22
Zarabeth spürte einen brennenden Schlag im Gesicht, dann einen Schwall kaltes Wasser. Sie spuckte, nach Luft japsend, und öffnete die Augen.
Ingunn kniete neben ihr, eine leere Holzschale in der Hand. »Du bist also nicht tot. Orm war schon besorgt, daß er dich zu hart getroffen hat. Aber ich sagte ihm, ich hole dich schon wieder ins Leben zurück.«
Zarabeth sagte nichts. Ingunn kauerte auf den Fersen, ihre Augen verengten sich plötzlich, als Orm heranschlenderte. Er ging in die Hocke und nahm Zarabeths Gesicht in beide Hände. Er studierte den Bluterguß an ihrer Wange und berührte sanft ihre Haut.
»Ich wollte nicht so hart zuschlagen. Du warst sehr lange ohne Bewußtsein.« Dann grinste er. »Und du wirst dich nie wieder gegen mich wehren, nicht wahr?« Wieder berührte er ihren Bluterguß, weniger zart diesmal.
Schmerz schoß ihr durch die Gesichtshälfte, aber sie gab keinen Laut von sich. Sie blickte den Mann an, der sie aus Malek verschleppt hatte. »Wo sind wir?«
Er grinste breit, und es war kein angenehmes Grinsen. Sie erwartete wieder einen Schlag, doch er berührte sie nicht. »Ich habe dir schon einmal gesagt, ich mag keine aufdringlichen Weiber.«
»Ich bin nicht aufdringlich. Ich stelle nur eine Frage.«
»Sie macht sich lustig über mich, aber ich werde ihr diese Frechheit noch einmal nachsehen.« Orm grinste Ingunn an, die ein angespanntes Gesicht machte. Zu Zarabeth gewandt sagte er: »Nicht weit von Malek. Nein, ziemlich nah. Jetzt, da du wach bist, wirst du dich nützlich machen. Wir brechen bald auf. Ingunn, sie hat dir zu gehorchen.«
Orms Finger berührten Zarabeths Haar. Sein Blick war so bohrend, daß er ihr Angst machte. Dann erhob er sich, stemmte die Hände in die Hüften und schaute auf sie hinunter. »Geh deiner Arbeit nach.«
»Steh auf.«
In Ingunns Stimme war eine Mischung aus Haß und Triumph. Zarabeth stand auf, dabei zuckte wieder der stechende Schmerz durch ihre Gesichtshälfte. Sie tastete die Wange ab, öffnete und schloß den Mund mehrmals. Der Kieferknochen war nicht gebrochen; dafür dankte sie ihrem christlichen Gott und den Göttern der Wikinger.
»Erwarte bloß kein Mitleid von mir, Zarabeth und versuche keinen deiner dummen Tricks.« Ingunn trat näher. »Ich habe dir versprochen, daß ich dir heimzahle, was du mir angetan hast. Ich habe gesagt, daß dir deine Aufsässigkeit noch leid tun wird, und jetzt ist es so weit. Hier, trag diese Sachen.« Sie warf ihr mehrere Bündel vor die Füße. Zarabeth hob sie auf. Sie waren schwer. Orm drängte zum Aufbruch, und sie schulterte die Bündel.
Zarabeth und eine ältere Frau gingen zu Fuß. Orm, seine zwei Männer und Ingunn saßen zu Pferd. Sie hätte gerne gewußt, wer die andere Frau war, doch sie hielt den Kopf gesenkt und wahrte Abstand zu Zarabeth, als habe sie Angst vor ihr. Wer immer sie war, die Frau schien eine gefangene Sklavin zu sein. Zarabeths Finger tasteten an ihren Hals, wo noch vor kurzem das eiserne Sklavenband lag. Sie schloß die Augen und dachte an Magnus. Er würde sie finden. Er würde sie suchen. Falls ihm noch etwas an ihr lag.
Falls die Leute auf Malek ihm nicht einredeten, sie sei entflohen und habe sich das Leben genommen. Sie dachte an die letzte Nacht mit Magnus. Er hatte sie genommen, und sie hatte sich immer wieder eingeredet, daß sie verabscheute, was er ihr antat. Sie haßte ihn dafür, daß er ihr Nacht für Nacht seine Lust aufzwang. Ihre Träume waren geflossen, und sie wußte, daß er ihre Tränen bemerkte, doch sie gab keinen Laut von sich, und er war tiefer in sie gedrungen, als wolle er ihr beweisen, daß ihre Gefühle, ihre Gedanken ihm nichts bedeuteten. Am nächsten Morgen hatte er Malek verlassen, und sie hatte den Blick von ihm gewendet, selbst nachdem er sie vor all seinen Männern geküßt hatte und lachend fortgeritten war.
Die Gruppe kam nur langsam voran mit den zwei Frauen zu Fuß. Schließlich machte Orm Halt, rief einen der beiden Männer, Kol, zu sich, und befahl ihm, die andere Frau zu sich aufs Pferd zu nehmen. Zarabeth setzte Orm vor sich aufs Pferd.
Ingunn ritt heran. »Sie kann mein Pferd haben, Orm. Ich reite mit dir. Es ist nicht recht, eine Sklavin so gut zu behandeln.«
»Es hieße sie noch besser zu behandeln, wenn sie alleine reiten würde.«
Ingunn biß sich auf die Unterlippe, suchte verzweifelt nach einem Grund, der ihn umstimmen würde. Sie bemerkte, daß Zarabeth auffallend still war; beobachtete, wie sie seine Hand annahm, wie seine Armmuskeln sich spannten, als er sie zu sich aufs Pferd hob. In Ingunns Magen kämpften Wut und Übelkeit. Hätte sie doch bloß einen Dolch, den würde sie dieser Hure liebend gerne zwischen die Rippen jagen.
»Ingunn!«
Sie schluckte ihren Groll hinunter und brachte ihre Stute neben seinen Hengst. »Ja?«
»Erzähl mir mehr über diese Sklavin mit den seltsamen Haaren und dem fremdländischen Namen. Du hast sie eine Schlampe und eine Hure genannt und gesagt, sie habe deinen Bruder verhext. Warum?«
»Mein Bruder wollte sie heiraten, doch sie hat ihn betrogen. Sie schickte ihn fort und heiratete einen alten Mann, der reicher war als Magnus. Dann hat sie den Greis langsam vergiftet. Man kann ihr nicht trauen. Sie ist eine Hexe und sehr hinterhältig.«
»Ich traue niemand, weder Mann noch Frau, also kann mir nichts passieren. Und was ihre Hinterhältigkeit betrifft, glaubst du, ich bin ein Narr, Ingunn?«
Sie blickte ihn verständnislos an. Seine Augen hatten sich verdunkelt, die blaue Iris funkelte nahezu schwarz.
Plötzlich hatte sie Angst vor ihm und schüttelte heftig den Kopf.
»Antworte!« forderte er.
»Nein, du bist kein Narr, Orm.«
»Gut. Es gefällt mir, wenn du gehorsam bist, Ingunn.« Seine Augen wurden heller, und die Wildheit wich daraus so rasch, wie sie gekommen war. Ingunn dachte an ein kurzes Gespräch mit ihm, bevor er Zarabeth entführt hatte. Sie hatte mit zitternder Stimme gesagt: »Vielleicht bin ich eine Närrin.« Noch bevor die Worte ausgesprochen waren, hatte sie sich dafür gehaßt.
»Was meinst du damit?«
»Ich bin zu dir gekommen, weil ich glaubte, du liebst mich. Ich habe das Anwesen meiner Eltern verlassen, um zu dir zu kommen.«
»Und nun änderst du schwaches Weib deine Meinung? Du bist eine Närrin, Ingunn. Ich mache dich zu meiner Ehefrau, zweifle nicht daran.«
Nun fragte sie: »Was hast du mit ihr vor?«
»Darüber bin ich mir noch nicht im klaren.«
Ingunn wußte dem nichts hinzuzufügen. Sie sah Zarabeths wildes, flammendrotes Haar vor sich, das ihr schwer in den Rücken hing, und der vertraute Groll gegen die Frau rumorte in ihren Eingeweiden. Sie sann auf Rache. Orm war ein Mann, dessen Schwächen sie nicht vergessen durfte, wenn es um Frauen ging. Magnus war dieser Frau verfallen, er hatte sich ihretwegen gegen die eigene Schwester gestellt.
Nun hatte Orm erneut das Wort ergriffen, richtete es aber an Zarabeth. »Schmerzt deine Wange noch immer?«
»Nein.«
»Gut. Du scheinst eine tapfere Frau zu sein, das gefällt mir. Was glaubst du, wird Magnus tun, wenn er nach Malek zurückkehrt und feststellt, daß du verschwunden bist?«
»Er wird dich verfolgen und töten.«
Ingunn lachte laut auf. »Pah! Man wird ihm sagen, daß du geflohen oder in den Viksfjord gesprungen bist wie deine kleine, schwachsinnige Schwester.«
Zarabeth drehte sich mit wutverzerrtem Gesicht zu Ingunn um. »Ich habe dir gesagt, du sollst nie wieder schlecht von Lotti sprechen.«
»Was willst du dagegen tun, Schlampe?«
Zarabeth versuchte, sich vom Pferd aus auf Ingunn zu stürzen. Orm war darauf nicht vorbereitet und konnte sie gerade noch rechtzeitig festhalten. Ihr Gesicht war gerötet, und sie atmete schwer vor Zorn, nicht vor Angst. »Wenn du nicht sofort Ruhe gibst, schlage ich dich wieder!«
»Meine kleine Schwester ist . . .«
»War, Zarabeth, sie war! Jetzt ist sie tot!«
»Und Egill ist auch tot! Schmähst du etwa auch ihn, Ingunn?«
Ingunn schnaubte verächtlich. »Sag nur nichts Schlechtes über Egill. Er war ein guter Junge, Magnus' Erbe, nicht ein armseliges Sklavenkind, zu dem niemand von uns Blutsbande hat . . .«
Wieder versuchte Zarabeth sich Orms Zugriff zu entwinden und sich auf Ingunn zu werfen. Orm hielt sie fest. Und er beobachtete beinahe belustigt, wie Ingunn ihre Stute in etwas größeren Abstand zu der wild um sich schlagenden Zarabeth brachte.
»Eine Sklavin sollte nicht so leidenschaftlich sein«, sagte er, und sein Atem schlug warm gegen ihre Wange. Er schlang eine Haarlocke um seine Hand und zog ihren Kopf zurück an seine Brust. »Du gibst jetzt Ruhe. Wir haben einen langen Weg vor uns, bis wir das Lager aufschlagen.«
Ingunn hielt sich auf Distanz.
Als sie ein junges Fichtenwäldchen am Fuße eines schneebedeckten Berges erreichten, ließ Orm absitzen. »Morgen um diese Zeit werden wir den Oslofjord erreicht haben. Dort liegt mein Boot, die Seeschwalbe.«
Zarabeth erschrak, als sie hörte, er wolle in See stechen, ließ sich jedoch nichts anmerken. Orm flößte ihr Angst ein, und sie mußte vor ihm auf der Hut sein. Er war so unberechenbar, daß sie nie wußte, wie er von einem Augenblick zum nächsten reagieren würde. Ingunn schickte sie zum Brennholzsammeln. Kol blieb bei ihr, um sie zu beaufsichtigen. Er war dunkelhaarig, sein Gesicht pockennarbig, er redete nicht und bewegte sich lautlos. Sie ertappte sich dabei, daß sie ständig über die Schulter äugte, um sich zu vergewissern, wo der Mann war. Er unternahm keinen Versuch, sie anzufassen, fixierte sie nur schweigend, bis ihr wirklich Angst wurde.
Erst als Orm ihr ein Stück scharf gebratene Hasenkeule hinhielt, bemerkte sie, wie hungrig sie war. Und sie nagte das Fleisch bis zum verkohlten Knochen ab.
Er hielt ihr noch ein Stück hin. Als sie zugreifen wollte, zog er es rasch zurück. »Was bekomme ich dafür?«
Seine Stimme war weich und scherzend, klang nicht wie die eines gemeinen Mörders. Er stand mit gespreizten Beinen über ihr und hielt ihr das Bratenstück unter die Nase.
»Ich habe dir nichts zu geben.«
»Vielleicht doch«, sagte er, und zu ihrem Erstaunen gab er ihr das Fleisch. Danach war sie satt, und eine bleischwere Müdigkeit überkam sie. Binnen weniger Minuten war sie eingeschlafen.
Orm stand vor ihr. Sie lag seitlich mit angezogenen Beinen, ihre Wange lag in ihrer Handfläche.
Er breitete eine Decke über sie. Als er den Kopf hob, starrte Ingunn ihn an.
»Komm Ingunn«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.
Ihre Wangen röteten sich, denn sein Tonfall verriet seine Absicht. Die beiden Männer, Kol und Bein, hoben die Köpfe. Beide wußten, was er vorhatte. Sie schämte sich, daß er ihren Körper so unverblümt benutzte, obgleich sie noch nicht verheiratet waren. Doch was konnte sie dagegen tun? Sie mußte ihm zu Willen sein, ihm vertrauen, denn wenn sie damit aufhörte, würde sie jeden Halt im Leben verlieren.
Sie erhob sich, glättete den Rock, gab sich unbefangen, als würden sie einen Spaziergang machen, um über ihre gemeinsame Zukunft zu sprechen.
Einer der Männer lachte anzüglich. Es war Bein, und sie haßte ihn dafür, wie er sie ansah, und wie er ausspuckte, bevor er den Kopf abwandte.
»Wie soll ich dich heute nehmen, Ingunn?«
»Die Männer hören zu! Sprich nicht so!«
Orm lachte. Vor seinen beiden Männern und vor der anderen Frau, einer ausgemergelten Gestalt, zog er sie an sich und küßte sie wild. Dann stieß er sie zurück, hielt sie jedoch am Arm fest, ließ seine Finger über ihren Hals nach unten wandern, bis seine Hand sich um eine ihrer Brüste schloß.
Sie schrie beschämt auf, da gab er sie lachend frei. Sie rannte los, wußte, daß er ihr folgen würde. Sie wußte auch, daß er sie nicht einmal auf eine Decke legen würde. Er würde sie gegen einen Baum lehnen und ihr die Röcke hochreißen. Auf diese Weise strafte er sie. Es war nicht das erste Mal, daß er sie so genommen hatte, wenn ihm ihre Redeweise nicht behagte.
Er lehnte sie auch diesmal gegen einen Baum, und sie weinte leise, während er grunzend und stöhnend in sie stieß. Als er mit ihr fertig war, wünschte sie sich tot. »Du mußt baden, Ingunn, dein süßer Frauenduft ist ranzig geworden. Du stinkst wie ein Pferd.«
Sie nickte und entfernte sich schweigend.
Irgendwann war sie eingeschlafen und wurde wach, als er sich an ihren Rücken schmiegte. »Schscht!« raunte er und küßte ihr Ohr. »Verzeih mir, Ingunn. Ich habe dich gekränkt, und es tut mir leid. Ich möchte es wiedergutmachen.«
Sie spürte seine Hand unter ihrem Gewand, die nach oben tastete, und sie wollte sich ihm entziehen, wollte schreien, er solle sie in Frieden lassen, doch da berührte er sie, und sie schloß die Augen und überließ sich ihrer wachsenden Lust. Sie wimmerte leise, preßte ihre Faust an den Mund, als ihr Höhepunkt kam, und sie hörte sein leises Lachen an ihrem Ohr.
»Ja, so ist es gut«, raunte er. »Jetzt wirst du mir nicht wieder waidwunde Blicke zuwerfen. Bist du zufrieden? Ich möchte, daß du mir dafür dankst, Ingunn.«
Sie flüsterte ihm ihren Dank zu. Er lachte wieder und ließ sie allein.
Am folgenden Morgen wurde Zarabeth von Ingunn mit unsanften Rippenstößen geweckt. »Wo gibts denn so was, daß die Sklavin noch schläft und die Herrin arbeitet? Steh auf und sammle Brennholz. Beeil dich, Zarabeth.«
Sie gehorchte wortlos. Ihr Aufpasser war wieder Kol, wie am Abend vorher. Kol war mürrisch, sein pockennarbiges Gesicht war noch finsterer als sonst. Doch er redete nicht, machte keine Anstalten, sie zu belästigen, beobachtete sie nur.
Orm ließ die zwei Sklavinnen drei Stunden zu Fuß marschieren, bevor er kurz Halt machte. Ingunn schwieg. Er rief seinen Männern zu: »Die Frau braucht ein Bad. Sie stinkt wie ein Gaul. Wir halten an dem kleinen See östlich von hier.«
Kol entgegnete: »Aber der liegt abseits vom Weg zum Fjord, Orm! Wollen wir nicht so rasch wie möglich von hier fort? Wir sind alle vogelfrei. Das wurde beim Thing gewiß beschlossen, nachdem diese dumme Gans gegen uns ausgesagt hat.« Kol wandte sich an Ingunn. »Ja, es war ihr hochmütiger Vater, der alle gegen uns aufgehetzt hat. Das wissen wir nur zu gut!«
»Niemand hat unsere Verfolgung aufgenommen. Keine Sorge, Kol. Ich bin euer Anführer, und ich mache keine Fehler.«
Der Mann spuckte vor Ingunns Stute aus. »Du hast sie entführt, oder? Und du willst sie heiraten!«
Orms Augen verengten sich. Und zu Zarabeths Erstaunen lachte er höhnisch auf. »Hört mir zu, ihr Dummköpfe. Bein, ich sehe Zweifel in deiner häßlichen Visage. Ja, ich habe Haralds Tochter bei mir, denn wenn sie bei uns ist, wagt er nicht, uns anzugreifen. Habt ihr beide denn überhaupt keinen Verstand? Sie ist eine hervorragende Geisel!«
Ingunn schnappte hörbar nach Luft. »Nein. Du lügst! Ich bin zu dir gekommen, weil ich nicht glauben konnte, daß du diese Verbrechen begangen hast . . .«
»Tja, aber ich habe sie begangen, Ingunn.« Seine Stimme war sehr sanft, so sanft, daß sich Zarabeths Nackenhaare sträubten. Ingunn erbleichte, ihre Augen weiteten sich. Mitleid für Ingunn regte sich in Zarabeth, und ihre Angst vor Orm wurde noch größer.
Orm lachte wieder. »Ich bin doch kein Ungeheuer. Ich habe nichts verbrochen. Ich wollte dich nur auf die Probe stellen. Kol hörte von einem alten Mann, daß eine von Ingolfssons Töchter uns beschuldigte. Sie hat gelogen. Nun hört mal alle her: Diese schöne Frau, Ingunn, die Tochter von Harald, werde ich heiraten, denn ich liebe sie innig. Und wir alle werden dieses unwirtliche, kalte Land verlassen und nach Westen segeln. Wir werden uns in Danelagh niederlassen. Dort kaufen wir für das Gold und Silber, das wir mit unseren Handelsgeschäften verdient haben, Ländereien und Gerätschaften.«
Bein und Kol redeten leise miteinander. Zarabeth war verwirrt. Orm war glatt wie ein Fisch, seine Zunge war gespalten, und sie hatte Angst vor ihm. In Ingunns Wangen war die Farbe wiedergekehrt, und nun lächelte sie. Orm hatte sie erneut in seinen Bann gezogen.
Ich muß entkommen, dachte Zarabeth unentwegt, als die Nachmittagsstunden verstrichen. Ich muß entkommen. Orm tötet kaltblütig und leugnet seine Tat lachend, selbst wenn das Blut noch von seinen Händen tropft.
Auch an diesem Abend, als sie das Nachtlager aufschlugen, wurde Zarabeth wieder weggeschickt, um Brennholz zu sammeln. Kol war wie üblich ihr Aufpasser. Er wies brummend auf die Zweige und das Gestrüpp, das auf der Erde lag. Er hatte nicht die Absicht, ihr bei der Arbeit zu helfen, er bewachte sie nur.
Irgendwann sagte sie: »Laß mich einen Augenblick allein ... ich muß mich erleichtern.«
Er sah sie ohne jede Regung in seinem häßlichen Gesicht an. »Ich schau dir zu«, sagte er und verschränkte die Arme über der Brust.
Innerhalb weniger Augenblicke verwarf sie mehrere Fluchtmöglichkeiten. Dann zuckte sie gleichmütig die Achseln. Im nächsten Augenblick blickte sie ihm über die Schulter und riß die Augen vor Schreck auf. Als er herumfuhr, raffte sie die Röcke, rannte so schnell sie konnte und duckte sich hinter den Stamm einer mächtigen Tanne. Sie hörte nicht das geringste Knacken im Unterholz, denn Kol bewegte sich lautlos wie ein wildes Tier. Entsetzen kroch in ihr hoch. Wo war er?
Plötzlich hörte sie sein Rufen: »Weib, bleib stehen! Komm sofort zurück, hörst du mich?« Sie hielt den Atem an, denn er war ganz nahe. »Orm wird sehr ungehalten mit dir sein. Er wird dich bestrafen! Und seine Bestrafungen sind nicht sehr angenehm. Diesmal wird er dir den Kiefer brechen. Komm heraus!«
Er war noch näher gekommen, bewegte sich lautlos. Sie schloß die Augen und preßte sich an die Baumrinde. Wieder hörte sie ihn: »Du entkommst mir nicht, Weib. Komm jetzt heraus, und ich werde dir nicht böse sein.«
Sie stand reglos wie eine Statue. Und plötzlich tauchte er vor ihr auf. Er sah sie und fuhr zurück, doch nicht rechtzeitig. Sie rammte ihm den schweren Stein mit aller Kraft in den Bauch. Er heulte auf, kippte vornüber. Im Fallen schlug Zarabeth ihm den Stein über den Schädel. Er ging lautlos zu Boden.
Sie war frei. Sie konnte ihr Glück nicht fassen, stand keuchend über Kol, den Brocken immer noch fest in beiden Händen haltend. Sie hatte sich fest vorgenommen, ihm den Stein über den Schädel zu schlagen, doch daß sie es wirklich getan hatte, und der Kerl nun leblos vor ihr lag, versetzte ihr zunächst einen lähmenden Schock. Dann kniete sie neben ihm, nahm ihm das Messer ab und rannte los. Die Bäume standen immer spärlicher, bald würde sie eine Lichtung erreichen, wo Orm und Bein sie sehen konnten. Doch die Bäume auf der anderen Seite der Waldwiese waren so nah. Sie konnte es schaffen, wenn sie nur schnell genug rannte.
Magnus stieg vom Pferd und streckte sich. Er tätschelte Thorgells Hals, dann bückte er sich zu Gunnar, der die Spuren untersuchte.
»Wir sind nah, Magnus.«
Magnus brummte.
»Auf zwei Pferden reiten zwei Leute. Ich vermute, daß auf jedem Pferd ein Mann und eine Frau sitzen.«
Magnus sah Orm mit Zarabeth vor sich auf dem Pferd reiten. Wer war die andere Frau? Ingunn?
»Das dritte Pferd wird von einer Frau geritten.«
Das mußte Ingunn sein. Wer war die dritte Frau?
»Dann haben wir es also mit drei Männern und drei Frauen zu tun.«
»Ja, so ist es.«
Magnus stand auf und blickte zum Horizont. »Er reitet zum Oslofjord. Vermutlich wartet dort ein Boot auf ihn. Und ich vermute, er ist gut gerüstet. Er plant, Norwegen zu verlassen.«
Ragnar trat neben die beiden. »Wie alt sind diese Spuren?«
Gunnar wandte den Kopf zur Seite.
Aber Magnus wußte Bescheid. »Sie erreichen den Fjord und das Boot, bevor wir sie einholen können.«
»Ist sie freiwillig mit ihm gegangen?« fragte Ragnar bissig.
Magnus wandte sich an ihn und sagte mit leiser Stimme: »Ich weiß, daß du sie nicht leiden kannst. Doch deine Abneigung ist grundlos, Ragnar. Sie hat dich überlistet, das war nicht recht, denn du hattest Mitleid mit ihr, und du hast ihr dein Vertrauen geschenkt. Aber überlege doch mal! Sie stand Todesängste um Lotti aus. Sie hatte nur einen Gedanken, wie sie ihre kleine Schwester retten konnte. Vergiß deinen Groll gegen sie, sonst muß ich mich von einem Mann trennen, der mir viele Jahre wie ein Bruder nahestand.«
Ragnars Gesicht war starr.
»Hättest du nicht ebenso gehandelt, wenn deine Schwester in Gefahr wäre? Du hättest ohne Zögern einen Menschen getötet. Stimmts? Sie wollte dich nicht umbringen, sie wollte nur fliehen.«
»Sie ist eine Frau.«
Magnus mußte lachen. »Ja, das ist sie. Und jetzt ist sie meine Frau. Schließe Frieden mit ihr.«
»Ich glaube nicht, daß wir sie rechtzeitig finden, damit ich Gelegenheit habe, mit ihr Frieden zu schließen, Magnus.« Damit legte er dem Freund beide Hände auf die Schultern. »Du hast selbst gesagt, Orm wird sein Boot erreichen, bevor wir ihn einholen.«
Magnus schüttelte ihn ab. »Wir reiten weiter.«
Er wußte, daß sie umkehren und die Reparaturarbeiten am Steuerruder der Seewind zu Ende bringen sollten. Doch irgend etwas zwang ihn, seine Fersen in Thorgells Flanken zu bohren. Erst wenn er den Fjord erreicht hatte, würde er sich geschlagen geben.
Die Pferde schnaubten erschöpft, als Magnus schließlich Halt machen ließ. Sie waren sechs kraftstrotzende, kampferprobte Männer, schwer bewaffnet und zum Angriff bereit. Bei Thor, er mußte Orm ergreifen. Er mußte ihn töten. Es war ihm unwichtig, ob Ingolfsson ein Vorrecht auf seinen Kopf hatte. Orm hatte Zarabeth entführt.
Er hob den Blick zum Nachthimmel. Schwere, graue Wolken trieben an der Mondsichel vorbei. Es war still, sehr still, und seine Gedanken waren Schreie in seinem Kopf. Sein Sohn, Lotti und jetzt Zarabeth. Hatte er so furchtbar gesündigt? Gegen welche Götter hatte er sich vergangen? Nein, er würde niemals glauben, daß Zarabeth tot war. Er würde nicht glauben, daß Orm sein Boot erreichen und seiner Rache entfliehen würde.
Zarabeth drehte sich nicht um. Sie hatte nur die Bäume auf der anderen Seite der Lichtung im Blick. Sie rannte, bis das Seitenstechen in ihrer Brust so heftig war, daß sie die Arme um sich schlang. Aber sie blieb nicht stehen. Eine trockene Astgabel im Gras wurde ihr zum Verhängnis; sie stolperte und schlug der Länge nach hin. Das Gras war hoch und dämpfte ihren Sturz.
Sie lag auf dem Gesicht, reglos abwartend, bis ihr keuchender Atem sich beruhigte, und die Stiche in ihrer Brust nachließen. Dann hörte sie die galoppierenden Pferdehufe. Sie preßte ihr Gesicht ins Gras. Das Geräusch kam näher, wurde lauter, die Erde unter ihrem Gesicht erzitterte.
»Bei Thor, sie ist verletzt!«
Es war Orm. Sie schnellte hoch und versuchte wegzurennen, stolperte erneut und wäre gefallen, wenn Orm sich nicht aus dem Sattel gebeugt und sie hochgezogen hätte. Er hielt sie seitlich neben sich, bis er das hohe Gras hinter sich gelassen hat. Dann ließ er sie zur Erde gleiten. Er sah auf sie hinunter.
»Warum hast du versucht, vor mir wegzulaufen, Zarabeth? Ich habe dich gewarnt. Nun bleibt mir keine Wahl. Ich muß dich bestrafen.«
Sie hob den Kopf. Sein Gesicht war ebenso gelassen wie seine Stimme, doch seine Augen hatten sich verdunkelt. Sie funkelten im hellen Sonnenlicht, und es war eine Wildheit in seinem Blick, daß sie es vorzog, zu schweigen.
»Antworte mir, Zarabeth.«
»Ich möchte nach Hause. Ich möchte zu Magnus zurück.«
Er lachte. »Wenn wir York erreichen, werde ich dir wieder ein Sklavenband um deinen weißen Hals schmieden lassen. Komm her.«
Er setzte sie vor sich aufs Pferd und brachte sie zurück zum Lager. Seine Arme lagen leicht um ihre Mitte. Er sagte nichts. Sie wagte nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. Sie fürchtete den Irrsinn in seinen Augen.
Ein kleines Lagerfeuer brannte. Der Geruch nach gebratenem Fasan hing würzig in der Luft. Kol hockte auf einem umgestürzten Baumstamm und hielt sich den Kopf. In seinem Blick las sie Mordlust. Wenn sich ihm die Chance böte, würde er sie töten. Ingunn war bleich vor Zorn. Die andere Frau war geschlagen worden, bemerkte Zarabeth. Sie saß zusammengekauert, ihre Augen vom Weinen gerötet. Sie hatte offenbar Schmerzen.
»Du hast sie gefunden«, sagte Ingunn tonlos.
»Ja, gewiß. Sie ist eine Frau, und sie war zu Fuß. Wie soll ich sie bestrafen, Ingunn? Eine Sklavin, die zu fliehen versuchte. Sie hat sich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht.«
»Laß sie arbeiten, bis sie umfällt.«
»Das wäre nicht genug«, meinte Orm. »Sieh dir den armen Kol an. Sie hat ihn bewußtlos geschlagen. Sein Kopf wird ihm noch tagelang weh tun. Nein, ihre Strafe muß etwas sein, das sie so bald nicht vergißt.«
»Verprügle sie, mich kümmerts nicht.«
»Ihr Fleisch ist so weiß. Der Gedanke mißfällt mir, ihr Narben zuzufügen. Hast du sie geschlagen, Ingunn?«
»Ja, ich habe sie geschlagen.«
»Hat sie Narben davongetragen?«
»Ich weiß nicht. Magnus hat sie gepflegt.«
»Ich würde sie gern anders bestrafen.«
Ingunn machte eine Kopfbewegung zur anderen Frau hinüber. »So wie du sie bestraft hast?«
Zarabeth begriff in diesem Augenblick, daß die andere Sklavin, die ältere, magere Frau mit dem krummen Rücken und dem strähnigen Haar nicht geschlagen worden war. Orm hatte sie geschändet. Er hatte sie vergewaltigt.
»Nein, Ingunn. Ich möchte Zarabeth andere Dinge antun. Ich möchte nicht, daß sie weint wie die alte, ausgemergelte Hexe.«
Nun meldete Kol sich zu Wort. »Wir müssen aufbrechen, Orm. Jetzt ist keine Zeit, die Frau zu bestrafen. Magnus Haraldsson wird sich auf die Suche nach ihr begeben. Ich kenne seine Hartnäckigkeit.«
Bein fügte feixend hinzu: »Auch ich möchte sie strafen, Orm.«
»Laß sie in Ruhe, Orm! Wir müssen aufbrechen!« Ingunn war nervös auf die Beine gekommen.
Plötzlich fuhr Orm herum und schlug sie mit dem Handrücken. Sie stürzte zu Boden, ihr Gesicht verfehlte nur knapp die Glut des Lagerfeuers. Mit einem Aufschrei kroch sie rasch weg von der Hitze des Feuers.
Orm rieb sich nur die Hände. Dann lächelte er, und wieder war dieses Glitzern in seinen Augen, verdunkelte sie, doch seine Miene war gelassen und seine Stimme klang einschmeichelnd. »Sag mir nie wieder, was ich zu tun habe, Ingunn. Das nächste Mal werde ich nicht so freundlich mit dir umgehen. Nun habe ich Hunger. Gib mir zu essen, und gib auch unserer armen Sklavin zu essen. Nach all den Anstrengungen wird sie tüchtig Hunger haben.«