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Eissturm
Torbas drehte sich um und ging zu seinem Dreizahnigen, bestieg das weiße Riesenfledertier und flog davon.
Gorian versuchte erneut, sich von den unsichtbaren magischen Fesseln zu befreien, aber er schaffte es immer noch nicht.
Er sah, wie sich der Dreizahnige mit Torbas auf dem Rücken erhob und davonflog. Schneefall setzte ein, und der Eiswind wurde stärker.
»Sheera?«, fragte er.
Als Antwort erhielt er nur ein Röcheln. Er wandte den Kopf, doch sie war zu tief in den Schnee eingesunken, als dass er viel von ihr hätte erblicken können. Er konzentrierte sich auf die magischen Fesseln, es musste eine Möglichkeit geben, sie zu sprengen. Falls nicht, würde ihn die Kälte schon bald töten, zumal offenbar ein Schneesturm aufkam.
Sheera murmelte etwas. Ob es eine magische Formel oder ein letztes Gebet zum Verborgenen Gott war, konnte Gorian nicht verstehen. Sie sprach zu verwaschen und undeutlich, sodass er allenfalls einzelne Worte mitbekam, die aber keinerlei Sinn ergaben.
Er sammelte zunächst so viel der Alten Kraft wie möglich, um sich ein weiteres Mal gegen die Fesseln zu stemmen. Vergeblich. Sie hielten ihn fester als zuvor, sein Bewegungsspielraum war noch geringer geworden. Fast so, als hätte er an einer Schlinge gezogen, die sich daraufhin noch enger um seinen Körper geschnürt hatte.
Er versuchte es mit einer anderen Art von Magie: Anstatt Kräfte zu sammeln und aufzubieten, saugte er die Kraft der Fesseln in sich hinein, nahm sie auf, und siehe da, schon nach wenigen Augenblicken waren seine Hände frei und wenig später auch seine Füße, und er konnte sich wieder frei bewegen.
Sofort kümmerte er sich um Sheera.
Sie hatte viel Blut verloren, war aber noch am Leben. Zu Gorians Überraschung hatte sich die Wunde an ihrem Hals sogar schon beinahe geschlossen, das Blut darüber war geronnen und hatte den Blutfluss gestoppt. Eigentlich unmöglich bei einer zerfetzten Schlagader, aber offensichtlich galt das nicht für eine Heilerin.
Er befreite auch sie von den magischen Fesseln, dann half er ihr auf. Dabei stützte er sich auf Sternenklinge und steckte die Waffe anschließend in seine Rückenscheide. Er streckte die Hand aus und rief Rächer zu sich.
Der aufkommende Sturm war so heftig, dass sich Gorian und Sheera kaum auf den Beinen halten konnten. Sie wankten vorwärts. Gorian legte den Arm um sie und stützte sie, denn sie war offenkundig sehr schwach und fast orientierungslos. Vielleicht hatte das mit dem starken Blutverlust zu tun.
Der Schnee peitschte ihnen in die Gesichter. Sie schleppten sich bis zu der gestrandeten Sonnenbarke von Pela, erklommen das Deck und retteten sich ins Innere der Aufbauten.
Schon bald toste draußen der Wind und häufte hohe Schneeverwehungen auf. Die magischen Fenster der Caladran verloren unter dem Einfluss von Morygors Aura nach und nach ihre Wirksamkeit, der Schnee drang ein, und so musste Gorian die Läden schließen, von denen er eigentlich angenommen hatte, dass sie bei den Aufbauten der Sonnenbarke von Pela eher einem dekorativen Zweck dienten.
»Was ist mit deiner Wunde?«, wandte sich Gorian an Sheera.
»Du denkst, sie dürfte eigentlich nicht heilen.«
»Vielleicht habe ich die Fähigkeiten einer Heilerin unterschätzt«, gestand er lächelnd ein.
»Ja, und ich vielleicht auch«, gab sie zurück. »Die Herrschaft über das Blut – eine der schwierigsten magischen Praktiken, die man im Haus der Heiler erlernen kann.«
»Du beherrschst sie anscheinend sehr gut. Dein Blut ist geronnen, obwohl es eine Schlagader war.«
»Jenen, die keinen Meisterring tragen, ist es eigentlich verboten, diesen Zauber anzuwenden, denn man kann dabei vieles falsch machen, und die Auswirkungen sind dann verheerend.«
»Doch du beherrschst diesen Zauber.«
»Ich habe darüber einiges gelesen, das ist alles.« Sie atmete tief durch. »Es ist so, wie die Axiome sagen: Sich selbst zu heilen ist immer am schwersten und manchmal so gut wie unmöglich!«
»Und was ist mit deinem Geist, deiner Seele?«, fragte er. »Bist du wieder frei? Hast du wieder einen eigenen Willen?«
»Es war seltsam. Torbas hat den Moment meiner Schwäche genutzt, um mich unter seinen Willen zu zwingen. Aber gerade eben, in dem Moment, da ich dich töten sollte …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe mich tatsächlich vollkommen frei entscheiden können. Darauf muss er großen Wert gelegt haben.«
»Er hat dich frei entscheiden lassen?«, fragte Gorian überrascht.
»Anders kann ich es nicht erklären.«
»So wie ich nicht zu erklären vermag, weshalb er mir Sternenklinge gelassen hat.«
»Hast du ihm nicht einst auch Schattenstich überlassen?«
»Gewiss.«
»Na also, das ist es. Er will Gleiches mit Gleichem vergelten, und vielleicht erwartet er einen ähnlichen Freundschaftsdienst eines Tages von dir.«
Gorian schüttelte den Kopf. »Er ist jetzt ein Diener Morygors. Für ihn wird es meinerseits keinen Freundschaftsdienst mehr geben.«
»Ein Diener Morygors«, sagte Sheera. »Das wäre ich jetzt auch.«
»Und warum bist du es nicht?«
»Es war der Moment, in dem ich dich töten sollte, der alles geändert hat«, erklärte sie. »Das hätte ich nicht gekonnt. Aber wer weiß, zu welchen Scheußlichkeiten wir fähig sind, wenn wir noch länger unter dem Einfluss von Morygors Aura bleiben.«
 
Der Sturm machte es zunächst unmöglich, mit dem Schiff aufzusteigen. Auch der Zauber der Gewichtslosigkeit hätte sie nicht davor bewahren können, ein Spielball dieses mörderischen Winds zu werden, der von Norden her über die blanken Eisflächen fegte und zudem deutlich spürbar mit Magie angereichert war.
So warteten sie ab, bis der Sturm nachließ.
Auf den Schiffen der Caladran wurden glühende Steine mitgeführt, die sowohl für Wärme als auch für Licht sorgen konnten und damit ein hervorragender Lagerfeuerersatz waren. So war es auch auf der Sonnenbarke von Pela. Der magische Schirm konnte so schnell nicht erneuert werden, aber mithilfe der glühenden Steine ließ es sich auch so aushalten.
Nachdem Gorian und Sheera das Schiff einigermaßen vom Schnee befreit hatten, setzte Gorian es in Bewegung, wofür er intuitiv das Wissen nutzte, das er im Reich des Geistes erworben hatte. Die metamagischen Winde schoben das Schiff über den eisigen Untergrund, dann hob es sich empor.
Betrachte das Werkzeug als Verlängerung des eigenen Körpers, erinnerte sich Gorian an eines der Axiome des Ordens.
Sie flogen zurück nach Pela, wo sie hofften, Meister Thondaril, Zog Yaal und König Abrandir wiederzutreffen. Doch schon der Überflug über die weiten weißen Ebenen machte deutlich, dass das Eis in der kurzen Zeit, in der sie unterwegs waren, erschreckend weit nach Süden vorgedrungen war. Hin und wieder sahen sie unter sich auch weitere Leviathane über das endlose Weiß ziehen.
Als sie dann Pela erreichten, fanden sie dort nichts als Ruinen vor. Der Hafen existierte nicht mehr, der Stadtbaum war von den Eismassen niedergewalzt, seine Trümmer ragten hier und dort aus Eis und Schnee hervor. Daneben waren deutliche Spuren der Leviathane zu entdecken.
Gorian landete das Schiff auf dem Eis, zu dem inzwischen die Bucht von Pela gefroren war, dann legte er die Hände nach Art der Handlichtleser zusammen, um Kontakt zu Meister Thondaril aufzunehmen und ihm zu sagen, dass er überlebt hatte und mit Sheera nach Pela zurückgekehrt war.
Aber es kam keine Verbindung zustande.
Schon während der Fahrt hatte es Gorian immer wieder vergeblich versucht.
Meister Thondaril schien verstummt zu sein.