WINDELN, BILLIGBIER UND MILCH
ZÜRICH
In seiner Wohnung unter dem Dach war es um 19 Uhr 20 bereits so dämmrig, dass er sich verschwommen in der Wohnzimmerscheibe gespiegelt sah: ein nicht besonders großer, etwas fülliger Mann in Anzug und Krawatte, der auf einem Stuhl mitten im Zimmer saß. Dass er alt war, sah man seinem Spiegelbild nicht an. Oder doch?
»Worauf wartest du?«, sagte er laut und lachte höhnisch.
In Ruths Wohnung war es im Sommer um diese Zeit noch hell. Zu hell. Er mochte das Dämmerlicht in seinen kleinen abgeschrägten Zimmern, er liebte die Schatten, die aus den Ecken krochen und sich alles einverleibten. Schatten sind gefräßig, dachte er, sie holen sich alles und jeden. Er stand auf und trat ans Fenster, ohne die Gardine zurückzuziehen. Auf der Bergstrasse staute sich Feierabendverkehr. Er massierte sich mit geschlossenen Augen die Schläfen, während er schnupperte: Wie jeden Abend unter der Woche roch es nach den Abgasen der Autos. Der Geruch erinnerte ihn an etwas aus seiner Kindheit, und er sah seinen Bruder vor sich, den Versager, aber es gelang ihm, das Bild zu verdrängen. Seit wann öffneten Gerüche und Geräusche Falltüren, durch die er schutzlos in Erinnerungen stürzte, die er längst verarbeitet hatte? Drecksautos! Fehlte ihm sein Bruder? Als Junge hatte er ihm einmal beinahe mit dem Luftdruckgewehr eine Kugel in die Stirn gejagt, er war zwölf gewesen, sein Bruder vierzehn, nur mit letzter Willensanstrengung war es ihm gelungen, den Gewehrlauf im letzten Moment zur Seite zu ziehen und die Kugel in den Baumstamm neben dem Bruder zu jagen.
Bis vor kurzem war ihm der Abgasgestank, der von der Bergstrasse in seine Wohnung hochgeweht wurde, gleichgültig gewesen, seit einiger Zeit störte er ihn, wie ihn so vieles störte und wütend machte. Diese unkontrollierbare Wut war schuld daran, dass er nicht mehr einkaufen konnte. Mütter mit gigantischen Windelpackungen und Gläsern mit farbiger Babypampe gingen ihm genauso auf die Nerven wie einsame Rentner mit Sonderangeboten in ihren Einkaufswagen, Verlorene, die sich auf Billigbier stürzten, nur abgelaufene Milch und Brot vom Vortag kauften, durch die Warengänge humpelten und mit den Münzen in ihren Hosentaschen klimperten, weil sie den Blick nicht von den Ärschen und Beinen der Mütter lösen konnten. Ich halt die Menschen nicht mehr aus, hatte er zu Ruth gesagt, ich bring einen von ihnen um, vor dem Regal mit dem Katzenfutter, ich stech einen der Verlorenen vor der Fleischtheke ab! Ich kann, ich will sie nicht mehr sehen, nicht mit ihren Einkäufen, ihr Anblick stößt mich in einen Abgrund, aus dem ich es nie wieder herausschaffe!
Er war vor einer halben Stunde in den Keller hinuntergegangen, um die Einkäufe, die Ruth für ihn erledigt hatte, aus seinem Abteil zu holen und in seine Wohnung hochzutragen. Er war keinem anderen Mieter begegnet, er hatte die Nase dafür, das Treppenhaus nur im richtigen Moment zu betreten, er achtete auf kleinste Geräusche, er war der Geist aus der kleinen Dachwohnung, den niemand kannte, mit dem keiner mehr als nur ein paar Worte gewechselt hatte. Der Alte in Anzug und Krawatte, den niemand beschreiben konnte. Der Alte in Anzug und Krawatte, der mit den Schatten verschmilzt, der von hinten aus der Finsternis heraustritt und einem die Hand auf die Schulter legt: Mein Name ist Karl, und du bist tot!
Aber die Einkäufe waren nicht wie vereinbart in seinem Kellerabteil deponiert gewesen. Da hatte er Ruth das erste Mal auf dem sicheren Handy angerufen, dem Handy, dessen Nummer er kannte und sonst niemand. Er war, genau wie bei den vier anderen Anrufen, die er seither getätigt hatte, ohne dass es klingelte, direkt in ihrer Voicebox gelandet. Ruth hatte das Handy ausgeschaltet.
Das machte sie nie.
Genau wie er sein sicheres Handy niemals ausschaltete, das Handy, dessen Nummer sie kannte und sonst niemand.
Es sei denn, er wollte sie warnen.
Ruth warnte ihn.
Aber wovor?
Er setzte sich wieder auf den Stuhl. Legte das Handy vor sich auf den Boden. Zupfte die Hosenbeine zurecht, zog die Ärmel seines weißen Hemdes unter den Ärmeln des Jacketts hervor und legte die Hände auf die Knie. Ein Mann in Anzug und Krawatte, der reglos zusah, wie es langsam dunkel wurde, der zuhörte, wie die Geräusche des Feierabendverkehrs langsam verebbten. In seiner Wohnung war es still wie in einer leeren Wohnung, in der niemand lebte.
Er hörte die Vögel in den Bäumen.
Er atmete sehr ruhig.
Etwas war geschehen, das spürte er.
Gregörchen war einen Schritt zu weit gegangen.
Es war Zeit, ihm zu zeigen, wer der Meister war.
Er saß da und wartete.