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In der Stadt der Himmelsschiffe
Im Morgengrauen klarte der Himmel auf, doch es wurde aufgrund der verdunkelten Sonne nicht wirklich hell. Hier und dort waren sogar vereinzelt Sterne zu sehen.
Doch so schwach der Feuerkranz auch war, der den Schattenbringer zu umschließen schien, sein bisschen Sonnenglut reichte aus, den eisigen Hauch des Frostreichs zu vertreiben, das bislang einen Bogen um jenes Seegebiet machte, in dem die Inseln der Caladran lagen. Auch die Eisblumen an den Fenstern schmolzen nach und nach.
Obwohl Gorian kaum geschlafen hatte, war er hellwach. Ihm fiel auf, dass der Namenlose von einer zunehmenden Unruhe erfasst war. Immer wieder trat er zu einem der Fenster, um kurz hinauszusehen. Danach kniff er jedes Mal die Augen wie unter einer großen Anstrengung zusammen, massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Schläfen und murmelte Worte auf Caladranisch, von denen Gorian vermutete, dass es sich bei ihnen um Formeln handelte, die der inneren Stärkung dienten.
Seinen Geist verschloss der uralte Caladran-Renegat nun vollkommen. Was auch immer in seinem Inneren vorging, er war offenbar der Ansicht, dass es keinen seiner Begleiter etwas anging.
Irgendwann ließ Ar-Don einen durchdringenden Ruf hören, und am Horizont wurden kleine schwarze Punkte sichtbar, die rasch größer wurden.
Es handelte sich um Himmelsschiffe der Caladran.
Majestätisch schwebten sie heran. Sie hatten sehr unterschiedliche Größen, manche von ihnen waren länger als drei oder vier westreichische Galeeren und die Außenwandungen höher als selbst die der bauchigsten Kogge des gesamten Heiligen Reichs, andere waren schmal und verhältnismäßig klein. Die Aufbauten schimmerten messingfarben. Schlaff hingen die Segel von den Masten, unbeeinflussbar von irdischem Wind, sondern nur dazu geschaffen, jene metamagischen Schwingungen einzufangen, mit deren Energien sich die Himmelsschiffe fortbewegten.
An einigen der Schiffe entdeckte Gorian Apparaturen, die Katapulten glichen. Einige ähnelten Armbrüsten, sodass sich Gorian ihre Funktionsweise zumindest ungefähr denken konnte, andere bestanden aus scheinbar willkürlich zusammengefügten messingfarbenen Rohren und Metalltrichtern, bei denen es sich entweder um magische Waffen oder vielleicht auch um Vorrichtungen handelte, die in irgendeiner unbegreiflichen Weise der Navigation oder der Kontrolle jener geheimnisvollen Kräfte diente, die diese Schiffe in die Höhe steigen ließen.
Viele Magiermeister des Ordens hatten Jahre damit verbracht, das Geheimnis der Gewichtslosigkeit zu erforschen. Aber sie waren dabei ebenso erfolglos geblieben wie bei dem Versuch, das Rätsel der metamagischen Schwingungen zu entschlüsseln. Selbst die Zuhilfenahme von Kopien magischer Schriften der Caladran, die auch der Orden gekauft und in seinen Bibliotheken gelagert hatte, hatte letztendlich kein Ergebnis gebracht.
Ar-Don stieß eine Folge krächzender Laute aus und drosselte die Geschwindigkeit. Der bisher recht gleichmäßige Rhythmus seiner Flügelschläge geriet ein wenig aus dem Takt, sodass die Greifengondel an Höhe verlor, bevor der Greifengargoyle erneut aufstieg.
Der Namenlose Renegat öffnete die Außentür, trat auf den kleinen Balkon, breitete die Arme aus und verkündete mit dröhnender Gedankenstimme, die auch ein nicht magiebegabtes Wesen empfangen konnte: »Nach langer Zeit kehre ich zurück und bringe Euch, was Euch gestohlen wurde, auf dass ein neues Zeitalter beginne!«
Die Augen des Namenlosen leuchteten grell auf, und aus seinen Fingerspitzen schossen dunkelrote Lichtstrahlen, die verschnörkelte Caladran-Runen in den Himmel schrieben, wo sie nach einer Weile wieder verblassten. Danach wartete der Namenlose ungeduldig auf eine Antwort.
Aus einem röhrenartigen, messingfarbenen Metallfortsatz am Bug des größten der Caladran-Schiffe quoll ein zähflüssiger, jedoch scheinbar völlig gewichtsloser blutroter Tropfen, dehnte sich innerhalb weniger Augenblicke auf einen Durchmesser von zwei Schritt aus, schwebte auf die Greifengondel zu und gewann dabei immer mehr an Geschwindigkeit.
Ar-Don scheute davor zurück, minderte seine Fluggeschwindigkeit noch mehr, fauchte den herannahenden Tropfen an und versuchte schließlich sogar, ihm auszuweichen, doch es gelang ihm nicht. Der Tropfen glich seine Flugbahn der der Gondel an, traf auf sie, drang durch die Außenwand und verharrte dann in der Mitte des Passagierraums.
Im nächsten Moment formte sich aus ihm eine menschenähnliche Gestalt und verstofflichte zu einem Caladran-Krieger. Der Nasenschutz des messingfarbenen Helms reichte ihm bis zum Kinn, sodass von seinem Gesicht kaum mehr zu sehen war als die schräg stehenden Caladran-Augen.
Der Namenlose kehrte vom Gondelbalkon zurück, blieb aber in der offenen Tür stehen.
»Folgt uns und leistet keinen Widerstand!«, sagte der Caladran-Krieger laut. »Unsere Himmelsschiffe werden eure Gondel in ihre Mitte nehmen und nach Caladrania begleiten. Wir werden euch zeigen, wo ihr landen sollt. Tut, was man euch befiehlt. Gebt niemandem Anlass, euch oder euer Greifentier für eine Gefahr zu halten, sonst wird man euch augenblicklich vernichten.« Er hatte akzentfreies Heiligreichisch gesprochen und wiederholte seine Forderung anschließend auf Gryphländisch.
Als der Namenlose einige Worte in der Caladran-Sprache äußerte, wandte der Krieger nur kurz den Kopf und sah den Renegaten an. Dann wurde er durchscheinend und verblasste, und innerhalb weniger Herzschläge war er verschwunden.
»Bevölkern seit neuestem Geister die Inseln der Caladran?«, knurrte Torbas.
»Dies war nur der Geist einer Botschaft«, erklärte der Namenlose. »Doch wir tun gut daran, den Anweisungen genau Folge zu leisten.«
Während die Himmelsschiffe die Gondel in ihre Mitte nahmen, um sie zu eskortieren, sagte Gorian zu dem Namenlosen: »Das Ganze wirkt auf mich eher wie eine Gefangennahme.«
»Wir werden das Misstrauen, das man uns entgegenbringt, sicherlich ausräumen können«, gab sich der Namenlose zuversichtlich, doch während er dies sagte, sah er Gorian nicht einmal an, sondern schien in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt zu sein.
Wenig später tauchte am Horizont Caladrania, die Hauptstadt des Caladran-Reichs, auf. Nie zuvor hatte Gorian einen Ort gesehen, der mit diesem vergleichbar gewesen wäre.
Die Stadt bestand aus einem einzigen riesenhaften Felsen in Form eines Baumes, dessen Krone vielfach verzweigt war. Tausende von Türmen erhoben sich als steinerne Äste in den Himmel, umschwirrt von Hunderten kleinerer Himmelsschiffe, zumeist in der Größe von Barkassen, während die Wurzeln der Baumstadt weit ins Meer ragten und als Hafenmauern dienten. Sie schützten zahlreiche Himmelsschiffe vor den Stürmen des Meeres von Ost-Erdenrund, die dort vertäut lagen.
Das Zentrum von Caladrania bildete eine Burg. Sie lag dort, wo sich der Stamm des steinernen Baumes in drei Hauptäste teilte. Einer dieser Hauptäste reckte sich den Ankömmlingen entgegen, ein zweiter wies ins Innere der Insel, von der Gorian nicht mehr wusste, als dass sie denselben Namen wie die Hauptstadt trug, und der dritte und stärkste wies zum westlichen Meereshorizont, dorthin, wo den Legenden nach die Länder von West-Erdenrund zu finden waren, von denen es hieß, dass niemand, der dorthin aufbrach, je zurückkehrte.
»Der Stadtbaum von Caladrania!«, murmelte der Namenlose, und man konnte spüren, wie tief bewegt er war. »Welche Schönheit, welche Harmonie. Selbst die Bauwerke mitulischer Meister wirken dagegen wie Hütten. Ah, welche Freude für mein Auge, dass es diese einzigartige Pracht wieder sehen darf.«
Je näher sie kamen, desto mehr der kunstvollen Einzelheiten waren zu erkennen. Der Stadtbaum von Caladrania wirkte wie eine riesenhafte Skulptur, die ein überragender Künstler aus einem einzigen Stein gehauen hatte.
Oder, so ging es Gorian durch den Kopf, jemand hatte den Stein entsprechend beeinflusst, sodass er sich gegen seine eigentliche Natur verhalten und in derartiger Weise gewachsen war.
Der Namenlose löste sich für einen Moment von dem erhabenen Anblick, der sich ihm bot, und sah Gorian nun doch an.
»Genau das ist geschehen«, bestätigte er dem jungen Ordensschüler und machte ihm damit zum wiederholten Male deutlich, dass er nach Belieben in Gorians Gedanken eindringen konnte. »Der Stein wurde dazu gebracht zu wachsen und diese Gestalt auszuformen, die dem Plan des Baumeisters entsprach.«
»Dann wird man sich an seinen Namen sicher bis heute in Ehren erinnern.«
»Er ist verfemt, und die meisten halten ihn für tot. Tot und vergessen. Aber er ist beides nicht. Er ist nicht tot, weil ich ihm einst das Leben rettete. Und er kann nicht vergessen werden, weil sein Gesicht für die größte Schande meines Volkes steht.« Der Namenlose warf einen kurzen Blick in Richtung des Maskierten, der ebenfalls gefangen schien vom Anblick des steinernen Stadtbaumes von Caladrania. Unter seiner Maske drang ein Seufzen hervor.
Die Greifengondel wurde von den kleineren Himmelsschiffen bis zur Burg auf der dreifachen Astgabelung geleitet. Die größeren Schiffe hingegen landeten auf dem Meer, um anschließend in ihre jeweiligen Hafenbecken einzufahren.
Ar-Don schwebte mit wild flatternden Flügelschlägen über dem Burghof. Es fiel dem Greifengargoyle noch immer schwer, über einem Landepunkt quasi in der Luft zu verharren.
»Hier sollen wir landen«, interpretierte der Namenlose die Anweisungen der kleineren Himmelsschiffe, dann wandte er sich wieder an Gorian: »Es wäre sehr freundlich von dir, wenn du das der Gargoyle-Kreatur klarmachen würdest.«
»Na los, Ar-Don!«, sandte Gorian einen Gedanken an den Greifengargoyle. »Worauf wartest du?«
Ar-Don stieß einen erschrockenen Laut aus. Was ihn so entsetzte, wusste Gorian nicht, aber irgendetwas ließ den Gargoyle zurückscheuen. Vielleicht war es die Tatsache, dass der Stadtbaum ebenso wie er selbst aus Stein bestand. Möglicherweise traute er sich aber auch eine Landung auf dem von hohen Häusern und spitzen Türmen umgebenen inneren Burghof nicht zu, die ungleich schwieriger war als auf dem vergleichsweise weitläufigen Gondelplatz von Embador.
Unten marschierten bereits reihenweise Caladran-Krieger in schimmernden messingfarbenen Rüstungen auf und postierten sich in einer geordneten Formation.
Schließlich sank Ar-Don Stück für Stück tiefer und setzte die Gondel überraschend sanft ab. »Ar-Don hat dazugelernt«, erreichte Gorian ein Gedanke, der von einem tiefen, zufriedenen Brummen begleitet wurde.
»Es scheint mir, als hätte man uns erwartet«, sagte Gorian.
»Ach wirklich?«, entgegnete der Renegat, der sich bereits zur Tür begab, um sie zu öffnen. Er bediente sich der Caladran-Sprache, aber Gorian hatte seinen Sprechstein inzwischen wieder aktiviert, denn wenn sie mit den Caladran zusammentrafen, wollte er alles mitbekommen, ganz gleich, in welcher Sprache es geäußert wurde.
»Man war über unser Kommen informiert«, sandte er einen sehr intensiven Gedanken an den Namenlosen. »Und Ihr habt es gewusst.«
Der Namenlose machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten, sondern trat zusammen mit dem Maskierten ins Freie. Die messingfarbene Truhe mit den gestohlenen Schriften ließ er dabei hinter sich herschweben.
Gorian und Thondaril folgten, danach verließen Torbas und Sheera die Gondel.
Torbas drehte sich zu Zog Yaal herum. »Du willst doch nicht etwa hierbleiben! Immerhin bist du der Botschafter Gryphlands!«
»Daran möchte ich lieber gar nicht denken«, murmelte Zog Yaal, der sich in seiner Haut sichtlich unwohl fühlte.
Die Formation der Krieger teilte sich, als aus dem Palas der Burg ein Mann und eine Frau traten. Sie gingen Seite an Seite. Der Mann trug eine messingfarbene Krone, die kaum breiter als zwei Finger war und sehr schlicht wirkte. Gorian aber erkannte sofort ihren Wert, denn sie bestand aus reinem Sternenmetall; er spürte die Kräfte, die darin gebunden waren. Allerdings war dieses Sternenmetall von gänzlich anderer Zusammensetzung als Sternenklinge, Schattenstich oder sein Dolch Rächer, und er nahm an, dass es auch andere Eigenschaften hatte.
Der Mann mit der Krone war von unbestimmbarem Alter. Das Haar fiel ihm über die Schultern und verbarg seine Ohren, das Gesicht war bartlos und hager, und der Blick der schräg stehenden Caladran-Augen zeigte Entschlossenheit. Er trug einen vollkommen weißen Waffenrock und eng anliegende Hosen, und seine Bewaffnung bestand aus einem verhältnismäßig langen Schwert und einem Parierdolch, an dessen Griff ein Juwel glänzte.
Die Frau an seiner Seite hatte elfenbeinfarbene Haut und langes, dunkles Haar. Auf ihrem Kleid changierten Muster und Farben, und wenn man sich darauf konzentrierte, entstanden sich bewegende Darstellungen vergangener Schlachten.
Der König und die Frau blieben stehen, und der Namenlose verbeugte sich tief vor ihnen, um schließlich das Wort zu ergreifen: »Seid gegrüßt, ehrenwerter König Abrandir, Nachfahre des Caladir. Und Ihr ebenso, edle Orawéen. Lange ist es her, dass ich unter meinesgleichen weilte. So lange, dass in der Zwischenzeit die Königswürde des Volkes der beinahe Unsterblichen an den Urenkel ging.«
»Offenbar seid Ihr trotz aller Zerwürfnisse bestens über die Verhältnisse in Euerem ehemaligen Volk informiert, Renegat«, stellte König Abrandir fest.
»Niemand, den ich hier sehe, war schon geboren, als ich geächtet wurde«, gab der Namenlose zurück. »Das Volk der Caladran hat mich verstoßen – aber das Reich des Geistes vereint die Lebenden, die Toten und bisweilen sogar die Ungeborenen.«
»Nicht alle meines Volkes waren erbaut darüber, dass Ihr über das Reich des Geistes Verbindung mit den Caladran hieltet.«
»Viele Dinge haben sich verändert seit damals«, gab der Namenlose zu bedenken.
»Der Wandel ist das Elixier unseres Lebens«, erwiderte König Abrandir.
»Wem sagt Ihr das, erhabener König.«
Abrandir richtete den Blick auf die anderen Ankömmlinge, dann wies er auf die schwebende Truhe, und ein verhaltenes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Das Zeichen des guten Willens und des Friedens, das Ihr angekündigt habt. Gestohlene Schriften, die nun unserem Reich des Geistes wieder zugefügt werden können.« Wieder sah er den Namenlosen an. »Wie soll ich Euch nennen?«
»Ich bin der Namenlose Renegat, und das bleibe ich auch«, lautete die Antwort. »Meinen Namen habe ich abgelegt, und auch wenn ich es nicht lassen konnte, Verbindung zum Reich des Geistes und darüber zu meinem ehemaligen Volk zu halten, werde ich trotzdem nie wieder einer von Euch sein.«
»Und doch kommt Ihr hierher?«, wunderte sich König Abrandir.
»Es sind außergewöhnliche Umstände, die mich dazu zwingen. Morygor bedroht ganz Erdenrund, und nur ein großes Bündnis gegen ihn kann ihn aufhalten. Sonst wird diese Welt ein Ort, auf dem selbst die Caladran nicht mehr zu leben vermögen, auch wenn sie der Kälte besser zu widerstehen wissen als viele andere.« Der Namenlose wandte sich halb herum und deutete auf Gorian und seine Gefährten.
Es war offenbar überflüssig, sie vorzustellen; Abrandir schien über jeden von ihnen bereits Bescheid zu wissen. Gorian fragte sich, wie viel der Namenlose über ihn und die anderen seinem ehemaligen Volk übermittelt und was es mit dem geheimnisvollen Reich des Geistes auf sich hatte.
»Thondaril, Meister des Schwertes und der Magie«, sprach Abrandir den Ordensmeister an. »Für einen Menschen sind Eure Talente über Gebühr ausgeprägt.«
»Ich war immer bemüht zu lernen«, gab Thondaril bescheiden zurück. »Und das ist bis heute so geblieben.«
»Die Grenze der Erkenntnis sollte man erst dann akzeptieren, da man sie erreicht hat«, stimmte ihm Abrandir zu.
»Ich bin geneigt, solche Grenzen überhaupt nicht zu akzeptieren«, erwiderte Thondaril.
»Menschliche Selbstüberschätzung«, erwiderte Abrandir. »Mag sein, dass man sich diese Unbekümmertheit für die kurze Dauer Eurer Existenz erhalten kann.«
Thondaril deutete auf Zog Yaal. »Hier steht der Vertreter Gryphlands, der gekommen ist, angesichts der großen Gefahr mit den Caladran Frieden zu schließen, damit wir gemeinsam der Bedrohung begegnen können.«
Der Caladran-König wechselte in die Sprache der Gryphländer, die er perfekt beherrschte. »Seid gegrüßt, Zog Yaal. Eigenartig, Ihr seid der Einzige, über den mir gar nichts übermittelt wurde.«
»Seit den Tagen König Song Mols sind unsere Völker verfeindet. Doch diese Feindschaft ist selbst nur noch eine Legende.« Zog Yaal deutete auf die schwebende Truhe. »Was Euch gestohlen wurde, soll zurückgegeben werden.«
Der König der Caladran verriet durch nichts, wie er die Worte des Greifenreiters aufnahm. Stattdessen ging er auf Gorian zu und blieb dicht vor ihm stehen. Gorian spürte, wie ein fremder Geist den seinen zu durchforschen versuchte.
»Erstaunlich«, sagte Abrandir schließlich. »So viel Begabung bei einem Nicht-Caladran.« Er wandte den Kopf und sah Torbas an. »Und es gibt zwei deiner Art. Zwei, die offenbar zusammengehören wie die beiden Hände eines Kriegers.« Er streckte die Hände aus, die Linke richtete er auf Torbas, die Rechte auf Gorian, und die Augen beider wurden sofort vollkommen schwarz.
»Habt Ihr gefunden, wonach Ihr suchtet?«, fragte Gorian.
Der König der Caladran gab darauf keine Antwort. Dafür erreichte Gorian ein Gedanke, der gar nicht für ihn bestimmt war. Er kam von Orawéen. »Diese beiden könnten tatsächlich stark genug sein, die Gestirne zu beeinflussen. Wir brauchen sie.«
Gorian hob den Blick und sah Orawéen an. »Und wir brauchen die Magie der Caladran, ehrenwerte Königin!«
Abrandirs Gemahlin erschrak. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass irgendjemand außer ihrem Mann ihre Gedankenbotschaft empfing. Doch sogleich zeigte ihr Gesicht wieder den Ausdruck perfekten Gleichmuts, und laut sagte sie: »Es scheint, als hätte ich Euch sogar noch unterschätzt, werter Gorian.«
»Ich will Morygors Schicksalslinie kreuzen. Morygor weiß, dass es geschehen wird, und darum fürchtet er sich vor mir und versucht verzweifelt, mich zu töten.«
Einige Augenblicke herrschte Schweigen. Meister Thondaril bedachte Gorian mit einem tadelnden Blick, weil sein Schüler seiner Meinung nach zu offen vorgegangen war. Aber ein anderer war durchaus zufrieden mit ihm. Es war der Namenlose. »Gut so. Jeder Augenblick, den wir mit belanglosem Geschwätz verschwenden, nutzt nur Morygor.«
»Behalte sie hier. Es könnte sich lohnen«, sandte Orawéen einen Gedanken an ihren Mann, und sie machte sich diesmal nicht die Mühe, ihn vor Gorian verbergen zu wollen. Wahrscheinlich sollte er sogar ihr Wohlwollen zur Kenntnis nehmen.
»Ihr sollt unsere Gäste sein«, erklärte König Abrandir laut und vernehmlich und fügte mit seiner Gedankenstimme hinzu: »Alles Weitere wird sich zeigen.«
Gorian fragte sich, für wen diese letzte Botschaft wohl bestimmt war. Möglicherweise war sie an den gesamten Hofstaat oder sogar alle Einwohner des Stadtbaums von Caladrania gerichtet.
»Was ist mit mir?«, dröhnte im nächsten Moment die Gedankenstimme des Maskierten in den Köpfen aller Anwesenden. »Bin auch ich Euer Gast?«
Abrandir, der sich bereits abgewandt hatte, drehte sich wieder herum. »Meine Worte schließen niemanden aus«, erklärte er. »Auch nicht Euch, wer immer Ihr sein mögt. Da Ihr zum Gefolge der beiden Sternenmetall-Schwertträger gehört, sollt auch Ihr hier willkommen sein, so wie alle anderen.«
Nach diesen Worten wandte sich Abrandir seinen Soldaten zu. »Ruft alle Schamanen und Magier zusammen, die sich derzeit in Caladrania aufhalten! Die gestohlenen Schriften sollen in die Halle des Geistes gebracht werden!«
»Sehr wohl, mein König!«, bestätigte der Kommandant der Königlichen Garde.
»Und außerdem sollen sich alle Mitglieder des Kronrats einfinden. Dies ist ein bedeutender Augenblick, der feierlich begangen werden sollte!« Nach einer kurzen Pause fügte er noch, an den Namenlosen Renegaten gerichtet, hinzu: »Ihr und Euer Gefolge werdet dabei sein und Eure Forderung vortragen!«
»Ich danke Euch, werter Abrandir.«
Die schwebende Truhe wurde von den Kriegern in die Mitte genommen. König Abrandir und seine Gemahlin folgten dem Zug, und auch die Gäste reihten sich ein.
Gorian schritt neben dem Namenlosen und raunte ihm zu: »Wir haben keine Zeit für Feiern und Zeremonien. Sieht denn von den Caladran niemand zum Himmel, wo der Schattenbringer die Sonne schon fast gänzlich verdeckt hat?«
»Der Sonnenkranz wird von Tag zu Tag schmaler«, stimmte ihm der Namenlose zu. »Die Augen eines Menschen können den Unterschied nur grob abschätzen, aber ich kann es dir bestätigen; es ist tatsächlich so.«
»Dann verstehe ich Eure Ruhe nicht.«
»Ein Caladran-Leben ist lang, daher haben sie normalerweise viel Zeit, darüber nachzudenken, was getan werden muss – und manchmal tun sie dann am Ende gar nichts. Daran wirst du mit deiner Ungeduld nichts ändern, Gorian. Selbst ich habe das vor langer Zeit nicht geschafft.« Der Namenlose seufzte. »Die Menschen sind mir immer fremd geblieben – aber nun, da ich hierher zurückgekehrt bin, fällt mir erst auf, wie fremd mein eigenes Volk mir geworden ist.«
Noch etwas bereitete Gorian Sorge, nämlich dass er Ar-Don allein bei der Gondel zurücklassen musste. Mehr als einmal hatte sich der Gargoyle als unberechenbar erwiesen, und irgendwelche Irritationen bei ihren caladranischen Gastgebern waren das Letzte, was sie in ihrer gegenwärtigen Lage brauchen konnten. Offenbar war es doch nicht so einfach, ein Bündnis mit ihnen zu schließen, wie er nach dem freundlichen und offenbar durch den Namenlosen in entscheidender Weise vorbereiteten Empfang zunächst zu hoffen gewagt hatte.
Der Gargoyle aber beruhigte ihn erneut mit einer Gedankenbotschaft. »Ar-Don wird sich gut benehmen«, versprach er. »Ist zahmer Greif. Keine Wut.«
»Das ist gut«, antwortete ihm Gorian.
»Meister Domrichs Seelenteil schläft. Darum kein Zorn.«
»Warum sollte Meister Domrich zornig auf die Caladran sein?«
»Sieht in jedem Caladran-Gesicht Morygors Ebenbild. Aber schläft. Greifenseele stark. Ar-Don stark. Und Meister Domrich hat Augen geschlossen …«
 
Sie folgten der Königlichen Garde und der schwebenden Metalltruhe durch ein Portal, das in einen hallenartigen Raum führte. Mitten in diesem Raum befand sich eine ovale Öffnung. Ein tiefer Schacht gähnte dort, und zu Gorians Erstaunen marschierten die Caladran-Krieger einfach weiter. Aber sie fielen nicht in die Tiefe, sondern schwebten langsam den Schacht hinab, und jene Krieger, die die Truhe in ihre Mitte genommen hatten, hielten dabei sogar ihre Formation ein.
Auch der König schritt in den Abgrund und hielt dabei zärtlich die Hand seiner Gemahlin, sodass beide ein Bild vollendeter Anmut boten, während sie – scheinbar leicht wie Federn – in die Tiefe sanken.
»Das Geheimnis der Gewichtslosigkeit!«, stieß Gorian hervor.
»Schreite mutig voran, Gorian. Dir wird nichts geschehen«, sagte der Namenlose.
»Ich hatte angenommen, dass der Zauber der Gewichtslosigkeit nur in den Himmelsschiffen Anwendung findet«, gab Meister Thondaril ausnahmsweise seine Unwissenheit zu.
»Nein, dieser Zauber ist das wichtigste Transportmittel innerhalb Caladranias«, erläuterte der Namenlose. »Ein ganzes Netz von Schächten durchzieht den Stadtbaum und ermöglicht es, innerhalb sehr kurzer Zeit von einem Ende zum anderen dieser gewaltigen Stadt zu gelangen.«
»Und ich kann nichts dabei verkehrt machen?«, fragte Zog Yaal etwas besorgt.
Der Namenlose lächelte überlegen. »Es ist gefährlicher und weitaus unsicherer, sich auf dem Rücken eines unberechenbaren Greifentiers in die Höhe zu schwingen, als sich in diesen Schacht zu begeben.«
»Und wie weiß ich, wo ich ankommen werde, und vermeide eine harte Landung?«
»Der Zauber erkennt deine Absichten aus den kleinsten Regungen deiner Muskeln und deine Gedanken.«
Der Namenlose trat einen Schritt vor und schwebte dann ebenfalls nach unten. Nacheinander folgten Gorian, Sheera, Torbas und die anderen. Selbst der Maskierte zog in diesem Fall diese Art der Fortbewegung jener durch den Stein vor, obwohl es für ihn zweifellos möglich gewesen wäre, sich auch per Steinreise durch die ganze Stadt zu bewegen.
Gorian erkannte, dass er seine Fallgeschwindigkeit tatsächlich durch puren Willen beeinflussen konnte. Zog Yaal aber, der zwar auch nach einigem Zögern in den Schacht gestiegen war, bremste seinen Fall so stark ab, dass er schließlich wieder emporzuschweben begann.
»Das ist die falsche Richtung!«, rief Meister Thondaril. »Als Repräsentant der Greifenreiter darfst du bei offiziellen Anlässen nicht fehlen. Also anders herum!«
Zog Yaal prallte mit einem Soldaten zusammen, der als einer der Letzten in den Schacht gesprungen war. Ein zweiter wich dem Greifenreiter gerade noch aus, ehe dieser es schaffte, seinen Aufstieg wieder zu bremsen. Danach hing er schwerelos im Schacht, offenbar glichen sich seine Bestrebung, nach unten zu gelangen, und seine Furcht vor der Tiefe gegenseitig aus.
Der Namenlose bemerkte es, stoppte seinen Abstieg und blickte empor. »Sei eindeutig in deinem Willen und deinen Gedanken, Mensch!«, rief er. »Sonst überträgt sich die Verwirrung auf den Zauber!«
Blitze zuckten bereits an zwei Stellen aus dem Nichts heraus, etwa eine Handbreit über Zog Yaals Kopf und unmittelbar unter seinen Füßen. So als ob zwei widerstreitende Kräfte an ihm zogen, schwebte er einmal eine Handbreit empor, dann wieder hinab.
»Na los!«, ließ der Namenlose noch eine Ermahnung mit einem sehr eindringlichen Gedanken folgen.
Doch die beiden Kräfte schienen immer heftiger an Zog Yaal zu zerren. Ihm standen die Haare zu Berge, die Arme wurden ihm nach oben gezogen, sodass es aussah, als wäre er auf eine unsichtbare Streckbank gespannt.
Da griff der Maskierte ein. Auch er hatte seinen Flug abgebremst und schwebte stehend im Schacht. Er hob die Hand, ein himmelblauer Lichtball bildete sich in der Handinnenfläche und schoss auf Zog Yaal zu, traf den Kopf des Greifenreiters und zerplatzte dort.
Zog Yaals Kopf sackte augenblicklich nach vorn, und gleichzeitig endete der Kampf der zwei widerstrebenden Kräfte. Zog Yaals regungsloser Körper schwebte langsam abwärts, wie von einer unsichtbaren Hand behutsam getragen.
»Er ist nur bewusstlos«, erklärte der Maskierte. »Auf diese Weise bringt ihn der Zauber der Gewichtslosigkeit wie einen Gegenstand nach unten und wird nicht durch seine Furcht verwirrt.«
Gorian setzte auf einem Marmorboden auf, in dem immer wieder wechselnde und sich verändernde Caladran-Runen aufleuchteten.
»Wir sind dem Zugang zum Reich des Geistes sehr nahe«, erklärte der Namenlose, der neben ihm landete.
»Ich möchte mehr darüber erfahren.«
»Das wirst du, Gorian. Aber sei vorsichtig. Das Reich des Geistes ist Quelle ungeahnter Gefahren für jeden, der nicht daran gewöhnt ist. Also tu nichts, ohne mich zu fragen. Nichts, hörst du?«
»Gewiss«, murmelte Gorian.
Aber er schien die Worte des Namenlosen kaum wahrgenommen zu haben. Gebannt starrte er auf die sich verändernden Runen auf dem Boden. Er spürte eine Kraft, wie er sie nie zuvor wahrgenommen hatte, mächtiger als alles, was er kannte, und eine Mischung aus Schauder und Faszination überkam ihn. Er hörte einen fernen Chor von Gedankenstimmen. Es waren unzählige, und sie schienen in irgendeinem Zusammenhang mit den Runen zu stehen. Zuerst glaubte er, dass sie Caladranisch sprachen, aber dann war er sich nicht mehr sicher. Er verstand zunächst Bruchstücke dessen, was sie sagten, dann ganze Sätze, und auf einmal war ihm die Bedeutung der aufleuchtenden Runen so klar, als würde er diese fremden Schriftzeichen schon sein halbes Leben lang selbst benutzen. Es war so vieles, worüber die Stimmen sprachen, und Gorian hatte das Gefühl, jeder von ihnen zuhören und sie verstehen zu können. Sie sprachen von Magie, vom Wissen über die Bewegungen der Gestirne, davon, wie die Sterne das Schicksal des Einzelnen bestimmten, aber auch davon, wie es möglich war, dass ein Einzelner die Gestirne beeinflusste, so wie es Morygor derzeit tat. Das alles mischte sich mit Bildern und Gedanken aus ferner Vergangenheit.
Die Stimmen erzählten von den ersten Himmelsschiffen, die aus dem Westen kommend die Inseln der Caladran erreicht und die Sonnenflüchter in blutigen Schlachten vertrieben hatten.
Caladir …
Der Name ihres legendären Anführers und ersten Königs, von dem sich der Name dieses Volkes ableitete. Er hatte die Himmelsschiffe hergeführt, zu den westlichen Inseln eines Kontinents, den die Caladran Bathranor nannten und der bei den Menschen als Ost-Erdenrund bekannt war.
Aber da waren auch Bilder, Worte, undefinierbare Töne und andere Eindrücke aus einer noch ferneren Vergangenheit, die mit einem Juwel von gleißender Leuchtkraft und einem weißhaarigen Magier zu tun hatten, der beinahe eins wurde mit dem Licht, das aus dem Edelstein in seiner Hand drang. Als er zu sprechen begann, fühlte Gorian einen stechenden Schmerz im Kopf.
Und im nächsten Moment eine eiskalte Hand.
»Nein!«
Der Schmerz ging von dem eindringlichen Gedanken des Namenlosen aus, dessen bleiche Hand auf Gorians Nacken lag. Von einem Augenblick zum anderen war die Verbindung zu all dem, was Gorian gerade wahrzunehmen begonnen hatte, abgerissen.
»Die Versuchung ist groß, Gorian. Erliege ihr später!«
Gorian konnte nichts darauf erwidern. Er spürte das starke Verlangen, die Verbindung wieder aufzunehmen. Der Gedanke, von diesem schier unendlichen Quell des Wissens abgeschnitten zu sein, erschien ihm zunächst unerträglich.
»Ahnst du jetzt, wie ich gelitten habe?«, fragte der Namenlose.
»Ja.«
»Und weshalb ich die Verbindung zum Reich des Geistes nie so radikal abbrechen ließ wie die zu meinem Volk?«
»Auch das.«
»Du scheinst sehr sensibel auf die Kräfte hier zu reagieren. Dabei sind dies nur die peripheren Abstrahlungen aus dem Reich des Geistes, und du bist nur ein sterblicher Mensch, und Menschenmagie reicht normalerweise nicht aus, um diese Dinge überhaupt wahrzunehmen.«
Tatsächlich schienen Torbas und Sheera vollkommen unberührt davon zu sein, und das galt offenbar selbst für Meister Thondaril, der sich umdrehte und Gorian irritiert ansah.
»Sie sehen die Runen nicht, sie hören die Gedankenstimmen nicht, und für sie hat sich die Zeit nicht in dem Moment gedehnt, als sich deine Seele schon halb verloren hatte«, erklärte der Namenlose. »Bei den vergessenen Göttern der Caladran! Vielleicht habe sogar ich dich unterschätzt. Wie bedauerlich, dass du ein so kurzlebiges Wesen bist. Wie bedauerlich und was für eine Verschwendung von Talent an die Flüchtigkeit eines kurzen Lebens.«
»Worauf wartet ihr?«, fragte Torbas, der sich ebenfalls zu ihnen umgedreht hatte und tatsächlich von alldem nichts mitbekommen zu haben schien.
Der Namenlose sah Gorian ernst an. »Schirm dich ab, oder du wirst dich verlieren!« Und dann sprach er einige Worte in caladranischer Sprache. Eine Formel, die Gorian wohl dabei helfen sollte, der Macht zu widerstehen, mit der er soeben in Berührung gekommen war.
Die Runen auf dem Marmorboden verblassten und verschwanden schließlich auch für Gorians Augen.
 
Sie schritten durch eine weite Marmorhalle, an deren Decke sich bewegende Fresken zu sehen waren. Sie zeigten eine schier unendliche Zahl von Himmelsschiffen. Manche waren sehr klein und wirkten wie aus weiter Ferne, bei anderen, die sich weiter im Vordergrund befanden, war naturgetreu jedes Detail zu erkennen, selbst die Gesichter der Besatzungen.
Auf den Säulen, die das Hallendach trugen, sah Gorian hin und wieder ein paar Runen aufleuchten.
»Beachte sie nicht!«, wies ihn der Namenlose an.
Schließlich gelangten sie in eine noch viel größere Halle – die eigentliche Halle des Geistes. In der Mitte befand sich ein ovaler Altar aus Stein, und darauf lag ein faustgroßer Kristall.
Gorian spürte sofort, dass dieser Kristall das Zentrum dessen war, was die Caladran als das Reich des Geistes bezeichneten. Für einige Augenblicke hörte er wieder die Stimmen, sah Runen auf den Marmorboden und den Wänden wabern, und er musste sich dazu zwingen, sie nicht weiter zu beachten.
Es gab in der Halle des Geistes noch weitere Zugänge, durch welche die Schamanen und Magier sowie die Mitglieder des Kronrats strömten. Insgesamt handelte es sich um mindestens tausend Männer und Frauen. Dass es möglich war, so schnell eine derart große Anzahl von Personen zusammenzurufen, war wohl nur durch das ausgeklügelte System von Schächten zu erklären, in denen der Zauber der Gewichtslosigkeit wirksam war.
Die Soldaten begleiteten die Truhe mit den gestohlenen Schriften bis vor den Altar. Dort verharrte sie schwebend. Auch sie war offenbar mit dem Zauber der Gewichtslosigkeit versehen, für dessen genaue Wirkungsweise sich Gorian inzwischen genauso brennend interessierte wie für die Caladran-Magie im Allgemeinen. Je mehr Einzelheiten er darüber erfuhr, desto mehr wurde ihm bewusst, wie überlegen diese besondere Art von Magie allem war, was menschliche Magiermeister je vollbracht hatten.
König Abrandir schritt vor den Altar, während die Soldaten wieder zurücktraten. »Es wurde zurückgegeben, was gestohlen wurde – und es wird dem Reich des Geistes wieder hinzugefügt, was von ihm getrennt wurde«, sprach er, hob die Hände und streckte sie in Richtung des Kristalls aus. Dieser begann zu leuchten. »Öffne dich, Kristall des Wissens, Zentrum im Reich des Geistes, Schnittpunkt aller Möglichkeiten. Alles ist hier vereint: die Toten, die Lebenden und die Ungeborenen; das, was ist, was war und was sein könnte.«
Ein Strahl aus grellweißem Licht traf die Truhe, die daraufhin aus sich heraus zu leuchten begann. Selbst in dem kurzen Moment, da Gorian nur mit den Abstrahlungen dessen in Kontakt geraten war, was die Caladran ihr Reich des Geistes nannten, hatte er mehr erfahren, als er je über dieses Volk gewusst hatte. So wusste er auch, dass es sich bei jenen Caladran, die in weiße Kutten aus fließendem Stoff gehüllt waren, um Schamanen handelte, deren Aufgabe es war, das Schicksal zu sehen und die Verbindung zu den Toten und dem Reich des Geistes zu pflegen. Die andere Gruppe, die neben den Kriegern klar abgegrenzt war, waren die Magier. Sie trugen handgroße messingfarbene Amulette, in die Ligaturen von Caladran-Runen eingraviert und die manchmal mit Edelsteinen ausgelegt waren. Die Aufgaben der Magier waren profaner als die der Schamanen, sie sorgten dafür, dass die Himmelsschiffe ihre Flugfähigkeit behielten, dass der Zauber der Gewichtslosigkeit in den Schächten einwandfrei funktionierte, und führten Ausbesserungsarbeiten am Stadtbaum mittels Magie durch. Früher waren sie auch an den Kriegen der Caladran beteiligt gewesen, aber es war schon sehr lange her, dass dieses Volk überhaupt einen Krieg geführt hatte.
Vielleicht zu lange, um sich nun leichten Herzens einem Bündnis mit anderen Völkern anzuschließen und sich einem übermächtig erscheinenden Feind entgegenzustellen.
Gorian war erpicht darauf, noch mehr zu erfahren, und versuchte zugleich, sich so gut wie möglich abzuschirmen, denn er wollte den Namenlosen Renegaten auf keinen Fall beunruhigen. Er war bereits entschlossen gewesen, die Magie dieses Volkes zu erlernen, bevor er mit seinen Gefährten die Inseln der Caladran erreichte, nun aber erschien es ihm sogar als absolut unumgänglich, wenn er Morygor gegenübertreten und dessen Herrschaft beenden wollte. Nicht zuletzt deshalb, weil Morygor selbst ein Caladran gewesen war, auch wenn er sich inzwischen stark verändert hatte und zu einer ganz anderen Kreatur geworden war, die das Bild eines Caladran-Jünglings nur noch als eine Erscheinungsform benutzte, die weniger erschreckend wirkte als seine wahre, verborgene Gestalt.
Die Schamanen begannen Formeln zu sprechen und bildeten dabei einen Chor, getragen von tiefen, kehligen Stimmen. Gorian war erstaunt, wie viele dieser Formeln, die sie aneinanderreihten, ihm irgendwie bekannt vorkamen. Und hin und wieder begriff er sogar ihre Bedeutung. Nein, sein Entschluss stand fest, er musste mehr von diesem Wissen erlangen. Offenbar hatte er schon von Natur aus eine besondere Verbindung dazu. Anders war es nicht zu erklären, dass er die Abstrahlungen vom Reich des Geistes bereits so intensiv in sich aufgenommen und nur er die fluktuierenden Runen auf dem Marmor gesehen hatte und keiner der anderen.
Während der grelle Lichtstrahl aus dem Kristall weiterhin die metallene Truhe traf, glühte sie förmlich auf und schwebte langsam empor. Der Chor der Schamanen schwoll an. Gorian empfing ihn zusätzlich noch als Gedankenstimmen mit besonderer, aber nicht unangenehmer Intensität, was zunächst nicht der Fall gewesen war.
Wie auf ein geheimes Zeichen hin hoben die Magier die Hände, und nadelfeine, kaum sichtbare Strahlen schossen aus ihren Fingerspitzen und trafen den Kristall auf dem ovalen Altar.
Als die Truhe ungefähr zwei Mannlängen darüber schwebte, kam sie zum Stillstand und öffnete sich. Durchscheinende Ebenbilder von dicken Folianten schwebten aus der Truhe, wie sie zu Tausenden in der Bibliothek von Felsenburg gestanden hatten, aber auch Schriftrollen, manche in durchscheinenden köcherartigen Behältern.
All diese Erscheinungen schwebten auf den Kristall zu und wurden in ihn aufgenommen.
»Kristall des Geistes, öffne dich!«, murmelten die Schamanen, und die Klarheit und Selbstverständlichkeit, mit der er diese Worte verstehen konnte, erschreckte Gorian im ersten Moment.
Der König, der bis dahin wie gebannt das Geschehen um den Kristall beobachtet hatte, drehte sich um und richtete den Blick auf den Namenlosen.
Dieser schien genau zu wissen, was zu tun war. Er schritt nach vorn, sich der Aufmerksamkeit aller bewusst. Hier und dort tauschten einige Caladran Blicke und Gedanken aus, vor allem Mitglieder des Kronrats, die nicht auf gleiche Weise geistig in das Ritual eingebunden waren wie Schamanen und Magier.
»Ich gebe zurück, was ich dereinst durch Magie vom Reich des Geistes trennte«, sandte der Namenlose einen Gedanken, der klar und durchdringend genug war, dass zumindest jeder der Caladran im Raum ihn vernehmen konnte.
Für Gorian galt das ebenfalls.
Eher beiläufig nahm er auch einen Gedanken von Sheera wahr, der pure Verwirrung signalisierte. »Gorian …« Bevor sie den Stadtbaum von Caladran erreicht hatten, hätte sich Gorian unendlich darüber gefreut, dass Sheera nach längerer Zeit wieder gedankliche Verbindung zu ihm suchte. Aber in diesem Augenblick trat es für ihn vollkommen in den Hintergrund. Zu sehr nahm ihn gefangen, was sich vor ihm ereignete.
Wie leicht wäre es in diesen Momenten gewesen, in das geheimnisvolle Reich des Geistes einzudringen. Er hatte den Eindruck, lediglich dem ohnehin nahezu übermächtigen Drang nachgeben zu müssen, der ihn mit fast unerträglicher Intensität erfüllte. Sich einfach nicht mehr abschirmen, sich nicht mehr dagegen wehren und in diesem Meer aus Wissen und Erkenntnis und verborgenen Möglichkeiten eintauchen – das war es, was er im Moment so sehr wollte wie nichts anderes. Selbst der Wunsch, Morygor zu vernichten, stand dahinter zurück.
Schließlich verebbte der Strom aus Licht, und es erhoben sich aus der messingfarbenen Metalltruhe auch keine Schriften mehr, die von dem Kristall aufgenommen wurden.
Die Truhe schloss sich, schwebte langsam zurück auf ihren Platz vor dem Altar, und auch das Glühen, das sie bis dahin erfüllt hatte, erlosch.
Ein Gefühl der Rastlosigkeit und Unruhe erfüllte Gorian, die Empfindung, an einem Wendepunkt zu stehen und handeln zu müssen. Wenn er jetzt nicht ins Reich des Geistes eindrang, würde er vielleicht nie wieder Gelegenheit dazu bekommen. Sollte er warten, bis die Caladran ihre Vorbehalte aufgaben, die sich gegen jeden Fremden richteten, und ihm den Zugang gewährten? Würde ihn der Namenlose dann nicht wieder davon abhalten? Der war im Moment noch auf das Ritual konzentriert, und daher konnte Gorian auch verhindern, dass er in seine Gedanken eindrang.
Die Farbe des Kristalls änderte sich. Das weiße Leuchten verschwand, und er erinnerte erst an einen Diamanten und wenig später an schmutziges Eis.
Gorians Augen wurden schwarz. Er hatte das Gefühl, noch nie zuvor so viel von der Alten Kraft in sich gesammelt zu haben. Er musste es tun, dem Drang nachgeben. Überall erschienen – zumindest für seine Augen – Kolonnen von Runen, auf dem Marmorboden, den Wänden und unter der kuppelartigen Decke, und die Gedankenstimmen aus dem Reich des Geistes übertönten wenige Augenblicke später den Sprechchor der Schamanen und alle anderen Eindrücke.
Gorian streckte beide Hände aus. Blitze zuckten aus seinen Fingerspitzen und erfassten den Kristall, der wieder zu strahlen anfing.
Auf einmal schoss ein greller Lichtblitz daraus hervor, traf Gorian und schleuderte ihn zurück.
Alles, was er sah, war dieses Licht, das zunächst angenehm war, dann aber Wellen des Schmerzes durch seinen Körper und seinen Geist sandte. Er hatte das Gefühl zu fallen.
Licht und Kälte umgaben ihn – und Kolonnen von Caladran-Runen, deren Schwärze sich schließlich ausbreitete und sich wie ein dunkles Leichentuch über seinen Geist legte.
Dann war da nichts mehr.
Gar nichts.