8. Kapitel

Gabriel und De Mona beobachteten Redfeather mindestens fünf Minuten lang schweigend, aber er sagte kein einziges Wort. Stattdessen marschierte er auf dem Teppich seines Arbeitszimmers hin und her und warf gelegentlich einen Blick auf das Bündel. Tausend Lügen hätten nicht abwenden können, was – wie er wusste – kommen würde. Ob es ihm gefiel oder nicht, dieses rachsüchtige Ding hatte seinen Enkel auserwählt, und der musste darauf vorbereitet werden.

»Dieses Ding ist ein Fluch, der noch aus der Zeit der Belagerung stammt«, erklärte Redfeather schließlich.

»Der Belagerung?« Gabriel fuhr sich zerstreut mit der Hand durch sein zerzaustes Haar. »Hast du mir diese Geschichte nicht immer erzählt, als ich noch ein Kind war? Es ging um eine Schlacht zwischen Heiligen und Dämonen, stimmt’s?«

»Ritter«, verbesserte ihn De Mona. »Man nannte sie die Ritter Jesu. Mein Vater hat mir die Geschichte ein paarmal erzählt.«

»Ich dachte immer, du würdest mir das nur zum Vergnügen erzählen«, sagte Gabriel zu seinem Großvater. »Die Vorstellung, dass Dämonen tatsächlich existierten, kam mir einfach ein bisschen absurd vor … Nichts für ungut«, fuhr er an De Mona gewandt fort, die das mit einem Knurren kommentierte.

»Nein, diese Belagerung hat sich tatsächlich zugetragen, und Miss Sanchez«, er nickte in ihre Richtung, »sollte dir ein hinlänglicher Beweis dafür sein, dass sie tatsächlich unter uns sind.« Redfeather ging zu einem der hohen Bücherregale und fuhr mit dem Finger über die Buchrücken. Dann zog er ein dickes, in Leder gebundenes Buch heraus und wog es in der Hand. »Die Geschichte der Siebentägigen Belagerung wurde von Eltern an ihre Kinder weitergegeben, seit der letzte Dämon getötet worden war. Als unsere Feinde unterworfen waren, wurde der Orden der Ritter aufgelöst, und jedem wurde seine geweihte Waffe anvertraut. Es war unsere Aufgabe, die Waffen und auch die Geschichte zu bewahren, für den Fall, dass die Ritter eines Tages wieder zu den Waffen gerufen würden. Wir mussten darauf vorbereitet sein, wenn die Heerscharen der Hölle sich erneut gegen die Menschheit wenden würden. Obwohl der Orden aufgelöst wurde, sorgten unsere Vorfahren dafür, dass wir die Frauen und Männer, die in der Schlacht gefallen waren, niemals vergaßen. Sonst wären wir schlecht gerüstet für den Fall, dass die höllische Streitmacht die Menschheit erneut angreifen würde.«

Gabriels Miene wurde plötzlich ausdruckslos. »Großvater, warum sagst du immer ›wir‹?«

Redfeather blickte in das fragende Gesicht seines Enkels. »Weil es unser Geschlecht war, das die Schlacht entschied, und unser Blut, das für alle Zeiten von den dunklen Lakaien gejagt werden wird. Sie werden nicht ruhen, bis der letzte Jäger zur Strecke gebracht ist.«

»Großvater, ich bin Vegetarier, schon vergessen? Ich bin ebenso wenig ein Jäger wie du.« Er grinste seinen Großvater an.

Redfeather blickte auf seine runzligen Hände und krümmte sie, als würde er etwas festhalten. »Ich war nicht immer der Mann, den du jetzt siehst. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit gehörte ich voller Stolz dem Orden an, ebenso wie mein Sohn. Dein Vater gehörte zu den Tapfersten unter unseren Brüdern, bis er der Finsternis zum Opfer fiel.«

»Mein Vater?« Von seinem Vater und jener schicksalhaften Nacht zu sprechen weckte schmerzliche Erinnerungen in Gabriel. Als Kind hatte er zu der Artistentruppe seiner Eltern gehört, den Fliegenden Redfeathers. Sie faszinierten die Zuschauer jede Nacht mit ihren todesmutigen Kunststücken und waren sogar eine Weile mit einem französischen Zirkus gereist. Das war die schönste Zeit in Gabriels Leben gewesen, bis ein außer Kontrolle geratenes Feuer in einem Wohnwagen all dem ein Ende gesetzt hatte. Gabriel war nur mit dem Leben davongekommen, weil er mit einigen anderen Künstlern in der Stadt war, um Vorräte einzukaufen, als das Feuer ausbrach. Die Katastrophe hatte seine Eltern, seinen Onkel und seinen älteren Bruder das Leben gekostet. Gabriel war plötzlich ganz allein auf der Welt gewesen, bis sein Großvater ihn zu sich genommen hatte.

»Aber sie sind alle bei einem Feuer ums Leben gekommen!«, stieß Gabriel aufgeregt hervor. »Es war ein Unfall!«

»Ein Feuer hat sie getötet, aber es war kein Unfall; es war das Werk der Handlanger der Hölle«, erklärte Redfeather. »Es tut mir leid, dass ich dich belogen habe, Gabriel. Ich habe das nur getan, um dich vor der schrecklichen Wahrheit zu schützen.«

»Und was für eine Wahrheit?«, fragte Gabriel scharf. Er konnte nicht fassen, dass die einzige Person auf der Welt, der er vollkommen vertraute, ihn belogen hatte.

Sein Tonfall traf den alten Mann, aber Redfeather konnte Gabriels Schmerz verstehen. Er legte seine Hand auf die große Bibel, die auf dem untersten Regalbrett stand, und sah seinen Enkel an. »Gabriel, bevor ich weiterspreche, muss ich sicher sein, dass du bereit bist zu akzeptieren, was ich dir zu sagen habe.«

»Ich will es wissen«, erwiderte Gabriel leise.

Redfeather nickte. »Also gut.« Er zog die Bibel ein Stück aus dem Bücherregal heraus, woraufhin das Regal links von Gabriel knirschte, bevor es sich aus der Wand löste und zur Seite glitt. Dahinter war eine gläserne Vitrine, die auf Rädern nach vorn rollte. Darin befand sich ein Brustpanzer, der aus Tierknochen zu bestehen schien. Auf einem schlanken Pfahl dahinter ruhte ein Kopfschmuck aus wunderschönen braunen und weißen Federn. Gabriel fiel es sehr schwer, seinen Blick von diesem verborgenen Schatz loszureißen und der Erklärung seines Großvaters zu lauschen.

»Das ist die Rüstung, die unseren Vorfahren und unser Geschlecht während der Siebentägigen Belagerung geschützt hat.« Redfeather strich über den Rand der Vitrine. Es war über zehn Jahre her, seit er das letzte Mal Grund gehabt hatte, die Rüstung anzusehen. »Er war der erfahrenste Fährtensucher in den Schwarzen Bergen, damals, als sie noch uns gehörten, und er war sowohl ein Freund der Tiere als auch der Tiermenschen. Angeblich hatte er sogar eine von ihnen zu seiner Braut gemacht, aber ich will nicht vorgreifen. Jedenfalls sollte er die Jagd auf das Böse anführen, und wie sich herausstellte, war er am Ende derjenige, der die Schlacht zu unseren Gunsten entschied.«

»Eine Sekunde«, unterbrach ihn De Mona. »War nicht angeblich ein Bischof ihr Anführer?« Sie versuchte, sich an die Geschichte zu erinnern.

»Das stimmt. Bischof Michael Francisco war tatsächlich auserwählt, den Nimrod zu führen, aber der entscheidende Schlag kam nicht von ihm«, erklärte Redfeather. »Als der Bischof von der Armee der Finsternis getötet wurde, war es der Jäger, der den Dreizack aufhob, und zur Überraschung aller gehorchte er ihm. Der Jäger wendete an jenem Tag das Blatt und schloss den Riss, er schickte die Dämonen in die Hölle zurück. Obwohl einige von ihnen entkommen konnten, wurden die Gefährlichsten von dieser Welt verbannt.«

»Du glaubst also, dass das hier jener Dreizack ist?« Gabriel kniete sich neben das Bündel. Gegen seinen Willen strich er mit der Hand über den Stoff der Jacke und zeichnete die Umrisse der Gabel mit den Fingern nach. Er hatte das Gefühl, als würden Engel auf seinem Arm tanzen und die süßesten Melodien in seinen Ohren singen.

»Wenn das, was du mir heute Abend erzählt hast, stimmt, dann ist es so«, antwortete Redfeather. »Es gab insgesamt dreizehn geweihte Waffen, für jeden Auserwählten eine, doch der Dreizack war die mächtigste von ihnen. Im Laufe der Jahre gingen die Waffen allmählich verloren und tauchten hier und da wieder auf. Den Mächten des Lichts ist es gelungen, einige von ihnen in Sicherheit zu bringen, aber auch die Armee der Finsternis konnte die eine oder andere erbeuten. Und manche von ihnen sind immer noch irgendwo verschollen, aber ich habe keine Ahnung, wie viele das sind.«

»Wenn diese Waffen so verdammt gefährlich waren, wie konnten sie dann überhaupt verloren gehen? Haben die Ritter oder der Papst nicht daran gedacht, sie irgendwie zu sichern?«, wollte De Mona wissen.

»Doch, das haben sie.« Redfeather kniete sich hin und schloss die Vitrine auf. »Die Ritter, die überlebt hatten, waren sich darin einig, ihre Artefakte zu behalten, falls die Pflicht sie jemals wieder rufen sollte. Einige Ritter des Ordens blieben im Dienst der Kirche oder des Allerheiligsten, während andere ausschieden und ihr Leben lebten, als hätte diese Belagerung niemals stattgefunden. Für eine kurze Weile herrschte Frieden. Doch schließlich wurden die Ritter und ihre Nachkommen einer nach dem andern von der Armee der Finsternis gejagt und ermordet. Familien, Freunde, ja sogar das Vieh … die Dämonen verschonten nichts und niemanden. Nur wenige der ursprünglichen Geschlechter überlebten, unter anderem das der Redfeathers.«

Gabriel ging zu der Vitrine und betrachtete die Gegenstände darin genau. Er staunte über die Schönheit der Federn des Kopfschmucks und wunderte sich, wie gut sie noch erhalten waren. An dem Kopfschmuck war ein Gesichtsschutz angebracht, der ebenfalls aus Knochen bestand. Ein mächtiger Adlerschnabel bog sich beinahe rasiermesserscharf herunter und beschrieb an der Spitze einen kleinen Haken. Gabriel starrte in die dunklen Höhlen, in denen die Augen des Vogels gesessen hatten, und nahm ein schwaches, kribbelndes Flüstern in seinem Hinterkopf wahr, als sie lautlos zu ihm sprachen.

Ich bin der Gebieter des Sturms.

Er sah sich um, ob die anderen beiden das Flüstern ebenfalls gehört hatten, aber weder De Mona noch sein Großvater zeigten eine Reaktion.

»Man sagt«, Redfeathers Stimme riss Gabriel aus seiner Benommenheit, »dass der König der Adler seine eigenen Federn hergegeben hat, um diesen Kopfschmuck herzustellen.« Er deutete mit einem Nicken darauf. »Er verlieh Redfeather einen außerordentlich scharfen Blick. Die Knochen«, wieder nickte er, diesmal in Richtung des Brustpanzers, »wurden von den Wölfen gespendet. Sie fühlten, dass die Seelen ihrer Beutetiere die Rüstung verstärken würden, um ihn vor Schaden zu bewahren.«

»Wispernder Hund«, flüsterte Gabriel.

Redfeather starrte seinen Enkel an. »Das war einer der Namen, der ihm gegeben wurde. Er hatte die Nase und Instinkte eines Fährtensuchers, aber die geschliffene Zunge eines Politikers. Der Bischof beriet sich oft mit dem Jäger, und seine Überredungskunst war es, die die Tiere dazu brachte, mit den Rittern gegen die Dämonen zu kämpfen.«

Gabriel streckte die Hand aus und nahm den Kopfschmuck vom Ständer. Er roch an den Adlerfedern, sog tief ihren Duft ein und ließ sich von dem Wissen durchdringen, das in ihnen verborgen war. Als er sprach, redete er mit seiner Stimme, die Worte jedoch kamen aus einer anderen Zeit. »Unser Vorfahre war ein großer Jäger, und er brachte immer mehr Fleisch ins Dorf zurück als zwei andere Männer zusammen. Was die meisten jedoch nicht wussten, nicht einmal seine Brüder, war, dass er die Sprache der Tiere sprach. Während andere den Wölfen und den wilden Kreaturen, die in den Ebenen jagten, aus dem Weg gingen, freundete sich Redfeather mit ihnen an. Er jagte auf den großen Hängen mit den Berglöwen und übte gemeinsam mit den Wölfen Rache, wenn ihre Rudel von Wilderern überfallen wurden.« Gabriel hob den Kopfschmuck hoch, um ihn aufzusetzen, doch dann zögerte er.

»Gabriel?« Redfeather berührte seine Schulter. Die Hand seines Großvaters brachte Gabriel wieder in die Gegenwart zurück.

»Alles in Ordnung«, sagte Gabriel, der gegen eine plötzliche Übelkeit ankämpfen musste. »Bitte, rede weiter.« Er legte den Kopfschmuck neben sich.

Redfeather nickte. Er zögerte, den nächsten Gegenstand aus der Vitrine zu nehmen. Obwohl er ihn schon so lange besaß, hatte er nie auf seine Berührung reagiert, und er bereitete ihm immer noch Unbehagen. »Das war Redfeathers geweihte Waffe, der Dolch des Schicksals.« Er hob einen rostigen Dolch hoch, der Gabriel bisher gar nicht aufgefallen war. Die Klinge war verbogen und abgewetzt, aber der Griff aus einem Knochen war immer noch glatt. Als Gabriel nach der Waffe greifen wollte, riss Redfeather sie beinahe zurück. Das Pulsieren war so schwach, dass er es fast nicht bemerkt hätte, aber er war viel zu vertraut mit den Launen der geweihten Waffen.

Redfeather legte den Dolch auf den Tisch und nahm ein Buch aus dem Regal. »Die Aufzeichnungen über diese Waffe sind lückenhaft, weil sie keine der ursprünglichen dreizehn geweihten Waffen ist.«

»Ich dachte, all diese legendären Waffen stammten von den Jungs in den hübschen Roben«, warf De Mona ein.

»Für die meisten trifft das auch zu, aber der Dolch gehörte dem Jäger schon, seit er ein Junge war. Er hatte ihn von seinem Vater bekommen.« Redfeather las weiter in dem Buch. »Es war zwar nicht die beeindruckendste Waffe, aber sie besaß eine große Macht, und wenn sie von dem Jäger geführt wurde, traf sie immer ihr Ziel.«

»Für mich sieht sie nach nichts Besonderem aus«, erklärte De Mona unbeeindruckt.

Redfeather sah sie an. »Ich hätte gedacht, dass ausgerechnet Sie die Tatsache unterschreiben würden, dass die äußere Erscheinung nicht viel zählt.«

Gabriel nahm den Dolch vom Tisch und wog ihn in der Hand. Das Gefühl war sehr subtil, aber er spürte die Macht, die auf sein Blut reagierte. Wie der Nimrod pulsierte auch der Dolch unter seiner Berührung, aber seine Macht fühlte sich anders an … reiner. »Solange ich dich halte, wird mein Volk niemals hungern.« Die Worte kamen aus irgendeiner verborgenen Stelle in Gabriels Kopf.

De Mona betrachtete ihn misstrauisch. »Sehr merkwürdig. Vor einigen Stunden haben Sie so getan, als hätten Sie dieses Nimrod-Ding noch nie gesehen, und plötzlich scheinen Sie sehr viel über all das zu wissen. Wollen Sie mir das vielleicht mal erklären?«

Gabriel blickte von dem Dolch hoch, den er aufmerksam untersucht hatte. »Nun ja … es scheint einfach so zu sein, dass der Anblick all dieser Dinge meinen Kopf plötzlich mit Informationen füllt.« Er massierte seine Schläfen. Ihm war schlecht, und er ging zurück zu dem Kopfschmuck und setzte sich daneben. Etwas Magisches schien zwischen dem Dolch und dem Kopfschmuck zu vibrieren, und erneut ertappte sich Gabriel dabei, wie er die Federn berührte.

»Das muss der Bischof sein«, erklärte Redfeather schließlich.

»Was soll ein Kerl, der schon seit dreihundert Jahren tot ist, mit dem zu tun haben, was jetzt passiert?«, wollte De Mona wissen.

»Der Nimrod bildet ein beinahe unzertrennbares Band mit seinem Träger. Ein solches Band hatte ihn mit dem Bischof verbunden, bevor dieser von der Waffe verzehrt wurde.«

»Was soll das heißen, ›verzehrt‹?« Gabriel betrachtete den Dreizack argwöhnisch. Obwohl er in die Jacke eingewickelt war, konnte er ihn vor seinem inneren Auge vollkommen klar sehen. Er glühte und rief nach ihm. Dieser Ruf war so eindringlich, dass Gabriel die Hand ausstreckte und die Jacke berührte, bevor ihm überhaupt klar wurde, dass er sich bewegt hatte.

»Es heißt genau das. Der Nimrod war nicht nur die Waffe des Bischofs, sondern wurde am Ende auch sein Gefängnis. Die Seele des Bischofs ist in dem Dreizack eingesperrt«, erklärte Redfeather, doch Gabriel hörte ihm nur mit einem Ohr zu. »Gabriel?« Redfeathers Enkel reagierte nicht.

Der Nimrod pulsierte mittlerweile so stark, dass Gabriel die Vibrationen selbst auf der Couch spüren konnte. De Mona schien sie ebenfalls wahrgenommen zu haben, denn sie bedachte das Bündel mit einem Blick, als wäre eine Giftschlange in die Jacke eingewickelt. Die Macht ist im Blut, und das Blut stellt alles wieder her, flüsterte die Stimme in Gabriels Hinterkopf. Er sah De Mona an, aber sie schien nichts gehört zu haben, denn sie starrte immer noch auf das Bündel. Die Macht ist im Blut, wiederholte die Stimme jetzt schärfer. Gabriel wollte sich die Ohren zuhalten und bemerkte, dass er mittlerweile den Dolch in der Hand hielt. Das Blut stellt alles wieder her, wiederholte die Stimme. Zunächst war Gabriel verwirrt, doch als er das schwache Glühen bemerkte, das von dem Dolch ausging, begriff er, was zu tun war.

»Was machst du da?« Redfeather wollte Gabriel aufhalten, aber es war bereits zu spät.

Gabriel sah fast unbeteiligt zu, wie seine Hände sich bewegten und die Klinge des Dolches in seine rechte Handfläche legten. Aus einem dünnen Schnitt in seinem Handteller quoll Blut und lief über die Schneide des Dolches. Staunend beobachtete er, wie die Klinge sein Blut absorbierte und der Rost sich auflöste. Als die Verwandlung vollzogen war, war das Messer wieder so wunderschön wie damals, als der Jäger es benutzt hatte.

»Wie in Gottes Namen hast du das gemacht?« Redfeather untersuchte den Dolch, berührte ihn jedoch nicht. In den vielen Jahren, in denen er diese Waffe aufbewahrt hatte, hatte sie nie auf seine Berührung reagiert.

»Ich wünschte, ich wüsste es.« Gabriel starrte auf den Dolch. »Diese Magie – oder was immer es ist, was den Artefakten Macht verleiht – spricht zu mir. Habt ihr das nicht bemerkt?« Er blickte von De Mona zu Redfeather, der ihn ansah, als hätte er den Verstand verloren. »Schaut mich nicht so an!«, rief er. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er hob die Jacke mit dem Dreizack hoch. »Wenn der Dolch auf mein Blut reagiert, macht es der Nimrod vielleicht auch.« Er nahm den Dreizack aus dem Bündel.

»Gabriel, nicht«, versuchte Redfeather seinen Enkel zu warnen. »Wir können nicht riskieren, dich noch stärker an ihn zu binden.«

Das Blut ist der Heiler, spornte die Stimme in Gabriels Kopf ihn an. Nervös legte er seine blutende Hand auf den Dreizack, und im selben Moment durchflutete gleißendes Licht den ganzen Raum.

De Mona erholte sich als Erste. Ein mächtiger Windstoß fegte durch den Raum und durchnässte alles, was sich darin befand, obwohl sich keine Fenster in diesem Kellerraum befanden. Wenn es ein Sturm war, dann hatte er sich aus dem Nichts materialisiert. De Mona sah sich suchend nach den beiden anderen um und erblickte Redfeather auf allen vieren in einer Ecke. Wie sie hatte auch ihn dieser Windstoß ohnmächtig werden lassen. Sie starrte durch den stärker werdenden Regen, um herauszufinden, was aus Gabriel geworden war. Dann riss sie vor Staunen die Augen auf, denn er schien die Quelle dieses verrückten Sturms zu sein.

Er stand mitten in einem Strudel aus Wind, in dem Papiere und Bücher unglaublich schnell herumwirbelten. In den Händen hielt er den Nimrod, der in seiner alten, juwelengeschmückten Schönheit erstrahlte. Blitze zuckten von dem Dreizack durch Gabriels Körper und verschwanden vor seinen Füßen im Boden. De Mona wollte ihm helfen, aber jedes Mal, wenn sie versuchte, hinter dem Sofa herauszukommen, drohte der Wind sie hinwegzufegen.

»Es ist der Nimrod!«, übertönte Redfeathers Stimme den Wind.

»Das weiß ich, aber wie zum Teufel können wir ihn abstellen?«

»Wir müssen die Verbindung unterbrechen«, erklärte Redfeather, während er sich an einem Bücherregal entlangzog. Er hätte es fast bis zu Gabriel geschafft, als der junge Mann den Blick auf seinen Großvater richtete. Es war ein Blick aus Augen, die nicht ihm gehörten.

»Die Jäger.« Gabriel stieß ein dämonisches Lachen aus. »Ihr wart immer die Selbstlosesten und Dümmsten von uns.« Langsam hob Gabriel den Dreizack und richtete ihn auf seinen Großvater. Blitze der Macht zuckten zwischen den beiden übrig gebliebenen Zacken hin und her und erstarben, als De Mona einen Stuhl auf Gabriels Rücken zertrümmerte.

Die Reptilienaugen, die das Mietshaus von Redfeather aus dem Schatten beobachtet hatten, zogen sich zusammen wegen des blendenden Blitzes, der gerade durch das Kellergeschoss gezuckt war. Die natürlichen Instinkte des Nachtwandlers heulten ihn an, zu fliehen, doch die Angst vor seinem Meister hielt ihn an Ort und Stelle. Der Blitz dauerte nur ein paar Sekunden, doch der mystische Abdruck, den er hinterließ, war unverkennbar. Der Nachtwandler würde gut belohnt werden, wenn er seinem Meister diese Information überbrachte.

Als er sich umdrehte, um wegzugehen, legte sich eine gewaltige Hand um seinen Hals. Dann wurde er mit so viel Wucht zu Boden geschleudert, dass fast alle Knochen in seinem Rückgrat brachen. Der Nachtwandler schlug wie verrückt mit seinen Krallen auf den kräftigen Arm seines Angreifers ein, stellte jedoch fest, dass dessen Haut hart wie Stein war. Graue Augen starrten ihn aus einem Gesicht an, das fast vollkommen von dichtem rotem Haar bedeckt war. Die Kreatur wusste, dass sich ihre Zeit in diesem Wirtskörper dem Ende näherte.

»Höllenbrut!«, stieß der bärtige Mann hervor. Er hatte einen Bostoner Akzent, in dem noch ein wenig von seinem irischen Erbe durchklang. »Im Namen meines Herrn und meiner Familie werfe ich dich in die Grube zurück, aus der du hervorgekrochen bist!« Der Bärtige holte mit seinem mächtigen Arm aus und zertrümmerte mit seinem juwelengeschmückten Hammer den Schädel des Nachtwandlers. Der Schlag war so heftig, dass er in dem Beton darunter Risse hinterließ.

Dann spuckte der Bärtige auf den verwesenden Leichnam des Wirtskörpers. »Möge dein finsterer Meister dich für dein Versagen bestrafen.« Er zog den Hammer aus dem zermalmten Schädel und betrachtete die schwarze Masse, die den Hammerkopf bedeckte. Vor seinen Augen absorbierte der Hammer die dunkle Substanz. Ganz gleich, wie oft er das schon gesehen hatte, es verblüffte ihn immer wieder.

»Einer weniger«, sprach er in sein Headset.

»Gut gemacht«, plärrte eine metallische Stimme im Kopfhörer zurück. »Sind noch andere Schleimschädel zu sehen?« Diesen Ausdruck benutzten der Bärtige und seine Partner, wenn sie über Nachtwandler redeten. Ihre beliebteste Methode, Nachtwandler zur Strecke zu bringen, war es, ihnen die Schädel zu zertrümmern. Und was auch immer als ihr Gehirn diente, sah aus wie Schleim, wenn es aus dem Kopf heraussickerte.

Der Bärtige blickte sich um, bevor er antwortete. »Ich kann keinen sehen. Satans kleine Speichellecker sind vermutlich wieder in ihre Löcher zurückgekrochen.«

»Ich schicke trotzdem Jackson, damit er sich umsieht, nur um sicherzugehen. Morgan, du könntest vielleicht kurz den Block durchsuchen«, sagte die Stimme.

»Nicht nötig, Jonas. Wenn hier noch mehr von denen herumkriechen, machen Jackson und ich kurzen Prozess mit ihnen, darauf kannst du wetten. Hast du schon eine Ahnung, warum sie so scharf auf dieses süße Pärchen sind?«

»Noch nicht. Wir wissen nur, dass die Schleimschädel sie auf dem Parkplatz angegriffen haben. Und normalerweise greifen sie in der Öffentlichkeit niemanden an. Jemand hat sie losgeschickt, damit sie den beiden einen Besuch abstatten. Meine Gabe schließt leider keine Videoüberwachung ein, und ihr seid zu spät am Tatort aufgetaucht, um sehen zu können, was tatsächlich passiert ist. Im Moment können wir nur spekulieren oder sie direkt fragen.«

»Denk nicht mal dran, mein Freund«, erwiderte Morgan. »Oder was würdest du tun, wenn ein eins neunzig großer Ire und ein Schwarzer, der einem Horrorfilm entsprungen sein könnte, dich nach einer Begegnung fragen, die du mit einem Rudel Zombies gehabt hast?«

»Es sind Dämonen, die von Leichen Besitz ergriffen haben«, korrigierte ihn Jonas. »Aber du hast vielleicht recht, was den direkten Weg angeht. Was ich wirklich gerne wüsste, ist, wie bei allen neun Höllen ihnen die Flucht gelungen ist – es waren mindestens zwei Schleimschädel und ein Dämon, den ich bisher noch nicht identifizieren konnte.«

»Vielleicht haben sie ihnen ja gedroht, die Polizei zu holen«, erwiderte Morgan sarkastisch.

»Das bezweifle ich ernsthaft. Wir behalten sie im Auge, bis wir herausfinden, was es mit ihnen auf sich hat.«

»Wir sind jedenfalls nicht die einzigen Feinde, die die Dämonen hier haben … Und was, wenn sie für eine andere eklige Fraktion dieses teuflischen Haufens arbeiten?«

Einen Moment lang herrschte Schweigen, bis Jonas’ verzerrte Stimme antwortete: »Dann bringen wir sie um.«

Aus den Schatten beobachtete ein weiteres Augenpaar den Lauf der Ereignisse. Erst als sein Besitzer davon überzeugt war, dass der Bärtige verschwunden war, trat er heraus und überprüfte die Lage. Der alte Mann warf einen ausdruckslosen Blick auf die Reste des Nachtwandlers und verzog das Gesicht.

»Armer Teufel«, sagte er. »Ich würde ja den Herrn bitten, gnädig mit dir zu sein, aber ich fürchte, dass meine Gebete unerhört bleiben. Es gibt keine Erlösung für die Lakaien von Belthon.« Der alte Mann blickte zu dem Haus von Redfeather und verzog das Gesicht. »Sei wachsam, junger Jäger, denn der Bischof ist erwacht, und sein Rachedurst ist unstillbar. Halte dich an deinen Glauben, denn nur der kann dich vor dem retten, was vor dir liegt.« Die Luft um den alten Mann waberte kurz, dann war er verschwunden.