2. Kapitel

»Und das war – kurz gesagt – der Aufstieg und Fall der spanischen Kolonisation der beiden Amerikas«, erklärte Professor Garland, während die Studenten seiner Vorlesung gelangweilt folgten. Garland war ein Hüne von Mann mit einer unbändigen Mähne graumelierten Haars. »Also …« Er richtete den Blick hinter den glasbausteindicken Gläsern seiner Brille auf die Studenten. »Wer kann mir die Namen von dreien der letzten vier spanischen Kolonien nennen, die am Ende des Spanisch-Amerikanischen Krieges von den Vereinigten Staaten besetzt wurden?« Es herrschte tiefes Schweigen. »Kommen Sie schon, wir haben die ganze letzte Woche ausschließlich über dieses Thema gesprochen, seit über sechzig Prozent von Ihnen durch meine Klausur gerasselt sind. Ich bin sicher, dass irgendjemand mir zumindest die drei nennen kann?« Er sah sich in dem Hörsaal um, doch bis auf einen jungen Mann direkt am Fenster erwiderte niemand seinen Blick. »Also gut, dann suche ich mir jemanden aus.« Er musterte seine Studenten, bis sein Blick an einer hübschen Blondine hängen blieb, die mit ihrem BlackBerry herumspielte. »Miss Reynolds!« Seine tiefe Stimme erschreckte die junge Frau so sehr, dass sie das Gerät fallen ließ. »Wir warten.«

Katie sah sich hilflos um, weil sie absolut keine Ahnung hatte, worauf genau Professor Garland wartete. Sie war mehr an ihrer Facebook-Seite interessiert als an dem, was er von sich gab. »Es tut mir leid«, sagte sie etwas verlegen.

»Das wird es allerdings, Miss Reynolds; es ist nur schade, dass Sie auf diese Weise meine Zeit verschwenden«, erklärte er angewidert. Professor Garland war dafür bekannt, dass er Studenten, die seiner Meinung nach unaufmerksam waren, beschimpfte. Seine Wutanfälle waren an allen Universitäten, an denen er jemals unterrichtet hatte, legendär. Angeblich waren sogar Männer deswegen in Tränen ausgebrochen, und seine Miene legte nahe, dass Katie jetzt sein nächstes Opfer sein würde.

»Kuba, Puerto Rico, Guam und die Philippinen, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge«, rief jemand bescheiden aus der Ecke. Alle Blicke richteten sich auf die Person, die dumm genug war, sich in Professor Garlands Fadenkreuz zu stellen, wenn der sich gerade in einen Wutanfall hineinsteigerte. Gabriel schob die Brille auf seine Nase und sah sich um. Warum starrten ihn alle an? Er war ein sehr attraktiver junger Mann mit glatter brauner Haut und schulterlangem schwarzem Haar, das er nie zu kämmen schien. Aber so attraktiv er auch sein mochte, er war ungefähr so unterhaltsam wie Professor Garlands Kurs. Gabriel war der typische ruhige Typ, der in der Ecke saß, aus dem Fenster starrte und in der Vorlesung so gut wie nie das Wort ergriff, außer wenn er etwas zu Katie Reynolds sagte. Und selbst dann sprach er immer nur leise. Doch als er Katie gerade zu Hilfe gekommen war, hatte er sehr selbstbewusst geklungen. Professor Garlands Blick bohrte sich jetzt in seinen, und er hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht.

»Korrekt, Mr. Redfeather, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich die Frage an Sie gerichtet hätte«, erwiderte Professor Garland.

»In gewisser Weise haben Sie das schon. Sie haben die Frage zunächst an jeden gestellt, der sie beantworten konnte. Ich hatte mich nur entschieden, in diesem Moment nicht zu antworten.« Gabriel lächelte unsicher, als der ganze Kurs laut lachte. Er hatte nur aus einem einzigen Grund geantwortet, nämlich um zu vermeiden, sich vor allen Kursteilnehmern zu erbrechen.

»Also gut, Mr. Klugscheißer.« Professor Garland nahm ein dickes Geschichtsbuch vom Pult und blätterte es durch, bis er den Abschnitt fand, nach dem er suchte. »Da Sie in diesem Thema so versiert sind, möchte ich Sie Folgendes fragen: Als Kolumbus vergeblich versucht hatte, die Unterstützung des portugiesischen Königs zu erhalten, an wen hat er sich da …«

»An die Herrscher von Kastilien und Argon. Sie haben sein kleines Abenteuer finanziert, weil sie eine schnellere Route finden wollten, um die Händler in Asien zu erreichen«, unterbrach ihn Gabriel triumphierend, während die Klasse ihn mit einem Chor aus Jubelschreien unterstützte. Katie warf ihm einen Kuss zu, den er in seiner Handfläche auffing, was Professor Garland nur noch mehr ärgerte.

»Sie beide kommen nach der Vorlesung zu mir.« Professor Garland knallte das Buch auf den Tisch.

Anschließend nahm er sich fast zwanzig Minuten Zeit, Gabriel und Katie für ihre unverschämte Haltung in seiner Vorlesung zusammenzustauchen. Garland verstand mit Usurpatoren, wie er sie nannte, keinen Spaß. Er war so wütend, dass Gabriel fürchtete, eine der dicken Adern in seiner Stirn könnte explodieren. Als er die beiden schließlich wegschickte, wirkte Gabriel, als würde er gleich auseinanderfallen, aber Katie konnte das Kichern kaum unterdrücken, das sich in ihrem Bauch breitmachte.

»Du warst da drin wirklich beeindruckend«, sagte sie zu Gabriel, als sie durch den Korridor gingen.

»Er war mächtig sauer; ich habe schon gedacht, er bekommt gleich einen Herzinfarkt«, brummte Gabriel, während er immer wieder seine Brille auf der Nase hochschob. Ein Bügel war locker, deshalb glitt sie ständig herunter.

»Das wär was. Wenn der alte Garland tot umfällt, brauchen wir vielleicht die Abschlussprüfung nicht zu machen«, erwiderte Katie halb im Scherz. »Junge, ich hätte mir fast in die Hose gemacht, als er mich nach dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg gefragt hat.«

»Spanisch-Amerikanischer Krieg«, korrigierte Gabriel sie.

»Von mir aus.« Sie machte eine abfällige Handbewegung. »Ich weiß weder etwas über den einen noch über den anderen, deshalb werde ich durch dieses Examen fallen und den Sommer über hier hocken müssen und den Kurs wiederholen.«

»Katie, hast du jemals in Betracht gezogen, ernsthaft zu studieren?«, fragte er sie.

»Ach, studieren ist was für Blödmänner.« Sie schlug die Hand vor den Mund, als ihr klar wurde, dass sie ihn beleidigt hatte. »Das war nicht böse gemeint, Gabe, aber ich kann einfach nicht lange genug stillsitzen, um auch nur die Hälfte dieses Mülls durchzuarbeiten.«

»Das ist kein Müll, Katie; das ist der geforderte Lernstoff für den Kurs.« Gabriel rückte den großen Stapel Bücher zurecht, den er unter dem Arm trug. Er hatte ihn kaum etwas bequemer gepackt, als ein großer junger Mann ihn anstieß und die Bücher zu Boden fielen.

»Pass auf, wo du hingehst, Trottel«, warf der junge Mann über die Schulter zurück, ohne auch nur langsamer zu werden.

»Oh, warum wirst du nicht erwachsen?«, rief Katie dem Jüngling nach. »Alles klar?« Sie bückte sich und half Gabriel, die Bücher aufzuheben.

»Ja, kein Problem«, log er. Dass Katie gesehen hatte, was passiert war, ärgerte ihn mehr als die eigentliche Provokation. Während sie ihm half, die Bücher aufzuheben, streifte eine Strähne ihres Haars sein Gesicht. Er atmete tief ihren Duft ein. Er liebte ihren Geruch. Katie strahlte einen natürlich süßen Duft aus, wie eine Blume, gemischt mit ihrem Shampoo. Diesen Geruch würde er immer erkennen. Erneut schweiften seine Gedanken ab. Was wäre, wenn …?

»Gabriel, du musst wirklich lernen, dich durchzusetzen«, sagte sie ihm, während sie das letzte Buch auf den Stapel legte. »Wenn du so viele Bücher herumschleppen kannst, bist du bestimmt stark wie ein Bär.« Sie kniff ihm spielerisch in den Bizeps. Er fühlte sich an wie Stahl.

»Ich kann mich auch durchsetzen, aber nur, wenn ich an die Sache glaube«, erwiderte er.

»Welche Sache könnte sich mehr lohnen als die, die Leute davon abzuhalten, auf dir herumzuhacken?«

»Die größten Schlachten werden mit unseren Köpfen und unseren Herzen gefochten«, antwortete Gabriel gewichtig.

»Aber dein Herz kann nicht verhindern, dass dir der Schädel eingeschlagen wird.« Sie klopfte mit dem Knöchel leicht gegen seine Stirn. Er sah sie immer noch mit diesem unschuldigen Blick an, also gab sie es auf. »Wie ich gerade sagte, ich weiß, dass nur ein Wunder mich durch die Abschlussprüfung in Professor Garlands Geschichtskurs bringen kann.«

»Dann solltest du in die Kirche gehen und anfangen zu beten«, erwiderte Gabriel und ging weiter.

»Moment, Gabe.« Sie holte ihn rasch ein. »Ich hatte eigentlich gehofft …«

»Nein, Katie«, unterbrach er sie.

»Du hast mich noch nicht einmal aussprechen lassen.«

»Das macht nichts, die Antwort ist trotzdem nein.«

»Gabe, ich brauche nur ein bisschen Hilfe.« Sie streichelte seine Wange.

Die Hitze ihres Körpers und der Duft ihres Parfüms lösten ein Kribbeln unterhalb seiner Gürtellinie aus. Katie war ein wunderschönes Mädchen. Sie war knapp eins sechzig und hatte rotblondes Haar. Gabriel hatte sich oft vorgestellt, wie es wäre, mit ihr zusammen zu sein, nur ein einziges Mal, aber er wusste, dass sie beide nie mehr sein würden als Freunde.

»Nichts zu machen, Katie.« Er schüttelte den Kopf, um den Nebel aus seinem Verstand zu vertreiben. »Als ich dir das letzte Mal bei etwas geholfen habe, habe ich deine Arbeit geschrieben, während du telefoniert hast.«

»Das ist nicht wahr. Ich habe geholfen.«

»Katie, wenn du mir ein Lehrbuch reichst, zählt das nicht als Hilfe«, erklärte er ihr.

»Gabriel, ich brauche diese Prüfung. Wenn ich die Klasse nicht schaffe, muss ich den Sommer über hierbleiben und sie wiederholen. Meine Eltern wollen mich mit nach Rio nehmen, und das will ich nicht verpassen. Bitte!«

Gabriel sah in ihre flehenden blauen Augen, und sein Herz flatterte. Katie war ein verwöhntes, reiches Mädchen aus Howard Beach, dem vornehmen Teil von Queens. Als Tochter zweier bekannter Chirurgen konnte sie sich das Beste leisten, was das Leben zu bieten hatte. Die meisten Studenten lehnten sie und die anderen Mädchen in ihrem privilegierten Zirkel ab, aber in seinen zwei Jahren an der Universität hatte Gabriel eine andere Seite von ihr kennen gelernt. Katie war einfach nur ein Mädchen, das versuchte, aus dem Schatten seiner Eltern herauszutreten und seinen Platz in der Welt zu finden. Es war diese kindliche Unschuld unter dem oberflächlichen Äußeren, die Gabriel angezogen und das Band zwischen ihnen geschmiedet hatte.

»Also gut«, lenkte er ein. »Ich helfe dir dieses eine letzte Mal, Katie.«

»Oh, ich danke dir!«, quietschte sie und küsste ihn auf die Wange. »Du bist der Beste, Gabe.«

»Ja, ja.« Er errötete. »Ich muss in der Bibliothek noch etwas recherchieren, also treffen wir uns da um zehn.«

»Heute Abend? Gabe, es ist Freitag. Können wir uns nicht früher treffen?«

»Nein, können wir nicht. Wie ich schon sagte, ich muss noch recherchieren.«

»Du und deine Recherchen.« Sie schmollte. »Ich verstehe einfach nicht, warum jemand sich für Sprachen interessiert, die sowieso keiner mehr spricht.«

»Ich interessiere mich eben dafür. Du kennst meine Bedingungen, Katie. Du kannst kommen oder auch nicht, das liegt ganz bei dir.«

»Also gut, du Spielverderber. Aber du bist trotzdem der beste Freund, den ein Mädchen haben kann!«

»Wie du meinst«, erwiderte er und versuchte ein Grinsen zu unterdrücken. Dann sah er sich um, ob sie jemand beobachtete, und als er sich überzeugt hatte, dass sie allein waren, beschloss er, Katie endlich zu fragen. »Hör mal, ich hab mir überlegt, ob du …« Katies BlackBerry klingelte und unterbrach ihn. Sie nahm das Gespräch an und vertiefte sich sofort in das, was die Person am anderen Ende der Leitung zu sagen hatte. Sie winkte Gabriel mit den Fingern einen Abschiedsgruß zu und ging durch den Flur, während sie eifrig ins Telefon sprach.

»… vielleicht dieses Wochenende ins Kino gehen möchtest«, sprach Gabriel in den leeren Raum, wo Katie eben noch gestanden hatte.