
23
Der Spiegel aus Sternenmetall
Die Hoffnung des Himmels erreichte
schließlich den Stadtbaum von Pela. Er war nicht so groß wie jener
von Caladrania, und in den Hafenbecken lagen gerade einmal eine
halb so große Anzahl von Himmelsschiffen.
Schon von Weitem war jene Apparatur zu sehen, die
Meister Shabran offenbar von den in der Nähe liegenden Bergen aus
betrachtet hatte. Der Hohlspiegel aus Sternenmetall befand sich auf
einem Turm, der auf der höchsten Astgabelung des steinernen
Stadtbaums von Pela aufragte.
»Kein anderer Ort in meinem Reich ist so stark
durch Magie gesichert wie dieser«, sagte König Abrandir, der
inzwischen wieder an Deck war. »Und jeglichen Magiern und Schamanen
war der Aufenthalt hier verboten, nachdem sie die magischen
Sicherungen, Bannflüche und dergleichen mehr gewirkt hatten. Sie
mussten die Stadt verlassen, damit sie nichts von dem, was dort auf
der höchsten Astgabel geschehen ist, ins Reich des Geistes
einbringen.«
Die Hoffnung des Himmels legte an, und
Gorian und Torbas gingen zusammen mit Abrandir als Erste von Bord,
während ihnen der Maskierte folgte.
Ein schriller Schrei ertönte, und Torbas drehte
sich um. Jenseits der Bucht von Pela schwebten die Dreizahnigen am
Himmel, aneinandergereiht wie eine Perlenkette.
Auch Gorian sah zu ihnen hinüber. Sie wirkten auf
ihn wie Geier, die darauf warteten, dass ihre Beute verendete und
zu Aas wurde. Sie warteten. Auf den richtigen Moment vielleicht.
Oder darauf, dass sie Verstärkung bekamen. Offenbar dachte Morygor
nicht daran, einfach zuzulassen, was hier in Pela geschehen
sollte.
Und dann fiel Gorian auf, mit welchem
Gesichtsausdruck Sheera die Bestien betrachtete. Scheinbar grundlos
liefen ihr Tränen über die Wangen. Auch ihre Augen waren noch immer
schwarz, aber ihre Züge waren von Furcht geprägt, wie Gorian sie
noch nie bei einem Menschen gesehen hatte.
Er legte den Arm um sie, aber sie schien es gar
nicht zu bemerken.
»Wir müssen uns beeilen«, drängte König
Abrandir.
Ar-Don schwebte empor. Hoch über dem Stadtbaum von
Pela zog das gewaltige steinerne Wesen, zu dem er geworden war, wie
ein geflügelter Wächter seine Kreise. Die ungewöhnlich tiefen Rufe,
die es dabei ausstieß, waren eindeutig eine Drohung.
König Abrandir und seine Begleiter erreichten
schließlich einen Empfangsraum. Außer dem König und seiner
Gemahlin, dem Namenlosen Renegaten, Meister Thondaril und Zog Yaal
gehörte auch Lendaris, der Steuermann, dazu, der in die Pläne des
Caladran-Herrschers offenbar sehr viel weitergehender eingeweiht
war, als Gorian zunächst vermutet hatte.
Gorian führte Sheera am Arm. Sie schien im
Augenblick nicht in der Lage, etwas zu sagen oder auch nur einen
vernünftigen Gedanken zu formulieren. Sie blieb in jeder Hinsicht
stumm, geistig und sprachlich.
Torbas registrierte dies alles mit unbewegtem
Gesicht.
»Es wird alles gelingen«, sagte er auf einmal, und
genau in diesem Moment ging ein Ruck durch Sheeras Körper, und sie
sah auf. Zwischen den blicklosen, von Schwärze erfüllten
Augenpaaren der beiden schien für einen kurzen Moment eine Kraft
wirksam zu werden, die sie aneinander band.
»Seid gegrüßt, mein König!« Ein Caladran, der das
Amulett des Statthalters von Pela trug, ging auf Abrandir zu und
verneigte sich tief.
»Bringt uns zum Spiegel«, forderte Abrandir »Wir
haben keine Zeit zu verlieren.«
»Sehr wohl, mein König«, antwortete der Statthalter
von Pela.
Er führte sie zum nächsten Schacht. An den Zauber
der Gewichtslosigkeit hatte sich inzwischen selbst Zog Yaal
gewöhnt. Allerdings trug er, seit er diese Caladran-Magie
kennengelernt hatte, stets eine aufgewickelte Seilschlange wie eine
Schärpe um den Oberkörper, damit er ihr im Notfall den Befehl geben
konnte, sich auszurollen und an der nächsten Wand zu befestigen.
»Sicher ist sicher«, hatte er dazu gesagt, als Meister Thondaril
ihn darauf angesprochen hatte. »Ich mag es eben nicht, der
Spielball fremder Magie zu sein.«
Über die Schächte, die den Stadtbaum von Pela
durchzogen wie Venen einen Körper, gelangten sie auf jene höchste
Astgabelung, wo der Hohlspiegel stand.
Ein magischer Schirm wölbte sich über den Platz,
hielt die Auswirkungen von Wind und Wetter fern und erschwerte es
zudem, den Hohlspiegel aus der Ferne zu erspähen. Nur jemandem mit
der magischen Begabung eines Meister Shabran war es möglich, ihn
aus der Entfernung heraus überhaupt auszumachen.
Der Spiegel befand sich auf einem Turm, der in der
Mitte
des Gabelungsplatzes aufragte und einen vollkommenen Bruch mit der
fließenden, organisch wirkenden Architektur der Caladran
darstellte. Denn anders als die astähnlichen Fortsätze des
Stadtbaums wirkte er nicht wie aus dem Stein herausgewachsen; es
war auf den ersten Blick zu erkennen, dass er auf andere Weise
entstanden war, errichtet von anderen Baumeistern, die
vergleichsweise grob vorgegangen waren und deren Fähigkeiten mit
Sicherheit weit hinter denen zurückstanden, die die Stadtbäume
geschaffen hatten.
Sogleich forschte Gorian in den Erinnerungen aus
dem Reich des Geistes nach dem Grund dafür, aber er fand
nichts.
König Abrandir schien seine Gedanken zu erahnen. Er
lächelte wissend und erklärte: »Es waren Menschen und Oger, die
diesen Turm erbauten.«
Gorian trat an das Gemäuer heran und berührte es.
»Damit möglichst wenig davon ins Reich des Geistes dringt.«
»So ist es. Die Bauten der Baumeister Mituliens
gelten bei Eurem Volk als filigran. Vergleicht man sie mit den
primitiven Hütten, in denen der Großteil der Menschen haust, mag
das sogar stimmen. Und immerhin sind ihre Bauwerke einigermaßen
stabil, und im Gegensatz zu unseren Stadtbäumen wurde dieser Turm
nicht für die Ewigkeit, sondern nur für diesen Augenblick
errichtet.«
Gorian sah den Caladran-König an. »Ihr verfolgt
Euren Plan offenbar schon länger, als ich bisher ahnte, und das mit
vorausschauender Konsequenz.«
Abrandir nickte, dann sagte er: »Nun folgt mir. Als
Mensch dürfte es Euch keine Schwierigkeiten bereiten, die Stufen
einer Treppe zu erklimmen, während wir Caladran Treppen nur aus den
Überlieferungen unserer Vorfahren kennen.«
»So gibt es hier keinen Zauber der
Gewichtslosigkeit?«
»Nein. Und den magischen Schirm, der uns vor dem
Wind schützt, werden wir gleich auflösen. Nichts soll jene Magie
stören, die nun eingesetzt werden soll.«
»Was werden wir tun müssen?«
»Ihr werdet es gleich erfahren. Doch ich bin
überzeugt, dass Euch vieles davon nicht überraschen wird.«
In der Ferne tauchten dunkle Schatten am dämmrigen
Horizont auf.
»Himmelsschiffe!«, stellte Orawéen fest. »Es sind
mindestens hundert!«
»Es werden noch mehr werden«, erklärte der
Statthalter von Pela. »Ihr habt die schlechte Nachricht noch nicht
erhalten?«
Orawéen wurde bleich. »Wir haben die Verbindung zum
Reich des Geistes gemieden und uns vollkommen auf den Plan und
seine Vorbereitung konzentriert.« Sie schluckte schwer; der
Statthalter von Pela musste gar nicht aussprechen, was geschehen
war. »Oh, bei den Vergessenen Göttern unserer Vorfahren …«
»Was ist geschehen?«, mischte sich Meister
Thondaril ein, der auf seinen basiliskischen Sprechstein angewiesen
war, um dem Gespräch folgen zu können.
Der Statthalter von Pela wandte sich an den
zweifachen Ordensmeister und erklärte mit ernstem Gesicht: »Die See
nördlich von Calarien ist gefroren, und der Stadtbaum von Calar
wurde von einem Gletscher niedergerissen, dessen eisiger Panzer
bereits die Hälfte der Insel unter sich begräbt. Die Magie der
Meeresströme versagt, stattdessen driften von Magie gelenkte
Eisschollen gen Süden, auf denen Leviathane, Wollnashornreiter und
andere Kreaturen befördert werden, die unsere Inseln erobern
sollen.« Der Statthalter
deutete auf die Himmelsschiffe. »Dies sind die Überlebenden von
Calar. Die meisten von ihnen werden gleich weiter in den Süden,
nach Caladrania, fliegen, denn hier haben wir nicht einmal genug
Anlegeplätze für ihre Schiffe.«
Der Namenlose Renegat mischte sich ein. »Wir können
von Glück sagen, wenn wir Pela lange genug halten können, um König
Abrandirs Plan in die Tat umzusetzen.«
Abrandir öffnete die Tür des Turms. Dahinter war
der Treppenaufgang zu sehen. »Außer mir werden nur die unmittelbar
am Zauber Beteiligten zum Spiegel gehen. Falls es zu gefährlich
wird, sollten sich alle anderen ins Innere des Stadtbaums
zurückziehen. Niemand kann vorhersehen, wie genau die Kräfte
wirken, die wir freisetzen werden, denn anders als sonst ist das
Reich des Geistes kaum miteinbezogen worden, sodass die möglichen
Folgen schlechter kalkulierbar sind als sonst, wenn wir Caladran
unsere Magie einsetzen.« Er machte eine kurze Pause. Dann zählte er
auf, wer ihm folgen sollte: »Gorian, Torbas und Ihr,
Renegat!«
»Ohne meinen maskierten Begleiter wird es nicht
gehen«, entgegnete der Namenlose mit unumstößlicher
Entschiedenheit. »Ich habe nichts davon ins Reich des Geistes
dringen lassen, darum könnt Ihr auch nichts davon wissen, mein
König. Morygor hat Euren Plan bisher unterschätzt, weil er wusste,
dass dieser Spiegel und dieser Turm in ihrem bisherigen Zustand
kaum in der Lage sein werden, die Kraft aus den beiden
Sternenschwertern so zu seinem Schattenbringer emporzusenden, wie
es nötig wäre. Erst seit kurzem scheint er zu ahnen, dass er doch
mehr zu befürchten hat, als er ursprünglich dachte.«
Abrandir zog die Augenbrauen hoch. »Ein Betrug an
Eurem König, mit dem Ihr ein Bündnis schließen wollt!«
»Eine List in einem Krieg«, widersprach der
Namenlose. »Gebt es zu, Ihr ahnt längst, wer mein maskierter
Begleiter ist. Und Ihr solltet froh sein, dass er auf Eurer Seite
steht und sich nicht auf Morygors geschlagen hat. Gründe, Euch und
allen anderen Caladran zu schaden, hätte er wahrlich genug.«
»So sei es«, stimmte Abrandir zu, ohne auf die
Andeutungen des Namenlosen weiter einzugehen. Zu dunkel war das
Geheimnis des Maskierten, als dass irgendeiner der Caladran darüber
länger als unbedingt nötig reden wollte. Wer sich hinter der Maske
verbarg, schien König Abrandir gar nicht wissen zu wollen, und
seine Gemahlin machte diese Haltung noch sehr viel deutlicher,
indem sie demonstrativ den Blick abwandte.
»Und ich bestehe darauf, dass Sheera mit
hinaufgeht«, stellte auch Torbas eine überraschende Forderung. »Wie
Ihr schon bemerktet, werter Abrandir, sind die Kräfte, die der
Spiegel bündelt, nicht bis ins Letzte kalkulierbar, und so besteht
für jeden, der sich an diesem Zauber beteiligt, ein hohes Risiko.
Daher möchte ich, dass eine Heilerin zugegen ist.«
»Sie ist nicht in der Verfassung, irgendeinen von
euch zu heilen, sollte dies erforderlich werden«, widersprach
Meister Thondaril heftig.
»Sie ist dazu eher in der Lage als irgendjemand
anderes hier!«, entgegnete Torbas ungewöhnlich schroff. »Sie hat
bewiesen, was sie kann!«
Ein Ruck ging durch Sheeras Körper, sie schloss für
einen Moment die schwarzen Augen und sagte dann: »Es ist in
Ordnung, Meister Thondaril. Ich werde mit hinaufgehen und tun, was
nötig ist.«
Abrandir führte sie die enge Treppe hinauf zur
Turmspitze, die einen Durchmesser von fast hundert Schritt hatte.
In der Mitte befand sich der Hohlspiegel, ausgerichtet auf den
Schattenbringer, der inzwischen nicht einmal mehr einen halben
Lichtkranz von der Sonne sehen ließ.
Alles an dieser Apparatur bestand aus
Sternenmetall, wie Gorian schnell feststellte, selbst die
Halterungen und Verankerungsschienen, mit denen der Hohlspiegel im
Gestein des Turms befestigt war. Vermutlich war dies die größte
Ansammlung von Sternenmetall, die es auf ganz Erdenrund je gegeben
hatte, und allein schon das Zusammentragen und Bearbeiten dieses
Materials war eine enorme Leistung. Und ebenso, dass man dies alles
zum Großteil vor dem Reich des Geistes hatte abschirmen
können.
Das Metall an der Außenseite des Spiegels war von
deutlich anderer Beschaffenheit als jenes, mit dem das Innere
verkleidet war. Es war genau wie die Halterungen messingfarben, das
Innere hingegen wirkte wie reines Silber, und jeder Lichtstrahl,
der den Spiegel in dieser Welt der dauerhaften Dämmerung noch
erreichte, schien darin vervielfältigt zu werden und löste somit
ein helles Flimmern aus.
»Beginnen wir«, sagte der Namenlose Renegat und
wandte sich an den Maskierten. »Der erste Akt gehört dir, mein
Freund.«
Der Maskierte zog seine Handschuhe aus. Schon bei
ihrer ersten Begegnung war Gorian aufgefallen, dass jeweils der
kleine Finger eigenartig verdickt schien, als wäre er missgebildet.
Nun wurde offenbar, dass der Maskierte sechsfingrige Hände hatte.
Anscheinend hatte er die Handschuhe auch getragen, um dies zu
verbergen.
Er kniete nieder, presste beide Hände auf den Stein
und
murmelte Worte in einer Sprache, von der Gorian noch nie ein Wort
gehört hatte. Selbst im Reich des Geistes der Caladran war nichts
davon zu finden gewesen, und auch dem basiliskischen Sprechstein
war dieses Idiom fremd.
Ein Beben durchlief im nächsten Moment den Turm.
Gorian versuchte es auszubalancieren, Abrandir hielt sich an den
Zinnen fest. Der Turm begann zu wachsen. Das Gestein, aus dem er
geschaffen war, veränderte sich, die einzelnen Blöcke verschmolzen
miteinander, die ohnehin nur sehr schmalen Fugen verschwanden, und
der Turm reckte sich immer weiter empor, hinein in den dämmrigen,
fast lichtlosen Himmel.
Der Maskierte stieß einen lauten, dröhnenden Ruf
aus, murmelte Worte, die wie sinnlos aneinandergereihte Silben
klangen, und dabei leuchteten seine Augen rot durch die Sehschlitze
seiner messingfarbenen Maske.
Der Turm wuchs immer höher, und für einen Moment
blendete ein bläulicher Blitz alle, die sich auf seiner Spitze
befanden. Danach sahen sie über sich den freien Himmel. Sie hatten
jenen magischen Wetterschirm durchdrungen, der den Platz auf der
Astgabelung überspannte. Der wachsende Turm hatte ihn einfach
durchstoßen, die Magie des Maskierten hatte die nötige Kraft dazu
gehabt.
Immer höher wuchs der Turm und schien dabei alle
Gesetze der Statik und der Schwere zu verhöhnen. Ar-Don flatterte
überrascht neben der Turmspitze her, und die bisher in der Ferne
lauernden dreizahnigen Fledertiere näherten sich nun neugierig,
wahrten aber einen gewissen Abstand.
Eisige Winde umwehten den Hohlspiegel und alle, die
sich auf der Turmspitze befanden. Die Luft wurde dünner und das
Atmen schwerer. Gorian murmelte eine Stärkungsformel,
die er im Haus der Heiler gelernt hatte, und fragte sich, wie hoch
der Maskierte den Turm wohl noch wachsen lassen wollte.
»Nie zuvor hat ein Mensch aus dieser Höhe hinab auf
Erdenrund geblickt«, sagte Torbas, während er über die Zinnen in
die Tiefe sah. »So hoch fliegt kein Greifenreiter, da bin ich mir
sicher!« Er lachte laut auf, während sein Atem zu Raureif
gefror.
In der Ferne sah Gorian Eisschollen gen Süden
treiben. Sie glichen kleinen Inseln und waren gerade groß genug, um
ein oder zwei der Leviathane zu befördern, in deren Bäuchen die
Horden Morygors auf ihren Einsatz in der Schlacht warteten.
Einzelne Himmelsschiffe versuchten noch nach Süden
zu entkommen. Manche von ihnen waren so überladen, dass selbst die
Magie der Gewichtslosigkeit sie nicht über eine gewisse Flughöhe
hinaus anzuheben vermochte, und das machte sie zu leichten
Angriffszielen. Orxanische Frostkrieger beschossen sie mit
Katapulten und Armbrüsten, doch die Geschosse prallten an magischen
Schirmen ab.
Schlimmer war es, wenn sich ein Schwarm Eiskrähen
um ein Himmelsschiff gruppierte und die Vögel es mit ihren Körpern
einhüllten, so wie sie es auch bei der Hoffnung des Himmels
getan hatten. Es dauerte nicht lange, und das betroffene
Himmelsschiff wurde zu einem eiförmigen Eisklumpen, den die
Frostkrieger mittels mit Katapulten abgeschossenen Seilhaken zu
sich heranzogen. Manchmal erlosch der Zauber der Gewichtslosigkeit
auch, und das Schiff fiel in die eisige See.
»Grauenhaft«, murmelte Gorian.
»Es ist immer eine Frage, auf welcher Seite man
steht«, gab Torbas zurück.
»Eine seltsame Aussage aus deinem Mund und in
diesem Moment.«
Torbas lächelte. »Nur ein leicht abgewandeltes
Axiom unseres Ordens, das du auch kennen solltest.«
Der Maskierte erhob sich. »Ich nehme an, die
letzten Zweifel, wen Ihr vor Euch habt, sind nun beseitigt, König
Abrandir.«
»Schweigt«, sage Abrandir.
»Nein!«, widersprach der Maskierte. Und nahm mit
ein paar schnellen Handgriffen die Maske ab.
König Abrandir schrie auf und blickte schnell zur
Seite, um sich diesem Anblick nicht auszusetzen.
Auch Gorian erschrak, als er das furchtbar
entstellte Gesicht sah, das bisher unter der Maske verborgen
gewesen war.
»Setzt Eure Maske wieder auf!«, bat Abrandir.
»Die Maske zeigt mein Gesicht, so wie es war, bevor
mich einer Eurer Ahnen foltern und so schrecklich entstellen ließ.
Lange ist es her, und Eure Vorfahren haben all das aus ihren
Gedanken und ihrem Reich des Geistes zu verbannen versucht: mein
Gesicht, so wie es war und wie es entstellt wurde, ebenso wie
meinen Namen und dass nicht die Caladran die Stadtbäume haben
wachsen lassen. An all das sollte nie wieder jemand denken. Aber
nachdem ich Euch mein Gesicht gezeigt habe, wird es erneut in Eurem
Reich des Geistes erscheinen, König Abrandir, und all die
Erinnerungen an die Wahrheit werden an die Oberfläche
kommen.«
Ein Strom intensiver Gedanken ging von dem
Maskierten aus, Bilder, Eindrücke, Erinnerungen. Vieles davon
kannte Gorian aus dem Reich des Geistes der Caladran, allerdings
ließen die Gedanken des Maskierten manches in einem anderen
Zusammenhang erscheinen oder fügten dem Mosaik der Vergangenheit
einige entscheidende Steinchen hinzu.
Demnach waren die Caladran, als ihre Himmelsschiffe
Ost-Erdenrund erreichten und sie die Sonnenflüchter in einem
blutigen Krieg vertrieben, auch auf eine abgeschieden lebende
Gemeinschaft eines magiebegabten unsterblichen Volkes gestoßen,
dessen Angehörige sechs Finger an jeder Hand hatten. Seinen eigenen
Legenden nach hatte dieses Volk einst ganz Erdenrund beherrscht.
Aber das war so lange her, dass selbst die ältesten Legenden der
Caladran-Vorfahren darüber nichts überliefert hatten.
Die Sechsfingrigen hatten sich auf die Kunst
verstanden, Stein wachsen zu lassen. Sie waren es gewesen, die die
Stadtbäume erschaffen hatten, wenn auch im Dienste und nach den
Wünschen der Caladran.
»Verschone mich damit!«, flehte Abrandir. »Ich war
noch nicht geboren, als das Schreckliche geschah!«
»Weder Rettung noch Zukunft ohne Wahrheit!«,
entgegneten ihm die Gedanken des Maskierten mit aller
Entschiedenheit. »Die Wahrheit lässt sich im Reich des Geistes
auf Dauer nicht verbergen, das wisst Ihr am besten!«
»Die Wahrheit ist, dass in allen Stadtbäumen eine
unbegründete Furcht um sich griff«, sprach nun der Namenlose. »Die
Furcht vor der überlegenen Magie der Sechsfingrigen – und davor,
dass man aufgrund ihrer Dienste in Abhängigkeit geraten könnte. Die
Magiergilde fürchtete um ihren Einfluss, die Schamanen ebenso. Und
was wäre, würden sich die Sechsfingrigen auf die Seite einer
feindlichen Macht schlagen? Als dann eines der Himmelsschiffe in
einem weit entfernten Gebirge eine verborgene, aus Stein gewachsene
und mit Magie abgeschirmte Stadt entdeckte, kam das Gerücht eines
geheimen Reiches der Sechsfingrigen auf. Furcht
wurde zu Hass, der sich entlud, und die Sechsfingrigen wurden
getötet. Nur einer von ihnen konnte mit knapper Not entkommen,
nachdem man ihm schrecklich mitgespielt hatte.«
Sogar im Heiligen Reich erzählte man sich Legenden
über die Sechsfingrigen, und Gorian wusste, dass es in der
Ordensbibliothek auf Gontland einige Bände darüber gegeben hatte.
Sie galten als magisch begabte Schreckensgestalten aus der Zeit,
bevor sich der Glaube an den Verborgenen Gott durchgesetzt hatte.
Nach der Lehre der Priesterschaft gab es eine Reihe von üblen
Dämonen, die sechs Finger an jeder Hand hatten und die Menschen vom
Glauben abbringen wollten. Kinder, die mit einem zusätzlichen
Finger oder Zeh zur Welt kamen, waren in Thisilien und Estrigge
immer schon gleich nach der Geburt getötet worden, und in vielen
anderen Menschenländern herrschten ähnliche Sitten. Es war also
kein Wunder, dass der Maskierte seine Hände stets verborgen
gehalten hatte, denn zweifellos hätte ihm andernfalls nicht nur
unter den Caladran ein schlimmes Schicksal bevorgestanden.
»Was habt Ihr damit zu tun, Renegat?«, fragte König
Abrandir. »Habt Ihr Euch nicht von Eurem Volk und damit von aller
Schuld losgesagt?«
Statt dass der Namenlose antwortete, ergriff der
Maskierte wieder das Wort. »Er fand Hinweise auf mich in Eurem
Reich des Geistes«, erklärte er. »Dort habe ich meine Spuren ebenso
hinterlassen wie all die anderen meines Volkes, die ein noch
schlimmeres Schicksal traf. Unauslöschlich, wie der Magier Andir es
wollte. Über das Reich des Geistes nahm er Verbindung zu mir auf,
und so kam ich nach Felsenburg.«
»Du musst uns noch mehr hassen als der Renegat«,
war Abrandir überzeugt.
»Nein, die Zeit des Hasses ist längst vorbei«,
widersprach der Maskierte. »Es ging nur darum, die Erinnerung an
das Geschehene im Reich des Geistes wieder wachzurufen. Das ist nun
geschehen.«
»Ja«, murmelte Abrandir düster.
Eines der dreizahnigen Fledertiere flog heran, und
erst als Ar-Don ein ganzes Stück in seine Richtung vorstieß, begab
sich das Monstrum wieder in sichere Entfernung.
Der Namenlose wandte sich an Gorian und Torbas. »Es
wird Zeit. Tretet vor und richtet eure Schwerter auf das
Sternenmetall im Hohlspiegel. Und dann sammelt alles an Alter
Kraft, was ihr aufbieten könnt!«
Gorian und Torbas nahmen vor dem Hohlspiegel
Aufstellung, zogen ihre Schwerter aus Sternenmetall und richteten
die Spitzen von Sternenklinge und Schattenstich geradewegs auf das
Zentrum der Apparatur.
Torbas’ Augen waren bereits schwarz, nun füllten
sich auch die Gorians mit purer Finsternis. Torbas’ Züge zeigten
ein triumphierendes Lächeln, Gorians Miene drückte entschlossenen
Ernst aus.
Blitze zuckten um die Klingen der Sternenschwerter
und schließlich aus ihren Spitzen geradewegs ins Zentrum des
Spiegels. Beide murmelten dazu eine Formel, die ihnen wie
selbstverständlich über die Lippen kam. Es war Caladran-Magie, die
sie aus dem Reich des Geistes mitgebracht hatten.
Ein dicker Lichtstrahl schoss aus dem Spiegel
hinauf zum Schattenbringer, und Gorian hatte das Gefühl, selbst als
Teil dieser Kraft zu jenem Himmelskörper emporzurasen, der die
Sonne verdeckte. Er meinte den Moment sogar körperlich zu spüren,
da das Licht auf die öde, steinige Oberfläche
des Schattenbringers traf. Für einen Moment glaubte er sogar,
Morygors verzweifelten Gedankenschrei zu hören, übertragen durch
seine Aura und durch das Geistreich der Caladran.
Es war vollbracht!
So dachte Gorian.
Aber das war ein Irrtum.
Denn im nächsten Moment riss Torbas sein Schwert
herum und löste es aus der Verbindung mit dem Spiegel. Der
Lichtstrahl, der zum Schattenbringer emporschoss, wurde daraufhin
merklich schwächer.
Torbas’ Gesicht hatte sich zu einer grimassenhaften
Fratze verzerrt, während er mit dem noch blitzumflorten
Schattenstich zustieß und dabei geradewegs auf Gorians Herz
zielte.
Da aber griff der Maskierte ein, riss sein
Breitschwert hervor und lenkte Torbas’ Stoß ab. Es zischte, als
sich beide Klingen berührten.
Torbas wirbelte blitzschnell herum, und noch
während sich die Klinge des Maskierten in eine Flamme verwandelte,
schlug er dem geheimnisvollen Mann aus dem Volk der Sechsfingrigen
den Kopf ab.
Der maskierte Schädel rollte über den Boden, sein
noch schwankender Körper ließ das Flammenschwert sinken, und das
Blut schoss in Schüben aus dem Halsstumpf.
Der Namenlose Renegat hob die Hände, murmelte den
Anfang einer Formel. Weiter kam er nicht, denn Torbas riss das
Flammenschwert des Maskierten mit nur einer Handbewegung empor und
ließ die Flamme hervorschießen, die den Namenlosen erfasste und ihn
innerhalb eines Augenblicks zu Asche verbrannte.
Der Strahl zum Schattenbringer drohte abzureißen.
Gorian spürte, dass seine Kräfte nicht ausreichten, ihn allein
aufrechtzuerhalten.
In diesem Moment stürzte Ar-Don herbei. Mit
ausholenden Bewegungen seiner gewaltigen Flügel schwebte er in den
Strahl, ließ sich von ihm erfassen und davontragen, wobei sein
Körper aufglühte wie ein Stück Sternengestein, das vom Himmel fiel,
nur dass die Reise in diesem Fall in die umgekehrte Richtung
ging.
Der glühende Gesteinsbrocken, zu dem Ar-Don
verschmolz, schoss mit dem schwächer werdenden Strahl empor in
Richtung des Schattenbringers. Als der Lichtstrahl im nächsten
Moment abriss, sah man Ar-Don wie einen Stern über den Himmel
schießen.
»Viel Kraft für weite Reise …« Dieser
Gedanke erreichte Gorian noch. »Viel Stoff gesammelt … Wird
verglühen und im Feuer aufgehen …«
Wieder griff Torbas an, und Gorian musste seinem
Schwertstreich ausweichen. Ganz knapp nur verfehlte Schattenstich
seinen Kopf, und die Klinge prallte gegen das Sternenmetall des
Hohlspiegels. Den nächsten Hieb parierte Gorian mit seinem Schwert,
aber Torbas riss seine Klinge immer wieder blitzschnell herum und
trieb Gorian mit einer Anzahl sehr rasch aufeinanderfolgender
Schläge zurück.
»Ich bin das Element des Chaos, und das erweist
sich nun mehr als je zuvor!«, schrie er, während er den Griff
seines Schwertes mit beiden Händen umfasste, um einen neuen Angriff
zu starten.
»Torbas!«, rief Gorian. »Du bist nicht du
selbst!«
»Vielleicht bin ich das jetzt mehr, als ich es
jemals war!«, entgegnete dieser.
»Es ist Morygors Einfluss, der dich so handeln
lässt!«
»Ich habe mich verändert, Gorian. Es begann schon,
als wir zum Speerstein von Orxanor flogen und so tief ins
Frostreich eindrangen.«
Abrandir zog sein Schwert und wollte in den Kampf
eingreifen, doch Torbas richtete eine Hand auf ihn, woraufhin der
Caladran-König zurückgeschleudert wurde und mit einer Wucht gegen
die Zinnen prallte, die kein Mensch überlebt hätte. Eine
caladranische Magieformel murmelnd sank er am Mauerwerk zu
Boden.
»Haltet Euch heraus, Caladran-König!«, rief Torbas.
»Ich würde Euch ungern töten, denn Morygor legt großen Wert darauf,
dass alles, was hier geschieht, Eingang ins Reich des Geistes
findet, und das wird über Eure Augen zweifellos der Fall
sein!«
Er schien geradezu vor Kraft zu bersten. Ein Teil
der Magie, die durch den Hohlspiegel hätte gebündelt und auf den
Schattenbringer hätte einwirken sollen, war offensichtlich in ihn
zurückgeflossen.
Und Morygors Aura war mit ihm. Er war nun sein
Geschöpf, und so wirkte diese Aura kraftspendend und nicht lähmend
auf ihn.
Sheera stand reglos da. Starr war ihr Blick hinauf
zum Schattenbringer gerichtet, so als hätte nichts von dem, was
sich in den letzten Augenblicken auf der Turmspitze ereignet hatte,
ihre Aufmerksamkeit erregen können.
»Das, was ich gerade über mich gesagt habe, gilt
übrigens auch für sie«, erklärte Torbas.
»Nein!«, stieß Gorian entsetzt hervor, obgleich er
die schreckliche Wahrheit in Torbas’ Worten spürte.
»Würde ich ihr befehlen, dich zu töten, würde sie
das ohne Zögern tun, glaub es mir!«
Es folgte eine dichte Abfolge weiterer
Schwerthiebe. Sternenklinge
und Schattenstich prallten Funken sprühend und von Blitzen umflort
aufeinander, und Torbas trieb Gorian dabei vor sich her.
Auf einmal hielt der Thiskarener inne, und wieder
umspielte ein hartes Lächeln seine Mundwinkel. »Im Schwertkampf
habe ich dich schon mal besiegt, aber was die Magie anbelangt,
warst du mir stets überlegen – bis zu dem Moment, da du mich ins
Reich des Geistes geführt hast. Jetzt sind wir ebenbürtig. In jeder
Hinsicht.«
Erneut griff er an. Hieb um Hieb prasselte auf
Gorian ein. Er konnte zwar jeden dieser Schläge gerade noch
parieren, so schnell und hart sie auch ausgeführt wurden, trotzdem
wurde Torbas’ Überlegenheit mehr als deutlich. Nur die Voraussicht
nach Art der Schwertmeister bewahrte Gorian bisher vor dem sicheren
Ende, doch zu einem Gegenangriff kam er nicht. Vielleicht hemmte
ihn auch irgendetwas, mit der notwendigen Kompromisslosigkeit gegen
Torbas vorzugehen.
Schließlich stieß er mit dem Rücken gegen die
Brustwehr, die den Turm begrenzte.
Da hielt Torbas noch einmal inne. »Es scheint, als
hätten wir zu oft gegeneinander gekämpft«, sagte er. »Wir kennen
uns zu gut, wissen, was der andere tun wird, ahnen voraus, was
geschieht.« Er schüttelte den Kopf, ohne Gorian dabei aus den Augen
zu lassen. »Aber kann nicht das Element des Chaos jedes
Gleichgewicht außer Kraft setzen? Ich sollte mich mehr darauf
besinnen.«
Schattenstich noch immer mit beiden Händen haltend,
holte er zu einem fürchterlichen Schlag aus, auf dessen Abwehr sich
Gorian sogleich vorbereitete. Torbas’ Kampfschrei jedoch bestand
aus einer caladranischen Windbeschwörung, der die Kräfte des
ohnehin brausenden Höhenwinds, der
schon die ganze Zeit über aus Norden blies, konzentrierte. Torbas
führte seinen Schlag nicht aus, stattdessen wurde Gorian von dem
magisch fokussierten Wind erfasst und über die Brüstung
gerissen.
Torbas trat an die Zinnen und blickte seinem
fallenden ehemaligen Mitschüler nach.
»Nie zuvor ist ein Mensch so tief gestürzt wie du,
mein Freund«, höhnte er.
Er konnte Gorians Fähigkeiten gut genug abschätzen,
um zu wissen, dass der einen Fall aus dieser Höhe nicht abzufedern
vermochte.