21
Die Gestirne bewegen
Die Tage vergingen wie im Flug, und Gorian hatte
das Gefühl, dass die Zeit im Stadtbaum von Caladrania nur so
dahinraste.
Man hatte seinen Gefährten großzügig ausgestattete
Quartiere zukommen lassen, und das Wissen, das er durch seine
Berührung mit dem Reich des Geistes erlangt hatte, half ihm, sich
in Caladrania zu orientieren.
Ar-Don verharrte als versteinerter Gargoyle auf dem
inneren Burghof in der Astgabelung. Er wirkte wie eine Statue –
allerdings eine, die gemessen an dem architektonischen und
künstlerischen Gestaltungsniveau der Umgebung eher wie ein
primitives Standbild oder der erste Versuch eines mittelmäßig
begabten Bildhauers wirkte, der noch in einer Phase war, in der er
sein Material zu beherrschen lernen musste.
Die Gondel stand neben ihm. Beides zusammen war
gewiss für die ästhetisch anspruchsvollen Augen vieler Caladran
eine Beleidigung, und es bildeten sich immer wieder Gruppen von
Männern und Frauen um dieses für sie sehr eigenartige Gebilde,
deren Gemüter sich darüber erhitzten.
Gorian hörte ihren Gesprächen mitunter zu und
stellte fest, dass ihm auch das Wissen aus dem Reich des Geistes
noch manche feine Nuance der Caladran-Sprache nicht eröffnet
hatte. Aber der allgemeine Tenor war wohl, dass viele froh darüber
waren, dieses Ding nicht innerhalb des Stadtbaums
beherbergen zu müssen; die ästhetische Zumutung war ihnen im
Außenbereich leichter erträglich, als wenn sie diesen Frevel an den
Prinzipien der Ebenmäßigkeit und Harmonie im Inneren von Caladrania
hätten ertragen müssen.
Gorian versuchte zwischendurch gedankliche
Verbindung mit Ar-Don aufzunehmen, aber der Gargoyle erwies sich
als ziemlich einsilbig.
»Sammle … Kraft …«, war eine gedankliche
Aussage von ihm. »Brauche bald viel davon …«
Gorian fragte sich manchmal, ob Ar-Dons eigene
Persönlichkeit wohl noch die Oberhand in der ohnehin ziemlich
zusammengewürfelten Seele dieses Wesens hatte oder ob inzwischen
nicht doch der eher abgestumpfte Greif in ihm nach und nach den
entscheidenden Einfluss gewann.
Irgendwann rief Thondaril seine Schüler und auch
den jungen Greifenreiter Zog Yaal in sein Quartier. Der Namenlose
Renegat und der Maskierte nahmen an der Versammlung nicht teil, sie
waren unauffindbar.
»Ein Caladran-Magier sprach mich an. Sein Name ist
Sirabas, und ich glaube zwar kaum, dass er mich wirklich als
seinesgleichen ansieht, aber man gab ihm wohl den Auftrag, mich
über den Stand der Dinge zu informieren.«
»Und wie ist der?«, fragte Gorian, nicht ohne
Ungeduld.
»Die Pläne der Magiergilde, mit Himmelsschiffen zu
den Sternen aufzubrechen und dort einen anderen Ort zu suchen, wo
ihr Volk leben kann, sind wohl weiter vorangeschritten, als wir
bisher angenommen haben. In nächster Zeit soll sich ein erstes
Schiff mittels der Alten Magie Caladirs in den
Himmel erheben, und falls dies gelingt, steht dem Vorhaben wohl
nichts mehr entgegen.«
»Fragt sich nur, was die Caladran unter in
nächster Zeit verstehen«, mischte sich Torbas ein.
»Ich glaube kaum, dass die noch lange damit warten
werden«, erwiderte Meister Thondaril. »Über die nördlichsten
Caladran-Inseln ist ein Eissturm hereingebrochen, wie ich hörte. Er
war so heftig, dass selbst die Magie der Caladran machtlos dagegen
war und die Elemente nicht beruhigen konnte. Da nur wenige Caladran
dort lebten, konnten sie alle mit ihrem Himmelsschiff flüchten und
warten nun weiter südlich ab, bis sich die Verhältnisse
beruhigen.«
»Das ist der Anfang«, stellte Gorian fest. »Die
Eroberung durch das Frostreich hat begonnen.«
Meister Thondaril bat ihn, noch zu bleiben, während
die anderen den Raum wieder verließen.
»Was begehrt Ihr, Meister?«
»Nenn mich nicht mehr Meister, Gorian. Nachdem du
mit dem Reich des Geistes der Caladran in Berührung gewesen bist,
ist dies nicht mehr angebracht.« Ein schwaches Lächeln huschte über
sein kantiges Gesicht. »Aber ist das nicht der Lauf der Dinge? Der
Sinn jeder Erziehung? Will nicht jeder Meister, dass sein Schüler
ihn eines Tages überflügelt?«
Er holte den Ring aus einer Tasche seines Gewandes
hervor – jenen Meisterring aus dem Haus des Schwertes, den er
Gorian schon einmal angetragen hatte.
»Nimm ihn jetzt«, forderte er. »Ich weiß, du hast
gesagt, unter welcher Bedingung du ihn nehmen würdest, und ich habe
meine Meinung darüber bereits deutlich gemacht. Du musst den Ring
nehmen. Wenn du es heute nicht tust, wird es nie geschehen.«
»Wie kommt Ihr darauf? Wie Ihr wisst, hege ich noch
immer den ehrgeizigen Plan, einst alle fünf Meisterringe des
Ordens zu tragen.«
»Das sagst du jetzt, bevor du zum zweiten Mal in
das Reich des Geistes eingetaucht bist. Und vielleicht wirst du
sogar eine dauerhafte Verbindung zu jener Ebene der Wirklichkeit
finden, von der mir auf schmerzhafte Weise bewusst ist, dass sie
mir verschlossen bleiben wird. Nicht, weil mir der Todesmut fehlen
würde, aber die Kraft und die Fähigkeiten. Es ist nicht leicht, das
einzugestehen, aber sagen nicht die Worte des Ersten Meisters, dass
kein Weg zum Ziel führt als der durch den Schmerz der
Wahrheit?«
Thondaril drehte sich um, ging zu den drei ovalen,
magisch verglasten Fenstern und blickte hinaus auf die Weite des
Meeres von Ost-Erdenrund.
»Ihr werdet immer mein Meister bleiben, Thondaril.
Nichts, was ich im Reich des Geistes erfahren mag, könnte daran
etwas ändern.«
Thondaril schwieg eine Weile. »Nimm den Ring, bevor
du ein zweites Mal in das Reich des Geistes eintauchst«, verlangte
er dann mit Nachdruck. »Sonst wird dir alles, was mit dem Orden und
seinen fünf Meisterhäusern zu tun hat, geradezu lächerlich und
nichtig erscheinen, und unsere Magie wird auf dich den gleichen
Eindruck machen wie das Jagdzauber-Ritual eines Oger-Medizinmannes
auf einen unserer Magiemeister. Und was Torbas betrifft…« Er drehte
sich herum, und die Blicke von Meister und Schüler begegneten
sich.
»Was ist mit Torbas?«
»Euer Schicksal scheint in der Tat auf eine
besondere Weise miteinander verwoben. Nimm ihn mit ins Reich des
Geistes. Denn es könnte sein, dass ihr nur gemeinsam stark genug
seid, Morygor zu besiegen.«
»Er könnte dabei sterben oder wahnsinnig werden!«,
entfuhr
es Gorian. »Seht Euch an, was mit Sheera geschehen ist! Und sie
hat nur einen geringen Teil von dem aufgenommen, was bereits in mir
war.«
»Es ist ein Risiko, ich weiß. Aber vielleicht ist
es das größere Risiko, diese Gefahr zu scheuen. Was wird dir ein
Gefährte nützen, der dir in allen Belangen so weit unterlegen ist,
dass er vielleicht nicht einmal versteht, was du beabsichtigst?
Davon abgesehen kann ich die Stärke meiner Schüler durchaus
abschätzen – auch wenn ich sie auf dem Weg, den sie gehen werden,
nicht begleiten kann.« Thondaril schüttelte den Kopf und hielt ihm
noch einmal den Ring hin. »Nimm ihn – und zeige ihn Torbas! Und
dann sag ihm dies: Wenn er es wagt, mit dir ins Reich des Geistes
zu gehen und sich der Wahrheit und dem Wahnsinn zu stellen, die
dort zu finden sind, dann gebe ich auch ihm einen Meisterring, denn
den hat auch er sich dann verdient.«
Ein paar Tage später stieg, bestaunt von der
gesamten Bevölkerung des Stadtbaums von Caladrania, ein
Himmelsschiff aus einem der von den Wurzelarmen abgegrenzten
Hafenbecken auf. Es war ein sehr großes Schiff, dessen Aufbauten
und Decks zur Gänze von einer transparenten, leicht bläulich
schimmernden Aura umgeben waren. Aufgrund des Wissens, das Gorian
im Reich des Geistes erworben hatte, schloss er, dass es sich um
eine Variante des magischen Glases handelte, wie es die Fenster des
Stadtbaums aufwiesen und das sowohl Licht als auch Wind nach
Belieben einließ oder filterte. Offenbar sollte die Aura vor den
Unbilden des Kosmos schützen.
Viele Caladran hatten sich an diesem dämmrigen Tag
auf dem Burghof und einigen anderen Plätzen des Stadtbaums
versammelt. Andere standen hinter dem magischen Glas
ihrer Fenster. Der Himmel war vollkommen klar und doch so düster
wie sonst nur kurz vor Einbruch der Nacht. Der Lichtkranz, der vom
Schattenbringer verdeckten Sonne war so schmal wie nie zuvor, und
bisweilen schien er an manchen Stellen bereits völlig zu
verschwinden. Die Sterne – das Ziel dieser Himmelsschiffsreise –
waren inzwischen den ganzen Tag über zu sehen. Das spärliche
Sonnenlicht schaffte es einfach nicht mehr, sie zu
überstrahlen.
Gorian mischte sich mit Zog Yaal und Torbas unter
die Schaulustigen. Sheera hatte sich zur inneren Sammlung
zurückgezogen und das magische Glas in den Fenstern ihres
Gästegemachs verdunkelt; so viel hatte auch sie an Caladran-Magie
in sich aufgenommen, dass sie dazu in der Lage war, so wie sich
auch jeder der Gäste, Zog Yaal eingeschlossen, nach und nach an den
richtigen Gebrauch der Schächte mit dem Zauber der
Gewichtslosigkeit gewöhnt hatte.
Das Schiff stieg höher und höher.
Rudanas lautete der Name des Kapitäns, den die
Caladran in einem Chor aus Gedanken und Stimmen murmelten,
eingebettet in einer Formel magischer Kraftspende. Rudanas würde
diese Kraft brauchen, um das Schiff sicher an sein Ziel zu
bringen.
Oder zumindest an irgendein Ziel.
Schließlich wurde das Schiff am Himmel kleiner und
kleiner und war zum Schluss nur noch als bläulicher Schimmer
auszumachen, so als wäre es zu einem der vielen Sterne geworden.
Die Caladran sollten von ihm nie wieder etwas hören. Kein Gedanke
im Reich des Geistes deutete auf sein weiteres Schicksal hin, und
auch mithilfe eines westreichischen Fernglases oder der sehr viel
besseren magischen Linsen der Caladran war später keine Spur mehr
von ihm am Himmel zu entdecken.
Das bläuliche Schimmern verschwand einfach …
»Nicht schlecht, wenn man so davonfliegen und das
der Vernichtung preisgegebene Erdenrund verlassen kann«, meinte Zog
Yaal. »Leider werden die Caladran wohl keinen von uns
mitnehmen.«
»Nein, das werden sie nicht«, murmelte Gorian. Er
wandte sich an Torbas und hob dabei die Hand mit dem Ring des
Schwertmeisters. »Hast du dich bereits entschieden?«
In den nächsten Tagen verschlechterte sich das
Wetter. Der Himmel wurde so düster, dass man Tag und Nacht nicht
mehr voneinander unterscheiden konnte. Ein eiskalter Wind blies vom
Norden her, zeitweilig begann es zu hageln, und hin und wieder
rieselte Schnee aus dem dunkelgrauen Himmel. Von den Sternen war
nichts mehr zu sehen, und der ohnehin schon sehr schwache
Lichtkranz der Sonne war kaum noch auszumachen. Raureif legte sich
morgens über Teile des Stadtbaums und verschwand erst, wenn die
Magier der Caladran einen entsprechenden Zauber wirkten.
Schließlich trieb sogar ein kleiner Eisberg am
Stadtbaum vorbei. So etwas hatte es seit der Zeit, da die Caladran
gegen die Sonnenflüchter gekämpft hatten, nicht mehr gegeben.
Damals, so lauteten die Überlieferungen, die auch Gorian inzwischen
bekannt waren, war das Klima auf den Inseln noch weitaus rauer
gewesen, und erst ein intensiver Wetterzauber und die Anwendung der
Magie der Wasserströme hatten dazu geführt, dass die Witterung
milder wurde. Aber offenbar waren diese uralten Zauber zu schwach
geworden, um dem sich ausdehnenden Einfluss des Frostreichs weiter
standzuhalten.
Am dritten Tag, nachdem Rudanas’ Himmelsschiff zu
den Sternen aufgebrochen war, wurden Torbas und Gorian zu einer
Audienz gerufen. Abrandir empfing sie in einem Zimmer seiner
Privatgemächer. Außer dem König und seiner Gemahlin Orawéen waren
überraschenderweise auch der Namenlose Renegat und der Maskierte
anwesend.
Gorian verneigte sich vor dem Königspaar, und
Torbas folgte seinem Beispiel. Abrandir nahm dies mit
teilnahmsloser Miene hin.
Eine Lichtskulptur, die eine kugelförmige Abbildung
Erdenrunds zeigte, bildete das Zentrum des Raums. Gorian bewunderte
den Detailreichtum, mit dem die Küsten nachgezeichnet waren. Die
Karten und Globen der Menschen zeigten lediglich die bekanntesten
Länder Ost-Erdenrunds in einer annähernd vergleichbaren
Genauigkeit. Was jenseits des östlichen Ogerlandes und des
Basilisken-Reichs lag, wurde auf diesen Darstellungen zumeist nur
noch vage angedeutet, denn was man von diesen Gebieten wusste,
basierte auf nicht viel mehr als Hörensagen.
Noch mehr galt das für die anderen Kontinente
Erdenrunds. Zwar hatten Zahlenmagier längst den Umfang des Planeten
und seinen Abstand zur Sonne errechnet, aber über die Länder
West-Erdenrunds wussten die Menschen so gut wie nichts und noch
weniger über den dritten Kontinent, den die Caladran Athranor
nannten.
»Ein Abbild unserer Welt«, sagte Orawéen. »Aber es
ist möglich, dass es schon sehr bald nicht mehr der Wirklichkeit
entspricht. Die Eispanzer werden sich ausdehnen, und sollte Rudanas
einst von seiner Sternenreise zurückkehren, dürfte ihm Erdenrund
wie ein einziger riesenhafter schmutziger Schneeball
erscheinen.«
»Umso wichtiger ist es, Morygors Pläne zu
vereiteln«, stellte Gorian klar.
»Aus diesem Grund sind wir hier zusammengekommen«,
meldete sich der Namenlose zu Wort
Gorian wandte sich ihm zu. »Wir haben uns eine
ganze Weile nicht gesehen.«
»Es waren viele Beratungen zu führen und
Vorbereitungen zu treffen. Nun aber kommt unser Plan in eine Phase,
in der man diejenigen einbeziehen sollte, welche die Hauptlast
tragen werden. Die Invasion des Frostreichs hat begonnen, und seit
der erste Eisberg vor Caladrania gesichtet wurde, dürfte das jedem
Caladran klar geworden sein.«
»Von was für einem Plan sprecht Ihr?«
»Meinem Plan«, ergriff König Abrandir das
Wort. »Auf der Insel Pela steht eine Apparatur, die offenbar
bereits die Aufmerksamkeit von Spionen und neugierigen Beobachtern
erregt hat, denn wie könntet Ihr sonst schon davon gehört haben.«
Er ging zu dem Licht-Globus und machte eine Handbewegung, woraufhin
sich der Globus auflöste und der Abbildung jener Apparatur wich,
von der Abrandir gesprochen hatte. »Sie gleicht einem Hohlspiegel,
der mit Magie aufgeladen wird, sodass sie über eine sehr große
Entfernung hin wirksam werden kann.«
»Ihr Einfluss reicht bis zu den Gestirnen?«, fragte
Gorian erstaunt. Faszination und Bewunderung über diesen Triumph
caladranischer Erfindungsgabe und Magie klang in seinen Worten mit.
»Im Reich des Geistes habe ich nichts davon entdeckt.
Eigenartig.«
»Absicht!«, widersprach König Abrandir. »Morygor
hat Zugang zum Reich des Geistes; den können wir ihm ebenso wenig
verwehren wie dem Namenlosen Renegaten, obwohl es in der
Vergangenheit ganz gewiss viele Caladran gab, die Letzteres
befürwortet hätten. Aber so hat der legendäre Magier Andir einst
den Kristall geschaffen: Niemand, der
über ihn jemals Zugang zu seinem Reich erlangte, kann daraus
wieder verbannt werden, und alles, was sie tun oder denken,
hinterlässt dort mehr oder minder starke Spuren.«
»Die Freiheit des Geistes«, stellte Gorian fest.
»Sie war das höchste Gut, an das Andir glaubte.«
Abrandir lächelte. »Ihr habt schon viel gelernt.
Vielleicht würdet Ihr es sogar schaffen, wie ein Caladran zu denken
und zu leben, hättet Ihr noch ein oder zwei menschliche
Lebensspannen lang Zeit, uns zu studieren.«
»Warum sind wir hergebeten worden?«, fragte Torbas.
Sein Sprechstein hatte ihm die bisher auf Caladranisch geführte
Unterhaltung übersetzt, doch so manche Feinheiten waren ihm dabei
entgangen.
»Sie sind ein ungeduldiges Volk, mein König«,
entschuldigte ihn der Namenlose. »Und ich fürchte, in der Zeit, die
ich unter den Menschen weilte, habe auch ich diese Eigenschaft
angenommen.«
»Sie sei ihm verziehen«, sagte Orawéen. »Schon
deswegen, weil diese beiden dringend gebraucht werden.« Sie wandte
sich an Torbas und Gorian. »Mein Gemahl erteilt Euch die Erlaubnis,
noch einmal zum Kristall des Geistes zu gehen, so wie Ihr es
gewünscht habt, auch wenn eine gewisse Gefahr besteht.«
»Wir beide?«, vergewisserte sich Gorian.
»Ja.«
»Wir fürchten den Tod nicht«, sagte Torbas.
»Das Risiko ist für Euch leicht zu tragen, da Ihr
ohnehin nur noch kurze Zeit zu leben habt«, erwiderte Orawéen. »Ihr
opfert weit weniger, als es ein Caladran in dieser Situation tun
müsste. Ich sprach von einem Risiko für uns und unser Volk,
denn der Plan meines Gatten wird scheitern, wenn Ihr
versagt.«
»Wir benötigen Eure Magie«, erklärte Abrandir.
»Keiner unserer Magier ist an dem, was auf Pela vor sich geht,
beteiligt, denn sie sind zu eng mit dem Reich des Geistes
verbunden. Aber Ihr beide seid es nicht.«
»Werden unsere Gedanken denn dort keine Spuren
hinterlassen?«, fragte Gorian.
»Nicht eine einzige, dazu seid Ihr – noch – nicht
fähig. Eine sehr viel längere Verbindung zum Reich des Geistes wäre
dafür nötig, für die Eure Lebensspanne vielleicht gar nicht reicht.
Ihr werdet Wissen von dort beziehen, das Euch hoffentlich in die
Lage versetzt, Morygor zu begegnen, seiner Aura zu widerstehen und
Eure Kräfte gegen die seinen zu setzen. Die Schwerter aus
Sternenmetall sind mächtige Artefakte, die diese Kräfte sammeln
können, so wie es auch diese Apparatur tun wird. Der Hohlspiegel
besteht aus einer Legierung des Sternenmetalls, die Eure Kräfte
vervielfachen und sie auf den Schattenbringer richten wird, sodass
er seine Position ändert.«
»Es bedarf dafür eines starken Geistes«, ergänzte
der Namenlose.
»Und was ist Eure Rolle dabei?«, fragte ihn Gorian.
»Ich habe Euch schon einmal gefragt, in welcher Verbindung Ihr zu
Morygor seht.«
»In einer so starken, dass ich mich nicht an diesem
Experiment beteiligen darf«, erwiderte der Namenlose, »denn meine
Handlungen könnte er vorausberechnen.«
»Nur Ihr seid für ihn unberechenbar, Gorian«, sagte
Orawéen. »Darum fürchtet Morygor Euch wie niemand anderen. Aber
Euer Schicksal verfolgt er bereits sehr intensiv, schon seit Eurer
Geburt.«
»Und Torbas?«
»Euer Gefährte ist vielleicht der Stein, der ihn
tödlich
treffen wird, ohne dass er je damit gerechnet hätte. Morygor
unterschätzt sein Potenzial, denn die Furcht vor Euch, Gorian,
nimmt seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.«
»Ihr werdet heute noch zum Kristall gehen«,
kündigte König Abrandir an. »Danach werdet Ihr in einem
Himmelsschiff nach Pela aufbrechen.«
Gorian und Torbas betraten die Halle des Geistes
zu zweit. Niemand begleitete die beiden.
Gorian spürte die Abstrahlungen des Kristalls sehr
viel stärker als beim ersten Mal. Überall sah er die Runen
aufleuchten.
»Siehst du sie nicht?«, fragte er.
»Was?«
»Die Zeichen.«
»Ich gebe es ungern zu: Beim Schwertkampf habe ich
dich besiegen können, aber hinsichtlich der Magie bist du der
Stärkere.«
»Dann werde ich dich führen müssen.«
Sie gingen auf den ovalen Altar zu, und jeder von
ihnen nahm an einer Seite des Steins Aufstellung. Der Kristall
leuchtete auf, und Gorian hörte einen wispernden Gedankenchor:
»Willkommen im Reich des Geistes.«
Seine Augen wurden schwarz, und Gleiches geschah
bei Torbas.
»Es ist wichtig, dass du dich abschirmst«, ermahnte
ihn Gorian. »Verlier dich nicht in diesem Meer des Wissens.«
Torbas grinste und umfasste den Griff von
Schattenstich, so als wollte er sich daran festhalten. »Ja …
Meister«, antwortete er auf eine Weise, in der sich Respekt
und Ironie die Waage hielten.
»Und noch etwas, Torbas …«
»Ich höre.«
»Halte dich von Morygor fern!«
»Mag sein, dass ich dir magisch unterlegen bin,
aber ich bin kein Dummkopf.«
Als Gorian diesmal in das Reich des Geistes
eintauchte, war die Wirkung nicht von der gleichen überwältigenden
und zerstörerischen Intensität wie beim ersten Mal. Von Anfang an
achtete er darauf, nur einen Bruchteil dessen in sich aufzunehmen,
was auf ihn einströmen wollte.
Es war wie ein sehr intensiver, von der
Wirklichkeit nicht zu unterscheidender Tagtraum: Plötzlich befanden
sich Gorian und Torbas an Deck eines Himmelsschiffs. Sie waren
allein, außer ihnen beiden gab es keinerlei Besatzung. Die Segel
hingen schlaff von den Masten, was aber charakteristisch für die
Schiffe der Caladran war.
»Die metamagischen Raumzeitwinde bewegen
dieses Gefährt, doch es bedarf eines starken Geistes, sie zu nutzen
…«
Wessen Gedanken da zu ihm sprachen, wusste Gorian
nicht. Vielleicht waren es seine eigenen Erkenntnisse, die wie ein
geistiges Echo aus dem geheimnisvollen Reich zurückgeworfen wurden.
Aber das spielte keine Rolle. Plötzlich wusste er, was zu tun war.
Es erschien ihm vollkommen selbstverständlich. Das Himmelsschiff
ließ sich mit Leichtigkeit manövrieren, allein durch die Kraft des
puren Willens.
»Der Zauber der Gewichtslosigkeit ist so
einfach, wenn man sein Geheimnis durchschaut hat. Man sieht es an
den Schächten im Stadtbaum von Caladrania …«
Das Schiff erhob sich aus der See, deren Wellen es
für eine Weile durchfurcht hatte, und stieg höher und höher.
»Wenn der lenkende Geist nicht stark genug
ist, kann es sein, dass er mit dem Schiff strandet, irgendwo in
einer fremden Raumzeit des unendlichen Polyversums, vielleicht
sogar in einer Raumzeit, in der nur du allein existierst. Wie in
jener Welt, die den Schattenmeistern bekannt ist …«
Gorian übergab Torbas die Steuerung des Schiffs,
der das Wissen dazu mit überraschender Leichtigkeit aufnahm.
Vielleicht hatte Gorian ihn unterschätzt. Doch irgendetwas schien
seinem Gefährten zusätzliche magische Stärke zu verleihen.
Und dann verschwand das Schiff plötzlich unter
Gorians Füßen. Innerhalb eines Herzschlags war es nicht mehr da –
ebenso wie Torbas.
Gorian hatte das Gefühl zu fallen. Dann aber merkte
er, dass dieser Zustand eher der Gewichtslosigkeit in den Schächten
des Stadtbaums ähnelte.
»Der frei schwebende Geist … Das Ideal des
Magiers Andir … Nur von wenigen für kurze Zeit erreicht …«
Schon drohte der Strom aus Wissen, Bildern und
vielfältigsten Eindrücken seinen Geist zu überschwemmen, und er
musste weitere Kräfte aufwenden, um sich stärker abzuschirmen. Wenn
er als ein dem Wahn Verfallener aus dem Reich des Geistes
zurückkehrte, war König Abrandirs Plan gescheitert. An Torbas
dachte er kaum noch, obwohl die Sorge um ihn unterschwellig
vorhanden war.
Für eine Weile war er von einem Chaos aus Farben,
Formen und unverständlichen Schriftzeichen und Stimmen umgeben,
aber dann klärten sich diese Eindrücke, ihm offenbarte sich der
Sinn der geflüsterten Worte, die Schriftzeichen erschienen bekannt,
ja, sogar vertraut.
»Alles, was du benötigst, liegt vor dir. Du
brauchst nur auszuwählen …«
Die Gestalt des Namenlosen erschien vor ihm. Gorian
brauchte einen Augenblick, ihn zu erkennen, denn er sah ihn als
jungen Caladran, dessen Begehr es war, gleichzeitig die Künste der
Magiergilde und die der Schamanen zu erlernen, was sich
traditionellerweise eigentlich ausschloss. Ein junger Mann, der
einer Lehre anhing, der zufolge der Einzelne das Schicksal und den
Verlauf der Gestirne zu bestimmen vermochte und Mitleid mit
Menschen und anderen schnellsterblichen Wesen keine
Zeitverschwendung oder Ausdruck von Schwäche war.
Diese Anschauung hatte einen tiefen Graben durch
das Volk der Caladran gezogen, der seine unübersehbaren Spuren im
Reich des Geistes hinterlassen hatte, zumal der Namenlose seinen
Worten auch Taten hatte folgen lassen, indem er dem
Greifenreiter-König Song Mol half, die Feuerdämonen zu
besiegen.
Den Namen des Renegaten vermochte Gorian nirgends
zu entdecken. Vielleicht war es ihm gelungen, ihn vollständig aus
dem Reich des Geistes zu tilgen. Vielleicht aber hatten dies auch
seine Gegner getan, die nach dem Diebstahl der magischen Schriften
die Oberhand gewonnen und die Lehre des Renegaten zur Irrlehre
erklärt hatten.
Auch diese aus dem Reich des Geistes zu verbannen
war nicht möglich, aber sie galt von nun an als verpönter Irrtum
eines Verräters, der sich von den Caladran losgesagt hatte.
Ein anderer Caladran erschien Gorian, ebenfalls
jung, kaum zehn Jahre alt, aber in einer Epoche geboren, in der das
Renegatentum des Namenlosen und der Raub der Schriften nur noch ein
dunkler Fleck in der Geschichte der Caladran waren. Ein Junge noch
– und doch waren die Gesichtszüge bereits sehr charakteristisch.
Vor allem das überlegen wirkende Lächeln.
Morygor …
»Das hättest du nicht erwartet, mir hier zu
begegnen«, sagte die Gedankenstimme des Jungen.
Gorians erster Reflex bestand darin, sich sofort
abzuschirmen. Auch wenn dies nur der Gedanke an ein früheres Selbst
des Frostreich-Herrschers war, so musste er doch dessen Aura
fürchten.
Das Gesicht des Jungen verzog sich zu einem
höhnischen Grinsen, und für einen Moment widerstritten in Gorians
Seele die pure Furcht und die Begeisterung darüber, vielleicht mehr
über Morygor zu erfahren.
Aber konnte nicht all dies auch eine Falle sein? Er
dachte an Sheera und wie verheerend offenbar schon eine kurze
gedankliche Berührung mit dem war, was Morygor im Reich des Geistes
hinterlassen hatte.
Doch er entschied sich, das Risiko einzugehen –
wobei er nicht hätte sagen können, ob es tatsächlich seine freie
Entscheidung war oder ob er nicht etwa der Aura von Morygors
Gedanken erlag.
Er sah in rascher Folge Abschnitte aus dem Leben
eines wissbegierigen Jungen, der mit großem Tatendrang in das Reich
des Geistes eindrang. Die Magie der Himmelsschiffe interessierte
ihn ebenso wie der Lauf der Gestirne und die Berechnung der
Schicksalswege, und im Letzteren übertraf ihn niemand. Und er wuchs
schnell. Die Caladran bestimmten die Geschwindigkeit ihrer
körperlichen Reifung selbst. Der augenscheinlich Zehnjährige, der
Gorian begegnet war, war in Wahrheit erst vier Jahre alt gewesen
und hatte mit zwölf bereits die Gestalt eines jungen Mannes, in der
er sich bis zu diesem Tag am liebsten zeigte, obwohl sie ganz
sicher nicht mehr seinem tatsächlichen Aussehen entsprach.
Schon mit diesem schnellen körperlichen und
geistigen
Wachstum machte er unter den Caladran auf sich aufmerksam – denn
normalerweise nahmen sich Caladran wesentlich mehr Zeit für ihre
Reifung als etwa die kurzlebigen Menschen. Morygor aber konnte es
nicht schnell genug gehen.
Und er war fasziniert von den verfemten Ideen des
Namenlosen Renegaten. Das Schicksal selbst bestimmen, die Gestirne
lenken, anstatt sich von ihnen lenken zu lassen, die Welt prägend
verändern, anstatt von den Umständen geprägt zu werden…
»Ja, er ist mein geistiges Kind«, sagte die
Gedankenstimme des Namenlosen.
»Ist das die besondere Verbindung zwischen
euch?«
»Was Morygor heute tut, hat seine Wurzeln in
meinen Ideen. Es hat lange gedauert, bis ich mir endlich
eingestand, dass ich dafür mitverantwortlich bin. Er verändert die
Welt nach seinem Willen und zerstört sie damit, macht sie zu einem
Ort, an dem niemand leben kann, der nicht sein Sklave ist. Das war
immer die größte Frage, die ihn umtrieb: Wo ist die Grenze der
absoluten Macht eines Einzelnen? Kann ein Wille alles vernichten
und alles neu entstehen lassen?«
»Aber Ihr wolltet nicht, dass ich dies
erfahre.«
»Es wäre nicht nötig gewesen, dass du Zeuge
meiner Schande wurdest.«
»Warum ist es Eure Schande, wenn ein
Nachgeborener Eure Ideen in das Gegenteil dessen verkehrt, was Ihr
beabsichtigt habt, Namenloser?«
»Du kennst das Reich des Geistes zu wenig, um
das zu verstehen. Wärst du ein Caladran, wäre das anders. Auch wenn
ich mich innerlich von diesem Volk getrennt habe und mich nie
wieder selbst als Caladran bezeichnen werde, so blieb ich es in
meinem Inneren doch mehr, als mir lieb ist. Aber nun richte den
Blick
nicht auf die Vergangenheit, sondern auf das, was kommt. Sieh
nicht auf Morygor und seine Macht, sondern auf dich selbst und das,
was du bewegen sollst.«
»Was ich bewegen soll ist ein Gestirn!«, gab
Gorian zu bedenken.
»Dennoch ist es möglich. Wenn du diese
Überzeugung nicht gewinnst, wird sich diese Variante des Schicksals
allerdings nicht erfüllen.«
»Über ein Rätsel der Vergangenheit sollte ich
noch Bescheid wissen …«
»Folge meinem Rat!«
»Wer ist der Maskierte?«
»Er ist kein Caladran. Welche Spuren kann er
also im Reich des Geistes hinterlassen haben?«
Gorian spürte, dass etwas vor ihm verborgen werden
sollte. Von Anfang an war dies der Fall. Je tiefer er in die
Vergangenheit zurücksah, desto mehr Spuren schienen bewusst
verwischt worden zu sein. Doch sie ganz auszulöschen war offenbar
nicht möglich. Zu groß war der Respekt vor Andir dem Magier und der
Idee der Freiheit des Geistes. Aber es gab viele Täuschungen und
Ablenkungen, die den Suchenden von gewissen Gedanken fernhalten
sollten.
»Es ist wie beim Raub des Kristalls durch
Caladir«, stellte er fest. »Niemand soll es erwähnen oder
darüber nachdenken. Aber ich will die Wahrheit wissen!«
»Du wirst nichts finden, Gorian. Nichts, was
dir weiterhelfen wird. Du wirst nur deine Kraft mit etwas
verschwenden, das heute nicht mehr von Bedeutung ist. Vielleicht
wirst du sogar den König der Caladran und seine Gemahlin erzürnen,
denn sie werden nur sehr ungern an die Schuld und die Schande ihrer
Vorfahren erinnert.«
»Welche Schuld? Welche Schande?«
Die Stimme des Namenlosen antwortete nicht mehr,
und sosehr Gorian auch im Reich des Geistes nach den Spuren jenes
Geheimnisses suchte, das der Namenlose nur angedeutet hatte, er
tappte dabei im Dunkeln.
Alles, worauf er stieß, war die Erinnerung an eine
Hand mit sechs Fingern.