IM KINDERSITZ
LUZERN
Der Stuhl, auf dem Gregor saß, knarrte sogar dann, wenn er nur die Hand ausstreckte, um nach dem Glas zu greifen, das vor ihm auf dem Fenstersims stand. Der Holzstuhl mit der Sitzfläche aus Korbgeflecht hatte dem Großvater seiner Exfrau Edith gehört. Sie hatte ihn in ihre gemeinsame Wohnung mitgebracht. Nach der Trennung wollte sie den Stuhl auf den Sperrmüll tragen, aber Gregor hatte ihn mitgenommen, als er ausgezogen war, obwohl er ihm gar nicht gefiel.
Kühlschrank und Gefrierfach waren leer, er hatte weder Brot noch Milch im Haus, nicht einmal Kaffee. Und trotzdem konnte er sich nicht aufraffen, einkaufen zu gehen. Er war wie Charlotte und Cloe gestern von Dublin nach Zürich geflogen, aber da Charlotte sich geweigert hatte, mit ihm im gleichen Flugzeug zu sitzen, war er auf die Abendmaschine der Aer Llingus umgebucht worden und darum erst kurz nach zweiundzwanzig Uhr in seiner Wohnung angekommen. Er hatte seine Reisetasche ins Wohnzimmer gestellt und sich sofort an seinen PC gesetzt, ohne sich auch nur die Zähne zu putzen. Er hatte das Haus auf dem kurzen Handyfilm der Frau mit dem Kinn genau vor Augen und auch den Teil des Straßenschildes, der kurz zu sehen gewesen war: …rgstraße. Er hatte sich auf zwei Straßennamen beschränkt, die in Frage kamen, Berg- und Burgstrasse, und vorerst in Österreich gesucht. Es hatte nur wenige Minuten gedauert, um mit Hilfe von Google Maps herauszufinden, dass in der Bergstrasse in Salzburg die falschen Häuser standen und dass es zwar in Werfern und Ramingstein in der Nähe Salzburgs eine Burgstrasse gab, nicht aber in Salzburg selbst. Und das Haus auf dem Film war zweifellos ein Stadthaus. Auch dass in Wien eine Burggasse existierte, aber weder eine Burg- noch eine Bergstrasse, hatte er letzte Nacht nach wenigen Minuten recherchiert und sich dann in der Schweiz auf die Suche gemacht. Eine Bergstrasse gab es in über 20 Gemeinden alleine in der Deutschschweiz, eine Burgstrasse auch. Er hatte sich über die Streetcam in den Städten Zürich, Winterthur und Liestal umgesehen und danach Ort für Ort abgearbeitet, erst die eine, dann die andere Straße, von Riehen und Thun über Aarwangen, Roggwil und Huttwil bis Schönenwerd, Uster, Herisau und Trogen. Schon nach einer knappen Stunde hatte er zwei rote Backsteinhäuser gefunden, die in Frage kamen. Eines an der Burgstrasse in Winterthur, eines an der Bergstrasse in Zürich. Beide Häuser hatten Fenster mit zwei Quer- und einer Längssprosse und gemauerte Simse. In keiner anderen Ortschaft hatte er ein Haus gefunden, das dem Haus auf dem Handyfilm glich. Er hatte sich ins Bett gelegt, ohne den PC auszuschalten oder sich auch nur auszuziehen, und war auf der Stelle eingeschlafen und nach tiefem, traumlosen Schlaf bei Anbruch des Tages erwacht.
Seither saß er am Küchenfenster hinter dem Vorhang und trank ein Glas kaltes Leitungswasser nach dem anderen. 17. Juli! Vor genau zweiundzwanzig Jahren war seine Zwillingsschwester verschwunden. Die Jahrestage waren verlorene Tage, er hatte Angst vor ihnen, sie erinnerten ihn an Charakterseiten an ihm, die er sonst verdrängen konnte. Er griff nach dem Glas, der Stuhl protestierte knarrend, und er ließ die Hand wieder sinken. Er dachte an den ungeöffneten Jim Beam, den er unter der Spüle versteckte. 399 Tage trocken! An einem Treffen der Anonymen Alkoholiker hatte er von der Whiskeyflasche erzählt und die ungläubigen, bewundernden Blicke genossen, als er erklärte, er halte es für wahre Stärke, der Versuchung einer Flasche Alkohol zu widerstehen, die »wirklich da und nicht bloß eine Vorstellung ist«. Er hörte das trockene Knacken des brechenden Siegels, das es gab, wenn man den Verschluss aufdrehte, machte die Augen zu, zählte bis zehn, gab sich Mühe, kontrolliert zu atmen, und lehnte sich so weit nach vorn, bis die Stirn die Scheibe berührte. Ein großes schwarzes Auto hielt vor dem Lebensmittelgeschäft gegenüber, gleich darauf noch eines, genauso groß, aber weiß. In beiden Autos saß eine Frau am Steuer, ein Kleinkind im Kindersitz. Die eine ließ ihr Kind im Auto sitzen, die andere nahm es mit in den Laden. Welche ist die bessere Mutter? Die Frau des Mannes, der das Geschäft führte, war vor einem Jahr an Krebs gestorben, seither bewegte sich der Mann wie ein Greis in Zeitlupe. Auch seine Stimme hatte sich verändert, sie klang quengelig und misstrauisch. Zweiundzwanzig Jahre! Wann war er das letzte Mal in ihrem Wald am Rotsee gewesen? Er hätte sich gern kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt, war aber zu faul, um aufzustehen. Die Hütte, in der der Biber und die Frau mit Feuer im Gesicht sie überrascht hatten, war vor einigen Jahren abgerissen worden. Das Kind, das im Auto gelassen worden war, hob den Kopf. Sah es ihn an? Er ließ sich schnell zurücksinken. In der Wohnung nebenan wurde Musik angemacht, Salsa, wie immer. Er brauchte nicht auf die Uhr zu schauen, um zu wissen, wie spät es war. Die Frau aus Kuba, die als Tanzlehrerin arbeitete, wie sie ihm im Treppenhaus erzählt hatte, machte die Musik jeden Tag pünktlich auf die Minute um 9 Uhr 30 an.
Cloe hatte geschrien und hinter ihrer Mutter Schutz gesucht, als er in Irland nach ihrer Rettung vom Hausboot vorsichtig auf sie zugegangen war, um sie in den Arm zu nehmen. Doch das weiße Kleid, das Cloe trug, hatte ihm ohnehin die Fassung geraubt, und es war ihm lieb gewesen, ihr nicht zu nah zu kommen. Er hatte sich umgedreht und war auf der Kiesstraße weggegangen, ohne sich um Fahy zu kümmern, der nach ihm rief. Den Blick, den Charlotte ihm zuwarf, bevor er sich umgedreht hatte, würde er nie vergessen. Wie schnell ihre Liebe zu mir doch in Hass umgeschlagen ist! Auch ihr Weinen, das er selbst auf der Hauptstraße noch hörte, obwohl Lastwagen an ihm vorbeifuhren, würde er nicht vergessen. Vergeltung! Das Wort war in seinem Kopf größer und größer geworden, während er vergeblich versucht hatte, auf dem Handy seine Tochter Ronja auf Elba anzurufen. Ich werde mich für alles rächen, hatte er gedacht und war zurückgegangen. Fahy hatte ihm die Autotür geöffnet und mit einer Handbewegung bedeutet, er solle einsteigen. Charlotte und Cloe hatten auf dem Rücksitz der Limousine gesessen, ohne auf sein Nicken einzugehen, ohne ihn zu beachten. Hatte er sie da zum letzten Mal gesehen? Ich hätte es sowieso nicht ertragen, ihr in die Augen zu schauen! Gab es nichts mehr zu sagen? Er hatte zugesehen, wie das schwere Auto gewendet und dann mit knirschenden Reifen auf der Kiesstraße an ihm vorbeigefahren war. Als die Limousine auf die Landstraße gebogen und verschwunden war, war er auch eingestiegen. An die anschließenden 72 Stunden bis zu seiner Abreise aus Irland hatte er nur undeutliche Erinnerungen. Fahy hatte ihn nach Letterkenny gefahren und dort noch einmal über zwei Stunden lang befragt. Man hatte ihn aus dem Arnolds in Dunfanaghy in ein Hotel in Letterkenny umquartiert, an dessen Namen er sich nicht erinnerte, und am nächsten Tag nach Dublin gefahren, wo er noch einmal eingehend vernommen worden war. Das Hotel in Dublins Innenstadt, in dem er die letzte Nacht in Irland verbrachte, war ein gesichtsloser Betonkasten mit riesigem Parkplatz gewesen, auf dem immer wieder Autos anhielten, in denen Paare bei eingeschalteter Innenbeleuchtung saßen. Oder hatte er das geträumt? Hatte er denn überhaupt geschlafen? Er hatte die Zimmerbar geöffnet und die Spirituosenfläschchen hintereinander auf dem Boden aufgereiht, ohne eines zu öffnen.
Er nahm das Glas vom Sims und trank in großen Schlucken, bis es leer war. Dann griff er nach seinem Handy, das auf dem Küchentisch lag, und wählte erneut die Nummer seiner Tochter Ronja. Die ersten vier Mal hatte er aufgelegt, nachdem ihre Voicebox angesprungen war, jetzt sprach er ihr genau die Nachricht aufs Band, die er sich vorgenommen hatte, zu vermeiden: Er mache sich Sorgen um sie, er hoffe, es gehe ihr gut und sie solle sich so schnell wie möglich bei ihm melden. Das, was in Irland geschehen war, erwähnte er mit keinem Wort. Seine Tochter wusste nicht, dass seine Zwillingsschwester vor zweiundzwanzig Jahren verschwunden war, sie glaubte, er sei ein Einzelkind. Die Frau, die ihr Kind mit ins Geschäft genommen hatte, trat auf die Straße, das Baby auf dem einen Arm, in der anderen Hand eine Einkaufstasche. Sie öffnete die Hintertür ihres Wagens, aufmerksam beobachtet vom Kind im anderen Offroader, ließ ihr Baby in den Kindersitz gleiten und sah in seine Richtung, weil sie seinen Blick durch den Vorhang spürte. Er schloss die Augen, als mache ihn das unsichtbar, und nahm sich vor, erst wieder auf die Straße zu sehen, wenn beide Autos weg waren. Ich hasse Salsa! Die Nachbarin hatte ihn eingeladen, ihren Tanzkurs zu besuchen. Er sah ihre dunkelrot geschminkten Lippen vor sich und hatte ihren Schweißgeruch in Erinnerung, der ihn angezogen hatte wie ein Duft, den er nicht einordnen konnte. Gregor erhob sich und sah, dass die Autos mit den Müttern und ihren Babys weg waren. 17. Juli! Er rang nach Atem und verdrängte die Gedanken an seine Schwester. Vor vier Jahren war bei seinem Vater Demenz festgestellt worden, vor drei Jahren war er in einem Pflegeheim untergebracht worden, und Gregor hatte die Wohnung seines Vaters übernommen. Er war in die Wohnung zurückgezogen, in der er aufgewachsen war, in die Wohnung seiner Kindheit. Das frühere Elternschlafzimmer benützte er als Büro und Wohnzimmer, er schlief in der früheren Stube, die schon sein Vater zum Schlafzimmer gemacht hatte. Ihr Kinderzimmer, das schon der Vater nicht verändert hatte, rührte er nicht an. Manchmal öffnete er die Tür des Zimmers, das er sich mit Kathrin geteilt hatte, betrat es und setzte sich einige Minuten an das Schreibpult, an dem sie ihre Hausaufgaben gemacht hatten. Aber in der Regel ging er schnell an der geschlossenen Tür vorbei, als gehe eine Gefahr von dem Zimmer aus, eine Krankheit, mit der er sich ansteckte, wenn er sich zu lange darin aufhielt.
Seit sein Vater im Heim war, besuchte Gregor ihn öfter, vor allem an »wichtigen Tagen«, wie er Vaters Geburtstag im August, Ostern, Weihnachten und den Jahrestag des Verschwindens seiner Schwester insgeheim nannte. Weshalb diese Tage »wichtig« waren, bekam sein Vater wahrscheinlich nicht mit; trotzdem gaben seine Besuche Gregor das Gefühl, ein besserer Sohn zu sein als in den Jahren, in denen er sich kaum bei seinem Vater gemeldet hatte. Er verstand den Mann, der ihn gezeugt hatte, noch immer nicht, aber jetzt war es ihm egal. Er war dem tattrigen Greis, dem bei jeder Gelegenheit Tränen in den Augen standen und der leise wimmernde Laute von sich gab, überlegen. Obwohl er nicht wusste, was im Kopf seines Vaters vor sich ging. Gregor war sich nicht einmal sicher, ob er ihn erkannte. An den Namen seines Sohnes konnte er sich jedenfalls nicht erinnern. Er nannte ihn Kurt, Hans oder Urs, mit Gregor hatte er ihn bisher kein einziges Mal angesprochen. Zweiundzwanzig Jahre! Gregor zog den Kopf zwischen die Schultern und schloss die Augen, um in jenem Dämmerzustand zu versinken, der ihm den 17. Juli einigermaßen erträglich machte. Er würde später einkaufen. Er würde das Haus verlassen, über die Straße gehen und gegenüber einkaufen, eine Sache von zehn Minuten.