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Der Spiegel aus Sternenmetall
Die Hoffnung des Himmels erreichte schließlich den Stadtbaum von Pela. Er war nicht so groß wie jener von Caladrania, und in den Hafenbecken lagen gerade einmal eine halb so große Anzahl von Himmelsschiffen.
Schon von Weitem war jene Apparatur zu sehen, die Meister Shabran offenbar von den in der Nähe liegenden Bergen aus betrachtet hatte. Der Hohlspiegel aus Sternenmetall befand sich auf einem Turm, der auf der höchsten Astgabelung des steinernen Stadtbaums von Pela aufragte.
»Kein anderer Ort in meinem Reich ist so stark durch Magie gesichert wie dieser«, sagte König Abrandir, der inzwischen wieder an Deck war. »Und jeglichen Magiern und Schamanen war der Aufenthalt hier verboten, nachdem sie die magischen Sicherungen, Bannflüche und dergleichen mehr gewirkt hatten. Sie mussten die Stadt verlassen, damit sie nichts von dem, was dort auf der höchsten Astgabel geschehen ist, ins Reich des Geistes einbringen.«
Die Hoffnung des Himmels legte an, und Gorian und Torbas gingen zusammen mit Abrandir als Erste von Bord, während ihnen der Maskierte folgte.
Ein schriller Schrei ertönte, und Torbas drehte sich um. Jenseits der Bucht von Pela schwebten die Dreizahnigen am Himmel, aneinandergereiht wie eine Perlenkette.
Auch Gorian sah zu ihnen hinüber. Sie wirkten auf ihn wie Geier, die darauf warteten, dass ihre Beute verendete und zu Aas wurde. Sie warteten. Auf den richtigen Moment vielleicht. Oder darauf, dass sie Verstärkung bekamen. Offenbar dachte Morygor nicht daran, einfach zuzulassen, was hier in Pela geschehen sollte.
Und dann fiel Gorian auf, mit welchem Gesichtsausdruck Sheera die Bestien betrachtete. Scheinbar grundlos liefen ihr Tränen über die Wangen. Auch ihre Augen waren noch immer schwarz, aber ihre Züge waren von Furcht geprägt, wie Gorian sie noch nie bei einem Menschen gesehen hatte.
Er legte den Arm um sie, aber sie schien es gar nicht zu bemerken.
»Wir müssen uns beeilen«, drängte König Abrandir.
Ar-Don schwebte empor. Hoch über dem Stadtbaum von Pela zog das gewaltige steinerne Wesen, zu dem er geworden war, wie ein geflügelter Wächter seine Kreise. Die ungewöhnlich tiefen Rufe, die es dabei ausstieß, waren eindeutig eine Drohung.
 
König Abrandir und seine Begleiter erreichten schließlich einen Empfangsraum. Außer dem König und seiner Gemahlin, dem Namenlosen Renegaten, Meister Thondaril und Zog Yaal gehörte auch Lendaris, der Steuermann, dazu, der in die Pläne des Caladran-Herrschers offenbar sehr viel weitergehender eingeweiht war, als Gorian zunächst vermutet hatte.
Gorian führte Sheera am Arm. Sie schien im Augenblick nicht in der Lage, etwas zu sagen oder auch nur einen vernünftigen Gedanken zu formulieren. Sie blieb in jeder Hinsicht stumm, geistig und sprachlich.
Torbas registrierte dies alles mit unbewegtem Gesicht.
»Es wird alles gelingen«, sagte er auf einmal, und genau in diesem Moment ging ein Ruck durch Sheeras Körper, und sie sah auf. Zwischen den blicklosen, von Schwärze erfüllten Augenpaaren der beiden schien für einen kurzen Moment eine Kraft wirksam zu werden, die sie aneinander band.
»Seid gegrüßt, mein König!« Ein Caladran, der das Amulett des Statthalters von Pela trug, ging auf Abrandir zu und verneigte sich tief.
»Bringt uns zum Spiegel«, forderte Abrandir »Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
»Sehr wohl, mein König«, antwortete der Statthalter von Pela.
Er führte sie zum nächsten Schacht. An den Zauber der Gewichtslosigkeit hatte sich inzwischen selbst Zog Yaal gewöhnt. Allerdings trug er, seit er diese Caladran-Magie kennengelernt hatte, stets eine aufgewickelte Seilschlange wie eine Schärpe um den Oberkörper, damit er ihr im Notfall den Befehl geben konnte, sich auszurollen und an der nächsten Wand zu befestigen. »Sicher ist sicher«, hatte er dazu gesagt, als Meister Thondaril ihn darauf angesprochen hatte. »Ich mag es eben nicht, der Spielball fremder Magie zu sein.«
Über die Schächte, die den Stadtbaum von Pela durchzogen wie Venen einen Körper, gelangten sie auf jene höchste Astgabelung, wo der Hohlspiegel stand.
Ein magischer Schirm wölbte sich über den Platz, hielt die Auswirkungen von Wind und Wetter fern und erschwerte es zudem, den Hohlspiegel aus der Ferne zu erspähen. Nur jemandem mit der magischen Begabung eines Meister Shabran war es möglich, ihn aus der Entfernung heraus überhaupt auszumachen.
Der Spiegel befand sich auf einem Turm, der in der Mitte des Gabelungsplatzes aufragte und einen vollkommenen Bruch mit der fließenden, organisch wirkenden Architektur der Caladran darstellte. Denn anders als die astähnlichen Fortsätze des Stadtbaums wirkte er nicht wie aus dem Stein herausgewachsen; es war auf den ersten Blick zu erkennen, dass er auf andere Weise entstanden war, errichtet von anderen Baumeistern, die vergleichsweise grob vorgegangen waren und deren Fähigkeiten mit Sicherheit weit hinter denen zurückstanden, die die Stadtbäume geschaffen hatten.
Sogleich forschte Gorian in den Erinnerungen aus dem Reich des Geistes nach dem Grund dafür, aber er fand nichts.
König Abrandir schien seine Gedanken zu erahnen. Er lächelte wissend und erklärte: »Es waren Menschen und Oger, die diesen Turm erbauten.«
Gorian trat an das Gemäuer heran und berührte es. »Damit möglichst wenig davon ins Reich des Geistes dringt.«
»So ist es. Die Bauten der Baumeister Mituliens gelten bei Eurem Volk als filigran. Vergleicht man sie mit den primitiven Hütten, in denen der Großteil der Menschen haust, mag das sogar stimmen. Und immerhin sind ihre Bauwerke einigermaßen stabil, und im Gegensatz zu unseren Stadtbäumen wurde dieser Turm nicht für die Ewigkeit, sondern nur für diesen Augenblick errichtet.«
Gorian sah den Caladran-König an. »Ihr verfolgt Euren Plan offenbar schon länger, als ich bisher ahnte, und das mit vorausschauender Konsequenz.«
Abrandir nickte, dann sagte er: »Nun folgt mir. Als Mensch dürfte es Euch keine Schwierigkeiten bereiten, die Stufen einer Treppe zu erklimmen, während wir Caladran Treppen nur aus den Überlieferungen unserer Vorfahren kennen.«
»So gibt es hier keinen Zauber der Gewichtslosigkeit?«
»Nein. Und den magischen Schirm, der uns vor dem Wind schützt, werden wir gleich auflösen. Nichts soll jene Magie stören, die nun eingesetzt werden soll.«
»Was werden wir tun müssen?«
»Ihr werdet es gleich erfahren. Doch ich bin überzeugt, dass Euch vieles davon nicht überraschen wird.«
In der Ferne tauchten dunkle Schatten am dämmrigen Horizont auf.
»Himmelsschiffe!«, stellte Orawéen fest. »Es sind mindestens hundert!«
»Es werden noch mehr werden«, erklärte der Statthalter von Pela. »Ihr habt die schlechte Nachricht noch nicht erhalten?«
Orawéen wurde bleich. »Wir haben die Verbindung zum Reich des Geistes gemieden und uns vollkommen auf den Plan und seine Vorbereitung konzentriert.« Sie schluckte schwer; der Statthalter von Pela musste gar nicht aussprechen, was geschehen war. »Oh, bei den Vergessenen Göttern unserer Vorfahren …«
»Was ist geschehen?«, mischte sich Meister Thondaril ein, der auf seinen basiliskischen Sprechstein angewiesen war, um dem Gespräch folgen zu können.
Der Statthalter von Pela wandte sich an den zweifachen Ordensmeister und erklärte mit ernstem Gesicht: »Die See nördlich von Calarien ist gefroren, und der Stadtbaum von Calar wurde von einem Gletscher niedergerissen, dessen eisiger Panzer bereits die Hälfte der Insel unter sich begräbt. Die Magie der Meeresströme versagt, stattdessen driften von Magie gelenkte Eisschollen gen Süden, auf denen Leviathane, Wollnashornreiter und andere Kreaturen befördert werden, die unsere Inseln erobern sollen.« Der Statthalter deutete auf die Himmelsschiffe. »Dies sind die Überlebenden von Calar. Die meisten von ihnen werden gleich weiter in den Süden, nach Caladrania, fliegen, denn hier haben wir nicht einmal genug Anlegeplätze für ihre Schiffe.«
Der Namenlose Renegat mischte sich ein. »Wir können von Glück sagen, wenn wir Pela lange genug halten können, um König Abrandirs Plan in die Tat umzusetzen.«
Abrandir öffnete die Tür des Turms. Dahinter war der Treppenaufgang zu sehen. »Außer mir werden nur die unmittelbar am Zauber Beteiligten zum Spiegel gehen. Falls es zu gefährlich wird, sollten sich alle anderen ins Innere des Stadtbaums zurückziehen. Niemand kann vorhersehen, wie genau die Kräfte wirken, die wir freisetzen werden, denn anders als sonst ist das Reich des Geistes kaum miteinbezogen worden, sodass die möglichen Folgen schlechter kalkulierbar sind als sonst, wenn wir Caladran unsere Magie einsetzen.« Er machte eine kurze Pause. Dann zählte er auf, wer ihm folgen sollte: »Gorian, Torbas und Ihr, Renegat!«
»Ohne meinen maskierten Begleiter wird es nicht gehen«, entgegnete der Namenlose mit unumstößlicher Entschiedenheit. »Ich habe nichts davon ins Reich des Geistes dringen lassen, darum könnt Ihr auch nichts davon wissen, mein König. Morygor hat Euren Plan bisher unterschätzt, weil er wusste, dass dieser Spiegel und dieser Turm in ihrem bisherigen Zustand kaum in der Lage sein werden, die Kraft aus den beiden Sternenschwertern so zu seinem Schattenbringer emporzusenden, wie es nötig wäre. Erst seit kurzem scheint er zu ahnen, dass er doch mehr zu befürchten hat, als er ursprünglich dachte.«
Abrandir zog die Augenbrauen hoch. »Ein Betrug an Eurem König, mit dem Ihr ein Bündnis schließen wollt!«
»Eine List in einem Krieg«, widersprach der Namenlose. »Gebt es zu, Ihr ahnt längst, wer mein maskierter Begleiter ist. Und Ihr solltet froh sein, dass er auf Eurer Seite steht und sich nicht auf Morygors geschlagen hat. Gründe, Euch und allen anderen Caladran zu schaden, hätte er wahrlich genug.«
»So sei es«, stimmte Abrandir zu, ohne auf die Andeutungen des Namenlosen weiter einzugehen. Zu dunkel war das Geheimnis des Maskierten, als dass irgendeiner der Caladran darüber länger als unbedingt nötig reden wollte. Wer sich hinter der Maske verbarg, schien König Abrandir gar nicht wissen zu wollen, und seine Gemahlin machte diese Haltung noch sehr viel deutlicher, indem sie demonstrativ den Blick abwandte.
»Und ich bestehe darauf, dass Sheera mit hinaufgeht«, stellte auch Torbas eine überraschende Forderung. »Wie Ihr schon bemerktet, werter Abrandir, sind die Kräfte, die der Spiegel bündelt, nicht bis ins Letzte kalkulierbar, und so besteht für jeden, der sich an diesem Zauber beteiligt, ein hohes Risiko. Daher möchte ich, dass eine Heilerin zugegen ist.«
»Sie ist nicht in der Verfassung, irgendeinen von euch zu heilen, sollte dies erforderlich werden«, widersprach Meister Thondaril heftig.
»Sie ist dazu eher in der Lage als irgendjemand anderes hier!«, entgegnete Torbas ungewöhnlich schroff. »Sie hat bewiesen, was sie kann!«
Ein Ruck ging durch Sheeras Körper, sie schloss für einen Moment die schwarzen Augen und sagte dann: »Es ist in Ordnung, Meister Thondaril. Ich werde mit hinaufgehen und tun, was nötig ist.«
Abrandir führte sie die enge Treppe hinauf zur Turmspitze, die einen Durchmesser von fast hundert Schritt hatte. In der Mitte befand sich der Hohlspiegel, ausgerichtet auf den Schattenbringer, der inzwischen nicht einmal mehr einen halben Lichtkranz von der Sonne sehen ließ.
Alles an dieser Apparatur bestand aus Sternenmetall, wie Gorian schnell feststellte, selbst die Halterungen und Verankerungsschienen, mit denen der Hohlspiegel im Gestein des Turms befestigt war. Vermutlich war dies die größte Ansammlung von Sternenmetall, die es auf ganz Erdenrund je gegeben hatte, und allein schon das Zusammentragen und Bearbeiten dieses Materials war eine enorme Leistung. Und ebenso, dass man dies alles zum Großteil vor dem Reich des Geistes hatte abschirmen können.
Das Metall an der Außenseite des Spiegels war von deutlich anderer Beschaffenheit als jenes, mit dem das Innere verkleidet war. Es war genau wie die Halterungen messingfarben, das Innere hingegen wirkte wie reines Silber, und jeder Lichtstrahl, der den Spiegel in dieser Welt der dauerhaften Dämmerung noch erreichte, schien darin vervielfältigt zu werden und löste somit ein helles Flimmern aus.
»Beginnen wir«, sagte der Namenlose Renegat und wandte sich an den Maskierten. »Der erste Akt gehört dir, mein Freund.«
Der Maskierte zog seine Handschuhe aus. Schon bei ihrer ersten Begegnung war Gorian aufgefallen, dass jeweils der kleine Finger eigenartig verdickt schien, als wäre er missgebildet. Nun wurde offenbar, dass der Maskierte sechsfingrige Hände hatte. Anscheinend hatte er die Handschuhe auch getragen, um dies zu verbergen.
Er kniete nieder, presste beide Hände auf den Stein und murmelte Worte in einer Sprache, von der Gorian noch nie ein Wort gehört hatte. Selbst im Reich des Geistes der Caladran war nichts davon zu finden gewesen, und auch dem basiliskischen Sprechstein war dieses Idiom fremd.
Ein Beben durchlief im nächsten Moment den Turm. Gorian versuchte es auszubalancieren, Abrandir hielt sich an den Zinnen fest. Der Turm begann zu wachsen. Das Gestein, aus dem er geschaffen war, veränderte sich, die einzelnen Blöcke verschmolzen miteinander, die ohnehin nur sehr schmalen Fugen verschwanden, und der Turm reckte sich immer weiter empor, hinein in den dämmrigen, fast lichtlosen Himmel.
Der Maskierte stieß einen lauten, dröhnenden Ruf aus, murmelte Worte, die wie sinnlos aneinandergereihte Silben klangen, und dabei leuchteten seine Augen rot durch die Sehschlitze seiner messingfarbenen Maske.
Der Turm wuchs immer höher, und für einen Moment blendete ein bläulicher Blitz alle, die sich auf seiner Spitze befanden. Danach sahen sie über sich den freien Himmel. Sie hatten jenen magischen Wetterschirm durchdrungen, der den Platz auf der Astgabelung überspannte. Der wachsende Turm hatte ihn einfach durchstoßen, die Magie des Maskierten hatte die nötige Kraft dazu gehabt.
Immer höher wuchs der Turm und schien dabei alle Gesetze der Statik und der Schwere zu verhöhnen. Ar-Don flatterte überrascht neben der Turmspitze her, und die bisher in der Ferne lauernden dreizahnigen Fledertiere näherten sich nun neugierig, wahrten aber einen gewissen Abstand.
Eisige Winde umwehten den Hohlspiegel und alle, die sich auf der Turmspitze befanden. Die Luft wurde dünner und das Atmen schwerer. Gorian murmelte eine Stärkungsformel, die er im Haus der Heiler gelernt hatte, und fragte sich, wie hoch der Maskierte den Turm wohl noch wachsen lassen wollte.
»Nie zuvor hat ein Mensch aus dieser Höhe hinab auf Erdenrund geblickt«, sagte Torbas, während er über die Zinnen in die Tiefe sah. »So hoch fliegt kein Greifenreiter, da bin ich mir sicher!« Er lachte laut auf, während sein Atem zu Raureif gefror.
In der Ferne sah Gorian Eisschollen gen Süden treiben. Sie glichen kleinen Inseln und waren gerade groß genug, um ein oder zwei der Leviathane zu befördern, in deren Bäuchen die Horden Morygors auf ihren Einsatz in der Schlacht warteten.
Einzelne Himmelsschiffe versuchten noch nach Süden zu entkommen. Manche von ihnen waren so überladen, dass selbst die Magie der Gewichtslosigkeit sie nicht über eine gewisse Flughöhe hinaus anzuheben vermochte, und das machte sie zu leichten Angriffszielen. Orxanische Frostkrieger beschossen sie mit Katapulten und Armbrüsten, doch die Geschosse prallten an magischen Schirmen ab.
Schlimmer war es, wenn sich ein Schwarm Eiskrähen um ein Himmelsschiff gruppierte und die Vögel es mit ihren Körpern einhüllten, so wie sie es auch bei der Hoffnung des Himmels getan hatten. Es dauerte nicht lange, und das betroffene Himmelsschiff wurde zu einem eiförmigen Eisklumpen, den die Frostkrieger mittels mit Katapulten abgeschossenen Seilhaken zu sich heranzogen. Manchmal erlosch der Zauber der Gewichtslosigkeit auch, und das Schiff fiel in die eisige See.
»Grauenhaft«, murmelte Gorian.
»Es ist immer eine Frage, auf welcher Seite man steht«, gab Torbas zurück.
»Eine seltsame Aussage aus deinem Mund und in diesem Moment.«
Torbas lächelte. »Nur ein leicht abgewandeltes Axiom unseres Ordens, das du auch kennen solltest.«
Der Maskierte erhob sich. »Ich nehme an, die letzten Zweifel, wen Ihr vor Euch habt, sind nun beseitigt, König Abrandir.«
»Schweigt«, sage Abrandir.
»Nein!«, widersprach der Maskierte. Und nahm mit ein paar schnellen Handgriffen die Maske ab.
König Abrandir schrie auf und blickte schnell zur Seite, um sich diesem Anblick nicht auszusetzen.
Auch Gorian erschrak, als er das furchtbar entstellte Gesicht sah, das bisher unter der Maske verborgen gewesen war.
»Setzt Eure Maske wieder auf!«, bat Abrandir.
»Die Maske zeigt mein Gesicht, so wie es war, bevor mich einer Eurer Ahnen foltern und so schrecklich entstellen ließ. Lange ist es her, und Eure Vorfahren haben all das aus ihren Gedanken und ihrem Reich des Geistes zu verbannen versucht: mein Gesicht, so wie es war und wie es entstellt wurde, ebenso wie meinen Namen und dass nicht die Caladran die Stadtbäume haben wachsen lassen. An all das sollte nie wieder jemand denken. Aber nachdem ich Euch mein Gesicht gezeigt habe, wird es erneut in Eurem Reich des Geistes erscheinen, König Abrandir, und all die Erinnerungen an die Wahrheit werden an die Oberfläche kommen.«
Ein Strom intensiver Gedanken ging von dem Maskierten aus, Bilder, Eindrücke, Erinnerungen. Vieles davon kannte Gorian aus dem Reich des Geistes der Caladran, allerdings ließen die Gedanken des Maskierten manches in einem anderen Zusammenhang erscheinen oder fügten dem Mosaik der Vergangenheit einige entscheidende Steinchen hinzu.
Demnach waren die Caladran, als ihre Himmelsschiffe Ost-Erdenrund erreichten und sie die Sonnenflüchter in einem blutigen Krieg vertrieben, auch auf eine abgeschieden lebende Gemeinschaft eines magiebegabten unsterblichen Volkes gestoßen, dessen Angehörige sechs Finger an jeder Hand hatten. Seinen eigenen Legenden nach hatte dieses Volk einst ganz Erdenrund beherrscht. Aber das war so lange her, dass selbst die ältesten Legenden der Caladran-Vorfahren darüber nichts überliefert hatten.
Die Sechsfingrigen hatten sich auf die Kunst verstanden, Stein wachsen zu lassen. Sie waren es gewesen, die die Stadtbäume erschaffen hatten, wenn auch im Dienste und nach den Wünschen der Caladran.
»Verschone mich damit!«, flehte Abrandir. »Ich war noch nicht geboren, als das Schreckliche geschah!«
»Weder Rettung noch Zukunft ohne Wahrheit!«, entgegneten ihm die Gedanken des Maskierten mit aller Entschiedenheit. »Die Wahrheit lässt sich im Reich des Geistes auf Dauer nicht verbergen, das wisst Ihr am besten!«
»Die Wahrheit ist, dass in allen Stadtbäumen eine unbegründete Furcht um sich griff«, sprach nun der Namenlose. »Die Furcht vor der überlegenen Magie der Sechsfingrigen – und davor, dass man aufgrund ihrer Dienste in Abhängigkeit geraten könnte. Die Magiergilde fürchtete um ihren Einfluss, die Schamanen ebenso. Und was wäre, würden sich die Sechsfingrigen auf die Seite einer feindlichen Macht schlagen? Als dann eines der Himmelsschiffe in einem weit entfernten Gebirge eine verborgene, aus Stein gewachsene und mit Magie abgeschirmte Stadt entdeckte, kam das Gerücht eines geheimen Reiches der Sechsfingrigen auf. Furcht wurde zu Hass, der sich entlud, und die Sechsfingrigen wurden getötet. Nur einer von ihnen konnte mit knapper Not entkommen, nachdem man ihm schrecklich mitgespielt hatte.«
Sogar im Heiligen Reich erzählte man sich Legenden über die Sechsfingrigen, und Gorian wusste, dass es in der Ordensbibliothek auf Gontland einige Bände darüber gegeben hatte. Sie galten als magisch begabte Schreckensgestalten aus der Zeit, bevor sich der Glaube an den Verborgenen Gott durchgesetzt hatte. Nach der Lehre der Priesterschaft gab es eine Reihe von üblen Dämonen, die sechs Finger an jeder Hand hatten und die Menschen vom Glauben abbringen wollten. Kinder, die mit einem zusätzlichen Finger oder Zeh zur Welt kamen, waren in Thisilien und Estrigge immer schon gleich nach der Geburt getötet worden, und in vielen anderen Menschenländern herrschten ähnliche Sitten. Es war also kein Wunder, dass der Maskierte seine Hände stets verborgen gehalten hatte, denn zweifellos hätte ihm andernfalls nicht nur unter den Caladran ein schlimmes Schicksal bevorgestanden.
»Was habt Ihr damit zu tun, Renegat?«, fragte König Abrandir. »Habt Ihr Euch nicht von Eurem Volk und damit von aller Schuld losgesagt?«
Statt dass der Namenlose antwortete, ergriff der Maskierte wieder das Wort. »Er fand Hinweise auf mich in Eurem Reich des Geistes«, erklärte er. »Dort habe ich meine Spuren ebenso hinterlassen wie all die anderen meines Volkes, die ein noch schlimmeres Schicksal traf. Unauslöschlich, wie der Magier Andir es wollte. Über das Reich des Geistes nahm er Verbindung zu mir auf, und so kam ich nach Felsenburg.«
»Du musst uns noch mehr hassen als der Renegat«, war Abrandir überzeugt.
»Nein, die Zeit des Hasses ist längst vorbei«, widersprach der Maskierte. »Es ging nur darum, die Erinnerung an das Geschehene im Reich des Geistes wieder wachzurufen. Das ist nun geschehen.«
»Ja«, murmelte Abrandir düster.
Eines der dreizahnigen Fledertiere flog heran, und erst als Ar-Don ein ganzes Stück in seine Richtung vorstieß, begab sich das Monstrum wieder in sichere Entfernung.
Der Namenlose wandte sich an Gorian und Torbas. »Es wird Zeit. Tretet vor und richtet eure Schwerter auf das Sternenmetall im Hohlspiegel. Und dann sammelt alles an Alter Kraft, was ihr aufbieten könnt!«
 
Gorian und Torbas nahmen vor dem Hohlspiegel Aufstellung, zogen ihre Schwerter aus Sternenmetall und richteten die Spitzen von Sternenklinge und Schattenstich geradewegs auf das Zentrum der Apparatur.
Torbas’ Augen waren bereits schwarz, nun füllten sich auch die Gorians mit purer Finsternis. Torbas’ Züge zeigten ein triumphierendes Lächeln, Gorians Miene drückte entschlossenen Ernst aus.
Blitze zuckten um die Klingen der Sternenschwerter und schließlich aus ihren Spitzen geradewegs ins Zentrum des Spiegels. Beide murmelten dazu eine Formel, die ihnen wie selbstverständlich über die Lippen kam. Es war Caladran-Magie, die sie aus dem Reich des Geistes mitgebracht hatten.
Ein dicker Lichtstrahl schoss aus dem Spiegel hinauf zum Schattenbringer, und Gorian hatte das Gefühl, selbst als Teil dieser Kraft zu jenem Himmelskörper emporzurasen, der die Sonne verdeckte. Er meinte den Moment sogar körperlich zu spüren, da das Licht auf die öde, steinige Oberfläche des Schattenbringers traf. Für einen Moment glaubte er sogar, Morygors verzweifelten Gedankenschrei zu hören, übertragen durch seine Aura und durch das Geistreich der Caladran.
Es war vollbracht!
So dachte Gorian.
Aber das war ein Irrtum.
Denn im nächsten Moment riss Torbas sein Schwert herum und löste es aus der Verbindung mit dem Spiegel. Der Lichtstrahl, der zum Schattenbringer emporschoss, wurde daraufhin merklich schwächer.
Torbas’ Gesicht hatte sich zu einer grimassenhaften Fratze verzerrt, während er mit dem noch blitzumflorten Schattenstich zustieß und dabei geradewegs auf Gorians Herz zielte.
 
Da aber griff der Maskierte ein, riss sein Breitschwert hervor und lenkte Torbas’ Stoß ab. Es zischte, als sich beide Klingen berührten.
Torbas wirbelte blitzschnell herum, und noch während sich die Klinge des Maskierten in eine Flamme verwandelte, schlug er dem geheimnisvollen Mann aus dem Volk der Sechsfingrigen den Kopf ab.
Der maskierte Schädel rollte über den Boden, sein noch schwankender Körper ließ das Flammenschwert sinken, und das Blut schoss in Schüben aus dem Halsstumpf.
Der Namenlose Renegat hob die Hände, murmelte den Anfang einer Formel. Weiter kam er nicht, denn Torbas riss das Flammenschwert des Maskierten mit nur einer Handbewegung empor und ließ die Flamme hervorschießen, die den Namenlosen erfasste und ihn innerhalb eines Augenblicks zu Asche verbrannte.
Der Strahl zum Schattenbringer drohte abzureißen. Gorian spürte, dass seine Kräfte nicht ausreichten, ihn allein aufrechtzuerhalten.
In diesem Moment stürzte Ar-Don herbei. Mit ausholenden Bewegungen seiner gewaltigen Flügel schwebte er in den Strahl, ließ sich von ihm erfassen und davontragen, wobei sein Körper aufglühte wie ein Stück Sternengestein, das vom Himmel fiel, nur dass die Reise in diesem Fall in die umgekehrte Richtung ging.
Der glühende Gesteinsbrocken, zu dem Ar-Don verschmolz, schoss mit dem schwächer werdenden Strahl empor in Richtung des Schattenbringers. Als der Lichtstrahl im nächsten Moment abriss, sah man Ar-Don wie einen Stern über den Himmel schießen.
»Viel Kraft für weite Reise …« Dieser Gedanke erreichte Gorian noch. »Viel Stoff gesammelt … Wird verglühen und im Feuer aufgehen …«
Wieder griff Torbas an, und Gorian musste seinem Schwertstreich ausweichen. Ganz knapp nur verfehlte Schattenstich seinen Kopf, und die Klinge prallte gegen das Sternenmetall des Hohlspiegels. Den nächsten Hieb parierte Gorian mit seinem Schwert, aber Torbas riss seine Klinge immer wieder blitzschnell herum und trieb Gorian mit einer Anzahl sehr rasch aufeinanderfolgender Schläge zurück.
»Ich bin das Element des Chaos, und das erweist sich nun mehr als je zuvor!«, schrie er, während er den Griff seines Schwertes mit beiden Händen umfasste, um einen neuen Angriff zu starten.
»Torbas!«, rief Gorian. »Du bist nicht du selbst!«
»Vielleicht bin ich das jetzt mehr, als ich es jemals war!«, entgegnete dieser.
»Es ist Morygors Einfluss, der dich so handeln lässt!«
»Ich habe mich verändert, Gorian. Es begann schon, als wir zum Speerstein von Orxanor flogen und so tief ins Frostreich eindrangen.«
Abrandir zog sein Schwert und wollte in den Kampf eingreifen, doch Torbas richtete eine Hand auf ihn, woraufhin der Caladran-König zurückgeschleudert wurde und mit einer Wucht gegen die Zinnen prallte, die kein Mensch überlebt hätte. Eine caladranische Magieformel murmelnd sank er am Mauerwerk zu Boden.
»Haltet Euch heraus, Caladran-König!«, rief Torbas. »Ich würde Euch ungern töten, denn Morygor legt großen Wert darauf, dass alles, was hier geschieht, Eingang ins Reich des Geistes findet, und das wird über Eure Augen zweifellos der Fall sein!«
Er schien geradezu vor Kraft zu bersten. Ein Teil der Magie, die durch den Hohlspiegel hätte gebündelt und auf den Schattenbringer hätte einwirken sollen, war offensichtlich in ihn zurückgeflossen.
Und Morygors Aura war mit ihm. Er war nun sein Geschöpf, und so wirkte diese Aura kraftspendend und nicht lähmend auf ihn.
Sheera stand reglos da. Starr war ihr Blick hinauf zum Schattenbringer gerichtet, so als hätte nichts von dem, was sich in den letzten Augenblicken auf der Turmspitze ereignet hatte, ihre Aufmerksamkeit erregen können.
»Das, was ich gerade über mich gesagt habe, gilt übrigens auch für sie«, erklärte Torbas.
»Nein!«, stieß Gorian entsetzt hervor, obgleich er die schreckliche Wahrheit in Torbas’ Worten spürte.
»Würde ich ihr befehlen, dich zu töten, würde sie das ohne Zögern tun, glaub es mir!«
Es folgte eine dichte Abfolge weiterer Schwerthiebe. Sternenklinge und Schattenstich prallten Funken sprühend und von Blitzen umflort aufeinander, und Torbas trieb Gorian dabei vor sich her.
Auf einmal hielt der Thiskarener inne, und wieder umspielte ein hartes Lächeln seine Mundwinkel. »Im Schwertkampf habe ich dich schon mal besiegt, aber was die Magie anbelangt, warst du mir stets überlegen – bis zu dem Moment, da du mich ins Reich des Geistes geführt hast. Jetzt sind wir ebenbürtig. In jeder Hinsicht.«
Erneut griff er an. Hieb um Hieb prasselte auf Gorian ein. Er konnte zwar jeden dieser Schläge gerade noch parieren, so schnell und hart sie auch ausgeführt wurden, trotzdem wurde Torbas’ Überlegenheit mehr als deutlich. Nur die Voraussicht nach Art der Schwertmeister bewahrte Gorian bisher vor dem sicheren Ende, doch zu einem Gegenangriff kam er nicht. Vielleicht hemmte ihn auch irgendetwas, mit der notwendigen Kompromisslosigkeit gegen Torbas vorzugehen.
Schließlich stieß er mit dem Rücken gegen die Brustwehr, die den Turm begrenzte.
Da hielt Torbas noch einmal inne. »Es scheint, als hätten wir zu oft gegeneinander gekämpft«, sagte er. »Wir kennen uns zu gut, wissen, was der andere tun wird, ahnen voraus, was geschieht.« Er schüttelte den Kopf, ohne Gorian dabei aus den Augen zu lassen. »Aber kann nicht das Element des Chaos jedes Gleichgewicht außer Kraft setzen? Ich sollte mich mehr darauf besinnen.«
Schattenstich noch immer mit beiden Händen haltend, holte er zu einem fürchterlichen Schlag aus, auf dessen Abwehr sich Gorian sogleich vorbereitete. Torbas’ Kampfschrei jedoch bestand aus einer caladranischen Windbeschwörung, der die Kräfte des ohnehin brausenden Höhenwinds, der schon die ganze Zeit über aus Norden blies, konzentrierte. Torbas führte seinen Schlag nicht aus, stattdessen wurde Gorian von dem magisch fokussierten Wind erfasst und über die Brüstung gerissen.
Torbas trat an die Zinnen und blickte seinem fallenden ehemaligen Mitschüler nach.
»Nie zuvor ist ein Mensch so tief gestürzt wie du, mein Freund«, höhnte er.
Er konnte Gorians Fähigkeiten gut genug abschätzen, um zu wissen, dass der einen Fall aus dieser Höhe nicht abzufedern vermochte.