DER JUNGE, DEN ES NICHT GIBT

GUT WALDAU IM SCHWARZWALD

Der Abschluss der Internatsschule, zwei Jahre nach dem Tod meines Großvaters, entzog mir vollends den Boden unter den Füßen. Ich wurde, gerade neunzehn geworden, in ein Vakuum gestoßen. Vater erfand für mich eine Stelle im Familienunternehmen. Ich bekam ein Büro in der achten Etage unseres Verwaltungsturmes in Baden-Baden, eine Sekretärin und einen Firmenwagen. Eine Aufgabe allerdings bekam ich nicht. Ich hatte nichts zu tun, nichts, als mich zu erinnern. Ich saß den ganzen Tag in meinem Büro, langweilte mich und sehnte mich nach dem strikten Korsett des Internatslebens, nach den Ritualen, Regeln und Pflichten, die den Schüleralltag bestimmt hatten. Es war unerträglich, ohne Sklaven auskommen zu müssen, die mir aus der Hand fraßen. Ich war daran gewöhnt, Macht und Gewalt über jüngere Schüler zu haben, sehnte mich nach ihrem Gewinsel und ihren angsterfüllten Blicken, in denen beim kleinsten Signal von mir Hoffnung aufflackerte. Und ich vermisste es, von meinem Großvater geliebt und gebraucht zu werden.

Als ich 1962 die Tochter eines Anwaltes aus Freiburg im Breisgau heiratete, war ich dreiundzwanzig. Kinder hatten wir zum Glück keine. Ich lebte nicht, war nicht ich selbst, sondern ein anderer, den ich nicht mochte, ein Schwächling, der mich anwiderte. Ich vegetierte dahin, ließ nicht nur die Zeit verstreichen, sondern genauso mein Leben. Ich wartete. Nur, worauf? Die jungen Prostituierten, die ich in jener Zeit in Bordellen und Clubs in Basel, Zürich, Hamburg oder Frankfurt am Main besuchte, waren Ersatz, mehr nicht. Sie waren jung und doch zu alt und vor allen Dingen zu ausgebufft und abgeklärt. Ich sehnte mich nach Unschuld, die ich zerstören konnte, sehnte mich danach, mein wahres Ich ausleben zu können.

1965 reiste ich das erste Mal nach Thailand.

Meine Frau lag am Strand, ich fickte Mädchen und Jungen, zehn, elf, zwölf Jahre alt. Ich war im Paradies. Erst stießen mich die Väter ab, die mir ihre Kinder anboten, bald erinnerten sie mich an meinen Großvater. Er hatte mich abgöttisch geliebt. Boten die Väter ihre Kinder nicht feil, weil sie sie liebten? Der Rausch, in den ich geriet, war befreiend. Es gab mich also doch noch. Ich lebte endlich wieder! In dem neuen Leben, das sich vor mir auftat, war längerfristig weder Platz für eine Frau, noch für eine Existenz als Unternehmer nach bürgerlichen Maßstäben, das war mir bewusst. Vorerst aber spielte ich ein doppeltes Spiel. Der Wolf im Schafspelz. Der Geschäftsmann in Maßanzug, rahmengenähten Schuhen und goldenen Manschettenknöpfen, der einem neunjährigen Jungen den Arm bricht, weil er lausig bläst.

Das änderte sich 1968, als ich in einem Privatpuff in Pattaya einem Paar begegnete, das etwas jünger war als ich und ein Mädchen mit einer Gnadenlosigkeit in der Mangel hatte, die mich begeisterte und anzog. Die Frau war großgewachsen und hatte ein Feuermal im Gesicht, der Mann erinnerte mich an ein Nagetier.

Stirb, Schwesterchen, stirb: Thriller
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