BRANDUNG

BLACK ROCK

Ausgangs Falcarragh verließen sie die N56, bogen rechts ab und fuhren Richtung Meer. Eben hatte der Wind den Regen noch fast waagrecht über die Landschaft getrieben, und die Tropfen waren über das Dach des Mietwagens geprasselt, als werfe jemand mit Reiskörnern nach ihnen, nun riss der Himmel auf. Sonnenlicht traf ihre Frontscheibe und blendete sekundenlang alles aus, Meer, Himmel, Straße.

»Mist«, sagte Karl, »gib mir deine Sonnenbrille.«

Ruth öffnete ihre Handtasche, nahm das Brillenetui heraus und öffnete es.

»Mach schon, Mensch! Sonst fahr ich uns hier in den Graben.«

Sie klappte die Bügel der Brille auf und schob sie ihm über die Nase. Die Straße war schmal und von Hecken begrenzt, als fahre man durch einen hellgrünen Tunnel, an dessen Ende der Atlantik wartete.

»Schon ist sie wieder weg«, sagte Karl und nahm die Brille ab.

Das Meer hatte die Farbe von Taubenfedern und war fein geriffelt. Die Bergklötze hinter ihnen lagen wie brütende Tiere in der Sonne, majestätische Gottheiten, deren Größe gewissen Menschen ganz bestimmt Angst einjagte.

»Links oder rechts?«, fragte Karl spöttisch und hielt an, weil sich die Straße gabelte.

»Links«, antwortete Ruth unsicher, »glaube ich.«

»Glaubst du! Na toll«, sagte Karl lächelnd und bog in die Straße, die sich linker Hand durch Hügel wand, »aber du hast recht.«

Manus hatte ihnen den Anfahrtsplan per Post zugestellt, Karl hatte sich die Route eingeprägt und das Papier dann verbrannt. Black Rock, was für ein Name für eine Ortschaft! Die Landschaft, durch die sie fuhren, war ernüchternd leer und still, ein Reservat der Verlorenheit. Einige Schlaglöcher waren so tief, dass es ihm das Steuer manchmal fast aus den Händen schlug; Ruth fluchte, sie war größer als er und knallte immer wieder mit dem Kopf gegen das Wagendach. Sie hörten die Brandung, ein stetes, leicht zögerliches Zischen, als wisse das Wasser nicht genau, wohin es wolle.

Der Hof lag am Ende der Straße in einer Senke, abgeschirmt vor neugierigen Blicken von einem Wald, der bis an den Anbau des Hauses reichte, sowie von Hecken, die das Grundstück begrenzten. Das Farmhaus war in schlechtem Zustand: Dachziegel saßen schief, der Verputz blätterte von den Wänden, auf beiden Kaminen blühte Schimmel. Hinter dem Zaun, der den Vorplatz umschloss, lag das Rostskelett eines Tores im hüfthohen Dickicht, auf der Wasserlache vor der Eingangstür trieb ein Ölfilm. Am Rand des Vorplatzes stand ein leerer Pferdetransporter; der Wind wehte Strohhalme von der heruntergeklappten Luke.

»Reitet Manus?«, fragte Ruth und sah Karl an.

»Reiten wir nicht alle?«, antwortete er, schaltete den Motor aus, zog den Schlüssel ab und stieß die Tür auf, blieb aber sitzen.

»Diesmal sind wir übrigens nicht alleine«, sagte er.

»Wie bitte? Warum sagst du das erst jetzt?«

»Immer mit der Ruhe.«

»Wer?«

»Irgendein Belgier.«

»Kennen wir ihn?«

Karl schüttelte den Kopf und stieg aus. Es roch scharf nach Dung, der Wind war erstaunlich warm. Ruth stieg nun ebenfalls aus, sie drückte die Tür zu und sah ihn fragend über das Autodach hinweg an. Sie war blass, sie zog es vor, selber am Steuer zu sitzen.

»Manus kennt ihn«, sagte er und zwinkerte ihr zu. »Beruhig dich. Wir werden eine Menge Spaß haben. Vertrau mir! Auch mit dem Belgier. Er ist in unserem Alter.«

»Manus ist ein Idiot!«

»Der Knochen kennt den Belgier auch«, sagte Karl.

»Na dann!«

Sie klopfte mit der Hand aufs Dach des Autos und sah ihn wütend an. Das Meer in der Bucht hinter ihr, ein flirrender Silberfaden, sah aus wie ein Trugbild. Was wurde man wohl für ein Mensch, wenn es Tag für Tag ausgebreitet vor einem lag? Wurde man ausgeglichener und ruhiger? Nahm man es überhaupt noch wahr? Besänftigte einen das Geräusch der Brandung? Oder sorgte es für Unruhe, ein Fernweh, dem man irgendwann nachgab?

»Sie ist zwölf«, sagte Karl ruhig, »und nicht blond.«

»Sondern?«

»Ein Rotschopf. Noch fast keine Brüste.«

»Na dann«, sagte Ruth und streckte die Hand nach ihm aus.

Er zögerte, ergriff die Hand dann aber doch und drückte zu, bis ihr zuckendes Augenlid verriet, er hatte ihr weh getan.

»Hörst du die Brandung?«, fragte Karl nach einer Weile.

Ruth nickte, da wurde die Haustür geöffnet; Manus trat auf den Vorplatz hinaus und kam auf sie zu. Hinter ihm stand ein Mann in der Tür, hochaufgeschossen und schmal, mit nacktem Oberkörper, trotz des Windes. Seine Nase stach wie ein Vogelschnabel aus dem Gesicht. Manus blieb einen Schritt vor ihnen stehen. Sie kannten sich seit zwölf Jahren und hatten sich noch nie die Hand gereicht. Manus schwitzte, sein Blick sprang unruhig zwischen ihnen hin und her.

»Jean hat ihr schon ein bisschen gezeigt, was sie erwartet. Er hat noch weniger Geduld als ich«, sagte Manus.

»Das ist schlecht«, sagte Ruth, »Geduld ist wichtig.«

»Ich weiß«, gab Manus zurück, ohne sie anzusehen.

»Ist sie aus der Gegend?«, fragte Karl, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Seit wann stellen wir solche Fragen?«

Manus lächelte und breitete die Arme aus wie ein Priester, der seine Schäfchen beruhigen will; sein Atem roch nach Bier.

»Ist sie aus der Gegend?«, wiederholte Karl.

»Aus dem Norden.«

»Nordirland?«

Manus nickte. Der Belgier stand immer noch unter der Tür, hatte sich aber eine Zigarette angesteckt.

»Seit wann hast du sie?«, fragte Ruth.

»Hab ich sie?«, gab Manus spöttisch zurück.

»Seit wann!«, fragte Karl laut.

»Ihre Eltern haben aufgehört, nach ihr zu suchen.«

»So lange schon«, sagte Karl und schnalzte mit der Zunge.

»So lange schon, das arme Kind«, sagte Ruth.

Stirb, Schwesterchen, stirb: Thriller
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