17. Kapitel
Sobald Lucy den Schwarzen Hof betrat, spürte sie die Magie in den Blicken, die sich auf sie richteten. Das Gefühl war so intensiv, dass sie zerstreut ihren Pelzkragen streichelte, als sie weiterging. Rein äußerlich war sie eine erstaunlich schöne Frau mit langem schwarzem Haar und einer makellos blassen Haut, aber was die Aufmerksamkeit der anderen Gäste erregte, war die ungeheure Macht, die sie ausstrahlte. Einige begrüßten sie mit einem Lächeln, andere warfen ihr angewiderte Blicke zu, aber keiner ihrer Feinde war dumm genug, der jungen Hexe direkt entgegenzutreten. Lucy ging mit der Haltung einer Prinzessin, schon deshalb, weil sie rein faktisch gesehen eine war. Früher einmal war ihre verstorbene Mutter Wanda die Weiße Königin des Covens gewesen, und ihre Macht wirkte stark in ihrer Tochter weiter.
Sulin saß an ihrer üblichen Stelle an der Bar. Sie war eine talentierte junge Heilerin und eine der wenigen Hexen, die Lucy als Freundin bezeichnen würde. Sulin war eine statuengleiche junge Frau mit Haar in der Farbe von Stärkemehl und beeindruckenden grünen Augen. Sie lehnte am Tresen und streichelte den Kopf ihres kleinen Spitzes, während sie leise mit einem gutaussehenden jungen Hexenmeister plauderte. Offenbar hatte sie Lucys Anwesenheit bemerkt, denn sie blickte plötzlich von ihrer Unterhaltung auf. Dann entschuldigte sie sich zögernd bei ihrem Gesprächspartner und schlenderte zu Lucy herüber.
»Hast du deine Netze nach frischem Fleisch ausgeworfen?« Lucy begrüßte ihre Freundin mit einer Umarmung und küsste sie auf beide Wangen. Der Spitz wollte nicht zurückstehen und leckte Lucys Kinn. In diesem Moment warf ihnen ein gutaussehender junger Mann mit einer dunklen Sonnenbrille ein aufforderndes Lächeln zu. Lucy erwiderte es, Sulin dagegen nicht.
»Eher nicht.« Sulin verdrehte die Augen vor dem Mann mit der Sonnenbrille und kehrte ihm den Rücken zu. »Ich soll heute bei Angelique vorstellig werden, und er hat mir nur Gesellschaft geleistet.« Sulin deutete etwas abfällig auf den Hexenmeister.
»Was will Ihre Hoheit denn heute von dir?« Lucy setzte sich auf einen Barhocker und bestellte zwei Drinks.
»Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, ich wüsste es. Sie hat mir nur gesagt, dass in New York irgendetwas im Gange ist und sie mich in ihrer Nähe haben will.«
»Das erklärt, warum alles so tot ist. Ich war vorher schon in zweien meiner Stammlokale, aber es waren nur Sterbliche da. Selbst das Triple Six wirkt heute Abend merkwürdig«, sagte Lucy.
»Vielleicht sind die Vampire wieder unterwegs; du weißt ja, wie hässlich ihre Scharmützel sein können«, spekulierte Sulin.
»Was du nicht sagst.« Lucy erinnerte sich noch sehr gut an das Chaos, das der Gehenna-Clan in der Stadt angerichtet hatte, bevor die Lamia die Angelegenheit unter Kontrolle bekommen hatten. »Also, was läuft denn heute Abend hier so?«
»Außer, dass die Hatz ihre übliche Runde macht, nichts Besonderes«, erwiderte Sulin gleichgültig.
»Die Hatz! Dachte ich doch eben, dass ich nassen Hund gerochen hätte«, stieß Lucy verächtlich hervor.
»Fang bloß keinen Streit an, Lucy.« Sulin sah sich nervös um.
»Also wirklich; ihr schleicht hier herum und tuschelt, als wäre die Hatz der böse schwarze Mann oder so etwas. Asha und ihre Brut sind nicht so hart.«
»Wir sind hart genug, um respektlose, schwächliche kleine Hexen zu zähmen«, ertönte eine scharfe Stimme hinter ihnen. Die Hexe, die sie angesprochen hatte, war ein Stachel in Lucys Fleisch, seit Dutch sie in den Coven aufgenommen hatte. Mit ihren langen Dreadlocks und den großen Augen, die wie ein glühendes Lagerfeuer bernsteinfarben leuchteten, sowie ihrer dunkelbraunen Haut sah sie aus wie die Prinzessin eines vergessenen afrikanischen Königreichs. Die hautenge Lederhose spannte sich über ihren breiten Hüften, als sie sich vor Lucy aufbaute und sie wütend anstarrte.
Die Schwestern Lisa und Lane erhoben sich und bezogen neben ihr Stellung. Von weitem konnte man sie kaum auseinanderhalten, doch aus der Nähe sah man die Unterschiede. Beide hatten hellbraune Haut und dunkle Augen, doch während Lane sehr zierlich war, hatte Lisa eher die Statur einer Athletin. Eine große graue Wolfsspinne saß an der Seite von Lanes Kopf wie eine Blume, während eine beinahe durchsichtige Spinne über Lisas Hals kroch und eine Spur aus Seide hinterließ, fast wie ein luftiger Schal. Die Hexen betrachteten Lucy hinter ihren Schleiern aus Spinnweben und schienen sie zum Angriff aufzufordern. Aber sie kamen ihr nicht näher. Sie waren zwar gefährliche Killer, aber keine sonderlich geschickten Bannwirker, was bedeutete, dass sie keine echten Gegnerinnen für Lucy waren.
»Respektlos sicherlich, aber gezähmt … nicht in diesem Leben, Schwester«, erwiderte Lucy, als würde sie die starke Macht nicht spüren, die sich in Asha sammelte. Lucy war sehr geschickt im Umgang mit ihrer Magie, Asha jedoch war eine brutale Bannwirkerin.
»Das sagst du«, entgegnete Asha und warf mit einer hochmütigen Gebärde ihre langen, kupferroten Dreadlocks hinter sich. Azuma, ein kleiner brauner Affe, tanzte auf dem Hocker neben ihr und zeigte Lucy seine krummen Zähne. Asha und ihr Schutzgeist waren seit ihrer Kindheit zusammen.
»Du weißt wohl nicht, wann du aufhören musst?« Lucy streichelte ihren Pelzkragen und bedeutete Asha mit einem Blick, nicht näher zu kommen.
»Oh-oh, ich glaube, sie wird böse«, höhnte Lisa.
»Ach, hat Angeliques liebste Schülerin einen schlechten Tag?« Asha fuhr mit dem Finger über Azumas pelzigen Kopf. Der Affe wiegte sich vor und zurück und knurrte in Erwartung von Ashas Befehl, während er gelegentlich mit den Fäusten auf seine schmale Brust trommelte. Wenn die Schutzgeister losgelassen wurden, konnten sie eine Menge Schaden anrichten, aber schon allein durch das Band der Macht, das ihn mit Asha verband, konnte Azuma die Dinge erheblich verkomplizieren.
Der Affe sprang auf und schlug mit seinen schmutzigen kleinen Klauen nach Lucys Wange. Er bewegte sich so schnell, dass Lucys Augen es nicht einmal registrierten. Tiki dagegen sah es. Das Frettchen, das um ihren Hals geschlungen war, zuckte hoch und grub seine nadelspitzen Zähne in den Unterarm des Affen. Azuma brüllte und wollte Tiki seine Faust auf den Kopf hämmern, aber das zierliche Frettchen hielt nicht lange genug still, so dass er keinen gezielten Schlag landen konnte. Azuma geriet in Panik und grub seine Zähne in die weiche Haut von Tikis Nacken. Jetzt erst ließ das Frettchen ihn los. Azuma verzog sich schleunigst hinter seine Herrin, und im Schutz von Ashas Beinen starrte er Tiki wütend an.
»Du solltest deine kleine Ratte besser im Griff haben, kleine Wanda«, sagte Asha, während sie Azuma auf den Arm hob, ohne Tiki aus den Augen zu lassen.
»Hüte deine Zunge«, warnte Lucy sie, während sie Tiki wieder um ihren Hals schlang. »Es steht dir nicht zu, den Namen meiner Mutter auszusprechen, den Namen einer reinen Hexe. Aber natürlich verstehst du von diesen Dingen nichts, du Hexenbastard.«
Der Schmerz in Ashas Augen hielt sich nur eine winzige Sekunde lang, bevor er von einer lodernden Wut verdrängt wurde. Ashas Mutter war eine Voundon-Priesterin eines lange vergessenen Kults gewesen, die sich in einen von Dutchs Schülern verliebt hatte. Sie hatte sich dem Hexenmeister mit Körper und Geist hingegeben, um dann erfahren zu müssen, dass er bereits verheiratet war und Familie hatte. Sie war nur ein kleiner Zeitvertreib für ihn gewesen. Kurz nachdem sie ihn ermordet hatte, fand sie heraus, dass sie mit Asha schwanger war. Als Strafe für den Mord an einem der ihren nahm ihr das Konzil ihr Kind weg und verbannte die Mutter wer weiß wohin. Asha wuchs zwar im inneren Zirkel auf, aber die anderen ließen sie stets merken, dass sie niemals eine von ihnen sein würde. Bei Lucy war das anders. Aufgrund dessen, was ihre Mutter gewesen war, war Lucy ein Platz am Tisch sicher, ob sie wollte oder nicht. Sie war ein Kind des Königshauses, wofür Asha sie hasste.
Wie durch Magie tauchte eine Klinge in Ashas Hand auf. »Du weißer Huren-Abschaum, ich werde dich ausweiden!« Sie wollte sich auf Lucy stürzen, stellte jedoch fest, dass ihr Körper ihr nicht mehr gehorchte. Als Lucy die Situation ausnutzen wollte, bemerkte sie, dass sie ebenfalls paralysiert war. Zwar konnte keine von ihnen auch nur den Kopf wenden, doch sie hörten das Knallen von Stiefelabsätzen auf den Fliesen und wussten, dass sie einen Fehler gemacht hatten.