Erlinsbach, 17. Juli 1994

An den leeren Blick seiner Mutter hat sich der Junge gewöhnt, aber mit dem Abgrund, der sich in ihrer Gegenwart öffnet und aus dem Kälte emporsteigt, kann er auch nach drei Jahren nicht umgehen. Er hat zugesehen, wie das Leben in ihren Augen erlosch, er hat erlebt, wie sie sich mehr und mehr in sich verkroch, wie sich die Menschen vor ihr zurückzogen, wie sie sich in Luft auflöste. Sie liegt die meiste Zeit bei zugezogenen Vorhängen im Ehebett und redet mit sich selbst. Manchmal kichert sie, manchmal flucht sie, manchmal weint sie. Sie hat aufgehört zu kochen und zu putzen, er weiß nicht, wann sie das letzte Mal geduscht hat. Ihre Schwermut und ihr Geruch haben den Vater vor Monaten aus dem Schlafzimmer vertrieben. Er schläft auf dem Sofa vor dem Fernseher, ist aber kaum je in der Wohnung und huscht als Schatten, der nach Zigaretten und Schnaps riecht, durch den Korridor. Die Wohnung ist ein Verlies, aus dem jedes Leben gewichen ist. Es erstaunt den Jungen nicht, dass auch sein Vater aufgegeben hat; er hat ihn immer für einen Schwächling gehalten. Er fragt sich nicht, wo sich sein Vater aufhält, mit wem er trinkt, ob er Freunde hat oder eine Geliebte. Es ist ihm egal. Seine Eltern sollen ihn in Ruhe lassen. Er redet nur mit ihnen, wenn sie ihn ansprechen. Sie haben aufgehört, miteinander zu reden, warum also soll er sich mit ihnen unterhalten? Dafür redet der Junge mit seiner Schwester. Er hat ihr versprochen, sie zu finden, hat bei seinem Leben geschworen, sie aufzuspüren und zu retten. Vor einiger Zeit hat sie endlich begonnen, ihm zu antworten. Sie spricht zu ihm, sie erinnert ihn an gemeinsame Erlebnisse und schwärmt von Tagen, die weit zurückliegen, aber sie erzählt ihm nicht, was sie durchmacht, wo sie festgehalten wird. Sie will mich schützen, sagt er sich und bedrängt sie nicht mit Fragen, die sie vielleicht wieder zum Schweigen bringen könnten. Er beichtet ihr, wie sehr er ihre schwachen Eltern verachtet, sie widerspricht ihm nicht. Ich wünschte, sie wären tot, behauptet er, aber er weiß, er lügt. Trotzdem erschreckt ihn die Gelassenheit und Ruhe, mit der er auf den Selbstmord seiner Mutter reagiert. Als er am 21. Juli von der Arbeit nach Hause kommt, steht zum ersten Mal seit Monaten die Schlafzimmertür offen. Er betritt das Zimmer und weiß Bescheid. Die Vorhänge sind aufgezogen, das Fenster steht offen, das Bettzeug ist abgezogen. Es riecht nach Seife. Seine Mutter ist verschwunden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Als sie vier Tage später erfahren, dass ihre Leiche in der Nähe von Kehrsiten im Vierwaldstättersee angetrieben worden ist, macht sein Vater das Radio an, sobald die Polizisten, die ihnen die Nachricht überbracht haben, weg sind, und fängt an, die Wohnung zu putzen. Eine Stunde später sieht er zu, wie der Vater Teller nach Teller aus dem Schrank nimmt und auf den Küchenboden fallen lässt, ohne eine Miene zu verziehen. Als der letzte Teller zersprungen ist, sagt er: »Ich bin ganz ruhig.« Die Manteltaschen seiner Mutter sind mit Steinen gefüllt, sie trägt weder Schuhe noch Strümpfe, ihr Ehering und das goldene Halskettchen, das ihr Mann ihr zum 20. Hochzeitstag geschenkt hat, fehlen, ihr Geldbeutel ist bis auf ein Farbfoto ihrer Zwillinge leer. Auch nach der Beerdigung schläft sein Vater auf dem Sofa, das Schlafzimmer betritt er nur, um Kleider aus dem Wandschrank zu holen. Über den Selbstmord reden sie nicht. Sie reden überhaupt nicht, sie tauschen Informationen aus, mehr nicht, es ist dem Jungen lieber so. Dem Vater auch, wie er vermutet. Manchmal ertappen sie sich dabei, dass sie sich verstohlen ansehen, dann schlagen sie beschämt den Blick nieder. Der Junge fängt an, drei, vier Blätter gleichzeitig vom Wandkalender zu reißen, der im Korridor hängt. Er verstellt die Küchenuhr, aber entweder fällt es dem Vater nicht auf, oder es ist ihm gleichgültig. Oft läuft der Fernseher bereits morgens. Der Vater raucht jetzt Kette, die Stummel liegen überall in der Wohnung herum. Seinem Spiegelbild weicht der Junge weiterhin aus. Manchmal macht er dem Vater ein Spiegelei oder eine Suppe, die er alleine vor dem Fernseher löffelt, ohne die brennende Zigarette aus der Hand zu geben.

Die aufeinandergetürmten Schachteln mit den gefangenen Kröten, Fröschen, Käfern, Schnecken und Blindschleichen nehmen eine ganze Wand ihres Zimmers ein. Er denkt darüber nach, Fenster in die Kartons zu schneiden und Lichter zu installieren, da sie ihn an einen Wohnblock erinnern, den er nachts gern beleuchten würde. Aber letztlich fehlt ihm, wie für fast alles, was er sich vornimmt, die Energie. Tagsüber hat er hat oft Mühe, wach zu bleiben, nachts kann er nicht schlafen. Er hat aufgehört, weitere Tiere einzufangen; er sieht sich als Wärter und Besitzer eines Zoos, der nur einen Besucher zulässt: Rico. Rico bestätigt ihm, dass es in seinem Zimmer riecht wie im Reptilienhaus des Zürcher Zoos, den sie auf einem Schulausflug besucht haben. Wenn sie schweigend nebeneinander vor der Wand aus Kartons auf dem Boden sitzen, stellt sich der Junge vor, was die Tiere in ihren Gefängnissen tun und was sie denken. Denken Schnecken? Was Rico denkt, will er nicht wissen. Es reicht, dass er neben ihm sitzt und den Mund hält.

Natürlich wartet der Junge auf den nächsten Brief.

Nach 1080 Tagen klemmt ein rosa Umschlag unter dem Gepäckträger seines Fahrrades. Das Fahrrad steht im Keller des Wohnblocks, in den man nur mit Hausschlüssel kommt. Er schafft es, die Angst, die ihn mit voller Wucht trifft, niederzuringen, den Umschlag aus dem Gepäckträger zu ziehen und sich mit demonstrativ zur Schau gestellter Ruhe auf den Weg in die Pelikanstrasse zu machen. Ihm ist bewusst gewesen, dass sie wissen, wo er wohnt. Trotzdem ist die Tatsache, dass sie im Keller gewesen sind, schockierend. Waren sie vielleicht auch in der Wohnung? In ihrem Zimmer? Muss er seiner Schwester davon erzählen? Soll er Rico nun doch einweihen?

Er zwängt sich durch die Lücke im Zaun und kriecht durch die Büsche zwischen die Schuppen. Die Katze sieht ihn an, blinzelt und legt sich zu ihm. Gregörchen! Der Biber hat die Schrift eines alten Mannes. Er reißt den Umschlag auf, das Blatt, das er herauszieht, ist weiß und hauchzart. Der Geruch, den das Papier verströmt, lässt ihn würgen: Veilchen! Er spürt den Puls im Hals und in beiden Handgelenken, ihn fröstelt, dabei scheint ihm die Sonne ins Gesicht.

Drei Jährchen schon ist es her,

schon ärgert sie uns, Deine Schwester.

Weinerlich ist sie geworden, empfindlich.

Sie wartet am 17. Juli in der St. Laurentius-Kapelle in Erlinsbach.

Holst Du sie um 17 Uhr ab?

Und lass die Polizei aus dem Spiel, ja?

Er denkt daran, sich erneut das Mofa seines Großvaters auszuleihen. Als er auf der Schweizerkarte sieht, wie weit es ist, fährt er mit dem Zug bis Aarau. Dort will er den Bus nach Erlinsbach nehmen, aber wie kann er dem Fahrrad widerstehen, das direkt vor dem Bahnhof steht, als warte es auf ihn? Er schwingt sich auf den Sattel und fährt los. Das Licht, das auf der Jurakette hinter der Stadt liegt, macht ihn auf eine Weise traurig, die ihn glücklich stimmt. Das Licht liegt wie eine Decke über der Landschaft. Er genießt den Fahrtwind im Gesicht, das Sirren der Reifen auf dem Asphalt. Was für ein Mensch werde ich sein, denkt er, wenn das alles ausgestanden ist? Werde ich daran zerbrechen? Über der Aare, der er ein Stück weit folgt, stehen Mückenschwärme, die sich ruckend über den Wasserspiegel bewegen. Der grüne Fluss zieht träge an ihm vorbei, in glucksenden Wirbeln tanzen Zweige. Erst als ihm die Oberschenkel vor Schmerz brennen, begreift er, wie schnell er fährt. Er lässt das Rad auslaufen, steigt aus dem Sattel und setzt sich für einen Moment auf die Uferböschung. Er hat das Gesicht seiner Schwester vor Augen, er hört ihre Stimme, sie lacht. Sie sind beide drei Jahre älter geworden, was hat die Zeit aus ihr gemacht? Wer ist sie heute? Ist sie noch immer der Mensch, der ihm weitaus am nächsten ist, den er bedingungsloser liebt als jeden anderen? Und sie? Kann sie ihm seine Feigheit verzeihen?

Er fährt weiter, weil ihm ein Spaziergänger entgegenkommt, der einen Schäferhund an kurzer Leine führt. Der Mann nickt, als er an ihm vorbeiradelt. Er beschließt, dass Kathrin seine Tiere freilassen darf, sobald sie zu Hause sind. Sie werden die Schuhkartons einzeln in den Wald tragen, jeden Tag einen, sie darf die Deckel abheben, tief zwischen den Bäumen, wo sie allein sind, keiner sie beobachten kann. Die Kartons werden sie verbrennen, alle, sie werden ein Feuer machen, das man weit sehen kann, ein Riesen-, ein Höllenfeuer, um das sie herumtanzen werden wie zwei Teufel!

Erlinsbach ist ein langgezogenes Dorf, und er will schon aufgeben und jemanden nach der St. Laurentius-Kapelle fragen, da taucht sie vor ihm auf. Er hält vor dem Brunnentrog neben der Kapelle, steigt vom Rad und trinkt vom kalten Wasser, gierig und in großen Schlucken. Es wird ein Gewitter geben, die drückende Hitze presst die Luft aus der Welt. Der Himmel ist aus Glas, die Häuser sind Kulissen. Ihm wird für einen Augenblick schwarz vor Augen, als er die Steintreppe hinaufläuft und auf den Eingang der Kapelle zugeht. Neben der Tür hängt Jesus am Kreuz, er hebt den Blick und sieht den Gekreuzigten an, dann erst drückt er die Klinke. Warum hat er erwartet, dass die Kapelle geschlossen ist? Es stinkt nach Gülle. Aus einem offenen Fenster des Ochsen auf der anderen Straßenseite dringt Ländlermusik. Ein Mann johlt. Er hört das Klatschen von Jasskarten, die auf die Tischplatte geknallt werden. Worauf wartet er? Die Tür der Kapelle ist verschlossen. Sie haben ihn schon wieder genarrt. Gregörchen! Er blickt durch das verglaste Fensterchen links neben der Eingangstür, das ihn an eine Schießscharte erinnert, kann aber nichts erkennen als eine große weiße Kerze, die neben dem Altar steht. Wieso haben sie ihn hierher bestellt? Die Beschläge der Türschlösser haben die Form von Kriegern mit Federschmuck auf den Helmen. Haben sie ihn in eine Falle gelockt? Er sieht sich um, spürt Panik aufsteigen. Warum hat er Rico immer noch nicht von den Briefen erzählt? Warum hat er seinen einzigen Freund nicht nach Erlinsbach mitgenommen? Wie grell das Sonnenlicht ist! Er kneift die Augen zu und läuft auf dem Plattenweg an der Kapelle vorbei auf einen Parkplatz zu, auf dem kein einziges Auto steht. Die Blätter des Baumes, an dem er vorbeirennt, rauschen, der Himmel hinter dem Dach des Bauernhauses vor ihm hat die Farbe von Bier. Kurz vor dem Ende des Weges steht eine Bank. Das Mädchen, das darauf sitzt, steht auf und tritt ihm entgegen. Wie steif es geht! Das Mädchen ist blond, aber viel jünger, viel kleiner als seine Schwester. Es hält ihm einen Umschlag entgegen. Der Umschlag ist weiß.

»Nimm ihn«, sagt das Mädchen, »sie sehen uns.«

Er widersteht dem Wunsch, sich umzusehen, sie dürfen auf keinen Fall mitbekommen, dass er Angst hat. Er nimmt den Umschlag und will weggehen, aber das Mädchen tritt ihm in den Weg.

»Du musst ihn jetzt öffnen. Bitte!«

»Warum?«

»Weil sie es befohlen haben. Bitte!«

Er zögert nur, um dem Biber und der Frau mit Feuer im Gesicht zu zeigen, dass er seinen eigenen Willen besitzt, er will ihnen signalisieren, dass er ihren Befehlen erst gehorcht, nachdem er nachgedacht hat. Er reißt den Umschlag auf und zieht das weiße Blatt Papier heraus, das nicht gefaltet worden ist, so klein ist es.

HILF MIR!

Er erkennt die Schrift seiner Schwester, auch wenn sie die zwei Wörter und das Ausrufezeichen offenbar mit den Fingern geschrieben, nein gemalt hat. Die rote Farbe ist so wässrig, dass sie fast zerfließt.

»Ich soll dir sagen, dass man die Farbe hier ›blutrot‹ nennt«, sagt das Mädchen, »und jetzt lauf weg, sonst holen sie dich.«

Der Junge dreht sich um und läuft, ohne nachzudenken, davon. Er hat, begreift er, nichts dazugelernt, er ist genauso feige und ängstlich wie damals. Trotzdem rennt er weiter, so schnell er kann.

Stirb, Schwesterchen, stirb: Thriller
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