
19
In der Stadt der Himmelsschiffe
Im Morgengrauen klarte der Himmel auf, doch es
wurde aufgrund der verdunkelten Sonne nicht wirklich hell. Hier und
dort waren sogar vereinzelt Sterne zu sehen.
Doch so schwach der Feuerkranz auch war, der den
Schattenbringer zu umschließen schien, sein bisschen Sonnenglut
reichte aus, den eisigen Hauch des Frostreichs zu vertreiben, das
bislang einen Bogen um jenes Seegebiet machte, in dem die Inseln
der Caladran lagen. Auch die Eisblumen an den Fenstern schmolzen
nach und nach.
Obwohl Gorian kaum geschlafen hatte, war er
hellwach. Ihm fiel auf, dass der Namenlose von einer zunehmenden
Unruhe erfasst war. Immer wieder trat er zu einem der Fenster, um
kurz hinauszusehen. Danach kniff er jedes Mal die Augen wie unter
einer großen Anstrengung zusammen, massierte sich mit Daumen und
Zeigefinger die Schläfen und murmelte Worte auf Caladranisch, von
denen Gorian vermutete, dass es sich bei ihnen um Formeln handelte,
die der inneren Stärkung dienten.
Seinen Geist verschloss der uralte Caladran-Renegat
nun vollkommen. Was auch immer in seinem Inneren vorging, er war
offenbar der Ansicht, dass es keinen seiner Begleiter etwas
anging.
Irgendwann ließ Ar-Don einen durchdringenden Ruf
hören, und am Horizont wurden kleine schwarze Punkte sichtbar, die
rasch größer wurden.
Es handelte sich um Himmelsschiffe der
Caladran.
Majestätisch schwebten sie heran. Sie hatten sehr
unterschiedliche Größen, manche von ihnen waren länger als drei
oder vier westreichische Galeeren und die Außenwandungen höher als
selbst die der bauchigsten Kogge des gesamten Heiligen Reichs,
andere waren schmal und verhältnismäßig klein. Die Aufbauten
schimmerten messingfarben. Schlaff hingen die Segel von den Masten,
unbeeinflussbar von irdischem Wind, sondern nur dazu geschaffen,
jene metamagischen Schwingungen einzufangen, mit deren Energien
sich die Himmelsschiffe fortbewegten.
An einigen der Schiffe entdeckte Gorian
Apparaturen, die Katapulten glichen. Einige ähnelten Armbrüsten,
sodass sich Gorian ihre Funktionsweise zumindest ungefähr denken
konnte, andere bestanden aus scheinbar willkürlich zusammengefügten
messingfarbenen Rohren und Metalltrichtern, bei denen es sich
entweder um magische Waffen oder vielleicht auch um Vorrichtungen
handelte, die in irgendeiner unbegreiflichen Weise der Navigation
oder der Kontrolle jener geheimnisvollen Kräfte diente, die diese
Schiffe in die Höhe steigen ließen.
Viele Magiermeister des Ordens hatten Jahre damit
verbracht, das Geheimnis der Gewichtslosigkeit zu erforschen. Aber
sie waren dabei ebenso erfolglos geblieben wie bei dem Versuch, das
Rätsel der metamagischen Schwingungen zu entschlüsseln. Selbst die
Zuhilfenahme von Kopien magischer Schriften der Caladran, die auch
der Orden gekauft und in seinen Bibliotheken gelagert hatte, hatte
letztendlich kein Ergebnis gebracht.
Ar-Don stieß eine Folge krächzender Laute aus und
drosselte
die Geschwindigkeit. Der bisher recht gleichmäßige Rhythmus seiner
Flügelschläge geriet ein wenig aus dem Takt, sodass die
Greifengondel an Höhe verlor, bevor der Greifengargoyle erneut
aufstieg.
Der Namenlose Renegat öffnete die Außentür, trat
auf den kleinen Balkon, breitete die Arme aus und verkündete mit
dröhnender Gedankenstimme, die auch ein nicht magiebegabtes Wesen
empfangen konnte: »Nach langer Zeit kehre ich zurück und bringe
Euch, was Euch gestohlen wurde, auf dass ein neues Zeitalter
beginne!«
Die Augen des Namenlosen leuchteten grell auf, und
aus seinen Fingerspitzen schossen dunkelrote Lichtstrahlen, die
verschnörkelte Caladran-Runen in den Himmel schrieben, wo sie nach
einer Weile wieder verblassten. Danach wartete der Namenlose
ungeduldig auf eine Antwort.
Aus einem röhrenartigen, messingfarbenen
Metallfortsatz am Bug des größten der Caladran-Schiffe quoll ein
zähflüssiger, jedoch scheinbar völlig gewichtsloser blutroter
Tropfen, dehnte sich innerhalb weniger Augenblicke auf einen
Durchmesser von zwei Schritt aus, schwebte auf die Greifengondel zu
und gewann dabei immer mehr an Geschwindigkeit.
Ar-Don scheute davor zurück, minderte seine
Fluggeschwindigkeit noch mehr, fauchte den herannahenden Tropfen an
und versuchte schließlich sogar, ihm auszuweichen, doch es gelang
ihm nicht. Der Tropfen glich seine Flugbahn der der Gondel an, traf
auf sie, drang durch die Außenwand und verharrte dann in der Mitte
des Passagierraums.
Im nächsten Moment formte sich aus ihm eine
menschenähnliche Gestalt und verstofflichte zu einem
Caladran-Krieger. Der Nasenschutz des messingfarbenen Helms reichte
ihm bis zum Kinn, sodass von seinem Gesicht kaum mehr zu sehen war
als die schräg stehenden Caladran-Augen.
Der Namenlose kehrte vom Gondelbalkon zurück, blieb
aber in der offenen Tür stehen.
»Folgt uns und leistet keinen Widerstand!«, sagte
der Caladran-Krieger laut. »Unsere Himmelsschiffe werden eure
Gondel in ihre Mitte nehmen und nach Caladrania begleiten. Wir
werden euch zeigen, wo ihr landen sollt. Tut, was man euch
befiehlt. Gebt niemandem Anlass, euch oder euer Greifentier für
eine Gefahr zu halten, sonst wird man euch augenblicklich
vernichten.« Er hatte akzentfreies Heiligreichisch gesprochen und
wiederholte seine Forderung anschließend auf Gryphländisch.
Als der Namenlose einige Worte in der
Caladran-Sprache äußerte, wandte der Krieger nur kurz den Kopf und
sah den Renegaten an. Dann wurde er durchscheinend und verblasste,
und innerhalb weniger Herzschläge war er verschwunden.
»Bevölkern seit neuestem Geister die Inseln der
Caladran?«, knurrte Torbas.
»Dies war nur der Geist einer Botschaft«, erklärte
der Namenlose. »Doch wir tun gut daran, den Anweisungen genau Folge
zu leisten.«
Während die Himmelsschiffe die Gondel in ihre Mitte
nahmen, um sie zu eskortieren, sagte Gorian zu dem Namenlosen: »Das
Ganze wirkt auf mich eher wie eine Gefangennahme.«
»Wir werden das Misstrauen, das man uns
entgegenbringt, sicherlich ausräumen können«, gab sich der
Namenlose zuversichtlich, doch während er dies sagte, sah er Gorian
nicht einmal an, sondern schien in Gedanken mit anderen Dingen
beschäftigt zu sein.
Wenig später tauchte am Horizont Caladrania, die
Hauptstadt des Caladran-Reichs, auf. Nie zuvor hatte Gorian einen
Ort gesehen, der mit diesem vergleichbar gewesen wäre.
Die Stadt bestand aus einem einzigen riesenhaften
Felsen in Form eines Baumes, dessen Krone vielfach verzweigt war.
Tausende von Türmen erhoben sich als steinerne Äste in den Himmel,
umschwirrt von Hunderten kleinerer Himmelsschiffe, zumeist in der
Größe von Barkassen, während die Wurzeln der Baumstadt weit ins
Meer ragten und als Hafenmauern dienten. Sie schützten zahlreiche
Himmelsschiffe vor den Stürmen des Meeres von Ost-Erdenrund, die
dort vertäut lagen.
Das Zentrum von Caladrania bildete eine Burg. Sie
lag dort, wo sich der Stamm des steinernen Baumes in drei Hauptäste
teilte. Einer dieser Hauptäste reckte sich den Ankömmlingen
entgegen, ein zweiter wies ins Innere der Insel, von der Gorian
nicht mehr wusste, als dass sie denselben Namen wie die Hauptstadt
trug, und der dritte und stärkste wies zum westlichen
Meereshorizont, dorthin, wo den Legenden nach die Länder von
West-Erdenrund zu finden waren, von denen es hieß, dass niemand,
der dorthin aufbrach, je zurückkehrte.
»Der Stadtbaum von Caladrania!«, murmelte der
Namenlose, und man konnte spüren, wie tief bewegt er war. »Welche
Schönheit, welche Harmonie. Selbst die Bauwerke mitulischer Meister
wirken dagegen wie Hütten. Ah, welche Freude für mein Auge, dass es
diese einzigartige Pracht wieder sehen darf.«
Je näher sie kamen, desto mehr der kunstvollen
Einzelheiten waren zu erkennen. Der Stadtbaum von Caladrania wirkte
wie eine riesenhafte Skulptur, die ein überragender Künstler aus
einem einzigen Stein gehauen hatte.
Oder, so ging es Gorian durch den Kopf, jemand
hatte den Stein entsprechend beeinflusst, sodass er sich gegen
seine eigentliche Natur verhalten und in derartiger Weise gewachsen
war.
Der Namenlose löste sich für einen Moment von dem
erhabenen Anblick, der sich ihm bot, und sah Gorian nun doch
an.
»Genau das ist geschehen«, bestätigte er dem
jungen Ordensschüler und machte ihm damit zum wiederholten Male
deutlich, dass er nach Belieben in Gorians Gedanken eindringen
konnte. »Der Stein wurde dazu gebracht zu wachsen und diese
Gestalt auszuformen, die dem Plan des Baumeisters
entsprach.«
»Dann wird man sich an seinen Namen sicher
bis heute in Ehren erinnern.«
»Er ist verfemt, und die meisten halten ihn für
tot. Tot und vergessen. Aber er ist beides nicht. Er ist nicht tot,
weil ich ihm einst das Leben rettete. Und er kann nicht vergessen
werden, weil sein Gesicht für die größte Schande meines Volkes
steht.« Der Namenlose warf einen kurzen Blick in Richtung des
Maskierten, der ebenfalls gefangen schien vom Anblick des
steinernen Stadtbaumes von Caladrania. Unter seiner Maske drang ein
Seufzen hervor.
Die Greifengondel wurde von den kleineren
Himmelsschiffen bis zur Burg auf der dreifachen Astgabelung
geleitet. Die größeren Schiffe hingegen landeten auf dem Meer, um
anschließend in ihre jeweiligen Hafenbecken einzufahren.
Ar-Don schwebte mit wild flatternden Flügelschlägen
über dem Burghof. Es fiel dem Greifengargoyle noch immer schwer,
über einem Landepunkt quasi in der Luft zu verharren.
»Hier sollen wir landen«, interpretierte der
Namenlose
die Anweisungen der kleineren Himmelsschiffe, dann wandte er sich
wieder an Gorian: »Es wäre sehr freundlich von dir, wenn du das der
Gargoyle-Kreatur klarmachen würdest.«
»Na los, Ar-Don!«, sandte Gorian einen
Gedanken an den Greifengargoyle. »Worauf wartest du?«
Ar-Don stieß einen erschrockenen Laut aus. Was ihn
so entsetzte, wusste Gorian nicht, aber irgendetwas ließ den
Gargoyle zurückscheuen. Vielleicht war es die Tatsache, dass der
Stadtbaum ebenso wie er selbst aus Stein bestand. Möglicherweise
traute er sich aber auch eine Landung auf dem von hohen Häusern und
spitzen Türmen umgebenen inneren Burghof nicht zu, die ungleich
schwieriger war als auf dem vergleichsweise weitläufigen
Gondelplatz von Embador.
Unten marschierten bereits reihenweise
Caladran-Krieger in schimmernden messingfarbenen Rüstungen auf und
postierten sich in einer geordneten Formation.
Schließlich sank Ar-Don Stück für Stück tiefer und
setzte die Gondel überraschend sanft ab. »Ar-Don hat
dazugelernt«, erreichte Gorian ein Gedanke, der von einem
tiefen, zufriedenen Brummen begleitet wurde.
»Es scheint mir, als hätte man uns erwartet«, sagte
Gorian.
»Ach wirklich?«, entgegnete der Renegat, der sich
bereits zur Tür begab, um sie zu öffnen. Er bediente sich der
Caladran-Sprache, aber Gorian hatte seinen Sprechstein inzwischen
wieder aktiviert, denn wenn sie mit den Caladran zusammentrafen,
wollte er alles mitbekommen, ganz gleich, in welcher Sprache es
geäußert wurde.
»Man war über unser Kommen informiert«,
sandte er einen sehr intensiven Gedanken an den Namenlosen. »Und
Ihr habt es gewusst.«
Der Namenlose machte sich nicht die Mühe, darauf zu
antworten, sondern trat zusammen mit dem Maskierten ins Freie. Die
messingfarbene Truhe mit den gestohlenen Schriften ließ er dabei
hinter sich herschweben.
Gorian und Thondaril folgten, danach verließen
Torbas und Sheera die Gondel.
Torbas drehte sich zu Zog Yaal herum. »Du willst
doch nicht etwa hierbleiben! Immerhin bist du der Botschafter
Gryphlands!«
»Daran möchte ich lieber gar nicht denken«,
murmelte Zog Yaal, der sich in seiner Haut sichtlich unwohl
fühlte.
Die Formation der Krieger teilte sich, als aus dem
Palas der Burg ein Mann und eine Frau traten. Sie gingen Seite an
Seite. Der Mann trug eine messingfarbene Krone, die kaum breiter
als zwei Finger war und sehr schlicht wirkte. Gorian aber erkannte
sofort ihren Wert, denn sie bestand aus reinem Sternenmetall; er
spürte die Kräfte, die darin gebunden waren. Allerdings war dieses
Sternenmetall von gänzlich anderer Zusammensetzung als
Sternenklinge, Schattenstich oder sein Dolch Rächer, und er nahm
an, dass es auch andere Eigenschaften hatte.
Der Mann mit der Krone war von unbestimmbarem
Alter. Das Haar fiel ihm über die Schultern und verbarg seine
Ohren, das Gesicht war bartlos und hager, und der Blick der schräg
stehenden Caladran-Augen zeigte Entschlossenheit. Er trug einen
vollkommen weißen Waffenrock und eng anliegende Hosen, und seine
Bewaffnung bestand aus einem verhältnismäßig langen Schwert und
einem Parierdolch, an dessen Griff ein Juwel glänzte.
Die Frau an seiner Seite hatte elfenbeinfarbene
Haut und langes, dunkles Haar. Auf ihrem Kleid changierten Muster
und Farben, und wenn man sich darauf konzentrierte,
entstanden sich bewegende Darstellungen vergangener
Schlachten.
Der König und die Frau blieben stehen, und der
Namenlose verbeugte sich tief vor ihnen, um schließlich das Wort zu
ergreifen: »Seid gegrüßt, ehrenwerter König Abrandir, Nachfahre des
Caladir. Und Ihr ebenso, edle Orawéen. Lange ist es her, dass ich
unter meinesgleichen weilte. So lange, dass in der Zwischenzeit die
Königswürde des Volkes der beinahe Unsterblichen an den Urenkel
ging.«
»Offenbar seid Ihr trotz aller Zerwürfnisse bestens
über die Verhältnisse in Euerem ehemaligen Volk informiert,
Renegat«, stellte König Abrandir fest.
»Niemand, den ich hier sehe, war schon geboren, als
ich geächtet wurde«, gab der Namenlose zurück. »Das Volk der
Caladran hat mich verstoßen – aber das Reich des Geistes vereint
die Lebenden, die Toten und bisweilen sogar die Ungeborenen.«
»Nicht alle meines Volkes waren erbaut darüber,
dass Ihr über das Reich des Geistes Verbindung mit den Caladran
hieltet.«
»Viele Dinge haben sich verändert seit damals«, gab
der Namenlose zu bedenken.
»Der Wandel ist das Elixier unseres Lebens«,
erwiderte König Abrandir.
»Wem sagt Ihr das, erhabener König.«
Abrandir richtete den Blick auf die anderen
Ankömmlinge, dann wies er auf die schwebende Truhe, und ein
verhaltenes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Das Zeichen des guten
Willens und des Friedens, das Ihr angekündigt habt. Gestohlene
Schriften, die nun unserem Reich des Geistes wieder zugefügt werden
können.« Wieder sah er den Namenlosen an. »Wie soll ich Euch
nennen?«
»Ich bin der Namenlose Renegat, und das bleibe ich
auch«, lautete die Antwort. »Meinen Namen habe ich abgelegt, und
auch wenn ich es nicht lassen konnte, Verbindung zum Reich des
Geistes und darüber zu meinem ehemaligen Volk zu halten, werde ich
trotzdem nie wieder einer von Euch sein.«
»Und doch kommt Ihr hierher?«, wunderte sich König
Abrandir.
»Es sind außergewöhnliche Umstände, die mich dazu
zwingen. Morygor bedroht ganz Erdenrund, und nur ein großes Bündnis
gegen ihn kann ihn aufhalten. Sonst wird diese Welt ein Ort, auf
dem selbst die Caladran nicht mehr zu leben vermögen, auch wenn sie
der Kälte besser zu widerstehen wissen als viele andere.« Der
Namenlose wandte sich halb herum und deutete auf Gorian und seine
Gefährten.
Es war offenbar überflüssig, sie vorzustellen;
Abrandir schien über jeden von ihnen bereits Bescheid zu wissen.
Gorian fragte sich, wie viel der Namenlose über ihn und die anderen
seinem ehemaligen Volk übermittelt und was es mit dem
geheimnisvollen Reich des Geistes auf sich hatte.
»Thondaril, Meister des Schwertes und der Magie«,
sprach Abrandir den Ordensmeister an. »Für einen Menschen sind Eure
Talente über Gebühr ausgeprägt.«
»Ich war immer bemüht zu lernen«, gab Thondaril
bescheiden zurück. »Und das ist bis heute so geblieben.«
»Die Grenze der Erkenntnis sollte man erst dann
akzeptieren, da man sie erreicht hat«, stimmte ihm Abrandir
zu.
»Ich bin geneigt, solche Grenzen überhaupt nicht zu
akzeptieren«, erwiderte Thondaril.
»Menschliche Selbstüberschätzung«, erwiderte
Abrandir. »Mag sein, dass man sich diese Unbekümmertheit für die
kurze Dauer Eurer Existenz erhalten kann.«
Thondaril deutete auf Zog Yaal. »Hier steht der
Vertreter Gryphlands, der gekommen ist, angesichts der großen
Gefahr mit den Caladran Frieden zu schließen, damit wir gemeinsam
der Bedrohung begegnen können.«
Der Caladran-König wechselte in die Sprache der
Gryphländer, die er perfekt beherrschte. »Seid gegrüßt, Zog Yaal.
Eigenartig, Ihr seid der Einzige, über den mir gar nichts
übermittelt wurde.«
»Seit den Tagen König Song Mols sind unsere Völker
verfeindet. Doch diese Feindschaft ist selbst nur noch eine
Legende.« Zog Yaal deutete auf die schwebende Truhe. »Was Euch
gestohlen wurde, soll zurückgegeben werden.«
Der König der Caladran verriet durch nichts, wie er
die Worte des Greifenreiters aufnahm. Stattdessen ging er auf
Gorian zu und blieb dicht vor ihm stehen. Gorian spürte, wie ein
fremder Geist den seinen zu durchforschen versuchte.
»Erstaunlich«, sagte Abrandir schließlich. »So viel
Begabung bei einem Nicht-Caladran.« Er wandte den Kopf und sah
Torbas an. »Und es gibt zwei deiner Art. Zwei, die offenbar
zusammengehören wie die beiden Hände eines Kriegers.« Er streckte
die Hände aus, die Linke richtete er auf Torbas, die Rechte auf
Gorian, und die Augen beider wurden sofort vollkommen
schwarz.
»Habt Ihr gefunden, wonach Ihr suchtet?«, fragte
Gorian.
Der König der Caladran gab darauf keine Antwort.
Dafür erreichte Gorian ein Gedanke, der gar nicht für ihn bestimmt
war. Er kam von Orawéen. »Diese beiden könnten tatsächlich stark
genug sein, die Gestirne zu beeinflussen. Wir brauchen
sie.«
Gorian hob den Blick und sah Orawéen an. »Und
wir brauchen die Magie der Caladran, ehrenwerte Königin!«
Abrandirs Gemahlin erschrak. Sie hatte nicht damit
gerechnet,
dass irgendjemand außer ihrem Mann ihre Gedankenbotschaft empfing.
Doch sogleich zeigte ihr Gesicht wieder den Ausdruck perfekten
Gleichmuts, und laut sagte sie: »Es scheint, als hätte ich Euch
sogar noch unterschätzt, werter Gorian.«
»Ich will Morygors Schicksalslinie kreuzen. Morygor
weiß, dass es geschehen wird, und darum fürchtet er sich vor mir
und versucht verzweifelt, mich zu töten.«
Einige Augenblicke herrschte Schweigen. Meister
Thondaril bedachte Gorian mit einem tadelnden Blick, weil sein
Schüler seiner Meinung nach zu offen vorgegangen war. Aber ein
anderer war durchaus zufrieden mit ihm. Es war der Namenlose.
»Gut so. Jeder Augenblick, den wir mit belanglosem Geschwätz
verschwenden, nutzt nur Morygor.«
»Behalte sie hier. Es könnte sich lohnen«,
sandte Orawéen einen Gedanken an ihren Mann, und sie machte sich
diesmal nicht die Mühe, ihn vor Gorian verbergen zu wollen.
Wahrscheinlich sollte er sogar ihr Wohlwollen zur Kenntnis
nehmen.
»Ihr sollt unsere Gäste sein«, erklärte König
Abrandir laut und vernehmlich und fügte mit seiner Gedankenstimme
hinzu: »Alles Weitere wird sich zeigen.«
Gorian fragte sich, für wen diese letzte Botschaft
wohl bestimmt war. Möglicherweise war sie an den gesamten Hofstaat
oder sogar alle Einwohner des Stadtbaums von Caladrania
gerichtet.
»Was ist mit mir?«, dröhnte im nächsten
Moment die Gedankenstimme des Maskierten in den Köpfen aller
Anwesenden. »Bin auch ich Euer Gast?«
Abrandir, der sich bereits abgewandt hatte, drehte
sich wieder herum. »Meine Worte schließen niemanden aus«, erklärte
er. »Auch nicht Euch, wer immer Ihr sein mögt.
Da Ihr zum Gefolge der beiden Sternenmetall-Schwertträger gehört,
sollt auch Ihr hier willkommen sein, so wie alle anderen.«
Nach diesen Worten wandte sich Abrandir seinen
Soldaten zu. »Ruft alle Schamanen und Magier zusammen, die sich
derzeit in Caladrania aufhalten! Die gestohlenen Schriften sollen
in die Halle des Geistes gebracht werden!«
»Sehr wohl, mein König!«, bestätigte der Kommandant
der Königlichen Garde.
»Und außerdem sollen sich alle Mitglieder des
Kronrats einfinden. Dies ist ein bedeutender Augenblick, der
feierlich begangen werden sollte!« Nach einer kurzen Pause fügte er
noch, an den Namenlosen Renegaten gerichtet, hinzu: »Ihr und Euer
Gefolge werdet dabei sein und Eure Forderung vortragen!«
»Ich danke Euch, werter Abrandir.«
Die schwebende Truhe wurde von den Kriegern in die
Mitte genommen. König Abrandir und seine Gemahlin folgten dem Zug,
und auch die Gäste reihten sich ein.
Gorian schritt neben dem Namenlosen und raunte ihm
zu: »Wir haben keine Zeit für Feiern und Zeremonien. Sieht denn von
den Caladran niemand zum Himmel, wo der Schattenbringer die Sonne
schon fast gänzlich verdeckt hat?«
»Der Sonnenkranz wird von Tag zu Tag schmaler«,
stimmte ihm der Namenlose zu. »Die Augen eines Menschen können den
Unterschied nur grob abschätzen, aber ich kann es dir bestätigen;
es ist tatsächlich so.«
»Dann verstehe ich Eure Ruhe nicht.«
»Ein Caladran-Leben ist lang, daher haben sie
normalerweise viel Zeit, darüber nachzudenken, was getan werden
muss – und manchmal tun sie dann am Ende gar nichts.
Daran wirst du mit deiner Ungeduld nichts ändern, Gorian. Selbst
ich habe das vor langer Zeit nicht geschafft.« Der Namenlose
seufzte. »Die Menschen sind mir immer fremd geblieben – aber nun,
da ich hierher zurückgekehrt bin, fällt mir erst auf, wie fremd
mein eigenes Volk mir geworden ist.«
Noch etwas bereitete Gorian Sorge, nämlich dass er
Ar-Don allein bei der Gondel zurücklassen musste. Mehr als einmal
hatte sich der Gargoyle als unberechenbar erwiesen, und
irgendwelche Irritationen bei ihren caladranischen Gastgebern waren
das Letzte, was sie in ihrer gegenwärtigen Lage brauchen konnten.
Offenbar war es doch nicht so einfach, ein Bündnis mit ihnen zu
schließen, wie er nach dem freundlichen und offenbar durch den
Namenlosen in entscheidender Weise vorbereiteten Empfang zunächst
zu hoffen gewagt hatte.
Der Gargoyle aber beruhigte ihn erneut mit einer
Gedankenbotschaft. »Ar-Don wird sich gut benehmen«,
versprach er. »Ist zahmer Greif. Keine Wut.«
»Das ist gut«, antwortete ihm Gorian.
»Meister Domrichs Seelenteil schläft. Darum
kein Zorn.«
»Warum sollte Meister Domrich zornig auf die
Caladran sein?«
»Sieht in jedem Caladran-Gesicht Morygors
Ebenbild. Aber schläft. Greifenseele stark. Ar-Don stark. Und
Meister Domrich hat Augen geschlossen …«
Sie folgten der Königlichen Garde und der
schwebenden Metalltruhe durch ein Portal, das in einen
hallenartigen Raum führte. Mitten in diesem Raum befand sich eine
ovale Öffnung. Ein tiefer Schacht gähnte dort, und zu Gorians
Erstaunen marschierten die Caladran-Krieger einfach weiter. Aber
sie fielen nicht in die Tiefe, sondern schwebten langsam
den Schacht hinab, und jene Krieger, die die Truhe in ihre Mitte
genommen hatten, hielten dabei sogar ihre Formation ein.
Auch der König schritt in den Abgrund und hielt
dabei zärtlich die Hand seiner Gemahlin, sodass beide ein Bild
vollendeter Anmut boten, während sie – scheinbar leicht wie Federn
– in die Tiefe sanken.
»Das Geheimnis der Gewichtslosigkeit!«, stieß
Gorian hervor.
»Schreite mutig voran, Gorian. Dir wird nichts
geschehen«, sagte der Namenlose.
»Ich hatte angenommen, dass der Zauber der
Gewichtslosigkeit nur in den Himmelsschiffen Anwendung findet«, gab
Meister Thondaril ausnahmsweise seine Unwissenheit zu.
»Nein, dieser Zauber ist das wichtigste
Transportmittel innerhalb Caladranias«, erläuterte der Namenlose.
»Ein ganzes Netz von Schächten durchzieht den Stadtbaum und
ermöglicht es, innerhalb sehr kurzer Zeit von einem Ende zum
anderen dieser gewaltigen Stadt zu gelangen.«
»Und ich kann nichts dabei verkehrt machen?«,
fragte Zog Yaal etwas besorgt.
Der Namenlose lächelte überlegen. »Es ist
gefährlicher und weitaus unsicherer, sich auf dem Rücken eines
unberechenbaren Greifentiers in die Höhe zu schwingen, als sich in
diesen Schacht zu begeben.«
»Und wie weiß ich, wo ich ankommen werde, und
vermeide eine harte Landung?«
»Der Zauber erkennt deine Absichten aus den
kleinsten Regungen deiner Muskeln und deine Gedanken.«
Der Namenlose trat einen Schritt vor und schwebte
dann ebenfalls nach unten. Nacheinander folgten Gorian, Sheera,
Torbas und die anderen. Selbst der Maskierte zog in diesem Fall
diese Art der Fortbewegung jener durch den Stein vor, obwohl es für
ihn zweifellos möglich gewesen wäre, sich auch per Steinreise durch
die ganze Stadt zu bewegen.
Gorian erkannte, dass er seine Fallgeschwindigkeit
tatsächlich durch puren Willen beeinflussen konnte. Zog Yaal aber,
der zwar auch nach einigem Zögern in den Schacht gestiegen war,
bremste seinen Fall so stark ab, dass er schließlich wieder
emporzuschweben begann.
»Das ist die falsche Richtung!«, rief Meister
Thondaril. »Als Repräsentant der Greifenreiter darfst du bei
offiziellen Anlässen nicht fehlen. Also anders herum!«
Zog Yaal prallte mit einem Soldaten zusammen, der
als einer der Letzten in den Schacht gesprungen war. Ein zweiter
wich dem Greifenreiter gerade noch aus, ehe dieser es schaffte,
seinen Aufstieg wieder zu bremsen. Danach hing er schwerelos im
Schacht, offenbar glichen sich seine Bestrebung, nach unten zu
gelangen, und seine Furcht vor der Tiefe gegenseitig aus.
Der Namenlose bemerkte es, stoppte seinen Abstieg
und blickte empor. »Sei eindeutig in deinem Willen und deinen
Gedanken, Mensch!«, rief er. »Sonst überträgt sich die Verwirrung
auf den Zauber!«
Blitze zuckten bereits an zwei Stellen aus dem
Nichts heraus, etwa eine Handbreit über Zog Yaals Kopf und
unmittelbar unter seinen Füßen. So als ob zwei widerstreitende
Kräfte an ihm zogen, schwebte er einmal eine Handbreit empor, dann
wieder hinab.
»Na los!«, ließ der Namenlose noch eine
Ermahnung mit einem sehr eindringlichen Gedanken folgen.
Doch die beiden Kräfte schienen immer heftiger an
Zog Yaal zu zerren. Ihm standen die Haare zu Berge, die Arme
wurden ihm nach oben gezogen, sodass es aussah, als wäre er auf
eine unsichtbare Streckbank gespannt.
Da griff der Maskierte ein. Auch er hatte seinen
Flug abgebremst und schwebte stehend im Schacht. Er hob die Hand,
ein himmelblauer Lichtball bildete sich in der Handinnenfläche und
schoss auf Zog Yaal zu, traf den Kopf des Greifenreiters und
zerplatzte dort.
Zog Yaals Kopf sackte augenblicklich nach vorn, und
gleichzeitig endete der Kampf der zwei widerstrebenden Kräfte. Zog
Yaals regungsloser Körper schwebte langsam abwärts, wie von einer
unsichtbaren Hand behutsam getragen.
»Er ist nur bewusstlos«, erklärte der Maskierte.
»Auf diese Weise bringt ihn der Zauber der Gewichtslosigkeit wie
einen Gegenstand nach unten und wird nicht durch seine Furcht
verwirrt.«
Gorian setzte auf einem Marmorboden auf, in dem
immer wieder wechselnde und sich verändernde Caladran-Runen
aufleuchteten.
»Wir sind dem Zugang zum Reich des Geistes sehr
nahe«, erklärte der Namenlose, der neben ihm landete.
»Ich möchte mehr darüber erfahren.«
»Das wirst du, Gorian. Aber sei vorsichtig. Das
Reich des Geistes ist Quelle ungeahnter Gefahren für jeden, der
nicht daran gewöhnt ist. Also tu nichts, ohne mich zu fragen.
Nichts, hörst du?«
»Gewiss«, murmelte Gorian.
Aber er schien die Worte des Namenlosen kaum
wahrgenommen zu haben. Gebannt starrte er auf die sich verändernden
Runen auf dem Boden. Er spürte eine Kraft, wie er sie nie zuvor
wahrgenommen hatte, mächtiger als alles, was er kannte, und eine
Mischung aus Schauder und Faszination
überkam ihn. Er hörte einen fernen Chor von Gedankenstimmen. Es
waren unzählige, und sie schienen in irgendeinem Zusammenhang mit
den Runen zu stehen. Zuerst glaubte er, dass sie Caladranisch
sprachen, aber dann war er sich nicht mehr sicher. Er verstand
zunächst Bruchstücke dessen, was sie sagten, dann ganze Sätze, und
auf einmal war ihm die Bedeutung der aufleuchtenden Runen so klar,
als würde er diese fremden Schriftzeichen schon sein halbes Leben
lang selbst benutzen. Es war so vieles, worüber die Stimmen
sprachen, und Gorian hatte das Gefühl, jeder von ihnen zuhören und
sie verstehen zu können. Sie sprachen von Magie, vom Wissen über
die Bewegungen der Gestirne, davon, wie die Sterne das Schicksal
des Einzelnen bestimmten, aber auch davon, wie es möglich war, dass
ein Einzelner die Gestirne beeinflusste, so wie es Morygor derzeit
tat. Das alles mischte sich mit Bildern und Gedanken aus ferner
Vergangenheit.
Die Stimmen erzählten von den ersten
Himmelsschiffen, die aus dem Westen kommend die Inseln der Caladran
erreicht und die Sonnenflüchter in blutigen Schlachten vertrieben
hatten.
Caladir …
Der Name ihres legendären Anführers und ersten
Königs, von dem sich der Name dieses Volkes ableitete. Er hatte die
Himmelsschiffe hergeführt, zu den westlichen Inseln eines
Kontinents, den die Caladran Bathranor nannten und der bei den
Menschen als Ost-Erdenrund bekannt war.
Aber da waren auch Bilder, Worte, undefinierbare
Töne und andere Eindrücke aus einer noch ferneren Vergangenheit,
die mit einem Juwel von gleißender Leuchtkraft und einem
weißhaarigen Magier zu tun hatten, der beinahe eins wurde mit dem
Licht, das aus dem Edelstein in seiner Hand
drang. Als er zu sprechen begann, fühlte Gorian einen stechenden
Schmerz im Kopf.
Und im nächsten Moment eine eiskalte Hand.
»Nein!«
Der Schmerz ging von dem eindringlichen Gedanken
des Namenlosen aus, dessen bleiche Hand auf Gorians Nacken lag. Von
einem Augenblick zum anderen war die Verbindung zu all dem, was
Gorian gerade wahrzunehmen begonnen hatte, abgerissen.
»Die Versuchung ist groß, Gorian. Erliege ihr
später!«
Gorian konnte nichts darauf erwidern. Er spürte das
starke Verlangen, die Verbindung wieder aufzunehmen. Der Gedanke,
von diesem schier unendlichen Quell des Wissens abgeschnitten zu
sein, erschien ihm zunächst unerträglich.
»Ahnst du jetzt, wie ich gelitten habe?«,
fragte der Namenlose.
»Ja.«
»Und weshalb ich die Verbindung zum Reich des
Geistes nie so radikal abbrechen ließ wie die zu meinem
Volk?«
»Auch das.«
»Du scheinst sehr sensibel auf die Kräfte
hier zu reagieren. Dabei sind dies nur die peripheren Abstrahlungen
aus dem Reich des Geistes, und du bist nur ein sterblicher Mensch,
und Menschenmagie reicht normalerweise nicht aus, um diese Dinge
überhaupt wahrzunehmen.«
Tatsächlich schienen Torbas und Sheera vollkommen
unberührt davon zu sein, und das galt offenbar selbst für Meister
Thondaril, der sich umdrehte und Gorian irritiert ansah.
»Sie sehen die Runen nicht, sie hören die
Gedankenstimmen nicht, und für sie hat sich die Zeit nicht in dem
Moment gedehnt, als sich deine Seele schon halb verloren
hatte«, erklärte der
Namenlose. »Bei den vergessenen Göttern der Caladran!
Vielleicht habe sogar ich dich unterschätzt. Wie bedauerlich, dass
du ein so kurzlebiges Wesen bist. Wie bedauerlich und was für eine
Verschwendung von Talent an die Flüchtigkeit eines kurzen
Lebens.«
»Worauf wartet ihr?«, fragte Torbas, der sich
ebenfalls zu ihnen umgedreht hatte und tatsächlich von alldem
nichts mitbekommen zu haben schien.
Der Namenlose sah Gorian ernst an. »Schirm dich
ab, oder du wirst dich verlieren!« Und dann sprach er einige
Worte in caladranischer Sprache. Eine Formel, die Gorian wohl dabei
helfen sollte, der Macht zu widerstehen, mit der er soeben in
Berührung gekommen war.
Die Runen auf dem Marmorboden verblassten und
verschwanden schließlich auch für Gorians Augen.
Sie schritten durch eine weite Marmorhalle, an
deren Decke sich bewegende Fresken zu sehen waren. Sie zeigten eine
schier unendliche Zahl von Himmelsschiffen. Manche waren sehr klein
und wirkten wie aus weiter Ferne, bei anderen, die sich weiter im
Vordergrund befanden, war naturgetreu jedes Detail zu erkennen,
selbst die Gesichter der Besatzungen.
Auf den Säulen, die das Hallendach trugen, sah
Gorian hin und wieder ein paar Runen aufleuchten.
»Beachte sie nicht!«, wies ihn der Namenlose
an.
Schließlich gelangten sie in eine noch viel größere
Halle – die eigentliche Halle des Geistes. In der Mitte befand sich
ein ovaler Altar aus Stein, und darauf lag ein faustgroßer
Kristall.
Gorian spürte sofort, dass dieser Kristall das
Zentrum dessen war, was die Caladran als das Reich des Geistes
bezeichneten. Für einige Augenblicke hörte er wieder die Stimmen,
sah Runen auf den Marmorboden und den Wänden wabern, und er musste
sich dazu zwingen, sie nicht weiter zu beachten.
Es gab in der Halle des Geistes noch weitere
Zugänge, durch welche die Schamanen und Magier sowie die Mitglieder
des Kronrats strömten. Insgesamt handelte es sich um mindestens
tausend Männer und Frauen. Dass es möglich war, so schnell eine
derart große Anzahl von Personen zusammenzurufen, war wohl nur
durch das ausgeklügelte System von Schächten zu erklären, in denen
der Zauber der Gewichtslosigkeit wirksam war.
Die Soldaten begleiteten die Truhe mit den
gestohlenen Schriften bis vor den Altar. Dort verharrte sie
schwebend. Auch sie war offenbar mit dem Zauber der
Gewichtslosigkeit versehen, für dessen genaue Wirkungsweise sich
Gorian inzwischen genauso brennend interessierte wie für die
Caladran-Magie im Allgemeinen. Je mehr Einzelheiten er darüber
erfuhr, desto mehr wurde ihm bewusst, wie überlegen diese besondere
Art von Magie allem war, was menschliche Magiermeister je
vollbracht hatten.
König Abrandir schritt vor den Altar, während die
Soldaten wieder zurücktraten. »Es wurde zurückgegeben, was
gestohlen wurde – und es wird dem Reich des Geistes wieder
hinzugefügt, was von ihm getrennt wurde«, sprach er, hob die Hände
und streckte sie in Richtung des Kristalls aus. Dieser begann zu
leuchten. »Öffne dich, Kristall des Wissens, Zentrum im Reich des
Geistes, Schnittpunkt aller Möglichkeiten. Alles ist hier vereint:
die Toten, die Lebenden und die Ungeborenen; das, was ist, was war
und was sein könnte.«
Ein Strahl aus grellweißem Licht traf die Truhe,
die daraufhin
aus sich heraus zu leuchten begann. Selbst in dem kurzen Moment,
da Gorian nur mit den Abstrahlungen dessen in Kontakt geraten war,
was die Caladran ihr Reich des Geistes nannten, hatte er mehr
erfahren, als er je über dieses Volk gewusst hatte. So wusste er
auch, dass es sich bei jenen Caladran, die in weiße Kutten aus
fließendem Stoff gehüllt waren, um Schamanen handelte, deren
Aufgabe es war, das Schicksal zu sehen und die Verbindung zu den
Toten und dem Reich des Geistes zu pflegen. Die andere Gruppe, die
neben den Kriegern klar abgegrenzt war, waren die Magier. Sie
trugen handgroße messingfarbene Amulette, in die Ligaturen von
Caladran-Runen eingraviert und die manchmal mit Edelsteinen
ausgelegt waren. Die Aufgaben der Magier waren profaner als die der
Schamanen, sie sorgten dafür, dass die Himmelsschiffe ihre
Flugfähigkeit behielten, dass der Zauber der Gewichtslosigkeit in
den Schächten einwandfrei funktionierte, und führten
Ausbesserungsarbeiten am Stadtbaum mittels Magie durch. Früher
waren sie auch an den Kriegen der Caladran beteiligt gewesen, aber
es war schon sehr lange her, dass dieses Volk überhaupt einen Krieg
geführt hatte.
Vielleicht zu lange, um sich nun leichten Herzens
einem Bündnis mit anderen Völkern anzuschließen und sich einem
übermächtig erscheinenden Feind entgegenzustellen.
Gorian war erpicht darauf, noch mehr zu erfahren,
und versuchte zugleich, sich so gut wie möglich abzuschirmen, denn
er wollte den Namenlosen Renegaten auf keinen Fall beunruhigen. Er
war bereits entschlossen gewesen, die Magie dieses Volkes zu
erlernen, bevor er mit seinen Gefährten die Inseln der Caladran
erreichte, nun aber erschien es ihm sogar als absolut unumgänglich,
wenn er Morygor gegenübertreten und dessen Herrschaft beenden
wollte. Nicht zuletzt
deshalb, weil Morygor selbst ein Caladran gewesen war, auch wenn
er sich inzwischen stark verändert hatte und zu einer ganz anderen
Kreatur geworden war, die das Bild eines Caladran-Jünglings nur
noch als eine Erscheinungsform benutzte, die weniger erschreckend
wirkte als seine wahre, verborgene Gestalt.
Die Schamanen begannen Formeln zu sprechen und
bildeten dabei einen Chor, getragen von tiefen, kehligen Stimmen.
Gorian war erstaunt, wie viele dieser Formeln, die sie
aneinanderreihten, ihm irgendwie bekannt vorkamen. Und hin und
wieder begriff er sogar ihre Bedeutung. Nein, sein Entschluss stand
fest, er musste mehr von diesem Wissen erlangen. Offenbar hatte er
schon von Natur aus eine besondere Verbindung dazu. Anders war es
nicht zu erklären, dass er die Abstrahlungen vom Reich des Geistes
bereits so intensiv in sich aufgenommen und nur er die
fluktuierenden Runen auf dem Marmor gesehen hatte und keiner der
anderen.
Während der grelle Lichtstrahl aus dem Kristall
weiterhin die metallene Truhe traf, glühte sie förmlich auf und
schwebte langsam empor. Der Chor der Schamanen schwoll an. Gorian
empfing ihn zusätzlich noch als Gedankenstimmen mit besonderer,
aber nicht unangenehmer Intensität, was zunächst nicht der Fall
gewesen war.
Wie auf ein geheimes Zeichen hin hoben die Magier
die Hände, und nadelfeine, kaum sichtbare Strahlen schossen aus
ihren Fingerspitzen und trafen den Kristall auf dem ovalen
Altar.
Als die Truhe ungefähr zwei Mannlängen darüber
schwebte, kam sie zum Stillstand und öffnete sich. Durchscheinende
Ebenbilder von dicken Folianten schwebten aus der Truhe, wie sie zu
Tausenden in der Bibliothek von Felsenburg
gestanden hatten, aber auch Schriftrollen, manche in
durchscheinenden köcherartigen Behältern.
All diese Erscheinungen schwebten auf den Kristall
zu und wurden in ihn aufgenommen.
»Kristall des Geistes, öffne dich!«, murmelten die
Schamanen, und die Klarheit und Selbstverständlichkeit, mit der er
diese Worte verstehen konnte, erschreckte Gorian im ersten
Moment.
Der König, der bis dahin wie gebannt das Geschehen
um den Kristall beobachtet hatte, drehte sich um und richtete den
Blick auf den Namenlosen.
Dieser schien genau zu wissen, was zu tun war. Er
schritt nach vorn, sich der Aufmerksamkeit aller bewusst. Hier und
dort tauschten einige Caladran Blicke und Gedanken aus, vor allem
Mitglieder des Kronrats, die nicht auf gleiche Weise geistig in das
Ritual eingebunden waren wie Schamanen und Magier.
»Ich gebe zurück, was ich dereinst durch Magie
vom Reich des Geistes trennte«, sandte der Namenlose einen
Gedanken, der klar und durchdringend genug war, dass zumindest
jeder der Caladran im Raum ihn vernehmen konnte.
Für Gorian galt das ebenfalls.
Eher beiläufig nahm er auch einen Gedanken von
Sheera wahr, der pure Verwirrung signalisierte. »Gorian …«
Bevor sie den Stadtbaum von Caladran erreicht hatten, hätte sich
Gorian unendlich darüber gefreut, dass Sheera nach längerer Zeit
wieder gedankliche Verbindung zu ihm suchte. Aber in diesem
Augenblick trat es für ihn vollkommen in den Hintergrund. Zu sehr
nahm ihn gefangen, was sich vor ihm ereignete.
Wie leicht wäre es in diesen Momenten gewesen, in
das geheimnisvolle Reich des Geistes einzudringen. Er hatte
den Eindruck, lediglich dem ohnehin nahezu übermächtigen Drang
nachgeben zu müssen, der ihn mit fast unerträglicher Intensität
erfüllte. Sich einfach nicht mehr abschirmen, sich nicht mehr
dagegen wehren und in diesem Meer aus Wissen und Erkenntnis und
verborgenen Möglichkeiten eintauchen – das war es, was er im Moment
so sehr wollte wie nichts anderes. Selbst der Wunsch, Morygor zu
vernichten, stand dahinter zurück.
Schließlich verebbte der Strom aus Licht, und es
erhoben sich aus der messingfarbenen Metalltruhe auch keine
Schriften mehr, die von dem Kristall aufgenommen wurden.
Die Truhe schloss sich, schwebte langsam zurück auf
ihren Platz vor dem Altar, und auch das Glühen, das sie bis dahin
erfüllt hatte, erlosch.
Ein Gefühl der Rastlosigkeit und Unruhe erfüllte
Gorian, die Empfindung, an einem Wendepunkt zu stehen und handeln
zu müssen. Wenn er jetzt nicht ins Reich des Geistes eindrang,
würde er vielleicht nie wieder Gelegenheit dazu bekommen. Sollte er
warten, bis die Caladran ihre Vorbehalte aufgaben, die sich gegen
jeden Fremden richteten, und ihm den Zugang gewährten? Würde ihn
der Namenlose dann nicht wieder davon abhalten? Der war im Moment
noch auf das Ritual konzentriert, und daher konnte Gorian auch
verhindern, dass er in seine Gedanken eindrang.
Die Farbe des Kristalls änderte sich. Das weiße
Leuchten verschwand, und er erinnerte erst an einen Diamanten und
wenig später an schmutziges Eis.
Gorians Augen wurden schwarz. Er hatte das Gefühl,
noch nie zuvor so viel von der Alten Kraft in sich gesammelt zu
haben. Er musste es tun, dem Drang nachgeben. Überall erschienen –
zumindest für seine Augen – Kolonnen von Runen, auf dem
Marmorboden, den Wänden und unter der
kuppelartigen Decke, und die Gedankenstimmen aus dem Reich des
Geistes übertönten wenige Augenblicke später den Sprechchor der
Schamanen und alle anderen Eindrücke.
Gorian streckte beide Hände aus. Blitze zuckten aus
seinen Fingerspitzen und erfassten den Kristall, der wieder zu
strahlen anfing.
Auf einmal schoss ein greller Lichtblitz daraus
hervor, traf Gorian und schleuderte ihn zurück.
Alles, was er sah, war dieses Licht, das zunächst
angenehm war, dann aber Wellen des Schmerzes durch seinen Körper
und seinen Geist sandte. Er hatte das Gefühl zu fallen.
Licht und Kälte umgaben ihn – und Kolonnen von
Caladran-Runen, deren Schwärze sich schließlich ausbreitete und
sich wie ein dunkles Leichentuch über seinen Geist legte.
Dann war da nichts mehr.
Gar nichts.