damit es im
Inneren der Gondel etwas heller wurde.
»Macht das nicht unsere Feinde unnötig auf uns
aufmerksam, wenn wir als riesige Laterne durch die Nacht fliegen?«,
fragte Torbas. »Nachdem wir wieder komplett verglast sind, dürfte
die Gondel so richtig schön leuchten.«
»Keiner von denen, die uns im Moment noch auf den
Fersen sein könnten, ist auf Licht angewiesen, um uns zu finden«,
erklärte Meister Thondaril. »Es gibt keinen Grund für uns, hier im
Dunkeln zu sitzen.«
»Wie lange werden wir brauchen, bis wir die Inseln
erreichen?«, erkundigte sich Gorian.
»Ein gut geschulter Greif wäre spätestens morgen
Mittag an der Küste Caladraniens«, meinte Zog Yaal, während Sheera
seine Wunden behandelte, die sich relativ gut wieder schlossen. Die
Blutungen waren längst gestillt, aber eigentlich hätte Zog Yaal
noch geschwächt sein müssen. Doch das Gegenteil war der Fall.
Sheera erschien das merkwürdig, doch Gorian
erklärte es ihr mit einer Gedankenbotschaft. »Er konnte Morygors
Macht widerstehen. Manche ziehen aus solch einem Sieg ungeheuere
Kräfte.«
Sie sah ihn nur an, ihre Gedanken blieben
stumm.
Nachdem er verarztet worden war, suchte sich Zog
Yaal unter den Sachen des toten Centros Bal etwas Frisches zum
Anziehen aus. Ihm Verbände anzulegen hielt Sheera nicht nur für
unnötig, sondern sogar für schädlich.
»Wir sind ja alle etwas lädiert«, meinte Torbas mit
einer Leichtigkeit, die er nicht wirklich empfand, wie Gorian
sofort erkannte. »Aber wenn wir die Caladran-Inseln erreichen,
haben wir das Schlimmste erst mal überstanden, schätze ich.«
Während er dies sagte, betastete er seine eigene Wunde an der
Schulter, die ihm wohl mehr zu schaffen machte, als er es zeigen
wollte.
In diesem Moment schmerzte eigenartigerweise auch
Gorians nie ganz verheilte Schulterverletzung, und Torbas sah ihn
plötzlich an, so als würde er es spüren. Sie tauschten einen Blick,
aber keinen Gedanken.
»Glaubt bloß nicht, alle Schwierigkeiten lägen
hinter uns, wenn wir die Inseln der Caladran erreichen«, meldete
sich der Namenlose Renegat wieder zu Wort. »Sie fangen dann erst
an.«
»Wisst Ihr von einer Gefahr, der wir bald
gegenüberstehen könnten?«, wollte Thondaril wissen. »Wenn dem so
ist, solltet Ihr etwas deutlicher werden.«
Der uralte Caladran sah den zweifachen
Ordensmeister nicht einmal an. Er hatte die Augen geschlossen und
hockte im Lotussitz neben der Metalltruhe mit den
Caladran-Schriften. Seine Hände hielt er so, dass sich die Kuppen
der Finger beinahe berührten. Kleine rötliche Lichtblitze tanzten
völlig geräuschlos zwischen ihnen. Offenbar handelte es sich um
eine Art geistiger Übung, mit der sich der Namenlose auf die
Rückkehr zu seinem Volk vorbereitete.
»Keiner von euch würde auch nur ansatzweise
verstehen, was ich sage«, wehrte er Thondarils Aufforderung ab.
»Und auch, wenn ich im Gegensatz zu euch genug davon habe, so hasse
ich es, meine Zeit zu verschwenden.«
Draußen wurde es eisig kalt. Schneidender
Gegenwind traf die Gondel und drang durch alle Ritzen und selbst
durch kleinste Öffnungen ins Innere. Alles, was sich an Decken und
Kleidern in der Gondel finden ließ, wurde verteilt. Manchmal war
der Wind so stark, dass die Gondel schräg hinter dem unbeirrbar
vorwärtsstrebenden Greifengargoyle hergezogen wurde, dessen mal
fauchende, mal krächzende Laute sich mit dem Tosen des Eiswindes
mischten.
Zog Yaal hatte sogar seine Greifenreiter-Handschuhe
übergezogen und schlug seine Fäuste gegeneinander. »Jetzt rächt es
sich, dass Centros Bal immer am Bitumen gespart hat. Kein Wunder.
Wenn er dort oben auf dem Greifen saß, hat er ja nicht gespürt,
dass es hier unten zieht wie in der windigen Kathedrale von
Tulia.«
Die Kathedrale von Tulia galt als das größte
Gebäude, das die Baumeister von Mitulien je errichtet hatten. Es
lag auf
einem hohen Felsen über dem Meer, und wenn die vielen Außenklappen
geöffnet wurden, wehte der Wind hinein und wurde in Tausende von
Pfeifen geleitet, sodass Musik zu Ehren des Verborgenen Gottes
entstand. Niemand wusste, wie lange es noch dauern würde, bis der
Eispanzer des Frostreichs auch dieses erhabene Wunder mitulischer
Baukunst niederwalzen würde.
Meister Thondaril wandte einen herkömmlichen
Wärmezauber an, der allerdings keine Wirkung zeigte. Fast konnte
man den Eindruck haben, dass der kalte Wind diese Art von Magie
außer Kraft setzte.
Für Gorian war das nur ein weiterer Hinweis darauf,
dass das Wetter, mit dem sie es zu tun hatten, keineswegs nur von
ungünstigen Luftströmungen hervorgerufen wurde.
»Kennt Ihr nicht zufällig einen tauglichen
Wärmezauber?«, fragte Meister Thondaril den Namenlosen Renegaten.
»Oder ist so etwas unter den Caladran unbekannt?«
»Wir sind nicht sehr kälteempfindlich«, antwortete
ihm der Namenlose. »Ihr Menschen würdet die Wirkung eines
Wärmezaubers, den ein Caladran webt, wahrscheinlich gar nicht
bemerken.«
Gorian registrierte, dass er wir sagte, als
er von den Caladran sprach. Er schien sich innerlich mehr und mehr
auf seine Rückkehr zu seinem Volk vorzubereiten und seine bisherige
Distanziertheit zu überwinden.
Die Stunden zogen dahin, doch das Wetter besserte
sich nicht. An Schlaf war nicht zu denken, zu sehr wurde die Gondel
immer wieder vom Wind umhergeschaukelt. Eisblumen bildeten sich an
den Scheiben.
Gorian nahm mehrmals mit Ar-Don Verbindung auf, und
die Gedanken des Greifengargoyles wurden ihm immer rätselhafter.
Aber Gorian war sich sicher, dass Ar-Don immer
noch genau vor Augen hatte, wohin er fliegen musste, und seine
Kräfte waren auch noch längst nicht aufgebraucht. Zudem spürte
Gorian den überaus starken Willen, der Ar-Don beseelte. Ein Wille,
der sich nicht in klar formulierten Gedanken äußerte, sondern auf
diffuse Weise in seiner geistigen Kraft. Die Seele von Meister
Domrich war zwar längst nicht die stärkste Entität in diesem Wesen,
aber im Moment schien es diejenige zu sein, die bestimmend war und
dafür sorgte, dass Ar-Don weiterhin verbissen gegen den Wind
ankämpfte.
Nur kurz nickte Gorian ein.
Er schreckte auf, als der Maskierte plötzlich
hochsprang und zur Gondeltür stürzte. Blitzschnell riss er sie auf
und trat hinaus auf den kleinen Balkon davor.
Eine eisige Brise blies herein, und sofern
überhaupt jemand unter den Gondelinsassen etwas Schlaf gefunden
hatte, waren nun zweifellos alle hellwach.
Eine gewaltige Hand schien die Gondel zu packen und
sie gegen ihre Flugrichtung zu reißen. Gorian musste sich
festhalten, Ar-Don stieß ein durchdringendes Kreischen aus.
Währenddessen richtete der Maskierte sein Schwert
in die Nacht, und abermals verwandelte sich die Klinge in eine
Flamme, die einen Augenblick später weit hinaus in die Dunkelheit
zuckte, wobei sie diesmal allerdings mit dem Schwertgriff verbunden
blieb. Der Maskierte schwang die Waffe ein paar Mal hin und her,
sodass der Flammenstrahl durch die dichten Wolken schnitt, und
gellende Schreie mischten sich in das Tosen des Winds.
Dann zog sich der Flammenstrahl zurück, verwandelte
sich wieder in eine Schwertklinge, und der Maskierte schloss die
Gondeltür.
»Ein paar Schattenreiter«, offenbarte er lakonisch.
»Wie es aussieht, reichen ihren Pferden ein paar dunkle Wolken
unter den acht Hufen.«
Die Gondel schaukelte heftig, da die Kraft, die sie
zuvor gepackt hatte, sie wieder freigegeben hatte, und Ar-Don
bemühte sich, sie wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Dem Maskierten machte das Geschaukel nichts aus, er
stand sicher auf beiden Beinen, während alle anderen entweder
hilflos durchs Gondelinnere rutschten oder sich irgendwo
festklammern mussten.
Er ging zu einem der Fenster, kratzte mit dem
Handschuh die Eisblumen weg und blickte hinaus.