UNGEWASCHENE FÜSSE

DUNFANAGHY

Bernadette Walsh fuhr aus dem Schlaf, als habe sie jemand an der Schulter gepackt. Sie war sofort hellwach. Früher war sie erwacht und erst einmal minutenlang in einem Zustand des Halbschlafes in Traumbildern versunken, unfähig aufzustehen oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Aber seit einigen Wochen erwachte sie auf einen Schlag, ohne sich daran erinnern zu können, ob sie etwas geträumt hatte oder nicht. Sie setzte sich auf und nahm ihr Handy vom Nachttisch: 17:13. Sie hatte über vier Stunden geschlafen, erschöpft von ihrer Nachtschicht im Krankenhaus in Letterkenny.

Nachdem ihr älterer Sohn Ronan ausgezogen war, hatte sie sein Zimmer mit den abgeschrägten Wänden nach ihren Bedürfnissen eingerichtet. Sie hatte es lindgrün gestrichen, einen hellen Teppich verlegen lassen und die gerahmten Fotos aufgehängt, die sie in den Ferien in Frankreich, Portugal und Malta gemacht hatte und mit denen ihr Mann Liam nichts anfangen konnte. Am Fußende des schmalen Bettes standen ein Fernseher mit Flatscreen und ein DVD-Player, von ihrem Geld in Derry gekauft. Das Regal, in dem sie die DVDs aufbewahrte, die sie bei VideoOne in Letterkenny im Gestell mit den herabgesetzten Filmen fand, stand so neben dem Bett, dass sie es erreichte, ohne aufstehen zu müssen. Früher hatte sie sich nicht besonders für Filme interessiert; aber seit sie sich ihr eigenes Zimmer hergerichtet hatte, war sie süchtig danach. Einige der Filme hatte sie sich so oft angesehen, dass sie gewisse Dialoge auswendig kannte. Bei »Away From Her« mit Julie Christie, »A Map Of The World« mit Julianne Moore und Sigourney Weaver und bei »Pride & Prejudice« mit Keira Knightley konnte sie ganze Passagen mitsprechen. Ihre absoluten Favoriten aber waren Filme, in denen ihr Lieblingsschauspieler Ed Harris dabei war, »The Hours«, in dem ihr sogar Nicole Kidman gefiel, oder der Thriller »Gone, Baby, Gone«. Der Film über das verschwundene Mädchen in Boston jagte ihr zwar jedes Mal einen Heidenschrecken ein, wenn sie ihn sich ansah, gleichzeitig aber war sie auf eine Weise von Ed Harris angezogen, die sie in eine andere Frau verwandelte. Eine Frau, die wieder an Leidenschaft und Liebe glaubte. Seltsamerweise ging ihr seit einiger Zeit immer wieder die Frage durch den Kopf, die der Erzähler am Anfang von »Gone, Baby, Gone« im Off stellte, während man Bilder aus irgendeinem schäbigen Vorort von Boston sah. Sie half zum Beispiel einem Patienten auf ihrer Station, sich im Bett aufzusetzen, stand an der Kasse im Eurospar, lag dösend vor dem Fernseher oder wartete vor einem Rotlicht, und hörte Casey Affleck fragen: »Wie kann man in den Himmel kommen und sich trotzdem vor allem Bösen auf der Welt beschützen?« Sie hatte aufgehört, sich zu wundern, weshalb sie ausgerechnet diesen Satz immer wieder im Kopf hatte.

Anfangs hatte sie nur tagsüber nach einer Nachtschicht in ihrem Zimmer unter dem Dach geschlafen, aber seit einigen Monaten schlief sie oft auch nachts dort. Mittlerweile verzichtete sie auf die Ausrede, das Schnarchen ihres Mannes Liam vertreibe sie aus dem gemeinsamen Schlafzimmer. Vor allem nachts hielt sie seine Nähe einfach nicht mehr aus.

Bernadette Walsh stand auf, öffnete die Gardinen, nahm Jeans und Sweatshirt vom Stuhl neben dem Bett, zog sich an und trat barfuß auf den Flur hinaus. Es war still im Haus, sie hörte keine Musik aus Padraics Zimmer im ersten Stock; war er noch nicht zurück aus der Schule? Die Holzstufen fühlten sich kühl an unter ihren Füßen, sie genoss das Knarren, wenn sie auftrat.

Vor Padraics Tür lag eine Fünfzig-Cent-Münze am Boden; sie ließ sie liegen, klopfte an und wartete einen Augenblick, bevor sie die Klinke drückte und sein Zimmer betrat. Es war heiß und stickig, roch nach ungewaschenen Füßen und dem Aftershave, das er seit einiger Zeit benutzte, obwohl er sich noch nicht rasieren musste. Auf dem zerwühlten Bett lag ein Haufen Kleider, die Tür des Schrankes stand genauso offen wie die unterste Schublade der Kommode, in die er Socken und Unterwäsche stopfte. Sie musste sich zurückhalten, um nicht wenigstens die Schulhefte und Schulbücher zu ordnen, die auf dem Tisch verstreut waren. Auf dem zugeklappten Laptop lag eine zerknüllte Red-Bull-Dose, am Boden eine leere Chipstüte. Wann hatte er die Poster der Fußballer seines Lieblingsvereins Crystal Palace von der Wand über dem Schreibtisch abgenommen? Und seit wann interessierte er sich für klassische Musik? Die CD, die neben dem Laptop lag, hatte er in der Schulbibliothek ausgeliehen: »Nocturnes of John Field«. An den Namen des Pianisten John O’Conor konnte sie sich aus dem Musikunterricht erinnern. Gehört hatte sie die Musik nie. Erstaunlich, dass sie sich daran erinnerte. Sie nahm die CD-Hülle, um im Booklet nachzulesen, ob der Komponist Field wirklich Ire war, wie sie vermutete, da hörte sie die Haustür ins Schloss fallen.

»Keiner da?«, rief Padraic.

Bernadette legte die CD zurück und schlüpfte leise auf den Flur hinaus. Hoffentlich ging Padraic wie üblich zuerst an den Kühlschrank in der Küche. Sie wollte nicht, dass er sie in seinem Zimmer überraschte.

»Ich komm runter«, rief sie betont fröhlich und lief die Treppe hinunter.

Padraic stand vor der Spüle und trank mit geschlossenen Augen aus der Flasche. Sie hielt sich zurück, ihn wie noch vor kurzem in den Arm zu nehmen und ihm die Haare zu zerzausen; seit einem halben Jahr wehrte er sich gegen jeden Körperkontakt von ihr.

»Hattet ihr länger Schule?«

Sie hatte sich daran gewöhnt, dass er sie bereits um zwei Köpfe überragte, dass seine Schuhe riesengroß waren und dass er Kleider trug, die sie unmöglich fand, aber es störte sie weiterhin, dass er es nicht mehr fertigbrachte, ihr in die Augen zu sehen, wenn er ihre Fragen mit dem gelangweilten oft aggressiven Tonfall beantwortete, den er sich vor einiger Zeit zugelegt hatte.

»Bin ich ein Kind oder so was? Ich hab Freunde, jeez!«

Er stellte die Colaflasche auf die Theke, ohne sie zuzuschrauben, und bückte sich nach seinem Schulrucksack.

»Freunde oder Freundinnen?«, fragte sie, schraubte die Flasche zu und stellte sie in den Kühlschrank zurück.

Er warf ihr einen verunsicherten Blick zu, während er sich den Rucksack an einem Tragriemen über die Schulter hängte.

»Mom, bitte! Ich war mit Shaun bei Colum. Mein Sexleben geht dich nichts an!«

Es war doch noch gar nicht so lange her, dass er schon beim Wort »Sexualität« rot angelaufen war; jetzt gefiel es ihm offensichtlich, sie mit gewissen Wörtern zu verunsichern.

»Hausaufgaben?«

»Ist der Papst Katholik? Hallo? Wir haben immer Hausaufgaben. McCabe ist ein Arschloch!«

Sie ging nicht auf seine Provokation ein, weil das unweigerlich zu Streit führte. Er schlüpfte aus den Turnschuhen und schleuderte sie von den Füßen auf den Gang hinaus. Seine Füße stanken.

»Du könntest ja wieder mal duschen«, sagte sie.

»Wir hatten Sport, Mom!«

»Eben.«

»Konntest du schlafen?«, fragte er unvermittelt und sah sie an.

Wann hatte er damit angefangen, nur noch nett und freundlich zu ihr zu sein, wenn er etwas von ihr wollte? Wenn er sich wenigstens die Mühe machen würde, den falschen Tonfall zu verbergen!

»Hilfst du mir bei den Hausaufgaben?«, sagte er scheinheilig und ging aus der Küche, ohne ihre Antwort abzuwarten.

Stirb, Schwesterchen, stirb: Thriller
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