VORZIMMER DES TODES
SCHLIEREN
Er stand am Fuß der Einfahrtsrampe, unschlüssig, ob es richtig war, das Fabrikgebäude zu verlassen und in der Morgensonne auf Rico und Cooper zu warten. Die Einfahrt war viel steiler, als sie ihm letzte Nacht vorgekommen war. Eine Abschussrampe in einen Himmel, der bis auf eine zerzettelte Wolke leer war und aussah, als wisse er nicht, ob er sich blau färben wolle.
Die Morgenluft war erfrischend kühl. Er hörte einen Schnellzug auf den Gleisen hinter der Industriebrache vorbeirasen, ein Geräusch, das für gewöhnlich Fernweh in ihm auslöste, ihn heute aber kalt ließ. Er wollte hier sein. Hier in dieser ehemaligen Schraubenfabrik. Wie gut kannte er sich? Wusste er, was er für ein Mensch war? Die Faust, die er ihr ins Gesicht geschlagen hatte, tat ihm weh. Sie war gerötet, die Knöchel des Mittel- und des Zeigefingers waren angeschwollen. Er öffnete und schloss die Faust, während er die Einfahrt hinaufging, Schritt um Schritt, als gerate jeden Moment etwas Ungeheuerliches in sein Blickfeld, das ihn zum Umkehren zwang. Würde er die Frau töten, um zu erfahren, wo sich seine Schwester aufhielt? Er ging in die Hocke und legte die Hände auf den Beton, der im Morgenlicht glitzerte und erstaunlich kühl war. Als er sich wieder erhob, knackte sein rechtes Knie. Würde er es Rico überlassen, Ruth zum Reden zu bringen? Neben ihm stehen, wenn er sie schlug? The weak are meat, the strong do eat! Er hatte immer zu den Schwachen gehört. Er war ein Feigling, das hatte er bewiesen. Was wäre für ein Mensch aus ihm geworden, wenn der 17. Juli 1991 anders verlaufen wäre? Wenn er beim Biber und der Frau mit Feuer im Gesicht geblieben wäre, nicht seine Schwester? Wenn er damals nicht weggelaufen, sondern um Kathrin gekämpft hätte? Er hatte das Ende der Einfahrtsrampe erreicht. Das Licht über der Industriebrache war klar, noch fehlte der Sonne die Kraft, Farben auszubrennen. Es roch nach Staub, aus dem Schutthaufen stieg noch immer Qualm, ein dünner schwarzer Faden, der kerzengerade in die Höhe wuchs und sich auflöste. Zwei Züge kreuzten sich, dreißig Meter von ihm entfernt, die Gesichter der Morgenpendler verwischt, so schnell waren die Züge unterwegs.
Er ging ein Stück über die Brache, kickte Steinchen vor sich her, hob Holzstücke auf und schleuderte sie so weit weg, wie er konnte. Seine Schritte wirbelten Staub auf, unter seinen Sohlen knirschte Unrat der geräumten Fabrikgebäude. Das Rauschen, das in der Luft lag, kam von der Autobahn, die irgendwo in der Nähe vorbeiführte, der Morgenverkehr. Ein dunkles Auto bog von der Straße auf das geräumte Areal; als er begriff, dass es Ricos Lieferwagen war, drehte er um. Er lief die Zufahrt hinunter, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden. Das Licht der Stehlampe wirkte im Dämmerlicht der Halle auf unechte Weise gemütlich. Das gelbe Zelt gaukelte etwas vor, das es nicht gab, nicht hier unten: Geborgenheit. Er war außer Atem, als er das Licht im Raum anmachte und die Metalltür aufstieß. Offensichtlich hatte sie versucht, die Beine an die Brust zu ziehen. Sie lag auf der Seite und wimmerte. Ein Blutfaden lief ihr aus der Nase, das Feuermal auf ihrer Wange war aufgeschürft. Er packte sie an den Schultern, es gelang ihm, sie hoch zu zerren und mit dem Stuhl aufzurichten. Das Wasser, das er ihr über den Kopf geschüttet hatte, hatte die Schminke unter ihren Augen zu schwarzen Balken verwischt. Sie starrte ihn an, zog Rotz hoch und spuckte zwischen seinen Füßen auf den Boden.
»Du bist tot.«
»Das bin ich schon lange«, sagte er und ließ sie allein.
Cooper nickte Gregor zu, reichte ihm aber nicht die Hand. Er war groß und mager und erinnerte ihn an die Strichzeichnungen, die er in der Schule gemacht hatte, wenn sie Menschen darstellen sollten. Er trug schwarze Lederhosen, Bikerboots, ein Jeanshemd. Stirnglatze und Nase waren sonnenverbrannt, die Haare zu einem Zopf geflochten, an dem er ständig herumfingerte.
Rico öffnete die Hecktüren des Transit und deutete auf die Holzkiste, die mit einem massiven Drahtgitter abgedeckt war und fast die halbe Ladefläche einnahm.
»Sie ist sechzig Kilo schwer«, sagte er.
»Fünfundfünfzig Komma drei«, sagte Cooper, »sie hat seit drei Monaten nichts gegessen.«
Gregor wagte sich nicht in die Nähe der Kiste. Der Geruch, der aus dem Gitter stieg, war ihm unangenehm.
»Was stinkt denn so?«, fragte er.
»Alice ist ein Weibchen«, antwortete Cooper.
»Und Weibchen stinken?«
»Wenn sie auf der Suche nach Männchen sind, schon, ja. Wo soll sie hin?«
»Moment mal«, sagte Gregor, »sie ist seit drei Monaten nicht mehr gefüttert worden. Ist das nicht gefährlich?«
»Für wen?«
Cooper grinste, warf sich seinen Zopf über die Schulter und steckte sich ein Wurzelstück in den Mund, das Gregor auf den zweiten Blick als Süßholz erkannte.
»Cooper hat aufgehört zu rauchen«, sagte Rico schulterzuckend.
»Wann?«
»Vor vier Jahren«, sagte Cooper und spuckte aus.
»Ist sie gefährlich oder nicht?«
»Alice ist harmlos wie ein Lämmchen ohne Pelz. Wenn man sie nicht reizt. Sonst kann sie ungemütlich werden. Nehmen wir sie raus?«
Cooper kletterte in den Laderaum und trat hinter die Kiste. Rico packte den einen Tragegriff an der Vorderseite, Gregor den anderen. Während sie die Kiste aus dem Transit hoben, zum Sofa trugen und auf dem Boden abstellten, sah sich Gregor die Schlange an. Sie war olivgrün mit runden schwarzen Flecken, die im Zentrum hell waren, dick wie sein Oberschenkel und hatte einen kleinen Kopf, der kaum vom Hals abgesetzt war. Da sie zusammengerollt in der Kiste lag, konnte er nicht abschätzen, wie lang sie war. Ihre Unterseite war creméweiß.
»Wie lang ist die?«, fragte er.
»Fünf Meter siebzehn«, sagte Cooper.
»Boa?«, fragte Gregor.
»Anakonda. Eunectes murinus. Sind Lauerjäger.«
»Und das heißt?«
»Was wohl? Dass sie auf ihre Beute warten.«
Sie setzten sich aufs Sofa und Cooper erklärte ihnen, wie er vorgehen wollte. Sie würden die Kiste zu dritt in den Raum tragen, öffnen würde er sie. Dann wollte er Ruth mit seiner Anakonda allein lassen.
»Hat sie wirklich Angst vor Schlangen?«, fragte er.
»Panische Angst«, antwortete Gregor.
»Dann wird sie reden. Garantiert.«
»Und wenn Alice nicht aus der Kiste kommt?«
»Das wird sie, keine Angst.«
Cooper nahm den Süßholzstängel aus dem Mund und betrachtete ihn angewidert.
»Grauenhaft, das Zeug«, sagte er.
Seine Zunge war braun. Rico nickte. Es wurde bereits wieder warm, es war hell genug, um die Stehlampe auszumachen. Aber sie blieben sitzen und sahen wortlos zu, wie die Sonne die Einfahrtsrampe mit einem goldenen Schimmer bezog. Gregor war todmüde. Hungrig war er auch. Wann hatte es eigentlich das letzte Mal geregnet? Er sehnte sich nach dem Rauschen, Prasseln und Trommeln, dem Duft, der nach einem Sommerregen aufstieg. Sein Vater fiel ihm ein, sein Zimmer im Pflegeheim mit Blick über die Baumwipfel, die Eule, die bei ihm gesessen und die er mit verlorener Zärtlichkeit mit der Stirn berührt hatte. Nach dem Selbstmord seiner Frau hatte sich der Vater buchstäblich über Nacht verändert. Kinn und Nase waren spitzer, Mund und Lippen schmaler geworden, an den Unterarmen und auf den Handrücken waren Venen hervorgetreten, als werde seine Haut dünner und durchlässiger. In jener Zeit war die Stimme des Vaters weich geworden, leise und zaghaft. Die Stimme eines Mannes, der sich gewisser Dinge, die er als Tatsachen betrachtet hatte, nicht mehr sicher war. Die Stimme eines Mannes, der begriffen hatte, dass es nicht in seiner Macht stand, was aus seinem eigenen Leben und dem Leben seiner Liebsten wurde. Die Vorhänge in seinem Zimmer waren Tag und Nacht geschlossen geblieben, der Lichtstreifen, der aus der angelehnten Tür auf die Dielen des Flures fiel, hatte geglänzt wie dunkler Samt. Die Luft in seinem Zimmer war stickig gewesen und hatte erst süßlich, aber bald nach altem Mann gerochen. Der Geruch des Todes. Gregor kämpfte dagegen, einzunicken, Cooper ging es genauso. Wann hatte es das letzte Mal geregnet? Hatte er sich das nicht eben gefragt? Seine Wut auf den Biber und die Frau mit Feuer im Gesicht hatte Zeit gehabt, zu wachsen, er hatte sie zweiundzwanzig Jahre gehegt und gepflegt. War diese Art Wut nicht viel gefährlicher als Wut, die plötzlich und unkontrolliert ausbrach? Das Vorzimmer des Todes! Gregor fuhr hoch. Er war eingenickt und hatte geträumt, er sitze am Bett des Vaters. Die Eule auf der Schulter, hatte er gesagt: »Das ist das Vorzimmer des Todes, mein Sohn!« Coopers Kopf war nach hinten gesunken, er schlief, der Süßholzstängel lag in seinem Schoss, das Ende zu einem fasrigen Pinselchen zerkaut. Rico sah Gregor aufmerksam an und stand auf.
»Bringen wir die Schlampe zum Reden«, sagte er.