1. Kapitel
Lauf! Der Gedanke gellte so laut durch ihr Gehirn, dass ihre Schläfen schmerzten. Sie fuhr herum, um ihrem Cousin Michael eine Warnung zuzurufen, aber seine Rippenknochen hatten bereits seine Bauchdecke durchbohrt. Der zweite Schuss durchtrennte die Verbindung zwischen Schulter und Schlüsselbein. Michael fiel zu Boden, und seine leblosen Augen starrten seine Cousine an. Sie schrie ihm innerlich zu, aufzustehen, aber sie wusste, dass sein Blut zu schwach war, um die Wunde zu heilen.
Beim Klang der sich nähernden Sirenen schnellte ihr Kopf nach hinten. Sie sah in der Ferne die Lichter blitzen, aber das Gesetz würde ihnen keine Rettung bringen. Eine weitere Kugel zerschmetterte die Scheibe des Wagens, neben dem sie stand, und sie ging in Deckung. Sie lehnte sich mit dem Rücken an den Wagen, das Bündel fest an die Brust gepresst. Sie konnte den Mörder ihres Cousins nicht sehen, wusste aber, dass er irgendwo da draußen lauerte und dass sie die Nächste auf seiner Liste war, es sei denn, sie unternahm etwas dagegen.
De Mona rannte über die Straße, das in Hanf gewickelte Bündel eng an sich gedrückt. Der beißende Geruch von frischen Nelken brannte in ihrer Nase, aber das war ein notwendiges Übel. Als sie auf die Straße hinauslief, wurde sie von den Scheinwerfern eines Wagens geblendet. Der Fahrer machte eine Vollbremsung, aber er kam nicht mehr rechtzeitig zum Stehen. Der Aufprall schleuderte De Mona durch die Luft; dann rutschte sie über den Asphalt, bevor sie schließlich gegen die Stoßstange eines parkenden Wagens krachte.
»Um Gottes willen!« Der Fahrer sprang aus dem alten Ford. Als er die junge Frau ausgestreckt am Boden liegen sah, schickte er ein Stoßgebet zum Himmel und hoffte, dass sie noch lebte. Aber aufgrund der Geschwindigkeit, mit der er sie erwischt hatte, sah es nicht gut für sie aus. Er hörte die Polizeisirenen in der Ferne, und sie kamen immer näher. Der Mann hatte gerade den Finger an ihren Hals gelegt, um nach ihrem Puls zu tasten, als das Mädchen die Augen aufschlug. Im nächsten Moment stand sie wieder auf den Beinen und sah sich um. Sie konnte den Mörder ihres Cousins zwar immer noch nicht sehen, aber sie wusste, dass er da draußen auf sie lauerte. Sie schnappte sich das Jutebündel und wich vorsichtig zurück.
»Himmel, geht es Ihnen gut? Ich habe Sie überhaupt nicht gesehen.« Der Fahrer folgte ihr. »Hören Sie …« Er sah zur Seite, auf die Lichter der Polizeiwagen, die noch ein gutes Stück entfernt waren. »Jeden Moment wird Hilfe hier sein. Wenn es Ihnen gut geht, dann mache ich einfach …« Weiter kam er nicht, denn die Kugel schlug in seine rechte Wange ein, und sein Blut spritzte über De Mona. Unheimlich waberte die Finsternis heran und verschluckte den Leichnam des Mannes.
Ein Tentakel der Dunkelheit umschlang De Monas Knöchel und riss sie zu Boden. Je mehr sie sich wehrte, desto fester umschlang die Finsternis ihre Beine. Sie hatte schon ihre Taille erreicht und arbeitete sich weiter voran, aber als sie an das Bündel kam, zuckte sie zurück, als hätte sie Schmerzen. De Mona nahm alle Kraft zusammen und schaffte es, sich mit heftigen Tritten von dem dunklen Band zu befreien. Sie rappelte sich unbeholfen hoch. Die Finsternis unternahm einen zweiten Versuch, aber De Mona hatte bereits die Straße überquert. An der Ecke hielt sie einen Moment inne und warf einen Blick zurück. Keine gute Idee. Die Finsternis öffnete ihren Schlund und spie drei Männer aus. Der Letzte war der Schütze. Sein Gesicht und seine Uniform waren blutverschmiert, aber das schien ihn nicht zu stören. Er legte den Dienstrevolver an und versuchte, De Mona ins Visier zu nehmen. Er war zu langsam, um sie zu Fuß einholen zu können, aber die beiden, die die Jagd anführten, näherten sich ihr beunruhigend schnell. Sie sahen aus wie die Billigversion von Siegfried & Roy, aber die verfaulten Hautpartien auf ihren Gesichtern verrieten, was sie in Wirklichkeit waren: Nachtwandler.
De Mona zwang mit reiner Willensanstrengung all ihre Kraft in ihre Beine und stürmte vor ihren Verfolgern her. Sie hatte etwa einen halben Block Vorsprung und vergrößerte ihren Abstand noch, doch irgendwann würde sie müde werden, im Gegensatz zu ihnen, und dann wäre es vorbei, es sei denn, ihr war bis dahin ein Plan eingefallen. Wie eine Antwort auf ihre Gebete sah sie ein paar Meter vor sich den Eingang zu einer Gasse. Sie rannte schneller, hielt sich an einer Laterne fest, schwang sich daran herum und schleuderte sich selbst in die Gasse hinein. Als sie in den kühlen Schatten trat, erkannte sie, dass das ein Fehler gewesen war.
Die Laterne am Rand des Bordsteins leuchtete zwar noch, aber ihr Lichtstrahl hörte wie abgeschnitten an der Einmündung der Gasse auf. Es war fast so, als würde der Schatten das Licht verschlucken. Es war eine Falle, und sie war direkt hineingerannt.
»Schau nicht so grimmig drein, Kind«, sagte die Finsternis unmittelbar vor ihr. Im nächsten Moment trat ein Mann heraus, der eine verblichene Jeans und ein schwarzes T-Shirt trug. Auf seinen Armen bemerkte De Mona Tätowierungen, in denen sie Symbole der Schwarzen Magie erkannte. Obwohl sein Gesicht liebenswürdig wirkte, verhieß der unnatürliche Glanz in seinen Augen Ärger. »Gib es mir, und ich behalte dich als meine Hure, anstatt dich Titus’ Willkür auszuliefern.«
»Halte dich von mir fern, zur Hölle!«, knurrte De Mona und wich langsam zur Straße zurück. Sie spielte mit dem Gedanken, wegzurennen, doch diese Idee erledigte sich von selbst, denn die drei Männer, die sie verfolgt hatten, blockierten den Eingang der Gasse. Sie saß wirklich in der Falle.
»Du weißt, warum ich gekommen bin.« Die Augen des Mannes zuckten, und die Finsternis schien das Weiß der Augäpfel ganz auszufüllen. De Mona spürte, wie sich die Härchen auf ihrer Haut aufrichteten, und wusste, dass das hier ein harter Brocken für sie sein würde.
Wenn die Dämonen die Handlanger der Hölle waren, dann waren die Nachtwandler ihr Fußvolk. Sie waren niedere Dämonen und Poltergeister, die sich in den Körpern der Toten einnisten konnten, vorausgesetzt, die Leute waren ermordet worden oder auf tragische Weise ums Leben gekommen. Obwohl die Nachtwandler dabei häufig ihre übernatürliche Kraft behielten, konnten sie nicht ihre ganze Macht aus dem Nichts mit herüberbringen. Dadurch wurden sie zu wenig mehr als geistesschwachen Sklaven, die Belthon für die Aussicht auf Chaos zu Diensten waren.
Bei den mächtigeren Dämonen verhielt es sich anders. Weil ihre Macht bereits im Nichts größer war, konnten sie nicht nur mehr von ihrer Kraft mitbringen, sondern sie konnten auch lebende Wirte befallen. Es kursierten genug Geschichten über Dämonen, die den Schwachen oder Kranken verlockende Versprechungen gemacht hatten, wobei sie allerdings tunlichst vermieden hatten zu erwähnen, dass die Seele des Wirts den Platz des Dämons in der Hölle einnehmen musste, so lange, bis dieser den Körper wieder zurückgab oder vernichtet wurde. Der Mann im schwarzen T-Shirt schien genau so ein Fall zu sein.
»Es gibt keine Fluchtmöglichkeit.« Er lächelte und entblößte dabei seine scharfen Reißzähne und seinen schwarzen Gaumen. »Du wirst es hergeben müssen, lebendig oder tot.«
De Mona versuchte ihre Furcht zu beherrschen, was ihr jedoch sehr schwer fiel. Ihre Finger krümmten sich bereits unwillkürlich zu harten Klauen. Sie verlor die Kontrolle, und genau das konnte sie sich nicht leisten. Ihre Mission war zu wichtig, als dass sie sie hätte gefährden dürfen, aber man ließ ihr nur wenig Spielraum. Langsam zog sie ihr Jagdmesser aus der Tasche ihrer Drillichhose und sah von dem Mann im schwarzen T-Shirt zu den Nachtwandlern hinüber. »Dann mal los«, flüsterte sie.
Zwei beunruhigende Geräusche folgten auf ihre Herausforderung. Das erste war ein Schlachtruf, als ein Nachtwandler sie angriff, und das zweite war der Schuss eines Polizeibeamten. Der Nachtwandler war schnell, aber das war sie auch. Sie ließ das Bündel fallen, erwischte den Nachtwandler mit einer Hand am Hals und rammte ihm mit der anderen ihre Klinge in den Leib. Sie hatte bereits drei Mal zugestochen, bis er begriff, dass er den Kürzeren gezogen hatte. Dann hämmerte sie ihm ihren Handrücken ins Gesicht, so dass sein Kopf zurückflog und den Hals entblößte. Sie schnitt ihm die Kehle durch, rammte ihm das Messer in den Schädel und schaffte sich dann den leblosen Körper mit einem Tritt aus dem Weg.
Wie aus dem Nichts stürzte sich der zweite Nachtwandler auf sie. Sie erwischte das Wesen mitten in der Luft an den Handgelenken, aber das konnte die Kreatur nicht an dem Versuch hindern, seine rasiermesserscharfen Zähne in ihre Wange zu graben. De Mona fürchtete nicht, dass der Biss sie verwandelte, aber trotzdem würde ihr Körper sich von der Infektion erholen müssen. Der Nachtwandler stieß ein paar Worte in einer unverständlichen Sprache hervor, die De Mona nicht unbedingt entziffern wollte. Dann riss die Kreatur einen Arm frei und versuchte, ihr damit den Kopf abzureißen. Sie konterte mit einem Schlag mit der flachen Hand gegen die Brust des Nachtwandlers und stieß dabei den Atem aus, den sie angehalten hatte. Sie spürte, wie die Rippen des Wesens nachgaben, und fühlte das schwache Pulsieren, als sein Herz explodierte. Obwohl das Herz eines Wirtskörpers nicht mehr schlug, ankerte dort die Macht des Dämons über den Körper, so dass man einen Dämon ebenso gut durch die Zerstörung des Herzens vernichten konnte wie durch Enthauptung.
Duck dich! Sie hörte den Befehl in ihrem Kopf, bevor sie sich gerade noch aus der Flugbahn einer Kugel drehen konnte. »Ich mach dich fertig, du Miststück!«, schrie der verrückte Cop und feuerte erneut.
De Mona griff ihn geduckt an, den Arm ausgestreckt. Ihre Faust erwischte den Officer am Bauch und schleuderte ihn von den Füßen. Sie kam hinter ihm wieder hoch, umschlang den Hals des Mannes und schüttelte ihn wie eine Stoffpuppe. Im Unterschied zu den Nachtwandlern war dieser sterbliche Mann nicht sonderlich kräftig.
»Du hast dir den falschen Dämon für deine Anbetung ausgesucht«, hauchte sie ihm ins Ohr. Der Polizist zitterte, als er einen schwachen Geruch von Schwefel bemerkte. Sie riss seinen Kopf brutal zur Seite, brach sein Genick und ließ ihn dann schlaff zu Boden fallen.
Der Eingang der Gasse war jetzt frei, und ihr Verstand schrie ihr zu, endlich zu fliehen, aber jetzt hatte die Blutrunst sie gepackt, und sie brauchte ein neues Opfer. Sie wirbelte herum, fletschte die Zähne knurrend wie ein Tier und richtete ihre Wut auf den Mann im schwarzen T-Shirt. Zu ihrer Überraschung griff er sie mit einem Messer an, mit einem sehr großen Messer.
»Du hättest es mir einfach geben sollen, Miststück!« Er grinste, als er ihr das Messer in den Leib rammte. Doch sein Grinsen gefror auf seinem Gesicht, als seine Waffe beim Aufprall in zwei Teile zerbrach.
Der erschreckte Blick des Mannes zuckte von der geborstenen Messerspitze zu dem Gesicht des Mädchens, das er gejagt hatte. Der Schleier der Finsternis verdeckte immer noch die Gasse, aber in den Augen des Mädchens schimmerte ein Funken Mondlicht, was eigentlich nicht sein durfte. In diesem Moment erkannte er, was er zuvor aus Arroganz übersehen hatte.
»Du bist nicht die einzige Beute in der Stadt.« Ihre Stimme klang, als hätte sie zu viel Zähne im Mund. »Also …« Sie näherte sich ihm langsam. Ihr Körper schien bei jedem Schritt größer zu werden. »Unterhalten wir uns doch über diese Stellung als Hure, die du mir vorhin angeboten hast.«
Fünf Minuten später trat De Mona an dem Ende aus der Gasse, das sie zuvor wegen des Banns, den der Mann ausgeübt hatte, nicht hatte sehen können. Ihre Hände waren von Flecken bedeckt, die zu schwarz waren, um Blut zu sein. Sie sickerten in das Bündel. Der Gegenstand, der sich darin befand, pulsierte kurz und erstarrte dann wieder. Sie schüttelte den Nebel ab, der sich über ihren Verstand zu legen drohte, und verfluchte das Bündel. In der kurzen Zeit, in der sie es in ihrem Besitz hatte, hatte es sie schon alles und jeden gekostet, den sie gekannt hatte. Redfeather war der Name gewesen, den ihr Vater ihr sterbend genannt hatte, und sie hatte vor, ihn zu finden, koste es, was es wolle.
Der Schmerz in Sams Bauch war so stark, dass er kaum gerade gehen konnte. Sein blonder Irokesenschnitt war verfilzt und ungepflegt, und seine eigentlich strahlend blauen Augen waren trüb und matt. Der scheinbar endlose Strom von Schnodder, der aus seiner Nase lief, bildete Krusten um die Nasenlöcher herum und auf der Oberlippe, aber sein Aussehen war im Moment sein kleinstes Problem. Wenn er nicht bald einen Schuss bekam, würde er die Nacht wohl kaum überstehen.
Sam war am Eingang der Gasse stehen geblieben, um Atem zu schöpfen, als er ein schwaches Stöhnen zu hören glaubte. Er versuchte, einen Blick in die Gasse zu werfen, aber es war zu dunkel. Er wollte gerade weitergehen, als er die Stimme hörte.
»Hilfe«, rief jemand schwächlich.
»Wer ist da?«, fragte Sam.
»Bitte, helfen Sie mir.«
Sam beugte sich etwas nach unten, um besser sehen zu können. In dem Moment packte etwas seinen Hals. Er griff mit den Händen danach, aber seine Finger drangen einfach durch die schwarzen Tentakel. Ihr Druck war so stark, dass er weder schreien noch sich bewegen konnte. Er konnte nur leise wimmern, als die Finsternis durch jede Öffnung in seinen Körper eindrang.