28. Kapitel

Rogue stoppte die Viper vor einem alleinstehenden Häuserblock an der Flushing Avenue. Abgesehen von einem großen Lagerhaus und einer Tankstelle an der Ecke waren sämtliche Gebäude verlassen. An den Häusern und den Ampeln klebten Schilder mit einer 800er Nummer für alle, die sich für diese fantastische Immobilie interessieren könnten. Rogue stieg aus und ging los, ohne darauf zu warten, dass Gabriel ihm folgte.

Gabriel stieg ebenfalls aus und lief hinter Rogue her. »Wohin bringst du mich?«

»Ich habe doch gesagt, dass ich dich zu einem Freund von mir bringe.«

»Dein Freund lebt in einem Lagerhaus?« Gabriel betrachtete skeptisch das Gebäude gegenüber.

»Nein.« Rogue ging weiter. Er blieb vor einem Haus stehen, das an eine Schule erinnerte, die ihre beste Zeit bereits hinter sich hatte. Er setzte die Brille ab und inspizierte das Gebäude. »Er ist zu Hause«, erklärte er Gabriel, bevor er eines der Bretter wegzog, mit dem der Eingang verbarrikadiert war. »Bleib dicht bei mir, wenn wir drin sind. Wenn du dich hier verläufst, kann ich dir nicht garantieren, dass ich dich retten kann«, warnte ihn Rogue, bevor er das Gebäude betrat. Gabriel dachte einen Moment lang darüber nach und folgte Rogue dann in das verlassene Haus.

Das Erste, was ihm nach dem Eintreten auffiel, war der Gestank. Der Geruch von verfaultem Fleisch stieg ihm in die Nase, und es gelang ihm gerade noch, seinen Brechreiz zu unterdrücken. Die Situation erinnerte Gabriel an jenen Nachmittag, an dem sein Geschichtslehrer der Klasse den Film Glory gezeigt hatte. Vermutlich hatten die Leichen der Unionssoldaten, die am Strand gelegen hatten, ebenso übel gestunken wie dieses verlassene Bauwerk hier, wenn nicht noch schlimmer. Er war so sehr damit beschäftigt, sich nicht zu übergeben, dass er nicht bemerkte, wie Rogue stehen blieb. Er stieß gegen ihn.

»Entschuldige, Rogue. Wenn wir eine Taschenlampe oder so etwas hätten, dann …«

»Glaub mir«, unterbrach ihn Rogue, »du willst nicht sehen, was hier drin ist.« Er musterte den Raum mit seinen Dämonenaugen und nahm etliche Lebensformen wahr, die sich um ihn herum bewegten, war sich jedoch nicht sicher, welche davon diejenige war, wegen der er gekommen war. »Vater Zeit!«, rief Rogue. Der Wind frischte auf und fegte in der Dunkelheit Müll durch den Raum. Dann hörte man lautes Rasseln von Ketten, dem ein unheimliches Heulen folgte.

»Mir gefällt das nicht, Rogue«, bemerkte Gabriel. Eine Windböe heulte durch den Raum, und ein Geräusch von Metall, das auf Metall rieb, ertönte unmittelbar vor ihm. Der Nimrod durchströmte ihn mit seiner Macht, manifestierte sich jedoch nicht. Etwas in dem Gebäude bereitete dem Artefakt Unbehagen, was es Gabriel unmissverständlich mitteilte.

Rogue spürte die Macht, die Gabriel ausstrahlte. Als er ihn ansah, bemerkte er das schwache Schimmern, das Gabriel umhüllte. »Gabriel, du musst ruhig bleiben. Vater Zeit ist so etwas wie ein Einsiedler, und ich möchte ihn nicht erschrecken.«

»Ihn erschrecken? Sehr komisch.« Gabriel zuckte zusammen, als etwas über sein Gesicht strich. Das leise Heulen schien von überallher zu kommen, und etwas wie ein Jutelappen glitt erneut über sein Gesicht. Gabriels Hände flammten unwillkürlich auf.

»Gabriel, du musst dich entspannen.« Rogue berührte seinen Arm und handelte sich einen schmerzhaften Schlag ein. Gabriels Körper leuchtete so hell, dass Rogue den Blick abwenden musste. »Vater Zeit, wenn ich du wäre, würde ich mit diesem Mist aufhören, bevor das hier aus dem Ruder läuft.« Er drehte den Kopf hin und her, sah jedoch nur Finsternis, die sich bewegte. Als er die Blitze wahrnahm, die Gabriel aussandte, wusste er, dass er etwas unternehmen musste. »Verdammt!« Rogue zog den Revolver aus dem rechten Halfter. Dann wartete er und versuchte vorauszuberechnen, wohin sich die Dunkelheit als Nächstes bewegen würde. Dorthin feuerte er zweimal. Etwas stürzte zu Boden, und schlagartig verstummten der Wind und das Heulen. »Alles okay, Junge«, beruhigte er Gabriel, während er den Revolver wieder einsteckte.

Gabriel versuchte so gut er konnte die Magie unter Kontrolle zu halten, die in ihm tobte. Es war ein Gefühl, als hätte er eine gewaltige Gasblase in seinem Bauch, die keine Ruhe geben wollte. Schließlich gelang es ihm, sie zu beherrschen, aber der Nimrod war immer noch aufgewühlt. Gabriel sah zu, wie Rogue etwas aus der Tasche nahm und es in die Luft warf. Dann schrie er etwas, und im nächsten Moment wurde der Raum grell erleuchtet. Gabriel blickte sich um und wünschte sich, es wäre wieder dunkel.

Der Boden war mit den Kadavern von Ratten, Katzen, Hunde und Vögel übersät. Er glaubte sogar, die halb mumifizierten Reste eines Schweins am Fuß einer Treppe liegen zu sehen. Ein schmerzerfülltes Stöhnen lenkte Gabriels Aufmerksamkeit in die Mitte des Raums, wo sich Rogue um eine Gestalt kümmerte, die zwar die äußere Form eines Mannes hatte, aber alles andere als menschlich war.

»Verdammt, Magus!«, verfluchte der Vampir, der unter dem Namen Vater Zeit bekannt war, Rogue, während er sich um das Loch in seiner Schulter kümmerte, aus dem rötliche Flüssigkeit sickerte und auf seinen verschlissenen Mantel tropfte.

»Ich habe dich gebeten aufzuhören, aber du wolltest ja nicht hören. Jetzt halt den Mund und lass mich nach deiner Schulter sehen.« Rogue kniete sich neben den Vampir und untersuchte die Schussverletzung. Die meisten Vampire hätten sich innerhalb weniger Minuten von einer solchen Wunde erholt, vor allem wenn sie so alt waren wie Vater Zeit, aber das waren Vampire, die gut ernährt waren. Am Zustand der Tierleichen und von Vater Zeits ausgemergeltem Körper erkannte Rogue, dass es schon eine Weile her war, seit der Vampir ordentlich gegessen hatte.

»Verschwinde; ich kann die Wunde alleine heilen.« Vater Zeit schlug mit seinem guten Arm nach Rogue, aber es sah aus, als hätte er nicht einmal die Kraft, ihn alleine zu heben, geschweige denn, jemandem wehzutun.

»Nicht, wenn du weiter so hungerst.« Rogue drückte seine Hand gegen die Wunde und flüsterte einige Worte. Als er die Hand wegzog, hatte sich die Verletzung geschlossen. »Wann hattest du das letzte Mal etwas, das reden konnte?« Rogue deutete auf die Kadaver am Boden.

»Ich werde nicht von den Schafen trinken. Mein Durst hilft mir, mich zu konzentrieren, während ich auf unser Ende warte«, erwiderte Vater Zeit erschöpft.

»Du solltest lieber von jemandem trinken, sonst wirst du das Ende noch verpassen, weil du nicht mehr da bist, Kumpel.«

»Ist das ein Vampir?« Gabriel stand neben ihnen und betrachtete Vater Zeit neugierig. Er hatte sich Vampire immer als wunderschöne, magische Wesen vorgestellt, aber der Mann auf dem Boden vor ihm sah eher aus, als wäre er einem Horrorfilm entsprungen. Er wirkte wie eine Leiche, mit zerzaustem weißem Haupthaar und Bart. Seine spröden Lippen waren zu einem Grinsen zurückgezogen und entblößten gelbe Reißzähne in entzündeten Kiefern. Er starrte Gabriel mit blutunterlaufenen, tief in den Höhlen liegenden Augen bösartig an.

»Er war einer, bevor er verrückt geworden ist«, antwortete Rogue und wischte sich die Hände an der Jeans ab.

»Du bist verrückt, Magus. Denn selbst mit deinen Dämonenaugen kannst du die Schrift an der Wand nicht sehen. Die Nachkommen von Usiri und seiner Herrin wandeln über die Welt und suchen ihren Platz am Tisch.«

»Wovon redet er?«, fragte Gabriel.

»Vater Zeit glaubt, dass irgendein Supervampir kommen und die gesamte Vampirrasse auslöschen wird. Die Geschichte ist zwar ziemlich weit hergeholt, aber deswegen versteckt er sich seit mehreren Jahren und ernährt sich nur noch von Tierblut.«

»Deine Geschichte ist meine Wahrheit, Magus. Wenn unser größter Fehler das erste Mal Blut saugt, wird er sich unser Wissen aneignen, unsere Stärke und einen alles verzehrenden Durst entwickeln. Dieser Durst wird seine Eingeweide verbrennen und ihn in den Wahnsinn treiben; nicht einmal das Blut von hundert Schafen wird ihn befriedigen, denn er giert nach dem Blut des Wolfs. Was geschehen ist, wird ungeschehen werden.«

»Und die Kuh springt über den Mond.« Rogue brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Hör zu: Während du hier darauf wartest, gefressen zu werden, kannst du mir vielleicht einen Gefallen tun.«

»Es ist immer dasselbe mit deinesgleichen. Mir ist nicht danach, heute mit dir zu handeln, Magus. Nimm deine höllischen Augen und diesen verwünschten Jungen und verlass diesen Ort, bevor ihr die Lakaien der Hölle zu meiner Schwelle führt«, knurrte Vater Zeit.

»Du weißt also, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmt?«, erkundigte sich Rogue.

Vater Zeit musterte Gabriel gründlich. »Jeder, der sehen kann, weiß, was dieser Junge ist. Ein Sterblicher, der mit der Macht eines Gottes ausgestattet ist, ist nicht gerade leicht zu übersehen.«

»Du musst mir sagen, was genau mit ihm los ist, Vater Zeit«, bat ihn Rogue.

»Was geschehen soll, wird geschehen. Weder du noch der Junge können etwas daran ändern.« Vater Zeit schnappte sich eine Ratte, die an ihm vorbeilief, und schlug seine Zähne hinein. Nach wenigen Sekunden hatte er ihr das Blut ausgesaugt und warf ihren Leichnam zu den anderen.

»Du musst mir erzählen, was angeblich geschehen soll«, sagte Rogue hartnäckig.

Einen Moment lang wirkte Vater Zeit beinahe klar im Kopf. »Rogue, wenn ich in diese Angelegenheit hineingezogen werde, wird das Aufmerksamkeit auf mich lenken, die ich im Augenblick weder will noch gebrauchen kann. Du hast mein Nest bereits beschmutzt, indem du ihn hierhergebracht hast. Wenn du unsere merkwürdige Freundschaft jemals wertgeschätzt hast, wirst du ihn hier wegschaffen und mich nicht weiter belästigen.«

»Vater Zeit, ich weiß, wie sehr du deine Abgeschiedenheit liebst, und ich wäre nicht zu dir gekommen, wenn ich eine andere Wahl gehabt hätte. Aber du bist vermutlich der Einzige, der dieses Rätsel lösen kann. Dieser Junge kann für die gesamte Menschheit Leben oder Tod bedeuten, und auch für die Vampire. Ich brauche dich, Vater Zeit. Du bist der begabteste aller Seher«, flehte Rogue ihn an.

Als Vater Zeit den Namen seiner Vampirsippe hörte, schien das etwas in ihm anzurühren. Seit dieser Vision, die er während des letzten Krieges zwischen den Vampirsippen gesehen hatte, hatte er sich versteckt und auf das Ende gewartet, wie er es zuvor beobachtet hatte. Aber er war nicht immer so gewesen. Einst war er ein stolzer Krieger und machtvoller Seher gewesen.

Er sah Rogue an. »Wenn ich das für dich getan habe, ist unsere Beziehung beendet.«

»Verstehe.« Rogue nickte. »Gabriel, reich ihm deine Hände.«

Gabriel zögerte, aber als Rogue ihm versicherte, dass keine Gefahr bestand, trat er vor und streckte die Hände aus. Vater Zeit wich so schnell zurück, dass er in einen Schutthaufen fiel. Eine Staubwolke stieg auf.

»Nein, nein! Ich wage nicht, diesen Jungen direkt zu berühren. Etwas Persönliches von ihm genügt vollkommen«, erklärte er.

Gabriel suchte seine Taschen nach etwas ab, das er diesem merkwürdigen Vampir geben könnte, als seine Finger über seine Halskette strichen. Es war nur ein einfacher hölzerner Zahn an einer Lederschnur, aber er war eines seiner kostbarsten Besitztümer. Er hatte schon seinem Vater gehört, und der alte Redfeather hatte ihn an Gabriel weitergegeben. Er nahm das Lederband ab und legte es mit dem Zahn in die runzlige Hand von Vater Zeit.

Rogue und Gabriel sahen zu, wie der Vampir sich hinhockte und die Kette betrachtete wie ein Kind, das ein Insekt unter einer Glasscheibe musterte. Er rollte das geschnitzte Holzstück über den Boden, murmelte vor sich hin und kratzte sich am Bart. Rogue fragte sich bereits, ob Vater Zeit überhaupt etwas sah, als der Vampir plötzlich erstarrte. Er rollte die Augen und begann zu schreien.

»Du dummer Junge, was hast du da in die Welt gebracht?« Er bewegte sich so schnell, dass Rogue nicht einmal begriff, dass der Vampir vom Boden aufgesprungen war, bis er sich an ihm vorbeidrängte, um sich auf Gabriel zu stürzen. Die beiden landeten krachend auf dem Boden, und Vater Zeit hockte sich auf den sich heftig wehrenden Jüngling. »Du hast uns alle verdammt!« Speichel landete auf Gabriels Gesicht.

Rogue packte den Vampir am Kragen und schleuderte ihn quer durch den Raum. »Du musst wirklich den Verstand verloren haben, wenn du jemanden angreifst, der unter meinem Schutz steht.« Rogue zog beide Revolver und richtete sie auf Vater Zeits Augen. »Ich weiß, dass deine Augen sich irgendwann regenerieren, aber es könnte lustig sein zuzusehen, wie du versuchst, blind Ratten zu fangen.« Er spannte mit den Daumen die Hähne der Revolver.

»Mach, was du willst, Rogue. Der Junge hat bereits dafür gesorgt, dass wir alle in den Flammen dessen brennen werden, was er zum Leben erweckt hat. Heute habe ich die Schreie der Gläubigen gehört, als die Mauern ihres mächtigen Hauses unter Stahl und Magie erzitterten. Das Blut des Jägers ist der Preis, und die Büttel der Unterwelt sind ziemlich durstig«, erklärte Vater Zeit.

»Du solltest dich lieber etwas deutlicher ausdrücken, Vater Zeit.« Rogue drückte die Mündungen der Revolver in die Augen des Vampirs, bis blutrote Tränen über sein Gesicht rollten und seinen Bart befleckten.

»Benutze deine Augen, Rogue, und sieh ihn so, wie er wirklich ist.« Vater Zeit deutete mit seinem knochigen Finger auf Gabriel. »Dieser Junge ist doppelt verdammt, weil er der Willkür des Nimrod und seines einen, wahren Herrn ausgeliefert ist. Durch ihn wird der Bischof seine Rache bekommen, und durch ihn wird die ganze Menschheit geopfert.«

»Wie können wir den Bischof aufhalten?« Rogue ließ die Revolver sinken.

»Das kannst du nicht. Wenn ich ihn jetzt ansehe, erkenne ich die höhnische Fratze des Bischofs. Das Ende naht, und er ist es, der es herbeiführt.« Vater Zeit riss plötzlich den Kopf hoch. »Sieh! Während wir reden, verschlingt die Dunkelheit den Mond.«

Rogue dachte zunächst, diese Bemerkung wäre ein weiteres Rätsel von Vater Zeit, bis er einen Blick aus einem der verrammelten Fenster warf und ihm klar wurde, dass er den Mond nicht sehen konnte. Und auch nicht den Himmel und alles andere – alles war verschwunden. Das gesamte Gebäude war in Finsternis gehüllt. »Verdammt, sind diese Kerle hartnäckig.« Rogue schwenkte seine Revolver auf der Suche nach einem Ziel durch den Raum.