18
»Zarabeth! Bleib stehen!«
Sie hörte sein Fluchen, ohne auf ihn zu achten. Er fluchte lauter und lästerlicher. Sie ließ seine Flüche hinter sich und alles, was zu ihm gehörte, was mit diesem ungastlichen Land, mit diesen feindseligen Menschen zu tun hatte. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem schmalen, steilen Pfad vor ihr, an dessen Ende ein Kahn am Steg festgemacht war. Sie hatte noch nie zuvor ein Boot gerudert. Sie würde es schaffen, daran hatte sie keinen Zweifel.
»Zarabeth! Wo willst du hin? Halt! Bleib stehen!«
Sie begann zu laufen, hastete stolpernd den Pfad entlang, seine Stimme kam näher. Doch sie war wild entschlossen, hielt Lotti fest an sich gepreßt und rannte um ihr Leben, den Blick auf das Boot geheftet. Bald hatte sie es geschafft. Bald.
»Fall nicht! Du tust Lotti weh. Bleib stehen!«
Lotti weh tun! Sein Sohn hatte versucht, Lotti umzubringen! Sie sollte ihren kleinen Liebling verletzen? Den einzigen Menschen auf der ganzen Welt, der sie liebte und ihr vertraute? Sie hörte nicht auf die Zurufe, diese lenkten sie nur ab, waren ohne Bedeutung, hatten nichts mit ihr zu tun. Ihr Blick war starr auf das Boot gerichtet, sie spürte nur das brennende Verlangen: frei zu sein. Er war jetzt dicht hinter ihr. Sie rannte schneller. Die spitzen Steine stachen in ihre Fußsohlen, doch sie spürte den Schmerz kaum. Sie lächelte grimmig und drückte Lotti noch fester an sich.
Sie sah nur das rettende Boot.
Sie rannte auf den Steg, riß im Laufen die Leine vom Holzpfahl und sprang ins Boot, das wild zu schaukeln begann. Sie stellte Lotti ab, setzte sich auf die schmale Bank, ergriff die langen Ruder und begann sie in Bewegung zu setzen.
Magnus rannte fluchend auf den Steg; nackte Angst hatte ihn gepackt. Zarabeth hatte gute fünf Meter Vorsprung. Jetzt tauchte sie ungeschickt die Ruder ein, dennoch trug die Strömung das Boot mit sich, der Abstand vergrößerte sich. Jeder Wimpernschlag trug sie von ihm fort.
Seine irrsinnige Angst machte ihn zum Berserker. »Nein!« brüllte er und sprang kopfüber ins Meer. Der Schock des kalten Wassers lähmte ihn einen Augenblick. Er wartete unter Wasser, bis sein Körper sich an die Kälte gewöhnt hatte, dann stieß er sich nach oben. Sein Oberkörper schoß aus dem Wasser; er schwamm mit kräftigen Zügen hinter dem Boot her. Die Strömung bildete gefährliche Strudel; doch er war stark, und er war fest entschlossen. Entschlossener denn je.
Der Viksfjord mündete im Osten in den Oslofjord, seine Strömung wurde von einer schmalen Landzunge zerschnitten, die sich in das Meer hinausschob. Dadurch entstanden starke Wirbel und Strudel; die See verwandelte sich in brodelnde Gischt. Er sah, daß Zarabeth keine Ahnung hatte, wie man ein Boot ruderte. Ihre Bewegungen waren unrhythmisch und unbeholfen. Das Boot schaukelte im Kreis und war der Strömung überlassen. Dadurch konnte er den Abstand verkürzen. Bald würden ihre Kräfte sie verlassen, und er würde den Bootsrand zu fassen kriegen.
Ihm war klar, daß Zarabeth ihn sah. Ihm war auch klar, daß sie nicht eigentlich wußte, was sie tat.
Bei Thors Hammer, er hatte sie so weit getrieben. Sie hatte das alles einfach nicht mehr ertragen. Entsetzen krampfte ihm die Brust zusammen. Lotti fuhr auf der schmalen Holzbank herum, sah ihn und begann, ihm wild zuzuwinken. Mit angstverzerrtem Gesicht schrie sie immer wieder nach ihm, schrill und in Panik.
Er schwamm schneller, seine Kräfte wuchsen ins Übermenschliche. An der Landzunge würde er sie auf alle Fälle eingeholt haben. Das Boot war immer noch nahe dem Ufer, gefährlich nahe, denn hier gab es dichte Wälder von Schlingpflanzen. Das Boot wurde jetzt von einem Strudel ergriffen, wild im Kreis gedreht und schräg dem Land zugespült. Lotti hielt sich schreiend am Bootsrand fest. Er brüllte: »Haltet euch fest! Ich komme!« Wenn er nur ein zweites Boot hätte, wenn nur seine Männer da wären ...
Ohne Vorwarnung schlang sich das Seegras um seine Beine und zog ihn nach unten. Je mehr er versuchte, sich zu befreien, desto fester schlangen sich die Pflanzen um seine Beine. Das Wasser war seichter, als er dachte, konnte nicht mehr als zwei Meter tief sein. Er strampelte sich frei, wurde sofort von den nächsten Fangarmen umschlungen, die ihn unerbittlich festhielten und nach unten zogen.
Er schloß kurz die Augen, stieß sämtliche ihm bekannten Flüche aus und zog sein Messer aus dem Gürtel, holte tief Luft und verharrte reglos im Wasser. Er ließ sich ohne Gegenwehr von den Armen des Seetangs nach unten ziehen, bevor er sich mit dem Messer frei schnitt. Doch je mehr Fangarme er durchtrennte, umso mehr schienen ihn zu umschlingen.
Wild um sich schlagend befreite er sich von den Schlingpflanzen, tauchte auf, um nach Luft zu schnappen und nach dem Boot Ausschau zu halten, das sich wieder weiter von ihm entfernt hatte. Zu seinem Entsetzen wippte Lotti auf dem schmalen Brett im schwankenden Boot, schrie und streckte die Arme nach ihm aus. Sie fürchtete um sein Leben.
Und im gleichen Augenblick erkannte er die Absicht des Kindes und brüllte wie von Sinnen: »Nein, Lotti! Setz dich hin! Zarabeth, halt sie fest!«
Zu spät. Das Kind schrie gellend: »Papa! Papa!« und sprang ins Wasser, um ihn zu retten. Magnus war dem Wahnsinn nahe. Er schwamm um Lottis und um sein Leben. Zarabeth war aufgesprungen, klammerte sich am Bootsrand fest und hielt rufend Ausschau nach Lotti.
Das Seegras, dachte Magnus, als er sich der Stelle näherte, wo das Kind gesprungen war. Er tauchte. Das Wasser war trüb, der Wald aus tausendarmigen Schlinggewächsen dicht, die ständige Bewegung wühlte Sand und Schlamm vom Grund des Viksfjord auf. Er suchte verzweifelt, bis er glaubte, seine Lungen zerplatzten.
Er stieß sich nach oben, schoß aus dem Wasser, holte röchelnd Luft. Er war jetzt nahe bei Zarabeth, das Boot hatte sich im Seetang verfangen und schaukelte auf der Stelle.
Er holte tief Luft, mehrmals hintereinander und tauchte wieder. Nichts, immer noch nichts.
Immer wieder tauchte er und konnte sie nicht finden. Er tauchte auf. Mehrere seiner Männer waren nun im Wasser. Und jeder tauchte nach dem Kind. Das Wasser war so trüb, daß er die Männer bisher nicht gesehen hatte. Wenn er nicht einmal seine Männer sehen konnte, wie sollte er da ein kleines Kind finden. Bei allen Göttern! Er wußte nicht mehr, wo sie gesprungen war. Vielleicht hatte die Strömung ihn abgetrieben.
Magnus betete. Er verpfändete Odin sogar seine Seele, wenn er nur Lotti unversehrt in die Arme schließen könnte. Wenn sie nur wie durch ein Wunder auftauchen und »Papa« rufen würde.
Er tauchte wieder.
Seine Arme wurden hochgerissen, und sein Kopf tauchte aus dem Wasser. Er wehrte sich, bis er begriff, daß Horkel ihn an einem Arm und Ragnar am anderen festhielt. Er blickte verständnislos von einem zum anderen.
»Es ist genug, Magnus!« rief Horkel, doch Magnus zog beide, Horkel und Ragnar, unter Wasser.
Sie ließen ihn los, und Magnus machte noch einen Versuch. Und danach noch einen, obgleich er die Hoffnung aufgegeben hatte. Die Strömung war hier sehr stark, sie waren zu nah an der Landzunge, zu nah am Ufer und zu dicht an den Schlingpflanzenwäldern. Lotti war erst fünf Jahre alt. Entweder hatte die Strömung sie mitgerissen, oder sie hing leblos im Seegras verschlungen.
Er kam an die Oberfläche und sah Zarabeth. Sie war im Wasser, hielt sich mit einer Hand am Boot fest, und sie schrie flehend, Lotti möge zu ihr zurückkommen.
Magnus konnte es nicht ertragen. Er warf den Kopf in den Nacken und brüllte wie ein Tier, wild und verzweifelt, daß seinen Männern das Blut in den Adern gefror.
Zarabeth hörte diesen Schrei, sah die Verzweiflung in seinem Gesicht und wußte, daß Lotti ertrunken war. Lotti war tot. Sie schüttelte unaufhörlich den Kopf und schrie:
»Nein! Sie lebt! Sie ist nicht tot. Sie lebt! Nein!«
Zu Magnus' Entsetzen stieß sie sich vom Boot ab, schlug wild mit den Armen um sich und hörte nicht auf zu schreien. Sie konnte nicht schwimmen. In der nächsten Sekunde war er bei ihr, ergriff ihren Arm und zog sie ins Boot zurück. Sie kämpfte mit erstaunlicher Kraft gegen ihn an, er hatte Mühe mit ihr, da er völlig entkräftet war.
Horkel packte ihren anderen Arm, und gemeinsam hievten sie ihren Oberkörper über den Bootsrand. Magnus zog sich ins Boot, ergriff ihren Arm und versuchte sie ganz ins Boot zu heben. Wild um sich schlagend wehrte sie sich gegen ihn.
In seiner Verzweiflung versetzte er ihr einen Fausthieb ans Kinn. Sie sackte leblos vornüber, und er zog sie ins Boot.
Horkel versicherte: »Wir suchen weiter nach dem Kind. Aber die Strömung ist hier sehr tückisch. Und dieser verfluchte Seetang kann einen kräftigen Mann umbringen. Und das Kind ist so klein . . .«
»Ja. Wem sagst du das!«
Er wollte noch einmal tauchen, wußte aber, daß Zarabeth wieder ins Wasser springen würde, sobald sie das
Bewußtsein erlangte. Und dann würde er auch sie verlieren.
Er war in seinem ganzen Leben noch nicht so verzweifelt und hilflos gewesen. Er zog Zarabeth in seine Arme. Sie fühlte sich kalt an, ihr Körper war leblos. Er strich ihr die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht und flüsterte dicht an ihrem Mund: »Sie geben nicht auf, Zarabeth. Sie geben nicht auf. Es tut mir so leid, es tut mir so furchtbar leid.« Dann riß er den Kopf hoch. Einer der Männer hatte etwas gerufen. Sie hatten Lotti gefunden!
Wilde Hoffnung stieg in ihm hoch, erstarb aber sogleich wieder. Tostig hatte nur einen Holzklotz nach oben gebracht.
Er wußte: die kleine Lotti war tot. Es war zu viel Zeit verstrichen. Er wußte es, konnte sich aber nicht damit abfinden. Das Kind war ertrunken, als es versuchte, ihn zu retten. Sie hatte Papa gerufen und war ins Wasser gesprungen, weil sie glaubte, er würde ertrinken.
Den Gedanken konnte er nicht ertragen. Er ließ den Kopf an Zarabeths Stirn sinken und weinte.
Zeit hatte keine Bedeutung mehr. Seine Männer schwammen an Land, andere kletterten ins Boot. Horkel nahm die Ruder auf. Kurz darauf lag der Kahn wieder vertäut am Steg. Magnus trug Zarabeth den schmalen Pfad zum Palisadenzaun hinauf. Die Männer folgten ihm, schweigend, grimmig. Die sengende Sonne vermochte sie nicht zu erwärmen, denn sie hatten den Kampf verloren.
Zarabeth bewegte sich an seiner Schulter. Er drückte sie fester an sich, da er fürchtete, sie würde sich gegen ihn wehren, wenn sie wahrnahm, daß er sie trug. Doch sie kämpfte nicht. Er wußte, daß sie bei Bewußtsein war, doch sie regte sich nicht.
»Es tut mir leid, daß ich dich geschlagen habe«, sagte er, seine Augen auf den Weg gerichtet.
Ihre Stimme klang sehr dünn. »Lotti?«
Tränen schnürten ihm die Kehle zu. Er konnte nur den Kopf schütteln.
Sie versuchte sich zu entwinden, bäumte sich auf und wehrte sich gegen ihn, bis er stehenblieb und sie absetzte. Seine Hände hielten ihre Arme umfangen. »Hör auf! Wir haben alles Menschenmögliche getan. Verstehst du, Zarabeth? Sie war nicht zu retten!«
»Nein! Du lügst! Bitte, Magnus, bitte! Laß mich los! Ich muß sie finden, sonst geschieht ihr noch ein Leid, ein Leid . . .«
Tränen strömten ihr übers Gesicht, und sie schlug mit Händen und Füßen um sich, bis er sie noch einmal schlagen mußte. Sie sackte an seine Brust.
»Du mußtest es tun, Magnus«, sagte Horkel. »Möchtest du, daß ich sie trage?«
Magnus schüttelte nur den Kopf und hob sie wieder auf seine Arme.
»Du hast alles getan, was du tun konntest. Wir haben unser Bestes getan. Als wir erkannten, was geschehen war, sprangen wir alle ins Wasser, um nach ihr zu suchen. Sie hatte keinen schweren Tod, Magnus. Sie hatte keine Schmerzen. Vergiß das nicht.«
Er nickte tränenerstickt und hielt den Blick auf den Weg gerichtet.
In ihm war ein unerbittlich krallender Schmerz. Seine kleine Schwester war gestorben, als er zehn war, doch ihr Tod war nicht mit diesem unsagbaren Schmerz zu vergleichen.
Horkel sagte leise neben ihm: »Tief in deinem Innern hast du gewußt, daß das Kind keine Überlebenschance hatte. Bei Thor, Magnus, das Mädchen war schließlich taub!«
»Na und, Horkel? Ist es besser für sie, jetzt zu sterben als in zwei oder drei Jahren?«
»Ich meine nur, daß wir nichts ausrichten konnten. Daß niemand Schuld hat, nicht du, nicht Zarabeth. Und auch nicht Egill.«
Horkel hatte recht, doch das linderte seinen unbeschreiblichen Schmerz keineswegs.
In der Umzäunung hatten sich die Bewohner versammelt. Alle wußten, daß ein Unglück geschehen war. Selbst Ingunn schwieg, ratlos, abwartend und hoffend, daß die Frau ertrunken war. Magnus trug sie, ihr Kopf hing leblos nach hinten, sie triefte vor Nässe und war totenbleich.
Doch die Frau war nicht tot, und Ingunn spürte ohnmächtige Wut. Die Frau bewegte sich. Ingunn trat vor, versperrte dem Bruder den Weg. Plötzlich hoffte sie, Magnus habe endlich begriffen, daß die Frau nichts wert war. Sie hatte schließlich die ganze Milch verschüttet. Und bloß wegen ihrer schwachsinnigen, kleinen Schwester.
»Was ist mit ihr geschehen? Hast du sie geschlagen wegen ihrer Anmaßung und ihres Ungehorsams?«
Magnus schaute durch seine Schwester hindurch.
»Was ist geschehen?«
»Halt den Mund, Weib!« sagte Ragnar. »Das kleine Mädchen ist ertrunken, weil es versucht hat, Magnus zu retten.«
Ingunn zog die Luft hörbar durch die Zähne ein. Eine von ihnen war tot, wenn auch nicht die, deren Ende sie lieber gesehen hätte, aber immerhin ... Schulterzuckend sagte sie: »Das ist wirklich kein Unglück. Das Kind hätte nicht überlebt. Es ist ein Wunder, daß sie nicht schon früher gestorben ist. Sie war schließlich taub. Sie . . .«
Magnus blickte seine Schwester an. Horkel hatte eigentlich das Gleiche gesagt, aber nicht mit Ingunns Bösartigkeit und Gemeinheit. Die Worte seiner Schwester schnitten ihm tief ins Herz. »Sei still, Ingunn! Du sagst kein Wort mehr, hast du mich verstanden?«
»Was bekümmert es dich? Die Frau hat doch selber Schuld. Sie war nichts als . . .«
Magnus verlor die Beherrschung. Er übergab Zarabeth an Horkel, trat an seine Schwester heran und versetzte ihr mit dem Handrücken einen harten Schlag ins Gesicht. Mit einem Schmerzensschrei stürzte sie zu Boden.
Magnus trat dicht an sie heran und bohrte seine Blicke in sie. Sie hielt sich die Wange, und in ihren Augen stand Haß, aber auch ein gehöriges Maß an Angst.
Wieder dachte er daran, daß Horkel beinahe die gleichen Worte gesagt hatte, doch aus Ingunns Mund vermochte er sie nicht zu ertragen; ihre Stimme war so haßerfüllt und voll tödlichem Gift. »Geh mir aus den Augen. Ich lasse unserem Vater noch heute eine Botschaft zukommen. Er wird dich holen lassen. Ich will dich nicht länger sehen.« Seine Worte waren nicht zuletzt deshalb so unheilvoll, weil er sie mit tödlicher Ruhe aussprach. Ingunn rührte sich nicht. Sie hatte Angst.
Cyra, die nicht dumm war, trat schweigend in den Hintergrund.
Horkel hatte Zarabeth bereits ins Langhaus gebracht. Er legte sie auf Magnus' Bett.
Magnus nickte ihm zu, und Horkel ließ ihn allein.
Allmählich erlangte Zarabeth das Bewußtsein, ihr Verstand war benebelt. Ihr war sehr kalt. Sie öffnete die Augen, dann stützte sie sich auf die Ellbogen. Magnus saß auf dem Bett neben ihr.
»Was ist geschehen? Wieso sind meine Haare naß? Mein Gesicht tut weh. Hast du mich geschlagen?«
»Ja, ich mußte es tun. Entschuldige.«
Sie spürte ihre nassen Haare schwer auf den Schultern und im Rücken, spürte die rauhe Wolldecke auf ihrer Haut. Sie war nackt, hatte aber frische Tücher zwischen den Beinen. Wie kam das? Hatte er die Tücher gewechselt? Sie fiel nach hinten, zog die Wolldecke bis zum Hals. Magnus blickte sie weiterhin schweigend an.
Sie runzelte die Stirn, konnte sich nur schwach erinnern. Und dann stand ihr alles klar vor Augen.
»Wo ist Lotti?«
Sein Gesicht war versteinert.
»Wo ist Lotti?«
»Lotti ist tot.«
Sie sprang auf, warf die Decke von sich, ihre Hände griffen nach ihrem Gewand. Sie schüttelte ihn, trommelte mit den Fäusten gegen seine Brust. »Wo ist sie?«
Sie wußte es. Tief im Innern wußte sie es.
Magnus hielt ihre Handgelenke fest und zwang sie, sich zu setzen. Ihre Brüste hoben und senkten sich schwer.
»Es tut mir leid, Zarabeth«, sagte er mit tränenerstickter Stimme. Doch sie hörte ihn nicht, weigerte sich, seinen Schmerz wahrzunehmen.
Aber sie wußte, daß er die Wahrheit sprach. Sie befeuchtete ihre Lippen. »Ist sie ertrunken?«
»Ja. Die Strömung ist an der Stelle ziemlich heimtückisch. Und es gibt Wälder von Schlingpflanzen, die einen erwachsenen Mann in die Tiefe ziehen können. Wir konnten sie nicht finden. Sie ist so klein, weißt du.«
Sie wandte ihr Gesicht ab. Sie erstarrte innerlich zu Eis und verschloß sich vor ihm. Und das konnte er nicht ertragen.
»Zarabeth, bitte.«
Sie reagierte nicht.
Plötzlich wandte sie sich ihm zu, starrte ihn an und begann zu lachen. Ein häßliches, heiseres, hohles Lachen. Lachend stieß sie die Worte hervor: »Sie hat versucht, dich zu retten! Sie dachte, du bist am Ertrinken! Die Kleine dachte nur daran, dich zu retten! Bei allen Göttern, das ist völlig verrückt! Warum bist du nicht ertrunken? Warum? Ich hasse dich! Du hast sie umgebracht, du wolltest ihren Tod, du . . .«
Die Pein zerschnitt ihr das Herz. Unsicher kam er auf die Beine. Ihr Lachen erstarb plötzlich. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen dunkel und leer. Dann schlossen sich ihre Lider, und sie wandte sich von ihm ab. Bedrückt zog er die Decke über sie und verließ die Kammer.
Horkel wartete draußen auf ihn. »Ist die Frau in Ordnung?«
»Nein.«
Magnus fuhr beim ersten Klagelaut hoch. Das Schluchzen war durchdringend und herzzerreißend. Zu seinem Erstaunen war es seine Tante Eldrid, die ihr Gesicht mit den Händen bedeckte und ihr Leid und ihre Trauer hinausschrie und dabei ihren Oberkörper hin und her wiegte. Er ging zu ihr, zog sie von der Bank hoch und legte seine Arme um ihren knochigen Rücken.
Sie weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte.
Dann ließ Magnus sie los und führte sie zu seinem Armstuhl. »Ruh dich aus«, sagte er. »Es tut mir leid. Aber wir haben alles getan, um sie zu finden.«
Zu Ragnar gewandt sagte er: »Geh zu meinem Vater und sag ihm, was geschehen ist. Sag ihm ...« Er machte eine kurze Pause, die Worte fielen ihm sichtlich schwer. »Sag ihm, er möge bald kommen und Ingunn von hier fortbringen.«
Ragnar ging. Ingunn nahm wie gewohnt ihre Arbeit wieder auf, mit versteinertem Gesicht und vom Weinen geröteten Augen. Alles in ihr war starr, jedes Gefühl war aus ihr gewichen, nur der kalte Haß war geblieben. Magnus bemerkte den Abdruck seiner Hand auf ihrer Wange und hatte keinerlei Gewissensbisse. Sie schenkte ihm keine Beachtung.
Der Tag schleppte sich in den Abend. Er war zu nichts fähig. Seine Leute standen in kleinen Gruppen herum, sprachen gedämpft miteinander. Auch die Kinder waren ungewohnt still. Selbst die Hunde schlichen bedrückt herum.
Magnus begab sich in seine Kammer. Zarabeth schien zu schlafen. Seufzend entkleidete er sich und legte sich neben sie. Da bemerkte er, daß sie wach war. Er sagte nichts. Sie lag ganz still. Er wußte, daß sie seine Nähe kaum ertragen konnte, daß sie nicht wahrhaben wollte, wie sehr sein Schmerz und seine Trauer ihn in die Knie zwangen. Ihrer Meinung nach durfte er keine Trauer empfinden. Lotti sollte ihm nichts bedeuten. Er war schließlich ein Wikinger, ein Mann ohne Gefühl, ohne Gewissen; ein Mann, der kaltblütig Menschen abschlachtete; ein Mann, der für keinen Menschen etwas empfand, der nicht zur engeren Familie gehörte. Sie haßte ihn. Lotti wäre noch am Leben, wenn es ihn nicht gäbe.
Wenn es ihn nicht gäbe, wäre Lotti bei Keith und Toki in York.
Wenn es ihn nicht gäbe, hätte König Guthrum sie töten lassen.
Sie schloß die Augen. Der Schmerz war zu groß, die Ungewißheit zu erdrückend, um Antworten in ihrer Seele zu finden. Sie wollte einschlafen und nie wieder aufwachen. Lotti war tot. Ihr Leben hatte seinen Sinn verloren. Es gab keinen Grund mehr für sie, weiter zu atmen.
Erst sehr spät in der Nacht wurde Egill vermißt.
Horkel rüttelte Magnus wach, erlöste ihn aus einem grauenvollen Alptraum, in dem keine Ungeheuer ihn bedrohten, aber eine unendliche Leere ihn umfing, seine Seele zu ersticken drohte.
Er fuhr hoch, schüttelte das Grauen ab.
»Magnus, schnell! Egill ist fort.«
Magnus starrte den Gefährten verständnislos an. »Mein Sohn ist fort?« wiederholte er mit gefurchter Stirn. Er hatte nicht ein einziges Mal an seinen Sohn gedacht. Eine Welle der Angst durchflutete ihn.
Das war zuviel.
»Komm, beeil dich! Der Junge wurde nicht mehr gesehen, seit wir heute nachmittag mit Zarabeth zurückgekehrt sind. Wahrscheinlich denkt er, er habe Schuld an Lottis Tod.«
Magnus warf die Decke beiseite, sein Herz hämmerte so laut, daß er glaubte, es würde ihm aus der Brust springen. Immer wieder dachte er: Nicht Egill, nicht auch noch mein Sohn. Nein. Das ertrage ich nicht. Nicht einmal die Götter konnten ein solches Opfer von ihm verlangen.
Er ließ Zarabeth liegen, ohne zu wissen, ob sie begriff, was los war. Er mußte seinen Sohn finden.
Bis zum Morgengrauen hatte jeder Mann, jede Frau, jedes Kind und jeder Sklave die Gegend um Malek systematisch abgesucht. Keine Spur von Egill.
Der Junge war wie vom Erdboden verschluckt.
Als Harald und Helgi mit Mattias und Jon und einem halben Dutzend Männer ankamen, war Magnus so erschöpft, daß er kaum noch sprechen konnte. Sein Vater trat an ihn heran, suchte den Blick seines Sohnes und zog ihn wortlos an seine Brust.
Magnus hatte völlig vergessen, daß er Ragnar zu den Eltern geschickt hatte. Er lehnte sich müde an den Vater. Und mit einem Mal fiel ihm auf, daß er der Größere von beiden war. Sein Vater war mit den Jahren ein wenig geschrumpft. Seltsam, daß ihm das gerade jetzt auffiel. Dennoch war Harald immer noch ein starker Mann, und Magnus fühlte, wie etwas von der Kraft des alten Mannes auf ihn überging. Er weinte nicht. Er hatte keine Tränen, keine Empfindungen mehr.
Er löste sich aus der Umarmung und sagte gefaßt: »Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll, Vater. Ich bin froh, daß Ihr da seid. Mutter, bitte kommt herein. Ingunn wird ...« Sein Gesicht verhärtete sich, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich hoffe, Ihr seid gekommen, um sie abzuholen.«
Helgi legte ihre Hand auf den Arm ihres Sohnes. »Wir nehmen sie zu uns. Doch nun laß uns ins Haus gehen, Magnus.«
Mattias schloß seinen Bruder kurz in die Arme, ohne ein Wort zu sagen. Jon sah Magnus an und schüttelte den Kopf.
Ja, es war zu viel, einfach zu viel.
Die Anwesenheit seiner Familie war ihm ein Trost. Dadurch wurden er und seine Leute abgelenkt. Er sah, wie Ingunn sich ihrer Mutter an die Brust warf und bitterlich schluchzte. Er wandte sich ab und sagte zu seinem Vater: »Möchtest du einen Krug Bier?«
»Ja, das ist eine gute Idee.«
Helgi hörte sich Ingunns endlose Flut von Klagen und
Vorwürfen an. Dann schob sie ihre Tochter von sich und unterbrach sie barsch: »Genug jetzt, Tochter. Es reicht. Ich höre mir deine Klagen nicht länger an, denn sie zeigen mir das Maß deiner Selbstsucht. Du bist böse geworden, Ingunn. Und du denkst nur noch an dich. Geh an die Arbeit, deine Brüder sind hungrig. Ich werde später mit dir über deine Zukunft sprechen.«
Es war Helgi, die Zarabeth eine Schale Haferbrei und frisches, warmes Brot brachte. Zu ihrer Überraschung saß die junge Frau angekleidet an der Kante von Magnus Bett. Sie starrte mit leerem Blick vor sich hin, reglos, stumm.
»Zarabeth, ich grüße dich. Erinnerst du dich? Ich bin Magnus' Mutter.«
Zarabeth sah sie teilnahmslos an. »Ist es wahr, daß Egill fort ist?«
»Ja, es ist wahr.«
»Beide. Egill und Lotti, beide sind fort. Das ist zu viel, Helgi.«
Zarabeths Gesicht und Stimme waren ausdruckslos. Sie hätte auch über den Haferbrei reden können, der in der Schale dampfte.
»Komm und iß, Zarabeth. Ich habe dir die Schale gebracht, weil ich glaubte, du seist noch im Bett. Komm, iß.«
»Muß ich?«
»Ja.«
Achselzuckend stand Zarabeth auf. Ihr rotes Haar hing ihr in wilden Lockenkaskaden über Rücken und Brust. Sie sieht aus wie eine heidnische Götterbotin, dachte Helgi, mit ihrem feuerroten Haar, gegen das die roten Fäden ihrer Wandbehänge verblaßten. Doch ihre grünen Augen waren leer und dumpf.
Zarabeth folgte Helgi aus der Kammer in den Hauptraum. Als sie Magnus neben seinem Vater sitzen sah, blieb sie wie angewurzelt stehen.
»Ich kann nicht«, flüsterte sie tonlos. »Ich kann nicht.«
Magnus spürte ihre Gegenwart, bevor er sie sah. Das geschah seltsamerweise ständig, seit er sie zum ersten Mal am Brunnen in York gesehen hatte. Urzeiten schienen seither vergangen zu sein; in Wahrheit waren es jedoch nur wenige Monate. Er fixierte sie und zwang sie stumm, ihn anzusehen. Sie hob den Blick.
Dann hob sie langsam die Hand an ihren Hals und betastete das Eisenband, das Sklavenband, das er ihr um den Hals hatte schmieden lassen. Und plötzlich riß und zerrte sie daran, als würde es sie erdrosseln. Dabei gab sie keinen Laut von sich. Ihre Bewegungen waren die einer Wahnsinnigen. Alle Blicke richteten sich auf sie, Gespräche erstarben. Magnus erhob sich und trat auf sie zu.
Er packte ihre Handgelenke, zog ihre Arme weg von dem Eisenband, hielt sie fest. Sie hatte sich die Haut am Hals mit den Fingernägeln zerkratzt. Blut sickerte aus den Kratzwunden.
»Hör auf!« schrie er.
Ihr Blick war starr auf sein Kinn gerichtet. »Wenn ich könnte, würde ich dich umbringen.«
Nun packte ihn die Wut, eine läuternde Wut. Er schüttelte sie so lange, bis ihr Kopf hin und her schaukelte. »Weil ich dir in York das Leben gerettet habe? Weil ich dich und Lotti aus dieser stinkenden Stadt weggeholt habe? Willst du mich deshalb umbringen? Das ist nicht gerecht, Zarabeth.«
»Was kümmert es mich. Mein Leben hat keinen Sinn mehr.«
Magnus schloß die Augen und lockerte seinen Griff ein wenig. Sie riß sich los, gab einen schrillen Laut von sich, und ihre Finger zerrten erneut an dem Eisenband. Wieder packte er ihre Arme und zog sie an sich. Er blickte in ihr bleiches Gesicht, in die Tiefen ihrer wilden Augen. »Genug! Komm mit mir. Jetzt sofort.«
Er zerrte sie aus dem Langhaus.
Sein Vater hob mit einem fragenden Blick zu Helgi seine buschigen Augenbrauen. Sie schüttelte den Kopf. Ingunn zischte schadenfroh: »Jetzt bringt er sie um. Endlich begreift er, daß sie alles kaputt gemacht hat. Sie hat Egill umgebracht, sie . . .«
Haralds Stimme war wie ein Donnerschlag. »Halt den Mund, Ingunn!«
Eldrid begann wieder leise wimmernd zu weinen.
Helgi stand auf, trat zu ihrer Schwester und legte ihre Arme um sie. Zum ersten Mal seit sieben Jahren.