6. Kapitel
Der erste Streifenwagen war gerade fünf Minuten zuvor am Tatort eingetroffen, als eine mitternachtsblaue Dodge Viper langsam heranrollte. Die Beamten waren noch nicht dazu gekommen, das Morddezernat zu verständigen, also wussten sie, dass es keiner von ihren Leuten sein konnte. Der befehlshabende Officer ging zu dem Wagen, um den Fahrer zum Weiterfahren aufzufordern, aber die Wagentür öffnete sich, bevor er ihn erreicht hatte.
Ein großer, athletisch gebauter Mann stieg aus. Ein Windstoß fuhr unter seine Lederjacke, so dass die beiden Colts in ihren Halftern unter jedem Arm zu sehen waren. Wenn man genau hinschaute, konnte man die Runen erkennen, die in den Griff und den Lauf der linken Waffe eingearbeitet waren. Die glatte Gesichtshaut des Mannes war schokoladenbraun, ebenso ein Erbe seiner guyanischen Mutter wie das kantige Kinn und die breite Nase. Obwohl die Sonne nicht schien, trug er eine sehr dunkle Sonnenbrille. Sein lockiges Haar hatte er zu einem festen Pferdeschwanz zusammengebunden, der bis auf seinen Rücken hinunterreichte. Zwischen seinen Lippen hing eine brennende Zigarette, deren Asche durch die Luft geweht wurde. Er sah ziemlich gut aus, und doch vergaßen die meisten Leute sein Gesicht wieder, sobald sie es gesehen hatten, was ihm auch ganz lieb war. Verschwiegenheit war sein Trumpf. Er schnippte die Zigarette achtlos weg und näherte sich dem Tatort.
»Sir, ich muss Sie bitten, wieder in Ihren Wagen zu steigen und weiterzufahren. Das hier ist eine Angelegenheit der Polizei.« Ein korpulenter Officer mit einem knallroten Gesicht trat ihm in den Weg.
»Alles klar, Mann. Ich gehöre zu euch.« Rogue zückte seinen Ausweis.
Der dicke Beamte kniff die Augen zusammen, als er den Namen unter dem etwas unscharfen Foto las. »Jonathan Rogue«, sagte er laut. »Ich habe von Ihnen gehört. Sie sind kein Cop, sondern eine Art Kopfgeldjäger oder so etwas.«
Rogue grinste. »Oder so etwas, wie niedlich.«
Rogues Name war unter den Polizeibeamten New Yorks berüchtigt. Er war Polizist in der dritten Generation gewesen und hatte eine vielversprechende Zukunft beim Dade-Country-Drogendezernat in Florida vor sich, bevor seine Unbeherrschtheit ihm die Suspendierung einbrachte. Ein kleines Mädchen war in einer der Wohneinheiten von Carol City an einer Überdosis Heroin gestorben. Rogues Schwester hatte Jahre zuvor das gleiche Schicksal ereilt, deshalb nahm er den Tod des Mädchens persönlich und das Gesetz in die eigenen Hände. Er hatte nicht vorgehabt, den Dealer zu töten, aber die Dinge liefen aus dem Ruder, und Rogue fand sich vor dem Ausschuss für Innere Angelegenheiten wieder. Wegen der tiefen Verwurzelung seiner Familie bei der Polizei wurde der Fall als rechtmäßige Tötung verhandelt, was Rogue das Gefängnis ersparte, aber wegen seiner ebenfalls langen Geschichte seines brutalen Umgangs mit Dealern wurde er aus dem Polizeidienst ausgeschlossen.
Dass Rogue ein guter Polizist gewesen war, hatte ihm sowohl unter den Kriminellen als auch bei den Gesetzeshütern Respekt eingebracht, aber es war seine Gabe für Bannwirkerei, die ihn zur Geißel der übernatürlichen Welt machte. Denn Rogue war nicht nur ein Cop in der dritten Generation, sondern auch ein Magus in der siebenten. Magier waren Bannwirker, aber nicht so wie Hexen oder Zauberer. Der Unterschied ähnelte dem zwischen Pfannkuchen und Crêpes. Sie waren das Gleiche und doch anders. Magier waren zwar nicht von Geburt an so begabt wie Zauberer, glichen jedoch den Mangel an natürlichen Fähigkeiten durch ihr Wissen aus. Sie zerlegten uralte Magien und setzten sie dann so zusammen, dass sie ihren eigenen Zwecken dienlich waren. Die Magier repräsentierten einen Teil des Spektrums des magischen Rades, wo Hell und Dunkel bedeutungslos waren und nur die Macht absolute Gültigkeit besaß.
Und wie die Hexen hatten auch die Magier eine Art Zirkel, den sie »Häuser« nannten. Rogues Familie repräsentierte das Haus von Thanos, den Kult des Todes. Dieses Haus war eines der beiden übrig gebliebenen Magier-Häuser in der modernen Welt. Die Anhänger des gestürzten Gottes galten als Meister der Todesmagie und Händler der Finsternis. Man munkelte sogar, dass ihre Macht von den Geistern stammte, die sie in ihren schwarzen Türmen gefangen hielten.
Rogue und seine Familie richteten sich jedoch nicht nach der allgemeinen Praxis ihres Stammbaums. Seit Rogue ein kleiner Junge war, hatte sein Vater seine Familie immer wieder gelehrt, dass sie ihre Gaben nur dafür einsetzen sollte, der Menschheit zu helfen und das Gesetz zu schützen. Das war eine schöne Philosophie, bis man erlebte, dass die Grenze zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit so verwischt wurde, dass es sich falsch anfühlte, das Richtige zu tun. Trotzdem hatte Rogue immer noch Gesetz und Ordnung im Blut, und diese Situation erforderte seine Aufmerksamkeit.
»Ich bevorzuge den Begriff ›Berater‹«, fuhr Rogue fort. »Und ich berate euch Clowns mehr, als ich mich um meine eigenen Fälle kümmere. Verdammt, es ist ein Wunder, dass ich mich überhaupt im Geschäft halten kann.«
»Es ist mir egal, was und wer Sie sind. Sie dürfen die Absperrung nicht übertreten. Das hier ist ein Tatort«, konterte der dicke Officer. Er verschränkte die Arme und starrte Rogue trotzig an.
Rogue seufzte. Er hatte gehofft, dass sein schnelles Mundwerk genügen würde, um ihm Zugang zu verschaffen, damit er sich vom Tatort holen konnte, was er brauchte. Aber der Polizist stellte sich stur, und Rogue hatte keine Zeit für Ratespielchen. Er hoffte, dass er nicht zu härteren Mitteln greifen musste. »Kann ich kurz mit Ihnen reden?« Rogue trat einen Schritt auf den Beamten zu und musterte ihn über den Rand seiner Sonnenbrille. »Ich will nur kurz nachsehen, ob die Sache hier mit einem Ausreißer zu tun hat, nach dem ich suche. Ich werde den Tatort nicht durcheinanderbringen.«
Der dicke Polizist wusste, dass es gegen die Vorschriften verstieß, einen Zivilisten an einen Tatort zu lassen, aber etwas an Rogues beruhigender Stimme bereitete ihm ein schlechtes Gewissen, weil er den Mann wegschicken wollte. »Ich nehme an, ein kurzer Blick wird nicht schaden. Aber sagen Sie nichts dem Sergeant.« Der Mann konnte selbst kaum glauben, was er da sagte.
»Guter Mann.« Rogue klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken und duckte sich unter dem gelben Absperrband hindurch. Der Gast in ihm kicherte leise, aber Rogue blockierte ihn. Als er sich dem Tatort näherte, sah er Körperteile und Glasscherben überall auf dem Parkplatz verteilt. Am Rand lehnte ein zweiter Beamter an einem Wagen und spuckte die Reste des chinesischen Essens aus, das er zum Dinner verzehrt hatte.
»Was haben wir denn hier?« Rogues Frage erschreckte den zweiten Beamten.
»He, Sie haben hier nichts zu suchen.« Der Polizist wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.
»Ist schon okay, ich gehöre zu eurer Truppe.« Rogue tränkte seine Worte mit Macht.
Die Miene des Mannes verriet seine Unsicherheit, aber er antwortete ganz normal. »So etwas habe ich noch nie gesehen.« Er deutete mit einem Nicken auf dem Tatort. »Als hätte jemand einen Haufen verwesender Leichname auf der Straße verteilt. Es sind mindestens drei.«
»Verwesende Leichname?« Rogue hob eine Braue hinter der dunklen Sonnenbrille.
»Wenn Sie es so nennen wollen …«, erklärte der korpulente Beamte, als er zu ihnen trat.
Rogue kehrte den beiden Polizisten den Rücken zu und näherte sich einem der Toten. Im Schutz seiner Sonnenbrille streifte Rogue die Grenzen der physischen Welt ab und untersuchte den Tatort mit seinen anderen Augen. Die Flüssigkeit auf dem Boden war immer noch frisch, aber die Leichen waren schon lange vor dieser Nacht gestorben. Es handelte sich zweifellos um Nachtwandler, und genau das bereitete ihm Kopfzerbrechen. Sie waren das Fußvolk der Hölle und hatten so weit entfernt von den Burgen und Anwesen, in denen ihre Meister sich vor der Welt versteckten, nichts zu suchen. Das war jetzt das sechste Mal in fast ebenso vielen Nächten, in denen sie aufgetaucht waren, und das war eindeutig ein schlechtes Zeichen. Wenn diese Bestien in der Stadt herumrannten, dann war etwas Großes im Gange.
Rogue zog ein kleines Taschenmesser heraus und kniete sich neben einen der Leichname. Der Gestank erinnerte ihn an einen ermordeten Dealer, den er einmal während seiner Dienstzeit bei der Polizei gefunden hatte. Man hatte dem Mann die Kehle durchgeschnitten und ihn in ein Schlachthaus gebracht. Dort hatte er mindestens eine Woche gelegen, bis man seine Leiche entdeckte. Rogue nahm eine Gewebeprobe mit der Messerspitze und gab sie in eine der kleinen Glasphiolen, die er zu diesem Zweck bei sich trug. Es würde ein oder zwei Tage dauern, bis er den Zauber gewirkt hatte, der ihn zu demjenigen führen würde, der diese Monster vernichtet hatte. Aber angesichts der Art und Weise, wie die Nachtwandler zerfetzt worden waren, wusste er gar nicht so genau, ob er das wirklich wollte.
»Was halten Sie davon, Sir?«, erkundigte sich der korpulente Beamte. Er war ein bisschen beunruhigt, weil der Kopfgeldjäger plötzlich so ruhig geworden war.
Rogue stand auf und sah den Polizisten an. »Ich glaube, es ist ein klassischer Fall von Vandalismus. Vermutlich haben sich ein paar Kids betrunken und ein paar Autos zu Schrott gefahren.« Er zuckte mit den Schultern. »Da ist nicht viel zu tun, außer die Besitzer ausfindig zu machen und zu hoffen, dass sie ihre Versicherungsbeiträge bezahlt haben.«
Der dicke Officer sah Rogue an, als hätte er den Verstand verloren. »Rogue, ich weiß nicht, ob das bei Ihnen angekommen ist, aber wir haben hier drei Leichen. Ich glaube, das geht weit über einen Streich von betrunkenen Kids hinaus. Ich muss das hier melden.«
»Ich bin vollkommen Ihrer Meinung.« Rogue setzte seine Sonnenbrille ab und baute sich direkt vor dem Beamten auf. Der erstarrte, als er in Rogues Augen sah … das waren die Augen von etwas, das eindeutig nicht von dieser Welt kam. Sie waren schwarz, aber nicht wie die Farbe. Sie hatten die Schwärze des Universums vor dem angeblichen Urknall, der die Welt erschaffen hatte. Dieses Schwarz war so tief, dass es nicht einmal Licht reflektieren würde, wenn man mit einer Taschenlampe hineinleuchtete. Und in dieser Schwärze tanzten Dutzende von sternenartigen Flecken. Wenn man in Rogues Augen sah, schien man in den Himmel von Nebraska zu blicken, in einer kühlen Septembernacht. Diese Augen waren ein Geschenk und ein Fluch, den ihm ein Dämon hinterlassen hatte, der von seinem jüngsten Bruder dummerweise heraufbeschworen worden war und über den er dann die Kontrolle verloren hatte. Mit vereinten Kräften hatten Rogue, sein Vater und sein Onkel den Dämon wieder in die Höhle zurückgetrieben, aus der er gekrochen war, aber dafür hatten sie einen Preis bezahlt. Wenn man es mit Dämonen zu tun bekam, musste man immer einen Preis zahlen.
Durch diese seelenlosen Augen konnte Rogue die Welt auf eine Art und Weise sehen, wie kein anderer Sterblicher sie zu sehen vermochte. Er sah die Menschen so, wie sie wirklich waren, und manchmal war das, was er sah, entsetzlich. Deshalb trug er diese Sonnenbrille: Sie half ihm, die Hässlichkeit der Welt auszugleichen. Und während Rogue die Welt so sehen konnte, wie der Dämon sie sehen würde, sah auch der Spender sie. Der Dämon konnte die Welt mit der Einfachheit eines Sterblichen betrachten, ohne die Einsamkeit seiner Grube verlassen zu müssen. Diese Augen verbanden sie nicht nur durch die Sehkraft, sondern auch durch die Macht. Aufgrund dieser Verbindung war Rogue in der Lage, die Dunkelheit anzuzapfen, wenn er seine eigene Magie beschwor; eine Magie, mit der er die Kreaturen der Finsternis und manchmal auch die des Lichts bannte. Niemand entkam dem Kopfgeldjäger, wenn er sich einmal auf eine Spur gesetzt hatte.
Jetzt starrte Rogue den dicken Polizisten an und beschwor seine Macht. Die sternenübersäte Nacht in seinen Augen wurde heller, und die Flecken wirbelten in der Dunkelheit umher. »Wenn Sie diesen Vorfall melden, dann werden Sie genau das berichten, was ich Ihnen gesagt habe. Ein paar Kids haben sich betrunken und einige Wagen beschädigt, haben Sie verstanden?« Der dicke Beamte war so fasziniert von Rogues Augen, dass man ihm eine Ohrfeige hätte geben können, ohne dass er es gemerkt hätte. All das verdankte Rogue der jahrhundertealten Magie, die er beherrschte.
»Na klar«, antwortete der dicke Officer und grinste dümmlich. Sein Partner stand neben ihm und nickte. Wenn sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnten, würden sie sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass sie mit dem Kopfgeldjäger gesprochen hatten.
Rogue ging ein letztes Mal über den Parkplatz und streute ein braunes Pulver über die Leichname, an denen er vorbeiging, während er leise etwas auf Swahili murmelte. Als er wieder hinter dem Lenkrad seiner Viper saß, machte er sich daran, zu verarbeiten, was er gerade erfahren hatte. Das alles gefiel ihm ganz und gar nicht. Einen oder zwei Nachtwandler hätte er als bloßen Zufall abtun können, aber sechs von ihnen bedeutete, dass irgendetwas Widerliches in diesem faulen Big Apple vorging, und es war sehr wahrscheinlich, dass er sich irgendwann mittendrin wiederfinden würde. Er legte den Gang ein und fuhr los. Im Rückspiegel beobachtete er die Wirkung des Alterungszaubers, den er gewirkt hatte: Der Wind trug sachte die Reste der verwesten Leichname davon.