022
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Die Gestirne bewegen
Die Tage vergingen wie im Flug, und Gorian hatte das Gefühl, dass die Zeit im Stadtbaum von Caladrania nur so dahinraste.
Man hatte seinen Gefährten großzügig ausgestattete Quartiere zukommen lassen, und das Wissen, das er durch seine Berührung mit dem Reich des Geistes erlangt hatte, half ihm, sich in Caladrania zu orientieren.
Ar-Don verharrte als versteinerter Gargoyle auf dem inneren Burghof in der Astgabelung. Er wirkte wie eine Statue – allerdings eine, die gemessen an dem architektonischen und künstlerischen Gestaltungsniveau der Umgebung eher wie ein primitives Standbild oder der erste Versuch eines mittelmäßig begabten Bildhauers wirkte, der noch in einer Phase war, in der er sein Material zu beherrschen lernen musste.
Die Gondel stand neben ihm. Beides zusammen war gewiss für die ästhetisch anspruchsvollen Augen vieler Caladran eine Beleidigung, und es bildeten sich immer wieder Gruppen von Männern und Frauen um dieses für sie sehr eigenartige Gebilde, deren Gemüter sich darüber erhitzten.
Gorian hörte ihren Gesprächen mitunter zu und stellte fest, dass ihm auch das Wissen aus dem Reich des Geistes noch manche feine Nuance der Caladran-Sprache nicht eröffnet hatte. Aber der allgemeine Tenor war wohl, dass viele froh darüber waren, dieses Ding nicht innerhalb des Stadtbaums beherbergen zu müssen; die ästhetische Zumutung war ihnen im Außenbereich leichter erträglich, als wenn sie diesen Frevel an den Prinzipien der Ebenmäßigkeit und Harmonie im Inneren von Caladrania hätten ertragen müssen.
Gorian versuchte zwischendurch gedankliche Verbindung mit Ar-Don aufzunehmen, aber der Gargoyle erwies sich als ziemlich einsilbig.
»Sammle … Kraft …«, war eine gedankliche Aussage von ihm. »Brauche bald viel davon …«
Gorian fragte sich manchmal, ob Ar-Dons eigene Persönlichkeit wohl noch die Oberhand in der ohnehin ziemlich zusammengewürfelten Seele dieses Wesens hatte oder ob inzwischen nicht doch der eher abgestumpfte Greif in ihm nach und nach den entscheidenden Einfluss gewann.
 
Irgendwann rief Thondaril seine Schüler und auch den jungen Greifenreiter Zog Yaal in sein Quartier. Der Namenlose Renegat und der Maskierte nahmen an der Versammlung nicht teil, sie waren unauffindbar.
»Ein Caladran-Magier sprach mich an. Sein Name ist Sirabas, und ich glaube zwar kaum, dass er mich wirklich als seinesgleichen ansieht, aber man gab ihm wohl den Auftrag, mich über den Stand der Dinge zu informieren.«
»Und wie ist der?«, fragte Gorian, nicht ohne Ungeduld.
»Die Pläne der Magiergilde, mit Himmelsschiffen zu den Sternen aufzubrechen und dort einen anderen Ort zu suchen, wo ihr Volk leben kann, sind wohl weiter vorangeschritten, als wir bisher angenommen haben. In nächster Zeit soll sich ein erstes Schiff mittels der Alten Magie Caladirs in den Himmel erheben, und falls dies gelingt, steht dem Vorhaben wohl nichts mehr entgegen.«
»Fragt sich nur, was die Caladran unter in nächster Zeit verstehen«, mischte sich Torbas ein.
»Ich glaube kaum, dass die noch lange damit warten werden«, erwiderte Meister Thondaril. »Über die nördlichsten Caladran-Inseln ist ein Eissturm hereingebrochen, wie ich hörte. Er war so heftig, dass selbst die Magie der Caladran machtlos dagegen war und die Elemente nicht beruhigen konnte. Da nur wenige Caladran dort lebten, konnten sie alle mit ihrem Himmelsschiff flüchten und warten nun weiter südlich ab, bis sich die Verhältnisse beruhigen.«
»Das ist der Anfang«, stellte Gorian fest. »Die Eroberung durch das Frostreich hat begonnen.«
Meister Thondaril bat ihn, noch zu bleiben, während die anderen den Raum wieder verließen.
»Was begehrt Ihr, Meister?«
»Nenn mich nicht mehr Meister, Gorian. Nachdem du mit dem Reich des Geistes der Caladran in Berührung gewesen bist, ist dies nicht mehr angebracht.« Ein schwaches Lächeln huschte über sein kantiges Gesicht. »Aber ist das nicht der Lauf der Dinge? Der Sinn jeder Erziehung? Will nicht jeder Meister, dass sein Schüler ihn eines Tages überflügelt?«
Er holte den Ring aus einer Tasche seines Gewandes hervor – jenen Meisterring aus dem Haus des Schwertes, den er Gorian schon einmal angetragen hatte.
»Nimm ihn jetzt«, forderte er. »Ich weiß, du hast gesagt, unter welcher Bedingung du ihn nehmen würdest, und ich habe meine Meinung darüber bereits deutlich gemacht. Du musst den Ring nehmen. Wenn du es heute nicht tust, wird es nie geschehen.«
»Wie kommt Ihr darauf? Wie Ihr wisst, hege ich noch immer den ehrgeizigen Plan, einst alle fünf Meisterringe des Ordens zu tragen.«
»Das sagst du jetzt, bevor du zum zweiten Mal in das Reich des Geistes eingetaucht bist. Und vielleicht wirst du sogar eine dauerhafte Verbindung zu jener Ebene der Wirklichkeit finden, von der mir auf schmerzhafte Weise bewusst ist, dass sie mir verschlossen bleiben wird. Nicht, weil mir der Todesmut fehlen würde, aber die Kraft und die Fähigkeiten. Es ist nicht leicht, das einzugestehen, aber sagen nicht die Worte des Ersten Meisters, dass kein Weg zum Ziel führt als der durch den Schmerz der Wahrheit?«
Thondaril drehte sich um, ging zu den drei ovalen, magisch verglasten Fenstern und blickte hinaus auf die Weite des Meeres von Ost-Erdenrund.
»Ihr werdet immer mein Meister bleiben, Thondaril. Nichts, was ich im Reich des Geistes erfahren mag, könnte daran etwas ändern.«
Thondaril schwieg eine Weile. »Nimm den Ring, bevor du ein zweites Mal in das Reich des Geistes eintauchst«, verlangte er dann mit Nachdruck. »Sonst wird dir alles, was mit dem Orden und seinen fünf Meisterhäusern zu tun hat, geradezu lächerlich und nichtig erscheinen, und unsere Magie wird auf dich den gleichen Eindruck machen wie das Jagdzauber-Ritual eines Oger-Medizinmannes auf einen unserer Magiemeister. Und was Torbas betrifft…« Er drehte sich herum, und die Blicke von Meister und Schüler begegneten sich.
»Was ist mit Torbas?«
»Euer Schicksal scheint in der Tat auf eine besondere Weise miteinander verwoben. Nimm ihn mit ins Reich des Geistes. Denn es könnte sein, dass ihr nur gemeinsam stark genug seid, Morygor zu besiegen.«
»Er könnte dabei sterben oder wahnsinnig werden!«, entfuhr es Gorian. »Seht Euch an, was mit Sheera geschehen ist! Und sie hat nur einen geringen Teil von dem aufgenommen, was bereits in mir war.«
»Es ist ein Risiko, ich weiß. Aber vielleicht ist es das größere Risiko, diese Gefahr zu scheuen. Was wird dir ein Gefährte nützen, der dir in allen Belangen so weit unterlegen ist, dass er vielleicht nicht einmal versteht, was du beabsichtigst? Davon abgesehen kann ich die Stärke meiner Schüler durchaus abschätzen – auch wenn ich sie auf dem Weg, den sie gehen werden, nicht begleiten kann.« Thondaril schüttelte den Kopf und hielt ihm noch einmal den Ring hin. »Nimm ihn – und zeige ihn Torbas! Und dann sag ihm dies: Wenn er es wagt, mit dir ins Reich des Geistes zu gehen und sich der Wahrheit und dem Wahnsinn zu stellen, die dort zu finden sind, dann gebe ich auch ihm einen Meisterring, denn den hat auch er sich dann verdient.«
 
Ein paar Tage später stieg, bestaunt von der gesamten Bevölkerung des Stadtbaums von Caladrania, ein Himmelsschiff aus einem der von den Wurzelarmen abgegrenzten Hafenbecken auf. Es war ein sehr großes Schiff, dessen Aufbauten und Decks zur Gänze von einer transparenten, leicht bläulich schimmernden Aura umgeben waren. Aufgrund des Wissens, das Gorian im Reich des Geistes erworben hatte, schloss er, dass es sich um eine Variante des magischen Glases handelte, wie es die Fenster des Stadtbaums aufwiesen und das sowohl Licht als auch Wind nach Belieben einließ oder filterte. Offenbar sollte die Aura vor den Unbilden des Kosmos schützen.
Viele Caladran hatten sich an diesem dämmrigen Tag auf dem Burghof und einigen anderen Plätzen des Stadtbaums versammelt. Andere standen hinter dem magischen Glas ihrer Fenster. Der Himmel war vollkommen klar und doch so düster wie sonst nur kurz vor Einbruch der Nacht. Der Lichtkranz, der vom Schattenbringer verdeckten Sonne war so schmal wie nie zuvor, und bisweilen schien er an manchen Stellen bereits völlig zu verschwinden. Die Sterne – das Ziel dieser Himmelsschiffsreise – waren inzwischen den ganzen Tag über zu sehen. Das spärliche Sonnenlicht schaffte es einfach nicht mehr, sie zu überstrahlen.
Gorian mischte sich mit Zog Yaal und Torbas unter die Schaulustigen. Sheera hatte sich zur inneren Sammlung zurückgezogen und das magische Glas in den Fenstern ihres Gästegemachs verdunkelt; so viel hatte auch sie an Caladran-Magie in sich aufgenommen, dass sie dazu in der Lage war, so wie sich auch jeder der Gäste, Zog Yaal eingeschlossen, nach und nach an den richtigen Gebrauch der Schächte mit dem Zauber der Gewichtslosigkeit gewöhnt hatte.
Das Schiff stieg höher und höher.
Rudanas lautete der Name des Kapitäns, den die Caladran in einem Chor aus Gedanken und Stimmen murmelten, eingebettet in einer Formel magischer Kraftspende. Rudanas würde diese Kraft brauchen, um das Schiff sicher an sein Ziel zu bringen.
Oder zumindest an irgendein Ziel.
Schließlich wurde das Schiff am Himmel kleiner und kleiner und war zum Schluss nur noch als bläulicher Schimmer auszumachen, so als wäre es zu einem der vielen Sterne geworden. Die Caladran sollten von ihm nie wieder etwas hören. Kein Gedanke im Reich des Geistes deutete auf sein weiteres Schicksal hin, und auch mithilfe eines westreichischen Fernglases oder der sehr viel besseren magischen Linsen der Caladran war später keine Spur mehr von ihm am Himmel zu entdecken.
Das bläuliche Schimmern verschwand einfach …
»Nicht schlecht, wenn man so davonfliegen und das der Vernichtung preisgegebene Erdenrund verlassen kann«, meinte Zog Yaal. »Leider werden die Caladran wohl keinen von uns mitnehmen.«
»Nein, das werden sie nicht«, murmelte Gorian. Er wandte sich an Torbas und hob dabei die Hand mit dem Ring des Schwertmeisters. »Hast du dich bereits entschieden?«
 
In den nächsten Tagen verschlechterte sich das Wetter. Der Himmel wurde so düster, dass man Tag und Nacht nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Ein eiskalter Wind blies vom Norden her, zeitweilig begann es zu hageln, und hin und wieder rieselte Schnee aus dem dunkelgrauen Himmel. Von den Sternen war nichts mehr zu sehen, und der ohnehin schon sehr schwache Lichtkranz der Sonne war kaum noch auszumachen. Raureif legte sich morgens über Teile des Stadtbaums und verschwand erst, wenn die Magier der Caladran einen entsprechenden Zauber wirkten.
Schließlich trieb sogar ein kleiner Eisberg am Stadtbaum vorbei. So etwas hatte es seit der Zeit, da die Caladran gegen die Sonnenflüchter gekämpft hatten, nicht mehr gegeben. Damals, so lauteten die Überlieferungen, die auch Gorian inzwischen bekannt waren, war das Klima auf den Inseln noch weitaus rauer gewesen, und erst ein intensiver Wetterzauber und die Anwendung der Magie der Wasserströme hatten dazu geführt, dass die Witterung milder wurde. Aber offenbar waren diese uralten Zauber zu schwach geworden, um dem sich ausdehnenden Einfluss des Frostreichs weiter standzuhalten.
Am dritten Tag, nachdem Rudanas’ Himmelsschiff zu den Sternen aufgebrochen war, wurden Torbas und Gorian zu einer Audienz gerufen. Abrandir empfing sie in einem Zimmer seiner Privatgemächer. Außer dem König und seiner Gemahlin Orawéen waren überraschenderweise auch der Namenlose Renegat und der Maskierte anwesend.
Gorian verneigte sich vor dem Königspaar, und Torbas folgte seinem Beispiel. Abrandir nahm dies mit teilnahmsloser Miene hin.
Eine Lichtskulptur, die eine kugelförmige Abbildung Erdenrunds zeigte, bildete das Zentrum des Raums. Gorian bewunderte den Detailreichtum, mit dem die Küsten nachgezeichnet waren. Die Karten und Globen der Menschen zeigten lediglich die bekanntesten Länder Ost-Erdenrunds in einer annähernd vergleichbaren Genauigkeit. Was jenseits des östlichen Ogerlandes und des Basilisken-Reichs lag, wurde auf diesen Darstellungen zumeist nur noch vage angedeutet, denn was man von diesen Gebieten wusste, basierte auf nicht viel mehr als Hörensagen.
Noch mehr galt das für die anderen Kontinente Erdenrunds. Zwar hatten Zahlenmagier längst den Umfang des Planeten und seinen Abstand zur Sonne errechnet, aber über die Länder West-Erdenrunds wussten die Menschen so gut wie nichts und noch weniger über den dritten Kontinent, den die Caladran Athranor nannten.
»Ein Abbild unserer Welt«, sagte Orawéen. »Aber es ist möglich, dass es schon sehr bald nicht mehr der Wirklichkeit entspricht. Die Eispanzer werden sich ausdehnen, und sollte Rudanas einst von seiner Sternenreise zurückkehren, dürfte ihm Erdenrund wie ein einziger riesenhafter schmutziger Schneeball erscheinen.«
»Umso wichtiger ist es, Morygors Pläne zu vereiteln«, stellte Gorian klar.
»Aus diesem Grund sind wir hier zusammengekommen«, meldete sich der Namenlose zu Wort
Gorian wandte sich ihm zu. »Wir haben uns eine ganze Weile nicht gesehen.«
»Es waren viele Beratungen zu führen und Vorbereitungen zu treffen. Nun aber kommt unser Plan in eine Phase, in der man diejenigen einbeziehen sollte, welche die Hauptlast tragen werden. Die Invasion des Frostreichs hat begonnen, und seit der erste Eisberg vor Caladrania gesichtet wurde, dürfte das jedem Caladran klar geworden sein.«
»Von was für einem Plan sprecht Ihr?«
»Meinem Plan«, ergriff König Abrandir das Wort. »Auf der Insel Pela steht eine Apparatur, die offenbar bereits die Aufmerksamkeit von Spionen und neugierigen Beobachtern erregt hat, denn wie könntet Ihr sonst schon davon gehört haben.« Er ging zu dem Licht-Globus und machte eine Handbewegung, woraufhin sich der Globus auflöste und der Abbildung jener Apparatur wich, von der Abrandir gesprochen hatte. »Sie gleicht einem Hohlspiegel, der mit Magie aufgeladen wird, sodass sie über eine sehr große Entfernung hin wirksam werden kann.«
»Ihr Einfluss reicht bis zu den Gestirnen?«, fragte Gorian erstaunt. Faszination und Bewunderung über diesen Triumph caladranischer Erfindungsgabe und Magie klang in seinen Worten mit. »Im Reich des Geistes habe ich nichts davon entdeckt. Eigenartig.«
»Absicht!«, widersprach König Abrandir. »Morygor hat Zugang zum Reich des Geistes; den können wir ihm ebenso wenig verwehren wie dem Namenlosen Renegaten, obwohl es in der Vergangenheit ganz gewiss viele Caladran gab, die Letzteres befürwortet hätten. Aber so hat der legendäre Magier Andir einst den Kristall geschaffen: Niemand, der über ihn jemals Zugang zu seinem Reich erlangte, kann daraus wieder verbannt werden, und alles, was sie tun oder denken, hinterlässt dort mehr oder minder starke Spuren.«
»Die Freiheit des Geistes«, stellte Gorian fest. »Sie war das höchste Gut, an das Andir glaubte.«
Abrandir lächelte. »Ihr habt schon viel gelernt. Vielleicht würdet Ihr es sogar schaffen, wie ein Caladran zu denken und zu leben, hättet Ihr noch ein oder zwei menschliche Lebensspannen lang Zeit, uns zu studieren.«
»Warum sind wir hergebeten worden?«, fragte Torbas. Sein Sprechstein hatte ihm die bisher auf Caladranisch geführte Unterhaltung übersetzt, doch so manche Feinheiten waren ihm dabei entgangen.
»Sie sind ein ungeduldiges Volk, mein König«, entschuldigte ihn der Namenlose. »Und ich fürchte, in der Zeit, die ich unter den Menschen weilte, habe auch ich diese Eigenschaft angenommen.«
»Sie sei ihm verziehen«, sagte Orawéen. »Schon deswegen, weil diese beiden dringend gebraucht werden.« Sie wandte sich an Torbas und Gorian. »Mein Gemahl erteilt Euch die Erlaubnis, noch einmal zum Kristall des Geistes zu gehen, so wie Ihr es gewünscht habt, auch wenn eine gewisse Gefahr besteht.«
»Wir beide?«, vergewisserte sich Gorian.
»Ja.«
»Wir fürchten den Tod nicht«, sagte Torbas.
»Das Risiko ist für Euch leicht zu tragen, da Ihr ohnehin nur noch kurze Zeit zu leben habt«, erwiderte Orawéen. »Ihr opfert weit weniger, als es ein Caladran in dieser Situation tun müsste. Ich sprach von einem Risiko für uns und unser Volk, denn der Plan meines Gatten wird scheitern, wenn Ihr versagt.«
»Wir benötigen Eure Magie«, erklärte Abrandir. »Keiner unserer Magier ist an dem, was auf Pela vor sich geht, beteiligt, denn sie sind zu eng mit dem Reich des Geistes verbunden. Aber Ihr beide seid es nicht.«
»Werden unsere Gedanken denn dort keine Spuren hinterlassen?«, fragte Gorian.
»Nicht eine einzige, dazu seid Ihr – noch – nicht fähig. Eine sehr viel längere Verbindung zum Reich des Geistes wäre dafür nötig, für die Eure Lebensspanne vielleicht gar nicht reicht. Ihr werdet Wissen von dort beziehen, das Euch hoffentlich in die Lage versetzt, Morygor zu begegnen, seiner Aura zu widerstehen und Eure Kräfte gegen die seinen zu setzen. Die Schwerter aus Sternenmetall sind mächtige Artefakte, die diese Kräfte sammeln können, so wie es auch diese Apparatur tun wird. Der Hohlspiegel besteht aus einer Legierung des Sternenmetalls, die Eure Kräfte vervielfachen und sie auf den Schattenbringer richten wird, sodass er seine Position ändert.«
»Es bedarf dafür eines starken Geistes«, ergänzte der Namenlose.
»Und was ist Eure Rolle dabei?«, fragte ihn Gorian. »Ich habe Euch schon einmal gefragt, in welcher Verbindung Ihr zu Morygor seht.«
»In einer so starken, dass ich mich nicht an diesem Experiment beteiligen darf«, erwiderte der Namenlose, »denn meine Handlungen könnte er vorausberechnen.«
»Nur Ihr seid für ihn unberechenbar, Gorian«, sagte Orawéen. »Darum fürchtet Morygor Euch wie niemand anderen. Aber Euer Schicksal verfolgt er bereits sehr intensiv, schon seit Eurer Geburt.«
»Und Torbas?«
»Euer Gefährte ist vielleicht der Stein, der ihn tödlich treffen wird, ohne dass er je damit gerechnet hätte. Morygor unterschätzt sein Potenzial, denn die Furcht vor Euch, Gorian, nimmt seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.«
»Ihr werdet heute noch zum Kristall gehen«, kündigte König Abrandir an. »Danach werdet Ihr in einem Himmelsschiff nach Pela aufbrechen.«
 
Gorian und Torbas betraten die Halle des Geistes zu zweit. Niemand begleitete die beiden.
Gorian spürte die Abstrahlungen des Kristalls sehr viel stärker als beim ersten Mal. Überall sah er die Runen aufleuchten.
»Siehst du sie nicht?«, fragte er.
»Was?«
»Die Zeichen.«
»Ich gebe es ungern zu: Beim Schwertkampf habe ich dich besiegen können, aber hinsichtlich der Magie bist du der Stärkere.«
»Dann werde ich dich führen müssen.«
Sie gingen auf den ovalen Altar zu, und jeder von ihnen nahm an einer Seite des Steins Aufstellung. Der Kristall leuchtete auf, und Gorian hörte einen wispernden Gedankenchor: »Willkommen im Reich des Geistes.«
Seine Augen wurden schwarz, und Gleiches geschah bei Torbas.
»Es ist wichtig, dass du dich abschirmst«, ermahnte ihn Gorian. »Verlier dich nicht in diesem Meer des Wissens.«
Torbas grinste und umfasste den Griff von Schattenstich, so als wollte er sich daran festhalten. »Ja … Meister«, antwortete er auf eine Weise, in der sich Respekt und Ironie die Waage hielten.
»Und noch etwas, Torbas …«
»Ich höre.«
»Halte dich von Morygor fern!«
»Mag sein, dass ich dir magisch unterlegen bin, aber ich bin kein Dummkopf.«
 
Als Gorian diesmal in das Reich des Geistes eintauchte, war die Wirkung nicht von der gleichen überwältigenden und zerstörerischen Intensität wie beim ersten Mal. Von Anfang an achtete er darauf, nur einen Bruchteil dessen in sich aufzunehmen, was auf ihn einströmen wollte.
Es war wie ein sehr intensiver, von der Wirklichkeit nicht zu unterscheidender Tagtraum: Plötzlich befanden sich Gorian und Torbas an Deck eines Himmelsschiffs. Sie waren allein, außer ihnen beiden gab es keinerlei Besatzung. Die Segel hingen schlaff von den Masten, was aber charakteristisch für die Schiffe der Caladran war.
»Die metamagischen Raumzeitwinde bewegen dieses Gefährt, doch es bedarf eines starken Geistes, sie zu nutzen …«
Wessen Gedanken da zu ihm sprachen, wusste Gorian nicht. Vielleicht waren es seine eigenen Erkenntnisse, die wie ein geistiges Echo aus dem geheimnisvollen Reich zurückgeworfen wurden. Aber das spielte keine Rolle. Plötzlich wusste er, was zu tun war. Es erschien ihm vollkommen selbstverständlich. Das Himmelsschiff ließ sich mit Leichtigkeit manövrieren, allein durch die Kraft des puren Willens.
»Der Zauber der Gewichtslosigkeit ist so einfach, wenn man sein Geheimnis durchschaut hat. Man sieht es an den Schächten im Stadtbaum von Caladrania …«
Das Schiff erhob sich aus der See, deren Wellen es für eine Weile durchfurcht hatte, und stieg höher und höher.
»Wenn der lenkende Geist nicht stark genug ist, kann es sein, dass er mit dem Schiff strandet, irgendwo in einer fremden Raumzeit des unendlichen Polyversums, vielleicht sogar in einer Raumzeit, in der nur du allein existierst. Wie in jener Welt, die den Schattenmeistern bekannt ist …«
Gorian übergab Torbas die Steuerung des Schiffs, der das Wissen dazu mit überraschender Leichtigkeit aufnahm. Vielleicht hatte Gorian ihn unterschätzt. Doch irgendetwas schien seinem Gefährten zusätzliche magische Stärke zu verleihen.
Und dann verschwand das Schiff plötzlich unter Gorians Füßen. Innerhalb eines Herzschlags war es nicht mehr da – ebenso wie Torbas.
Gorian hatte das Gefühl zu fallen. Dann aber merkte er, dass dieser Zustand eher der Gewichtslosigkeit in den Schächten des Stadtbaums ähnelte.
»Der frei schwebende Geist … Das Ideal des Magiers Andir … Nur von wenigen für kurze Zeit erreicht …«
Schon drohte der Strom aus Wissen, Bildern und vielfältigsten Eindrücken seinen Geist zu überschwemmen, und er musste weitere Kräfte aufwenden, um sich stärker abzuschirmen. Wenn er als ein dem Wahn Verfallener aus dem Reich des Geistes zurückkehrte, war König Abrandirs Plan gescheitert. An Torbas dachte er kaum noch, obwohl die Sorge um ihn unterschwellig vorhanden war.
Für eine Weile war er von einem Chaos aus Farben, Formen und unverständlichen Schriftzeichen und Stimmen umgeben, aber dann klärten sich diese Eindrücke, ihm offenbarte sich der Sinn der geflüsterten Worte, die Schriftzeichen erschienen bekannt, ja, sogar vertraut.
»Alles, was du benötigst, liegt vor dir. Du brauchst nur auszuwählen …«
Die Gestalt des Namenlosen erschien vor ihm. Gorian brauchte einen Augenblick, ihn zu erkennen, denn er sah ihn als jungen Caladran, dessen Begehr es war, gleichzeitig die Künste der Magiergilde und die der Schamanen zu erlernen, was sich traditionellerweise eigentlich ausschloss. Ein junger Mann, der einer Lehre anhing, der zufolge der Einzelne das Schicksal und den Verlauf der Gestirne zu bestimmen vermochte und Mitleid mit Menschen und anderen schnellsterblichen Wesen keine Zeitverschwendung oder Ausdruck von Schwäche war.
Diese Anschauung hatte einen tiefen Graben durch das Volk der Caladran gezogen, der seine unübersehbaren Spuren im Reich des Geistes hinterlassen hatte, zumal der Namenlose seinen Worten auch Taten hatte folgen lassen, indem er dem Greifenreiter-König Song Mol half, die Feuerdämonen zu besiegen.
Den Namen des Renegaten vermochte Gorian nirgends zu entdecken. Vielleicht war es ihm gelungen, ihn vollständig aus dem Reich des Geistes zu tilgen. Vielleicht aber hatten dies auch seine Gegner getan, die nach dem Diebstahl der magischen Schriften die Oberhand gewonnen und die Lehre des Renegaten zur Irrlehre erklärt hatten.
Auch diese aus dem Reich des Geistes zu verbannen war nicht möglich, aber sie galt von nun an als verpönter Irrtum eines Verräters, der sich von den Caladran losgesagt hatte.
Ein anderer Caladran erschien Gorian, ebenfalls jung, kaum zehn Jahre alt, aber in einer Epoche geboren, in der das Renegatentum des Namenlosen und der Raub der Schriften nur noch ein dunkler Fleck in der Geschichte der Caladran waren. Ein Junge noch – und doch waren die Gesichtszüge bereits sehr charakteristisch. Vor allem das überlegen wirkende Lächeln.
Morygor …
»Das hättest du nicht erwartet, mir hier zu begegnen«, sagte die Gedankenstimme des Jungen.
Gorians erster Reflex bestand darin, sich sofort abzuschirmen. Auch wenn dies nur der Gedanke an ein früheres Selbst des Frostreich-Herrschers war, so musste er doch dessen Aura fürchten.
Das Gesicht des Jungen verzog sich zu einem höhnischen Grinsen, und für einen Moment widerstritten in Gorians Seele die pure Furcht und die Begeisterung darüber, vielleicht mehr über Morygor zu erfahren.
Aber konnte nicht all dies auch eine Falle sein? Er dachte an Sheera und wie verheerend offenbar schon eine kurze gedankliche Berührung mit dem war, was Morygor im Reich des Geistes hinterlassen hatte.
Doch er entschied sich, das Risiko einzugehen – wobei er nicht hätte sagen können, ob es tatsächlich seine freie Entscheidung war oder ob er nicht etwa der Aura von Morygors Gedanken erlag.
Er sah in rascher Folge Abschnitte aus dem Leben eines wissbegierigen Jungen, der mit großem Tatendrang in das Reich des Geistes eindrang. Die Magie der Himmelsschiffe interessierte ihn ebenso wie der Lauf der Gestirne und die Berechnung der Schicksalswege, und im Letzteren übertraf ihn niemand. Und er wuchs schnell. Die Caladran bestimmten die Geschwindigkeit ihrer körperlichen Reifung selbst. Der augenscheinlich Zehnjährige, der Gorian begegnet war, war in Wahrheit erst vier Jahre alt gewesen und hatte mit zwölf bereits die Gestalt eines jungen Mannes, in der er sich bis zu diesem Tag am liebsten zeigte, obwohl sie ganz sicher nicht mehr seinem tatsächlichen Aussehen entsprach.
Schon mit diesem schnellen körperlichen und geistigen Wachstum machte er unter den Caladran auf sich aufmerksam – denn normalerweise nahmen sich Caladran wesentlich mehr Zeit für ihre Reifung als etwa die kurzlebigen Menschen. Morygor aber konnte es nicht schnell genug gehen.
Und er war fasziniert von den verfemten Ideen des Namenlosen Renegaten. Das Schicksal selbst bestimmen, die Gestirne lenken, anstatt sich von ihnen lenken zu lassen, die Welt prägend verändern, anstatt von den Umständen geprägt zu werden…
»Ja, er ist mein geistiges Kind«, sagte die Gedankenstimme des Namenlosen.
»Ist das die besondere Verbindung zwischen euch?«
»Was Morygor heute tut, hat seine Wurzeln in meinen Ideen. Es hat lange gedauert, bis ich mir endlich eingestand, dass ich dafür mitverantwortlich bin. Er verändert die Welt nach seinem Willen und zerstört sie damit, macht sie zu einem Ort, an dem niemand leben kann, der nicht sein Sklave ist. Das war immer die größte Frage, die ihn umtrieb: Wo ist die Grenze der absoluten Macht eines Einzelnen? Kann ein Wille alles vernichten und alles neu entstehen lassen?«
»Aber Ihr wolltet nicht, dass ich dies erfahre.«
»Es wäre nicht nötig gewesen, dass du Zeuge meiner Schande wurdest.«
»Warum ist es Eure Schande, wenn ein Nachgeborener Eure Ideen in das Gegenteil dessen verkehrt, was Ihr beabsichtigt habt, Namenloser?«
»Du kennst das Reich des Geistes zu wenig, um das zu verstehen. Wärst du ein Caladran, wäre das anders. Auch wenn ich mich innerlich von diesem Volk getrennt habe und mich nie wieder selbst als Caladran bezeichnen werde, so blieb ich es in meinem Inneren doch mehr, als mir lieb ist. Aber nun richte den Blick nicht auf die Vergangenheit, sondern auf das, was kommt. Sieh nicht auf Morygor und seine Macht, sondern auf dich selbst und das, was du bewegen sollst.«
»Was ich bewegen soll ist ein Gestirn!«, gab Gorian zu bedenken.
»Dennoch ist es möglich. Wenn du diese Überzeugung nicht gewinnst, wird sich diese Variante des Schicksals allerdings nicht erfüllen.«
»Über ein Rätsel der Vergangenheit sollte ich noch Bescheid wissen …«
»Folge meinem Rat!«
»Wer ist der Maskierte?«
»Er ist kein Caladran. Welche Spuren kann er also im Reich des Geistes hinterlassen haben?«
Gorian spürte, dass etwas vor ihm verborgen werden sollte. Von Anfang an war dies der Fall. Je tiefer er in die Vergangenheit zurücksah, desto mehr Spuren schienen bewusst verwischt worden zu sein. Doch sie ganz auszulöschen war offenbar nicht möglich. Zu groß war der Respekt vor Andir dem Magier und der Idee der Freiheit des Geistes. Aber es gab viele Täuschungen und Ablenkungen, die den Suchenden von gewissen Gedanken fernhalten sollten.
»Es ist wie beim Raub des Kristalls durch Caladir«, stellte er fest. »Niemand soll es erwähnen oder darüber nachdenken. Aber ich will die Wahrheit wissen!«
»Du wirst nichts finden, Gorian. Nichts, was dir weiterhelfen wird. Du wirst nur deine Kraft mit etwas verschwenden, das heute nicht mehr von Bedeutung ist. Vielleicht wirst du sogar den König der Caladran und seine Gemahlin erzürnen, denn sie werden nur sehr ungern an die Schuld und die Schande ihrer Vorfahren erinnert.«
»Welche Schuld? Welche Schande?«
Die Stimme des Namenlosen antwortete nicht mehr, und sosehr Gorian auch im Reich des Geistes nach den Spuren jenes Geheimnisses suchte, das der Namenlose nur angedeutet hatte, er tappte dabei im Dunkeln.
Alles, worauf er stieß, war die Erinnerung an eine Hand mit sechs Fingern.