21. Kapitel

»Was siehst du?«, fragte Lane ihre Schwester ungeduldig. Seit zehn Minuten saß diese regungslos auf einem Barhocker und starrte ins Leere. Ihre Augen waren vollkommen weiß geworden, während sie dasselbe sah wie ihr Schutzgeist. Asha hatte den Zwillingen diesen Trick beigebracht, aber Lisa beherrschte ihn besser als Lane.

»Ruhig, ich versuche mich zu konzentrieren«, murmelte Lisa. Sie kniff die Augen zusammen, als wäre das, was sie sah, unmittelbar vor ihr und nicht im Raum nebenan. »Mist, ich glaube, du hast es vermasselt, Lane. Ich kann jetzt nichts mehr sehen. Lass mich versuchen …« Lisa stockte plötzlich der Atem, und sie griff sich an die Brust.

»Schwester, was hast du?« Lane stürzte zu ihr. Panisch sah sie zu, wie ihre Schwester am Tresen herunterrutschte und nach Atem rang.

»Wie verdammt blöd könnt ihr beide eigentlich sein?« Asha kam auf sie zu. Sie hatte die Faust ausgestreckt und krümmte immer wieder die Hand und verstärkte damit den Griff um Lisas Herz.

»Hör auf, Asha! Du bringst sie ja um!«, flehte Lane, während ihre Schwester blau anlief.

»Dazu hätte ich auch allen Grund, weil ihr mit eurer kleinen Nummer fast meinen Kopf unter das Fallbeil gebracht hättet.« Asha öffnete die Hand, in der sich die Spinne befand, die Lisa zu Ashas Gespräch mit Dutch geschickt hatte. Der Schutzgeist war ein wenig zerknittert, lebte aber noch. »Du kannst von Glück reden, dass dein kleiner Spion mir aufgefallen ist und nicht Dutch.« Sie warf ihr die Spinne zu. Die durchsichtige Arachnide kroch hastig an Lisas Gesicht hoch und verschwand in ihrem Haar.

»Wir wollten nur sichergehen, dass es dir gut geht«, sagte Lane, während sie ihrer Schwester wieder auf den Barhocker half. Dabei warf sie Asha einen mörderischen Blick zu, aber die Hexe wirkte unbeeindruckt.

»Unsinn. Ihr wart nur neugierig. Außerdem, wenn Dutch vorgehabt hätte, mich zu erledigen, hätte Lisas Käfer mir auch nicht helfen können.« Asha breitete die Arme aus, und Azuma sprang hinein.

Lane wollte nachhaken, beschloss dann aber, sich das Thema für ein anderes Mal aufzuheben. »Und?« Sie sah Asha fragend an.

»Und was?«

»Wir haben nicht alle Einzelheiten mitbekommen, aber wir wissen, dass Dutch sich Sorgen macht wegen einer Sache, die in der Stadt aufgetaucht ist, und jetzt warten wir darauf, dass du uns die Einzelheiten erzählst«, sagte Lane, als würde sie gerade ein großes Puzzle vollenden.

»Warum erzählst du nicht einfach jedem verdammten Übernatürlichen in der Stadt, was ich mache?«, fauchte Asha sie an. Sie überzeugte sich mit einem kurzen Blick, dass niemand zuhörte. »Es ist vielleicht etwas dran, oder auch nicht, auf jeden Fall muss ich die Sache untersuchen … und zwar allein.«

»Was ist das für ein Einzelkämpfer-Mist, Asha? Du weißt genau, dass wir im Rudel jagen.« Lisa war endlich zu sich gekommen.

»Wir jagen im Rudel, wenn wir eine Ahnung haben, was wir jagen, und rennen nicht einfach blindlings los, um die Loyalität der Hierarchie auf die Probe zu stellen«, erklärte Asha. »Ich kann nicht riskieren, dass ihr zu Schaden kommt, während ich für Dutch meinem Schwanz nachjage.« Das war eine Notlüge, aber sie ersparte ihr, den Stolz der beiden zu verletzen, indem sie ihnen Dutchs Befehle übermittelte.

»Also sollen wir tatenlos herumsitzen, während du dich in Gott weiß welche Gefahren stürzt?« Lane klang nicht gerade erfreut darüber, dass sie von der Jagd ausgeschlossen wurde.

»Natürlich nicht. Während ich meine Aufgabe erledige, seid ihr beide meine Augen und Ohren hier im Club. Alles Auffällige, was irgendwo passiert, will ich erfahren, bevor es passiert.« Asha wollte noch etwas hinzufügen, als sie plötzlich das Gefühl hatte, als würden eisige Fingerspitzen an ihrem Rücken herunterlaufen. Sie riss die Augen auf, und ihr Kopf ruckte hin und her, als würde sie etwas suchen, was nur sie sehen konnte.

»Was ist los?«, fragten die Zwillinge gleichzeitig.

Asha ignorierte sie, während ihr Verstand hastig verschiedene Wesenheiten im Club berührte. Sie flüsterte Azuma etwas zu, der daraufhin von ihren Arm sprang und im Club verschwand. Jemand musste entweder sehr dumm oder sehr mutig sein, wenn er eine solche Magie in Dutchs Reich wirkte, und sie hatte vor herauszufinden, wer oder was es war.

»Willst du uns vielleicht verraten, was das soll?« Lane verschränkte die Arme vor ihrer Brust.

»Jemand hat gerade im Triple Six Schattenmagie angewendet«, informierte sie Asha. Die Schattenmagie war ihr nicht fremd, weil die Dämonen, die sie benutzen, dieselben waren, die das Volk ihrer Mutter angebetet hatte.

»Verdammte Schattendämonen. Wir müssen sie ausräuchern und Dutch ihre Köpfe bringen«, sagte Lane und setzte sich zum Ausgang in Bewegung.

»Das erledige ich«, erklärte Asha und überprüfte ihre Klingen. »Ihr beide passt auf und vergesst nicht, was ich euch gesagt habe: Meldet mir alles, was euch merkwürdig vorkommt«, warf sie über die Schulter zurück, als sie auf den Ausgang zuging.

»Und wohin willst du?«, rief Lisa ihr nach, aber Asha antwortete nicht.