9

Olav war tot. Er war am frühen Morgen bei Einbruch der Dämmerung gestorben, sich jammervoll wimmernd, die Hände um den Leib gekrallt. Zarabeth hatte die Nacht bei ihm gewacht, hilflos und ängstlich, wollte ihn nicht alleine lassen, obgleich sie nichts für ihn tun konnte. Er war nicht mehr in der Lage aufzustehen, um sich zu erleichtern. Gegen Ende erkannte er sie nicht mehr. Er fantasierte von ihrer Mutter, wie sehr er sie geliebt, und wie furchtbar sie ihn betrogen habe. Zarabeth hatte ihm bis zum Schluß die Hand gehalten.

Sie konnte es nicht begreifen. Er war den ganzen Abend wohlauf gewesen, hatte pfeifend seine Waren sortiert, die er am Tage erstanden hatte.

Und jetzt — kaum zwölf Stunden später — war er tot.

Zarabeth erhielt Unterstützung von Imara und Lannia, zwei älteren Frauen, die den Tod häufig gesehen und manchen Leichnam zum Begräbnis aufgebahrt hatten. Gemeinsam wuschen sie den Leichnam und kleideten ihn an. Sie war wie betäubt, verrichtete einfache Aufgaben, die Lannia ihr auftrug. Irgendwann betrat Toki den Wohnbereich, rümpfte die Nase und sagte angeekelt: »Bei Thor, wie das hier stinkt! Wie kannst du das bloß aushalten, Zarabeth?«

Imara wandte sich mit vorwurfsvollem Blick an Toki. »Hüte dein Lästermaul. Dies ist ein Ort des Todes, und so wird es bleiben bis zum morgigen Tag.«

Zarabeth wandte sich nun an Toki. Sie war hundemüde und hatte nur einen Wunsch: ins Bett neben Lotti zu kriechen und so lange zu schlafen, bis dieser Alptraum vorüber war. Doch sie mußte sich um Olavs Begräbnis kümmern. Mehr erstaunt als verärgert fragte sie: »Wieso haßt du ihn so sehr? Er hat dich wieder bei sich aufgenommen. Er hat dir vergeben. Ihr habt wieder an unserem Nachtmahl teilgenommen. Warum sprichst du so grausam über ihn?«

Toki zuckte die Achseln. »Ich habe Olav nicht gehaßt. Ich wollte bloß Keith nicht heiraten, aber meine Eltern zwangen mich dazu. Und er ist kein tüchtiger Geschäftsmann wie sein Vater. Olav schuldete uns beiden etwas, und er gab uns wenig. Nein Zarabeth, Olav war dir zugetan — seiner hübschen, jungen Schlampe, die er zur Ehefrau nahm. Er wandte sich von seinem einzigen Sohn ab, weil du ihm Keith entfremdet hast.«

Imara richtete sich nun auf, ihre Schultern waren so breit wie die eines Mannes, ihre Oberarme stramme Muskelpakete. Sie baute sich vor der schmächtigen Toki auf. »Hinaus mit dir! Und kehre erst zurück, wenn du deine giftige Zunge beherrschen gelernt hast.«

Die bucklige, weißhaarige Lannia widmete sich weiter ihren Waschungen und sagte, ohne den Kopf zu heben: »Tokis Mutter war eine Hexe, und sie hat eine Hexe zur Welt gebracht. Kümmere dich nicht um sie, Zarabeth.«

Und Zarabeth hatte Toki wirklich schon halb vergessen. Ihre Aufmerksamkeit galt Lotti, die in einer entfernten Ecke kauerte und mit sechs geschnitzten Holzstöckchen spielte, die Olav ihr vor einiger Zeit geschenkt hatte. Das Kind war still, zu still.

Plötzlich nagte ein Gefühl der Angst an ihr. Olav war tot. Was würde nun aus ihr und Lotti werden?

Am Tag nach Olavs Bestattung erhielt sie darüber Gewißheit. Zwei seiner Freunde aus dem Ältestenrat suchten sie auf. Es waren alte, grauhaarige, zahnlose Männer. Sie setzte ihnen süßen Met vor und wartete respektvoll, bis die Alten zu sprechen begannen.

». .. Und daher hat Olav dir, Zarabeth, all seine Güter hinterlassen, sein Geschäft und sein Haus. Er wünschte nicht, daß sein Sohn etwas von ihm erbt.«

Sie hatte Olav nicht wirklich geglaubt, als er ihr damals seine Absicht eröffnete. Sie war sicher, daß er seinen Sohn versorgen würde, daß er seine Meinung ändern, daß er über Tokis Bosheit hinwegsehen und Keith nicht bestrafen würde, um sich an seiner Schwiegertochter zu rächen. Sie schüttelte den Kopf. »Aber Keith . . . das ist nicht Recht. Olav hat gewiß . . .«

»Es ist so, wie wir dir sagen.« Beide musterten sie nun prüfend, als sei sie eine fremdartige Erscheinung. »Es stimmt, die Leute wundern sich darüber. Aber du bist jung und ansehnlich, und darin liegt die Antwort auf alle Fragen. So ist es und so soll es sein. So hat dein Ehemann es verfügt.«

Und sie verließen das Todeshaus rasch, da einem Mann nicht wohl war bei dem Gedanken, der Geist des Toten könne ihm folgen und sich ohne sein Wissen an seine Seele heften. Dennoch wunderte Zarabeth sich über den übereilten Aufbruch, die Kürze ihrer Rede. Sie hatte die beiden Alten bis zum heutigen Tag nur gütig erlebt. Falls die Männer Mißfallen an Olavs Heirat mit ihr hegten, so hatten sie ihre Gefühle gut verborgen. Sie erinnerte sich deutlich an die beiden Alten an ihrem Hochzeitstag; zwei betrunkene Graubärte, die kichernd in jeden Weiberhintern kniffen, der ihnen nahe genug kam. Lachend hatten sie Olav auf den Rücken geschlagen und ihm im vernehmlichen Flüsterton ihre Altmännerratschläge zur bevorstehenden Hochzeitsnacht gegeben. Nun war ihnen das Lachen vergangen.

Zwei Tage lang blieb Zarabeth im Haus, schlief viel und erholte sich von den Strapazen der Krankenpflege. Olavs Begräbnis war die übliche Feier aus christlichen und heidnischen Ritualen. Auf seinen Grabhügel wurde ein stattlicher Runenstein gesetzt. Die Nachbarn ließen sie in Frieden, als ahnten sie, daß sie den Wunsch hegte, allein zu sein. Am dritten Tag ging sie mit Lotti nach draußen. Die Hochsommerhitze mit den vertrauten üblen Gerüchen nach tierischen und menschlichen Exkrementen schlug ihr entgegen. Kein Lüftchen kühlte die drückende Hitze. Sie winkte den Nachbarn zu, dankbar, daß man Rücksicht auf sie genommen hatte. Doch man wich ihrem Blick aus, wandte sich rasch ab. Türen schlossen sich. Was war geschehen?

Sie spazierte mit Lotti zum Hafen, eine Angewohnheit, die sie seit Magnus Verschwinden pflegte. Sie blickte über die vertäuten Handelsschiffe, allesamt Wikinger-Drachenboote mit überdeckten Frachträumen. Sie wußte, die Seewind war nicht da, dennoch hielt sie nach ihr Ausschau, mit dürstender Seele. Lotti zerrte an ihrer Hand, und Zarabeth wandte den Kopf. Keith näherte sich ihr, gemeinsam mit drei Männern vom Ältestenrat. Er deutete auf sie und brüllte; »Rühr dich nicht vom Fleck!«

Wieso sollte sie weglaufen? Gelassen wartete sie, bis die Männer bei ihr waren, Lottis kleine Hand fest in ihrer haltend.

»Dein Spiel ist aus, Zarabeth.«

»Was meinst du, Keith? Was machst du hier? Ist etwas passiert? Geht es Toki gut?«

»Hast du versucht, auf einem der Boote zu entkommen? Hat dir wieder ein Wikinger seine Hilfe angeboten?«

Sie blickte Keith verständnislos an, seine bleichen Züge, seinen flackernden Blick.

»Was ist los, Keith? Was ist geschehen?«

Einer der Ratsherren, der alte Arnulf, der während Olafs Hochzeitsfest betrunken im Kreis getanzt hatte, trat auf sie zu und sprach mit haßerfüllter Stimme: »Wir kennen die Wahrheit, Zarabeth. Wir wissen, daß du deinen Ehemann ermordet hast, daß du ihm seit dem Hochzeitstag Gift in sein Essen gemischt hast. Du wirst sterben, damit der Gerechtigkeit Genüge getan ist.«

»Gift?« Sie blickte von Keith der Reihe nach in die Gesichter der drei alten Männer. Sie meinten es ernst. »Ihr glaubt, ich habe Olav Gift gegeben? Er war mein Ehemann! Ich habe ihn während seiner Krankheit gepflegt, ich habe nicht versucht, ihn umzubringen! Das ist der schiere Wahnsinn. Was geht hier vor?«

»Deine Lügen nützen dir nichts, Zarabeth«, sagte Keith, doch als sie sich ihm zuwandte, trat er einen Schritt zurück, als erwarte er, sie würde sich auf ihn stürzen.

»Ich habe Olav nichts angetan!«

Der alte Arnulf schüttelte den Kopf. »Keith und Toki können deine Untat bezeugen. Wir dürfen nicht dulden, daß eine Ehefrau ihren Ehemann umbringt. Deshalb mußt du sterben.«

»Nein!« Ohne zu überlegen, riß sie Lotti in die Arme und rannte den langen Kai aus Holzplanken entlang. Zwei derbe Seeleute verstellten ihr lachend den Weg, hielten sie fest und starrten sie gierig an wie zwei hungrige Wölfe.

»Haltet sie! Sie ist eine Mörderin!«

Die Seeleute ließen sie los, als würden sie sich an ihr die Finger verbrennen. Diesmal besann Zarabeth sich eines Besseren. Sie blieb stehen und wartete, bis die Männer wieder bei ihr waren. »Keith und seine Frau behaupten also, ich hätte Olav vergiftet. Wie wollen die beiden das wissen?«

Arnulf packte ihren Arm und sagte schroff: »Du bekommst Gelegenheit, deine Fragen dem König vorzutragen. Er war Olavs Freund und möchte das Urteil selbst über dich sprechen. Komm mit.«

Und so geschah es. Zarabeth erhob keinen Einwand, bis sie begriff, daß man sie in das Lager der Sklaven brachte, das sich außerhalb der Stadtbefestigungen auf einem Stück Ödland befand, einem Ort des Elends und Dreck. Das Lager war umgeben von einem zwei Meter starken Erdwall und bestand aus einem strohbedeckten Langhaus, umrandet von kleineren Hütten, in denen die Wachen untergebracht waren. In der Mitte gab es einen Brunnen, sonst nichts.

Sie durfte dem Grauen, das sie packte, nicht nachgeben. Sie würde König Guthrum die Wahrheit sagen. Bald war ihr alles klar: Toki hatte Olav vergiftet und hinterher Keith beschwatzt, Zarabeth zu beschuldigen. Kein Wunder, daß Olav sich sofort besser gefühlt hatte, als er Toki und Keith aus dem Haus gewiesen hatte. Auf ihre wiederholten Bitten hatte Olav seinem Sohn vergeben, und Toki und er durften wieder kommen. Mit seiner Großzügigkeit hatte er sein Todesurteil unterzeichnet. Zunächst konnte sie die Wahrheit nicht fassen. Sie mußte dem König sagen, was geschehen war, dann würden Lotti und sie in Frieden ziehen können.

Der alte Arnulf übergab sie einem Wachtposten, einem Hünen von einem Mann mit flacher Nase und dichten, schwarzen Brauen, die über der Nase zusammengewachsen eine gerade Linie bildeten. »Paß gut auf sie auf! Sie ist eine Mörderin. Sie wird morgen König Guthrum vorgeführt. Achte darauf, daß sie nicht verprügelt oder geschändet wird und ihre Kleider nicht gestohlen werden.«

Der Wachtposten grunzte und packte ihren Arm. Plötzlich sagte Arnulf laut: »Nein, das Kind darf nicht ins Lager! Keith, nimm deine kleine Schwester zu dir. Sie steht ab sofort unter deiner Obhut.«

In diesem Augenblick verlor Zarabeth die Beherrschung. Panik übermannte sie. Sie fuhr herum und kreischte: »Nein! Ihr dürft sie mir nicht wegnehmen, nein! Keith haßt sie . . . Toki verprügelt sie und bringt sie um!« Doch sie rissen ihr Lotti aus den Armen, blickten voller Verachtung auf das Kind, das leise weinend gurgelnde, unverständliche Laute von sich gab.

»Nimm sie an dich, Keith, und kümmere dich um sie. Dem Kind wird bei dir kein Leid geschehen.« Lotti strampelte und schlug um sich; Keith hielt sie weit von sich, um den Hieben ihrer kleinen Fäuste zu entgehen.

»Nein!« Zarabeth brüllte wie ein wildes Tier. Sie griff nach Lotti, doch man riß ihre Arme zurück und hielt sie in schmerzhafter Umklammerung fest. Tränen strömten ihr übers Gesicht und schnürten ihr die Kehle zu, während sie hilflos zusah, wie Keith versuchte, Lotti zu bändigen. Das Kind bäumte sich auf, versuchte sich aus seiner Umklammerung zu befreien. Vergeblich. Zarabeth war von einem einzigen Gedanken besessen: Sie mußte Lotti retten. Um das tun zu können, mußte sie zunächst sich selbst retten. Irgendwie gelang es ihr, ruhig zu werden. Leise sagte sie: »Nein, Lotti, sei still, Liebes. Keith wird dir nicht weh tun. Und Toki auch nicht. Arnulf vom Rat der Ältesten hat versprochen, daß er gut auf dich achtgibt. Geh jetzt mit ihm, und ich hole dich ab, wenn alles vorüber ist.«

Zu aller Erstaunen blickte Lotti ihre Schwester an, dann lächelte sie, ein unschuldiges Lächeln voller Vertrauen und bettete ihr Köpfchen an Keiths Schulter. Kleine Schluchzlaute entrangen sich ihrer gequälten Brust.

»Komm«, befahl der Wachtposten, und seine Stimme war ebenso häßlich wie sein Gesicht. Er zerrte sie hinter sich her zum Langhaus. Sie wandte den Kopf und sah, wie die Ratsherren sich entfernten, gefolgt von Keith mit der nunmehr ruhigen Lotti auf dem Arm.

Der Wächter schob sie ins Innere des Langhauses. In der Dunkelheit konnte sie zunächst überhaupt nichts erkennen. Dann nahm sie menschliche Gestalten wahr. Ein elender, verdreckter Haufen, einige Männer in Ketten, schmutzverkrustete Frauen mit wirren, verfilzten Haaren, Hoffnungslosigkeit im Blick. Jede dieser erbärmlichen Gestalten hatte einmal eine Heimat gehabt und eine lange, traurige Geschichte zu erzählen. Sie waren Sklaven, Leibeigene ohne Rechte.

Zarabeth wandte ihre Aufmerksamkeit dem Wachtposten zu, der jetzt krächzte: »Es wird dir kein Leid geschehen.« Er hob den Kopf und sah die Männer an, die bei ihrem Eintreten unruhig geworden waren. »Wenn einer von euch Bestien sie anrührt, peitsche ich ihn so lange aus, bis ihm das Fleisch vom Rücken fällt.«

Dann wandte er sich wieder an Zarabeth und zerrte sie ans andere Ende des langgezogenen, düsteren Raums. »Halt den Mund, dann wird dir nichts geschehen.« Damit ließ er sie stehen, in dem strohgedeckten Langhaus, in dem es kein einziges Fenster gab. Der Gestank der Menschen stach ihr in die Nase. Langsam schleppte sie sich zu einem leeren Platz an der entfernten Wand und kauerte sich auf den Lehmboden. Niemand redete mit ihr. Kein Mensch achtete auf sie. Es herrschte tiefe Stille.

Sie war benommen, doch nicht genug, daß ihr die grauenvolle Stille nicht aufgefallen wäre. In dem Raum warteten etwa zwanzig Männer und Frauen auf ihr weiteres Schicksal, warteten darauf, daß jemand kam, um sie zu kaufen und mitzunehmen. Manche redeten leise miteinander, und sie erkannte den Dialekt ihrer Heimat Irland. Sie fragte sich, welchen Stand die Menschen hatten, bevor die Wikinger sie gefangengenommen und sie hierher nach York verschleppt hatten. Sie fragte sich, ob sie früher ebenso heruntergekommen, verdreckt und zerlumpt waren, oder ob erst die Gefangenschaft sie zu schmutzigen Tieren gemacht hatte.

Der Tag verging und dann die Nacht. Zarabeth schlürfte eine dünne Suppe aus einer groben Holzschale. Sie mußte sich keine Sorgen zu machen, daß einer der Männer versuchte, sie zu belästigen. Sie waren zu sehr mit sich und ihrem Elend beschäftigt, um sich mit ihr zu befassen. Sie fror in der Nacht, aber es war ihr egal. Niemand kümmerte sich darum. Sie dachte an Lotti und spürte, wie der kalte Schweiß ihr den Rücken hinunterlief. Schmutz verklebte ihre Nasenflügel, bedeckte ihr Kleid. Als sie am nächsten Morgen erwachte, stand der häßliche Wächter über ihr und hielt die schöne Brosche in der Hand, die Olav ihr geschenkt hatte. Er hatte sie ihr vom Kleid gerissen und das dünne Leinen an ihrer Schulter zerfetzt.

Sie sagte nichts. Es hatte keine Bedeutung. Stattdessen sagte sie zum Wächter: »Ich werde bald zum König gebracht. Ich bin schmutzig und möchte mich waschen.«

Er sah sie an wie einen Paradiesvogel. Dann warf er lachend seinen struppigen Kopf in den Nacken und wieherte wie ein Pferd. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, auch wenn es nicht viel nützte. Sie war verdreckt und stinkend.

Es war beinahe Mittag, als der alte Arnulf sie holte, um sie zum König zu bringen. Zarabeth bat erneut, sich waschen zu dürfen.

»Es gibt keinen Platz, wo du dich waschen oder dein Kleid wechseln kannst. Keith und Toki sind in Olavs Haus gezogen. Komm jetzt. Wir dürfen den König nicht warten lassen«, sagte der Alte kopfschüttelnd.

König Guthrums Festung thronte hoch auf einem Hügel über dem Hafen von York, umgeben von Steinmauern, die aus dem Steinbruch von Helleby herbeigeschafft worden waren. Die weißen Quader glänzten in der Sommersonne. Sie hatte die Burg einmal in Begleitung von Olav besucht, als er dem König einen prachtvollen Otterpelz zum Geschenk machte. In ehrführchtigem Staunen hatte sie in einem Vorraum gewartet. Kostbare Wandbehänge in leuchtenden Farben bedeckten die Wände. Andere Wände aus Holz waren glänzend poliert und ebenfalls mit Behängen aus leuchtend roter Seide und blauer Wolle geschmückt. Olav hatte ihr damals gesagt, wie sehr der König rote Seide schätzte. Er trug kaum eine andere Farbe. Und er trug Juwelen. Er liebte Ringe, Halsketten und Armreife aus schwerem Gold und Silber.

Heute war sie nicht in Olavs Begleitung. Sie war kein junges Mädchen mehr, dem vor Staunen der Mund offen stehen blieb. Sie war eine Gefangene. Sie straffte die Schultern und wartete ab.

Die Hand des alten Arnulf lag flach auf ihrem Rücken. Er stieß sie nach vorn, als könne sie ohne seine Führung nicht alleine gehen. Das ärgerte sie. Sie hätte ihn gern beschimpft, daß er ein Narr und blind für die Wahrheit sei. Doch sie mußte sich beherrschen. Sie würde dem König die Wahrheit sagen, und er würde zumindest über ihre Worte nachdenken.

König Guthrum war nicht länger der gutaussehende, junge Wikinger, der seit nahezu drei Jahrzehnten das gesamte Danelagh beherrschte. Er war alt, knorrig und weißhaarig geworden, und sein Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen. Er saß auf einem prachtvollen Thron, dessen Armlehnen mit kunstvollen Schnitzereien verziert waren. Kostbare rote Seidengewänder kleideten ihn, und er trug viele Armbänder und Ringe. Um seinen Hals lag ein breiter, mit Rubinen und Diamanten besetzter Goldreif. Etwa ein Dutzend Männer stand neben dem Königsthron. Arnulf stieß Zarabeth nach vorn. »Auf die Knie«, zischte er, und sie sank zu Boden.

»Du bist Zarabeth, die Witwe von Olav.«

»Ja, Sire«, antwortete sie tapfer und blickte dem König direkt in die Augen.

»Davor warst du seine Stieftochter, und dann versprach er dir die Heirat. Bei deiner Hochzeit glaubte ich, Olav habe eine gute Wahl getroffen.«

Unter den kalten Worten und der Verzerrung der Tatsachen zuckte sie zusammen. »Nein, Sire, so war es nicht. Er wünschte mich und meine kleine Schwester Lotti zu beschützen. Deshalb bestand er darauf, mich zu heiraten.«

König Guthrum wandte sich an Keith, und Zarabeth folgte seinem Blick. Keith schüttelte den Kopf. Hinter ihm stand Toki. Verzweifelt hielt Zarabeth Ausschau nach Lotti, doch sie konnte das Kind nirgends finden.

Angst und Wut kämpften in ihr, erstickten sie beinahe. Nun wandte der König sich wieder an sie. »Arnulf sagt, du möchtest zu deiner Verteidigung sprechen. Nun hast du Gelegenheit dazu. Beeile dich. Auf mich warten wichtige Staatsgeschäfte.«

Zarabeth kam langsam auf die Füße. Ihre Hände strichen wie abwesend über ihr Kleid, ihre Schultern strafften sich. Sie hob das Kinn. Ihr war klar, daß ihr Leben

von ihren Worten abhing.

»Ich spreche die Wahrheit, Sire. Ich habe Olav nicht getötet. Ich habe ihn während seiner Krankheit aufopfernd gepflegt. Er war gut zu mir. Ihr selbst wart zu Gast bei unserer Hochzeit, und Ihr habt gesehen, daß er guter Dinge war. In jener Nacht war er betrunken, wie alle unsere Gäste. Am nächsten Tag wurde er krank, und sein Zustand verschlimmerte sich von Tag zu Tag. Ich habe alles getan, um ihm Erleichterung zu verschaffen. Dann kam der Abend, an dem Keiths Frau mir böse Beschimpfungen an den Kopf warf. Olav wies seinen Sohn und seine Schwiegertochter aus dem Haus. Sie durften nicht wieder kommen. Schon am nächsten Tag fühlte Olav sich besser. Er war beinahe gesund, als er Keith und Toki vergab, und die beiden wieder gemeinsam mit uns das Nachtmahl einnahmen. Er wurde erneut krank und starb noch in derselben Nacht. Ich habe ihn nicht vergiftet, Sire. Aber ich vermute, Toki hat es getan, und dann hat sie ihrem Ehemann eingeredet, ich hätte es getan.«

Der König schwieg und strich sich mit gichtigen Fingern das Kinn. »Wir haben Keith und Toki angehört, und nun haben wir deine Worte vernommen. Eine junge Ehefrau möchte sich den Reichtum ihres Ehemanns aneignen, will ihn aber nicht in ihrem Bett haben, denn er ist alt und unansehnlich. Sie möchte sich von ihm und seinen Belästigungen befreien.«

Seine Worte entsprachen zum Teil der Wahrheit, und Zarabeth erbleichte unter dem forschenden Blick des Königs. Dann schüttelte sie heftig den Kopf. »Ich bitte Euch, Sire, Arnulf über die Absichten meines Ehemanns zu befragen. Er wollte mir all seinen irdischen Besitz vererben, nicht seinem Sohn, zu dem er kein Vertrauen mehr hatte. Das ist der Grund, warum Keith und Toki mich beschuldigen, einen Mord begangen zu haben. Doch die beiden haben seinen Tod auf dem Gewissen, niemand sonst! Sie wollen alles einheimsen, was mir und meiner Schwester zusteht!«

Nun erhob der König die Stimme und sprach mit strenger kalter Stimme: »Ich habe gehört, daß du Olavs Haus verlassen wolltest, um mit einem Wikinger fortzusegeln, einem jungen, ansehnlichen, kraftvollen Burschen. Doch dann hast du deine Meinung geändert, da Olav dir die Ehe versprochen hat. Du hast dich dafür entschieden, zu bleiben, um in Wohlstand zu leben, da du das Wagnis nicht eingehen wolltest, in ein fernes Land zu ziehen.«

»Das ist nicht wahr! Wer hat euch das berichtet, Sire?«

Arnulf stieß ihr den Ellbogen in die Rippen. »Hüte deine Zunge, dummes Frauenzimmer!«

»Halt«, unterbrach ihn der König und hob eine beringte Hand. »Laß sie, guter Arnulf. Sie soll jede gegen sie gerichtete Anschuldigung hören. Vielleicht bittet sie dann um Vergebung. Nun, der Mann hat mir davon berichtet, den du zuerst ermutigt und dann verschmäht hast, weil du nicht sicher sein konntest, daß er dir all das gibt, was du haben wolltest. Ja, ich weiß es von Magnus Haraldsson, daß du ein verdorbenes, treuloses Frauenzimmer bist. Unserer Ansicht nach hast du Olav solange eifersüchtig gemacht, bis er dir versprach, dich zu heiraten. Und dann hast du den Mann fortgeschickt, der dich begehrte und dir seine Treue und seinen Reichtum versprach. Aus diesem Grund gibt es keine Gnade für dich. Olavs Sohn steht der Besitz seines Vaters zu, nicht einer jungen Frau, die ihn nur heiratete, um an seinen Reichtum zu gelangen, eine junge Frau, die rücksichtslos einen anderen Mann für ihre Ziele benutzte, einen jungen Mann von Stand und Ehre, den sie vor den Augen der Bürger von York verführte, um ihn dann gnadenlos zu demütigen.«

Zarabeth konnte nicht mehr denken, konnte kaum atmen. Während der König sprach, teilte sich der rotseidene Vorhang hinter seinem Thron. Magnus trat vor und stellte sich neben Guthrum. Er blickte Zarabeth an, und sie sah die Kälte in seinen Augen und seinen tiefen Abscheu. Sie erschrak bei seinem Anblick, dann loderte einen Augenblick ein wildes Glücksgefühl in ihr auf, gefolgt von tiefer Hoffnungslosigkeit. Nur er konnte dem König diese Dinge berichtet haben.

»Das ist nicht wahr«, hörte sie sich tonlos sagen. »Olav hat mich gezwungen, Magnus fortzuschicken.«

»Und wieso konnte er dich zwingen?«

»Er drohte, Lotti zu töten, ich schwöre es!«

Keith schrie mit sich überschlagender Stimme: »Sie lügt! Mein Vater liebte das kleine Mädchen, gab ihr alles, was sie sich wünschte. Er spielte mit ihr, war gut zu ihr. Zarabeth hat ihn getötet, und nun lügt sie! Mein Vater hätte dem Kind kein Haar gekrümmt!«

Der König schwieg lange. Dann wandte er sich an Magnus und sprach mit leiser Stimme zu ihm. Magnus beugte sich herab und antwortete dem König.

Dann richtete der Wikinger sich langsam auf und sah ihr in die Augen.

Der König erhob sich und wies mit dem Finger auf Zarabeth:

»Für den Mord an deinem Ehemann müßtest du mit dem Tode bestraft werden, doch Magnus Haraldsson, ein junger Mann von Stand und Ehre, wünscht dich zur Sklavin, um mit dir nach seinem Gutdünken zu verfahren. Wenn es ihm gefällt, dich zu töten, mag er das ungestraft tun. Wenn es ihm gefällt, dich zu verprügeln, bis du den Verstand verlierst, mag er auch das ungestraft tun.

Geh mit deinem Herrn und kehre nie wieder nach Danelagh zurück, denn hier erwartet dich der Tod.«

»Nein«, stieß Zarabeth hervor. »Nein.«

Sie stand starr, als Magnus auf sie zutrat, sein Gesicht verschlossen und kalt, in seinen Augen las sie nichts als Verachtung.

Im Schatten der Mitternachtssonne
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