24. Kapitel

Gabriel stolperte und versuchte zu vermeiden, hinzufallen, als Rogue ihn durch die Gasse zerrte. Der Nimrod war wieder zu einer Tätowierung auf seinem Arm geworden, aber Gabriel spürte, wie er sich unmittelbar unter seiner Haut bewegte, bereit, jederzeit in die Schlacht gerufen zu werden. Hinter sich hörte er Schüsse und Kampfgeräusche, hatte jedoch zu viel Angst, sich umzudrehen. Er hatte nur die Gesichter seiner toten Freunde vor Augen und die alles verschlingenden Schatten. Schließlich traten Rogue und er am Ende der Gasse auf eine belebte Straße. Gabriel fand es merkwürdig, dass niemand dem blutüberströmten jungen Mann oder seinem revolverschwingenden Partner auch nur einen zweiten Blick schenkte.

»Ich habe uns in Schatten gehüllt, so dass sie uns nicht sehen können«, beantwortete Rogue die unausgesprochene Frage auf Gabriels Gesicht.

»Schatten? Sie sind einer von denen!« Gabriel wich zurück und hätte beinahe ihre Deckung durchbrochen. Rogue durfte nicht mehr als einen halben Meter Abstand zwischen ihnen lassen, damit sie beide getarnt blieben.

»Würdest du dich bitte beruhigen, Gabriel? Du kennst mich. Ich bin genauso menschlich wie du, das weißt du«, sagte Rogue.

»Nach allem, was ich heute Abend gesehen habe, bin ich mir nicht mehr so sicher, was ich weiß.« Gabriel holte mit dem Arm aus, und nur durch einen Gedanken rief er Blitze in seine Hand. Je länger er Kontakt mit dem Nimrod hatte, desto einfacher schien es zu werden, seine Macht zu beschwören.

Rogue zielte mit der verzauberten Waffe auf Gabriel. »Junge, wenn ich dir etwas Böses wollte, hätte ich dich den Schatten in der Gasse überlassen. Gabriel, ich stehe in der Schuld deines Großvaters. Er hat zu mir gehalten, als ich keine Freunde hatte. Aus diesem Grund habe ich dir nicht nur das Leben gerettet, sondern dir auch noch nicht ins Gesicht geschossen. Aber wenn du versuchst, mich mit diesem Ding anzugreifen, zählt das alles nicht mehr.« Rogues Tonfall sagte Gabriel, dass es dem Mann ernst war.

Der lebende Tote, so nennen die Leute ihn hinter seinem Rücken. Hüte dich vor den dunklen Magiern und dem, was sie repräsentieren, junger Jäger. Du willst bestimmt nicht, dass deine unsterbliche Seele in ihre Hände gerät, warnte ihn der Bischof.

Gabriel betrachtete Rogue. Er hatte ihn kennen gelernt, als er vierzehn war und sein Großvater noch an der Universität lehrte. Als Redfeather Rogue zum ersten Mal eingeladen hatte, hatte er ihn Gabriel als Freund der Familie vorgestellt, an den man sich wenden konnte, wenn man Schwierigkeiten hatte. Rogue besuchte sie sehr häufig und redete mit Gabriels Großvater über die Geheimnisse, die sie teilten. Und während dieser Besuche verbrachte Rogue viel Zeit mit Gabriel, unterhielt sich mit ihm über die Schule und das Leben. Nach allem, was Gabriel bisher durchgemacht hatte, misstraute er jedem, aber Rogue war immer nett zu ihm gewesen. Zögernd ließ er die Blitze erlöschen.

»Vielen Dank.« Rogue steckte die Pistole ins Halfter. »Kommst du klar?« Er deutete auf die Wunde, die Moses Gabriel zugefügt hatte.

Gabriel tastete nach seinem Hals und erwartete, dass die Wunde blutete, aber sie war bereits am Heilen. »Ich denke schon.« Gabriel hielt einen Moment inne und fragte dann: »Rogue, was geht hier vor?«

»Wir können die Punkte miteinander verbinden, wenn wir hier verschwunden sind. Ich bezweifle, dass zwei Hexen und ein Vampir einen Dämon, der so stark ist wie der vorhin, lange aufhalten können. Wir müssen so viel Abstand wie möglich zwischen ihn und uns bringen.« Rogue ging voraus.

»Glaubst du, dass er mich verfolgt?«, erkundigte sich Gabriel nervös.

»Er hat dein Blut geschmeckt, also kannst du mit Sicherheit davon ausgehen. Außerdem bist du dank deines neuen Freundes jetzt der gesuchteste Mann in der Stadt.« Rogue deutete auf Gabriels Arm.

»Rogue, ich will mit diesem Ding nichts zu tun haben. Wenn ich wüsste, wie ich es loswerden könnte, hätte ich das längst getan«, sagte Gabriel.

»Was du da mit dir herumschleppst, kannst du nicht so leicht wieder abschütteln«, erwiderte Rogue.

»Du klingst wie mein Großvater. Er und alle anderen reden schon die ganze Zeit in Rätseln mit mir.«

»Wo ist Redfeather? Geht es ihm gut?«, fragte Rogue.

»Ich weiß es nicht; als ich zu mir gekommen bin, war er weg.« Gabriel erzählte Rogue davon, wie De Mona ihm den Nimrod gebracht hatte und dann mit seinem Großvater verschwunden war.

»Dämonen und ein von einem Geist besessenes Artefakt … Und ich dachte schon, ich hätte eine Pechsträhne.« Rogue drückte auf der Fernbedienung den automatischen Anlasser seiner Viper. Sie sprangen beide in den Wagen, und Rogue fädelte sich in den Verkehr ein. »Auf welcher Seite steht sie?«

Gabriel wusste, dass Rogue die Valkrin meinte. »Ehrlich gesagt weiß ich das nicht. Sie hat mir geholfen, als die Nachtwandler uns in der Nähe der Universität angegriffen haben, aber ich weiß immer noch nicht, wer auf welcher Seite steht. Ich weiß nur, dass wir unbedingt meinen Großvater finden müssen. Wenn ihm wegen dieses Artefakts etwas passiert ist …« Gabriel erstickte fast an seinen Worten.

»Keine Sorge, Redfeather ist ein zäher Bursche. Wir werden ihn finden, wo auch immer er steckt.« Rogue überholte einen langsameren Wagen und gab Gas. Gabriel beobachtete, wie souverän Rogue das Fahrzeug steuerte, obwohl es mitten in der Nacht war und er immer noch seine Sonnenbrille trug.

»Was hat es mit deiner Sonnenbrille auf sich?«, erkundigte sich Gabriel schließlich.

»Die da?« Rogue tippte gegen die Brille. »Die Brille und der Wagen gehören zu meinem Job«, scherzte er.

»Ich meine es ernst, Rogue. Ich habe dich noch nie ohne diese Brille gesehen. Was verbirgst du dahinter?«

»Ich habe nichts zu verbergen, mein Junge«, log Rogue.

»Rogue, wenn ich dir trauen soll, dann musst du mir einen Grund dafür geben. Ich habe gesehen, wie du in der Gasse mit diesen Schatten umgegangen bist. Du hast sie genauso kontrollieren können wie der Dämon. Mir ist klar, dass du eine Art von Magus sein musst, aber diese Schattententakel waren mehr als nur Magie. Was bist du?«

Rogue nahm die Brille ab und sah Gabriel an. Diesem klappte der Kiefer herunter, als er die Sterne in den pechschwarzen Augen tanzen sah. »Du bist also ein Dämon …« Unwillkürlich tastete er nach dem Türgriff.

»Beruhige dich, Gabriel.« Rogue drückte einen Knopf, der die Türen automatisch verriegelte und Gabriel im Wagen gefangen hielt. »Ich bin kein Dämon, ich bin ein Mensch.«

»Aber Menschen haben normalerweise nicht das Weltall in ihren Augen.« Gabriel rüttelte weiter am Türgriff. Rogue sah, wie Gabriels Aura loderte, also fuhr er rechts ran.

»Gabriel, wenn du dich nicht beruhigst, dann wirst du dieses Ding auf deinem Arm aktivieren. Gib mir eine Minute, dann erkläre ich es dir.« Gabriel ließ die Hand sinken, musterte Rogue aber immer noch argwöhnisch. »Sieh mich an und sag mir, wofür du mich hältst«, forderte Rogue ihn auf.

»Woher zum Teufel soll ich das wissen?«

»Du wirst es wissen. Also, sieh mich an.«

Gabriel musterte Rogue. Zuerst nahm er nichts anderes wahr als die Gestalt, die er vor sich hatte, doch schon bald begannen sich die Schichten zu lösen, und er betrachtete Rogue nicht mehr nur mit seinen Augen. Rogues Aura war etwas heller als die eines normalen Menschen, aber das war noch nicht alles. Sie war mit schwarzen Punkten durchsetzt. Als Gabriel genauer hinsah, hatte er den Eindruck, dass ihn hinter Rogues Gesicht noch ein anderes anschaute.

»Ich verstehe das nicht. Es ist fast so, als hättest du zwei Persönlichkeiten.« Gabriel versuchte, das Bild klarer zu sehen.

»Manchmal fühlt es sich auch genauso an. Ich bin ein Mensch wie du, aber ich bin auch ein Magus. Meine Familie gehört zum Haus von Thanos.«

Gabriel warf Rogue einen ungläubigen Blick zu. »Nach allem, was ich über Magie gelesen habe, solltet ihr eigentlich Menschen sein, die Magie wirken können. Das erklärt aber nicht, was mit deinen Augen passiert ist.«

»Ja, wir können Magie wirken, aber es gibt einige unter uns, die mehr wollen, als sie nur zu wirken. Sie wollen sie kontrollieren, und genau deshalb sind meine Augen so, wie sie sind«, erklärte Rogue.

»Du hast also einen Zauber gewirkt, der fehlgeschlagen ist?«, fragte Gabriel. Er wirkte jetzt ruhiger, deshalb sprach Rogue weiter.

»Es war nicht mein Zauber, aber mich hat es am schlimmsten erwischt. Es ist uns gelungen, den Dämon nach Hause zu schicken, aber wir mussten einen Preis dafür bezahlen. Bei Dämonen zahlt man immer einen Preis.« Die Sterne in Rogues Augen fingen an zu tanzen, als er an den Handel dachte. »Die Augen, die ich geopfert habe, haben Dutzende von Leben gerettet. Trotzdem hasse ich sie und auch mich selbst dafür. Nachdem ich diese Augen bekommen hatte, hat dein Vater mir geholfen, es durchzustehen.«

»Mein Vater? Wie hast du ihn kennen gelernt?« Gabriel war nun sehr an Rogues Geschichte interessiert.

»Peter und ich haben zusammen studiert, als ich noch Unsinn gemacht habe, um meinen Vater zu ärgern. Nach dem Examen bin ich auf die Polizeiakademie gegangen, während er nach New York zurückkehrte, wo er seine Jugendfreundin geheiratet und sich wieder in die Tretmühle begeben hat. Als ich mein kleines Missgeschick hatte«, er berührte ein Auge, »habe ich meiner Familie und der Bannwirkerei vollkommen den Rücken gekehrt. Deshalb war ich bei dem Versuch, mich an mein neues Handicap zu gewöhnen, auf mich allein gestellt. Ich wusste, dass Peters Dad in den okkulten Geheimlehren beschlagen war, also habe ich ihn aufgesucht. Als ich in New York auftauchte, war ich blind und halb verrückt, aber Redfeather hat mich mit offenen Armen aufgenommen. Peter und er haben mir geholfen zu verstehen, dass ich nicht ein Teil meiner Augen bin, sondern dass sie ein Teil von mir sind.«

»Je tiefer ich in die Sache hineingerate, desto mehr scheine ich über meinen Vater zu erfahren«, sagte Gabriel und lachte leise.

»Irgendwann setzen wir uns mal zusammen, dann werde ich dir ein paar Geschichten erzählen. Aber zuerst müssen wir einen Weg finden, dich und Mr. Dreizack zu trennen.« Rogue deutete auf Gabriels Arm.

»Das versuche ich schon die ganze Zeit, aber ich weiß einfach nicht, wie, außer vielleicht den Arm abzuhacken.« Gabriel rollte den Ärmel hoch und zeigt den Rogue die Tätowierung.

Rogue betrachtete sie ausführlich und ließ sich von seinen Augen übersetzen, was er sah. Wolken schienen über ein Meer zu fegen, während der Nimrod trotzig auf Gabriels Unterarm prangte. »So etwas sieht man nicht alle Tage. Versuche, ihn zu beschwören. Vielleicht habe ich ja eine Idee, wie man ihn loswird, wenn er sich materialisiert.«

Gabriel streckte den Arm aus und konzentrierte sich. Er hörte den Donner grollen und spürte, wie die Tätowierung sich bewegte, aber sie manifestierte sich nicht. Noch bin ich der Gebieter des Sturms, Frischling. Es wird eine Weile dauern, bevor er dich als meinen Nachfolger akzeptiert, sagte der Bischof.

»Nichts.« Gabriel zuckte mit den Schultern.

»Schon okay. Früher oder später wird er sein Gesicht zeigen«, erklärte Rogue. Er lenkte die Viper durch die belebten Straßen und warf gelegentlich einen Blick in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand folgte. Er wusste zwar, dass sie einen ziemlich guten Vorsprung vor dem Schattendämon hatten, aber er wusste auch, dass die Kreatur immer noch nach ihnen suchte.

»Wohin fahren wir?«, erkundigte sich Gabriel, als er die Richtungsschilder zum West Side Highway bemerkte.

»Nach Brooklyn. Da habe ich einen Kumpel, der uns vielleicht bei deinem kleinen Problem helfen kann und vielleicht auch dabei, deinen Großvater zu finden. Es gefällt mir nicht, dass er mit einem Dämon herumläuft, vor allem mit einem, von dem wir so wenig wissen.«

»Du meinst, De Mona könnte ihm etwas antun?«

Rogue packte das Steuerrad fester. »Um ihretwillen hoffe ich, dass sie das nicht tut. Der Redfeather-Clan ist für mich wie eine Familie, und wenn sie ihm auch nur ein Haar gekrümmt hat, werde ich versuchen, mich an die Todesmagie zu erinnern, die man mich als Junge gelehrt hat.«