ENGEL

LUZERN

Die Gebäudetrakte auf der ungemähten Wiese, die zum Waldrand hin abfiel, wirkten friedlich, ja idyllisch, aber Gregor hatte gelernt, dass der Schein in diesem Fall trog. Kaum betrat er das Hauptgebäude durch das verglaste Entrée, befand er sich in einer Welt ohne Hoffnung, ohne Zukunft, einer Welt, die ihm den Atem abschnürte.

Die Angestellte am Empfang nickte ihm zu, sie hatte ihn erkannt und wusste mittlerweile, dass er sich bei jedem seiner Besuche erst einige Minuten auf der Sitzgruppe niederließ und durch die Fenster auf die Wiese hinaussah, bevor er zu den Liften am Ende des langen Korridors hinüberging und in die dritte Etage hinauffuhr. Gregor genoss die Sonne im Gesicht und den Blick über das hohe Gras, das reglos in der Hitze lag. Die Angestellte trug zu viel Make-up, das war ihm bei seinem ersten Besuch aufgefallen, außerdem kaute sie ihre Fingernägel so kurz ab wie ein Teenager. Auch seine Schwester hatte ihre Nägel abgekaut, bis es blutete, und auf dem Schreibpult in einer Reihe ausgelegt. Zwischen den Baumstämmen des Waldes war es finster. Auf dem Tischchen bei der Sitzgruppe lagen Zeitschriften aufeinandergestapelt. Er überlegte, sitzen zu bleiben und nach einer halben Stunde aufzustehen und wegzugehen, ohne seinen Vater besucht zu haben. Aber er blieb sitzen, bis er sich an den säuerlichen Geruch und das diffuse graue Licht im Korridor gewöhnt hatte. Dann stand er auf und ging ohne Zögern zu den Liften hinüber.

In der dritten Etage bewegten sich zwei Frauen mit ihren Rollatoren auf das Fenster zu, das auf die Baumwipfel hinausging. Sie gingen so dicht nebeneinander, dass sich ihre Arme berührten. Sie rochen nach Haarlack und süßem Parfüm, das ihm in den Augen brannte. Die Wut ist menschlich, der Zorn aber gehört den Göttern. Wo hatte er das gelesen? Warum fiel es ihm ausgerechnet jetzt ein? Er war nicht wütend, wenn er seinen Vater im Pflegeheim besuchte, er war müde und deprimiert. Als er auf die Zimmertür mit der Nummer 31 zuging, kam ihm ein Greis entgegen, der mit sich selber redete und ihn böse ansah, ein Männchen aus Papier, das Hausschuhe trug. Gregor hatte aufgehört, seinem Vater etwas mitzubringen, weil er auf die Blumen, Früchte und Pralinen gar nicht reagierte. Die Krawatte, die er ihm zum Geburtstag gekauft hatte, war kommentarlos im Papierkorb unter dem Waschbecken gelandet. Eine Weile lang hatte er seinem Vater aus Büchern vorgelesen, aber der hatte angefangen, sich laut zu beschweren und den Kopf hin und her zu werfen, sobald er sich mit einem Buch an sein Bett setzte. Gregor blieb vor der Tür stehen, straffte die Schultern und klopfte an. Er hörte ein Hüsteln, öffnete die Tür und betrat das Zimmer. Warum halte ich den Atem an?

Sein Vater war nicht allein. Er saß auf einem Stuhl neben dem Bett, die Schleiereule des Pflegeheimes auf der linken Schulter. Sein Vater hatte die Augen geschlossen, seine Stirn berührte den Kopf der Eule. Das Bild berührte Gregor unangenehm; er kam sich vor, als ertappe er seinen Vater bei einer Zärtlichkeit, die ihn nichts anging. Der Mann, der den Vogel betreute, stand am Fenster und nickte Gregor zu. Das Heim, in dem sein Vater lebte, war das erste der Schweiz, in dem die Organisation »Les Chouettes du Coeur« aus dem Burgund mit Demenzkranken und »Herzenseulen« arbeitete; in französischen Pflegeheimen war es Schleiereulen, Falken und Bussarden gelungen, Dementen aus ihrem Dämmer zu helfen und ihnen kurze Momente des Glücks zu bescheren. Der Mann schnalzte mit der Zunge, die Eule sträubte die Federn, drehte den Kopf und setzte sich auf seine ausgestreckte Hand.

Sein Vater blieb einen Moment mit geschlossenen Augen sitzen, den Kopf geneigt, als berühre er die Eule weiterhin mit der Stirn. Dann öffnete er die Augen, sah seinen Sohn an, stand auf und setzte sich aufs Bett. Es war stickig in dem Zimmer, es roch nach Mittagessen. Im grellen Sonnenlicht war der Schweißabdruck einer Hand auf dem Fensterglas zu sehen.

»Ganz schön heiß heute«, sagte er.

»Hoho«, sagte sein Vater, »da lachen ja die Berber. Schneebesen!« Seine Augen waren klar und wach. Er trug ein hellgelbes Hemd mit kurzen Ärmeln, das Gregor noch nie gesehen hatte. Wie dünn seine Arme waren, wie weiß. Altmännerärmchen.

»Pfui«, sagte sein Vater an ihn gerichtet, »in deinem Alter!«

Der Mann mit der Schleiereule legte Gregors Vater die Hand auf die Schulter und verabschiedete sich mit ruhiger, leiser Stimme von ihm. Gregors Vater nickte und warf der Eule einen verschwörerischen Blick zu. Kaum war die Tür hinter dem Mann ins Schloss gefallen, fuhr sich Gregors Vater mit dem ausgestreckten Zeigefinger über die Kehle und lachte höhnisch.

»Herr Professor!«, zischte er.

»Der Mann ist kein Professor«, sagte Gregor und trat ans Fenster.

»Papperlapapp!«

Seit sein Vater im Pflegeheim lebte, hatte er verschiedenste Phasen durchlaufen, er hatte geschrien und getobt, geschwiegen, geschlafen, geheult und gelacht. Man hatte ihn mit Medikamenten behandelt, die ihn ans Bett fesselten, die ihn laut und aggressiv werden ließen, die ihn in ein greinendes Kind und in einen uralten Mann mit leerem Blick verwandelten. Seit einiger Zeit war er auf eine versöhnliche Art sanft und friedlich, ohne allzu traurig zu wirken. Schmerzen, das hatte ihm der Chefarzt versichert, hatte sein Vater keine.

»Danke, danke, vielen, Dank, Herr Schneebesen.«

Sein Vater ließ sich langsam aufs Bett sinken, drehte sich auf die Seite und zog beide Beine an die Brust. Es hatte keinen Sinn, ihm zu erzählen, was in Irland passiert war. Er würde es ohnehin sofort vergessen. Oder nicht? Sollte er ihm sagen, was für ein Tag heute war? Wusste er, dass heute vor zweiundzwanzig Jahren seine Tochter Kathrin verschwunden war? Trauerte er um sie? Trauerte er um seine Frau, die sich das Leben genommen hatte? Plötzlich wurde Gregor bewusst, was für eine ungeheure Freiheit es bedeutete, vergessen zu können. Eigentlich war sein Vater der einzige Mensch, dem er die ganze Wahrheit erzählen könnte. Bei ihm könnte er sich alles von der Seele reden, beichten beim eigenen Vater, einem Vater, der alles vergaß, in dem alles verschwand wie in einem schwarzen Loch. Warum mach ich es dann nicht? Weil ich ihm nicht traue.

»Sie sehen alt aus!«

»Ich bin fünfunddreißig, Dad.«

Dad hatte er ihn früher nicht genannt. Er brachte es nicht über die Lippen, ihn weiterhin »Papi« zu nennen. Hörte er ihn überhaupt? Auf dem Nachttisch lag eine Bibel mit blauem Einband. Las sein Vater darin? Hörte er Musik auf seiner kleinen Stereoanlage, die auf der Kommode stand? Sah er fern?

»Mein Liebling, hoho.«

Sein Vater trug keine Socken, warum fiel ihm das erst jetzt auf? Seine Zehennägel waren gelb, verwachsen und zu lang. Früher hatte er ausgiebig geduscht und seinen Schnurrbart mit einem Scherchen geschnitten. Gregor hatte den Geruch des Aftershaves seines Vaters geliebt. Zitrus. Gleich nach dem Selbstmord seiner Frau hatte er das schwarze Bürstchen über der Oberlippe wegrasiert. Selbst aus dem Fenster in der dritten Etage konnte man das Ende des Waldes nicht erkennen. Schaute sein Vater manchmal über die Bäume hinweg in die Ferne? Hörte man den Verkehr aus der Stadt, wenn das Fenster offenstand? In Gregors Kopf dröhnte es, die Welt vor seinen Augen flimmerte. Er versuchte darüber nachzudenken, was er mit dem Rest des verlorenen Tages anfangen sollte. Zeit totschlagen. Warten auf das Ende des Tages. Auf einem Stuhl sitzen, bis es dunkel geworden ist. Auf der Sitzgruppe im Entrée die Nacht erwarten. Die Flasche unter der Spüle fiel ihm ein, die Farbe des Whiskeys, wenn er das Glas ins Sonnenlicht hielt. Bernstein. Das Lachen seiner Schwester fiel ihm ein, ihr anmaßender Blick, wenn sie ihn kindisch fand, unreif. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Sie hatte doch vor rein gar nichts Angst gehabt! Sein Vater roch kein bisschen nach Schweiß, schwitzte er denn gar nicht?

»Schau«, sagte sein Vater gütig lächelnd.

Er hatte sich wieder aufgesetzt und streckte die rechte Hand aus, als wolle er seinen Sohn berühren. Als wolle er auf etwas hinter ihm deuten, auf etwas Prachtvolles über seiner Schulter.

»Schau!«

Gregor drehte sich um und erblickte sein unscharfes Spiegelbild im Fensterglas. Das Gesicht des Vaters glühte, er wirkte erstaunt und glücklich.

»Schau«, sagte er zum dritten Mal, »deine schönen Flügel, Sohn!«

Stirb, Schwesterchen, stirb: Thriller
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