SCHNEESCHLANGEN

ZÜRICH

Sie stand seit Minuten mit gesenktem Kopf an der Küchenspüle und ließ eiskaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen. Sie war nicht einfach müde, sie war erschöpft und ausgelaugt. Gleichzeitig hatte es keinen Sinn, sich hinzulegen, sie würde ja sowieso nicht einschlafen können. Noch vor kurzem hatte sie sich nachmittags regelmäßig hingelegt, war problemlos eingeschlafen und nach ein, zwei Stunden, ohne geträumt zu haben, ausgeruht erwacht. Heute hatte sie unweigerlich Bilder im Kopf, wenn sie sich hinlegte und die Augen schloss, Bilder der Dinge, die Karl und sie getan hatten. Du wirst alt, sagte sie sich, alt und darum wehmütig und mitleidig und sentimental. Es war höchste Zeit aufzuhören, noch hatte sie wenigstens tagsüber Ruhe vor den Erinnerungen. Vielleicht würde sich das ändern, wenn sie weitermachten wie bisher.

Sie drehte das Wasser ab, legte sich die kalten, nassen Hände in den Nacken und trat auf den Flur. Sie blieb vor der Fotografie ihrer toten Tochter stehen, flüsterte zwei Mal Silvia, Silvia und schlug dazu das Kreuz. Vier der zwölf Kerzen waren wieder erloschen; sie musste die Balkontür und das Küchenfenster bei geschlossenen Jalousien offen lassen, weil sie die Hitze nur mit Durchzug ertrug. Sie nahm das Plastikfeuerzeug aus der Tasche ihres Kleides und zündete die Kerzen wieder an. Wie schön Silvia gewesen war, wie schüchtern sie in die Kamera geblickt hatte! Sie wischte mit der Hand über das Glas der gerahmten Fotografie, drückte kurz die Augen zu, um sich von ihrer Tochter zu verabschieden, ein neues Ritual, auf das sie unmöglich verzichten konnte. Es war so still in ihrer Wohnung, dass sie sich für einen erschreckenden Augenblick nach Kinderlärm sehnte. Sie hörte Karls Schritte in seiner Wohnung oben, löste sich aus ihrer Erstarrung und trat ins Wohnzimmer. Sie sollte sich den Lebenden widmen, nicht den Toten! Es war Zeit, sich um die Adresse ihrer Schwester zu kümmern. Sie setzte sich an den Laptop, verlor aber jede Energie, bevor sie das Gerät auch nur berührt hatte. Was wollte sie denn ausgerechnet von ihrer Schwester? Die Bestätigung, dass sie trotz alledem ein guter Mensch war? Ein Mensch, den man lieben konnte? Sie sah ihre Schwester auf der verglasten Veranda des Elternhauses kauern, wie eine Mumie in die vollgepissten Bettlaken gewickelt, mit den Zähnen klappernd vor Kälte, während sie mit den Eltern beim Frühstück saß, froh um die Kirchenglocken, die zur Sonntagsmesse läuteten, weil ihr Vater dann den Mund hielt. War die Veranda wirklich verglast gewesen? Kalt war es dort draußen auf jeden Fall gewesen. Nach Frostnächten hatte eine Eisschicht den Bretterboden bedeckt, die unter den Schritten knirschte. Die Eisblumen auf dem Fenster ihres Kinderzimmers hatten ihnen gefallen, weil sie aneinandergedrückt unter dem dicken Winterduvet lagen und den Atem anhielten. Zwei Schwestern, die sich schaudernd ausmalten, ihre Luftröhren und Lungen könnten gefrieren und sie in Eisprinzessinnen verwandeln, und die gleichzeitig wussten, dass das nie passieren würde, weil sie sich gegenseitig warm hielten.

Wirst du aufs Alter etwa anfällig für Kitsch, dachte sie und sehnte sich nach einer kalten Dusche, blieb aber sitzen, weil ihr die Kraft fehlte aufzustehen. Wie weich die Jalousien das harte Sonnenlicht machten! In was für einem Drecksloch ihre Schwester bei ihrem letzten Besuch gehaust hatte! Wo war das gewesen? In Biel oder in Grenchen? Auf jeden Fall in irgendeiner heruntergewirtschafteten Kleinstadt an der Grenze zur französischen Schweiz. In Murten? In der finsteren Wohnung hatte es nach Hund, Marihuana und ungewaschenen Menschen gerochen. Der Freund ihrer Schwester hatte kein Wort zu ihr gesagt. Er hatte einen Kapuzenpulli getragen, einen Joint nach dem anderen geraucht, und sie böse angefunkelt. Es war Ruth nicht gelungen, sich mit ihrer Schwester allein zu unterhalten. Als sie sich auf den Balkon setzten, war er ihnen gefolgt und hatte sich vor der Glastür im Wohnzimmer auf den Boden gesetzt, um ihnen wortlos paffend zuzuhören. Seine Füße waren mit schwarzen Zeichen tätowiert gewesen, die sie nicht verstanden hatte. Was Karl und sie dem Mann nicht alles hätten antun können! Es war ihr nicht mehr möglich gewesen, ihn unbefangen anzusehen, weil sie sich vorstellte, wie er gefesselt vor ihnen saß und um Vergebung bettelte. Drecksau! »Domenico hat eine Hundeallergie, darum hab ich Zak eingeschläfert.« Die Erklärung ihrer Schwester hatte Ruth lange beschäftigt. Ihr Freund hatte Lederhosen mit Fransen angehabt und sich ruckartig wie ein Roboter bewegt. »Macht all das Gras, das du rauchst, nicht weich und entspannt?«, hätte sie ihn fast gefragt, aber darauf verzichtet, um ihn nicht noch mehr gegen sie aufzubringen.

Sie hörte eine Mücke hinter ihrem rechten Ohr, hob aber nicht die Hand. Wozu? Sie erwischte sie ja sowieso nicht. Wie windstill es war. Bestimmt standen die Bäume an der Bergstrasse still und starr in der Hitze. Der Stuhl war unbequem. Weshalb fiel ihr das erst jetzt auf? Wie viele Jahre hatte sie kein Möbel mehr gekauft? Es war ihr unangenehm, den Teppich mit den nackten Füßen zu berühren, und sie hob sie in die Luft.

Plötzlich verspürte sie Sehnsucht nach Karl. Sollte sie ihn auf dem Handy anrufen, um wenigstens seine Stimme zu hören? Sie würde sich morgen um die Anschrift ihrer Schwester kümmern, sie war noch nicht reif für die Begegnung. Wie dürftig die Ausreden doch sind, die wir für uns selbst brauchen, dachte sie, und doch funktionieren sie. Morgen! War es wirklich Zeit, aufzuhören mit dem, was sie taten? Ging das überhaupt? Wer war sie? Wer wollte sie sein? War es möglich, sich in ihrem Alter zu ändern? Nur in Filmen und Romanen gelang es Menschen, sich zu ändern. Menschen aus Fleisch und Blut lernten im Lauf der Jahre höchstens, besser zu verbergen, wer sie in Wirklichkeit waren.

»Stell dich nicht so an«, sagte sie laut.

Sie blieb sitzen und atmete einmal tief durch. Schweiß lief ihr über den Rücken, ihre Armbeugen waren feucht. Sie streckte die Beine und betrachtete ihre Füße. Ich bin alt und bald bin ich tot, dachte sie und zog die Beine unter den Tisch. Warum hörte sie eigentlich nie mehr Musik? Früher hatte ihr das über Stimmungsschwankungen hinweggeholfen. Später musste sie einkaufen, auch für Karl. Das war seit einiger Zeit seine neueste Marotte, er kaufte nicht mehr ein, er hielt Menschen, die vollgepackte Einkaufswagen vor sich herschoben, noch weniger aus als sonst. Die Einkäufe für ihn stellte sie in sein Kellerabteil, dort holte er sie und trug sie in seine kleine Wohnung unter dem Dach. Karl, der Vater ihres toten Kindes. Es gibt nichts Grausameres als Sanftmut! Diesen Satz hatte Karl über die Jahre immer wieder geäußert. In letzter Zeit hatte Ruth den Eindruck, er versuche sich damit zu rechtfertigen. Sie ließ noch ein paar Minuten verstreichen, als gewöhne sie sich vielleicht an die Hitze. Aber schließlich stand sie auf, trat auf den Gang hinaus, schlug das Kreuz, suchte den Blick ihrer Tochter, flüsterte Silvia, drückte die Augen zu, nahm die Einkaufstasche vom Haken und schlüpfte in die Schuhe.

Sie konnte ihre Wohnung unmöglich verlassen, ohne einen Blick auf die Uhr über der Küchentür zu werfen, auch diese Gewohnheit hatte sie längst von Karl übernommen.

Es war 14 Uhr 23.

Vor achtzehn Jahren war ihr das Treppenhaus so unheimlich und düster vorgekommen, dass sie sich um ein Haar gegen die Wohnung entschieden hatte. Heute liebte sie das Knarzen der Holztreppen und das Unterwasserlicht, das sie dort auch im Sommer empfing. Sie genoss es, den Handlauf zu berühren, wenn sie nach oben oder unten ging, als strahle das nussbraune, glatt polierte Holz eine Energie aus, die sie beruhigte und mit einer lange vergangenen Zeit kurzschloss.

»Es gibt nichts Grausameres als Sanftmut!« Der verbitterte Zug, den Karl bekam, wenn er den Satz aussprach, hatte sie früher so wenig gestört wie die Tatsache, dass er die Menschen mit ausgestrecktem rechtem Arm begrüsste, um sie auf Distanz zu halten. Früher! Jetzt musste sie sich beherrschen, um ihn nicht darauf hinzuweisen, wie alt ihn der bittere Zug machte und wie verkrampft sein ausgestreckter Arm wirkte. Ein verbitterter alter Soldat, so sah Karl aus. Und du? An wen erinnerst du ihn? An eine verdorrte Jungfer mit verkniffenem Mündchen und kaltem Blick? Die leere Einkaufstasche berührte die Stufen nur bei jedem zweiten Schritt. Ruth ging dicht am Geländer nach unten, die Hand auf dem Handlauf, und saß gleichzeitig im Sattel ihres Mädchenfahrrades, auf dem Heimweg von der Schule. Es war Winter und noch nicht dunkel genug, damit der Schnee wie in der Nacht leuchtete. Das Sirren des Dynamos übertönte ihr lautes Atmen, unter dem vorderen Schutzblech staute sich Matsch, bis er auf beiden Seiten als braune Schneeschlangen herauskringelte. Wie weit einen Erinnerungen doch zurücktragen konnten!

Die unterste Treppenflucht, die zum Eingangsbereich mit schwarz-weiß gewürfeltem Steinboden und der Reihe eiserner Milchkästen führte, war aus Sandstein, der in der Treppenmitte deutlich abgetreten war. Seit einiger Zeit kostete es Ruth Überwindung, die schwere Holztür mit dem vergitterten ovalen Fensterchen zu öffnen, um das Haus zu verlassen und sich der Welt zu stellen. Ins Holz des Türstockes waren zwei Schnecken samt Häuschen geschnitzt, die aufeinander zukrochen und deren ausgestreckte Fühler sich berührten. Sie drückte die Klinke nach unten, zog die Tür auf und sah sich im selben Augenblick neben ihrer Schwester unter ihrem Mädchenbett liegen, um sich vor dem Vater zu verstecken, der in Arbeitsstiefeln betrunken durch die Wohnung polterte und nach ihnen suchte, weil kein Bier im Kühlschrank stand. Ihre Schulranzen, die vor dem Bett auf dem Boden lagen, würden sie früher oder später verraten, darum schoben sie mit den Händen den zentimeterdicken Staub zusammen, als könne er sie verbergen und schützen. Es gibt uns nicht, wir sind doch schon vergangen. Hatte sie das damals wirklich gedacht? Oder war es die Erkenntnis einer alten Frau? Es gibt uns nicht! Natürlich gab es sie, und es hatte sie auch damals gegeben. Die Mutter, die sich ohne ein Wort ins Elternschlafzimmer verzog, während der Vater seine Wut an ihnen ausließ. Wir sind doch schon vergangen! Das scharfe Schnalzen des Ledergurtes, die Filzstücke unter den Beinen der Möbel, das Glas mit Schraubdeckel, in dem das Kleingeld für das Bier lag, das angestrengte Schnaufen des Vaters, sein Fluchen, der Türstopper aus Gummi, die Zimmerpflanze mit den ledrigen Blättern, Vaters Schluchzen, seine gestammelten Beschwörungen und Entschuldigungen, die Schreie ihrer Schwester, ihre eigenen Schreie, ihr Stöhnen, die Worte, die sie mit den Zeigefingern in den Staub schrieben, die Hilferufe.

Stirb, Schwesterchen, stirb: Thriller
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