12. KAPITEL

Als Julia am nächsten Morgen in die Küche kam, entdeckte sie als Erstes Steve Reyes, der im Foyer auf einer Leiter stand und an dem eingeworfenen Fenster arbeitete.

Mit großen Augen sah sie von der Sperrholzplatte auf dem Boden zu dem farblosen Glas, das jetzt den Platz im Rahmen eingenommen hatte. “Was machen Sie da?”

Der Reporter drehte sich um, hielt ein Spachtelmesser in der Hand und lächelte auf die gleiche entwaffnende Art, die sie schon am Tag zuvor so irritiert hatte. “Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Ich bin Frühaufsteher und musste nach meinem morgendlichen Joggen irgendetwas tun.”

“Und das Erste, was Ihnen einfiel, war die Reparatur meines Fensters?”

Er zuckte mit den Schultern. “Ich habe Ihnen ja gesagt, dass ich mich gerne nützlich mache.”

“Woher haben Sie die Scheibe?”

“Aus Larrys Eisenwarenhandlung. Zum Glück verkaufen die an Handwerker und machen früh auf.”

Julia sah ihn überrascht an. Sie hatte doch Larry angerufen. “Larry hat mir gesagt, er sei sogar zu beschäftigt, um das Glas zu schneiden. Wie haben Sie ihn dazu gebracht, es sich anders zu überlegen?”

“Ich habe ihn einfach gefragt.”

“Haben Sie ihm gesagt, dass es für mich ist?”

Mit einem Finger drückte Steve ein wenig Kitt in die Rille, die am Fensterrahmen entlang verlief. “Hab ich. Erst war er etwas störrisch, aber ich habe ihm angeboten, dass ich es auch gerne selber schneide.” Er strich seinen Finger am Rand der Dose ab. “Danach war er ganz friedlich.”

Mit verschränkten Armen stand Julia da und betrachtete ihren Gast plötzlich mit neuem Interesse. “Wieso habe ich das Gefühl, dass Sie mehr getan haben, als nur vorzuschlagen, das Glas selber zu schneiden?”

“Ich weiß nicht. Wieso?”

“Nennen Sie es Instinkt.”

“Larry und ich kommen miteinander aus.” Er sprühte Fensterputzmittel auf die Glasscheibe und wischte sie mit einem Küchentuch sauber. Die Flasche musste er so wie die Leiter im Schuppen gefunden haben. “Übrigens wird er Sie heute wegen des farbigen Glases anrufen. Das ist eine Sonderbestellung, die kann einen Monat oder noch länger dauern. Bis dahin muss das hier genügen.”

“Das wird es. Ich meine … danke.” Julia war noch immer verblüfft, dass sich ein völlig fremder Mensch solche Mühe machte, während sie zum Schreibtisch ging, wo sie ihre Handtasche aufbewahrte. Mit der Geldbörse in der Hand kehrte sie zu ihm zurück. “Wie viel schulde ich Ihnen für die Scheibe?”

“Gar nichts.” Er kam von der Leiter herunter und wischte sich die Hände ab. “Larry entschuldigt sich auf die Weise für sein schroffes Verhalten Ihnen gegenüber. Er hat gesagt, dass er Ihnen keine Schwierigkeiten machen wollte. Er hat in letzter Zeit ziemlich unter Stress gestanden.”

Julia musste verblüfft lachen. Stress gehörte nicht zu den Zuständen, die sie mit Larry in Verbindung gebracht hätte, aber tatsächlich wissen konnte sie es nicht. “Tja … also gut. Aber wenn Sie schon kein Geld nehmen, dann mache ich Ihnen wenigstens ein Frühstück. Schwarzer Kaffee scheint mir für das, was Sie gemacht haben, nicht genug zu sein.”

Während sie redete, ging sie zum Kühlschrank und holte einen Beutel heraus. “Wie wäre es mit Waffeln?” fragte sie und hielt den Beutel hoch. “Die sind Andrews Lieblingsfrühstück, und es ist kein Problem, ein paar mehr zu backen.”

Steve betrachtete den Beutel in ihrer Hand. “Reden wir hier über selbst gemachte Waffeln?”

“Etwas anderes kommt mir nicht ins Haus. Ich erhöhe auch noch um Erdbeeren, frisch aus meinem Garten.”

“Warum fühle ich mich auf einmal so hungrig?”

Sie lachte und nahm ein Sieb von der Theke. “Ich nehme an, dass das ein Ja ist.”

Seinen Ellbogen auf die Leiter gestützt, sah Steve ihr nach, wie sie zur Hintertür ging. Die ausgebleichte Jeans umspannte ihren wohlgeformten Po wie eine zweite Haut, und da war genug Schwung in ihren Hüften, um eine Welle purer Lust durch seinen Körper zu jagen. Die unerwartete Reaktion machte ihn völlig perplex. Zu Hause waren wunderschöne weibliche Körper praktisch ein alltäglicher Anblick, und er machte sich nie die Mühe, zweimal hinzusehen. Jedenfalls so gut wie nie.

Aber wieso Julia Bradshaw? Eine Frau, die er kaum kannte? Eine Frau, die nach allem, was er gehört und gelesen hatte, eine kaltblütige Mörderin sein konnte?

“Hi.”

Als er die junge Stimme hörte, schüttelte Steve seine lüsterne Trance ab und drehte sich um. Ein hübscher Junge mit blonden Haaren und aufgeweckten blauen Augen betrachtete ihn aufmerksam mit zur Seite geneigtem Kopf.

“Selber hi.”

“Ich bin Andrew”, sagte der Junge, kam auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen.

So wie immer, wenn er Kindern gegenüberstand, verspürte Steve ein vertrautes Ziehen an seinem Herzen, eine Mischung aus Sehnsucht und Freude. “Steve Reyes.” Er nahm die Hand des Jungen, die kraftvoll und kühl war.

“Reparierst du unsere Fenster?” fragte der Junge.

“Eigentlich bin ich der neue Gast.”

Die Hintertür fiel zu, und Julia kehrte zurück. “Ah”, sagte sie. “Wie ich sehe, haben Sie Andrew kennen gelernt.” Sie stellte das Sieb, das nun voller kleiner Erdbeeren war, in die Spüle und begann, sie zu waschen. “Mr. Reyes war so nett, unser Fenster zu reparieren, Andrew, darum habe ich ihn eingeladen, mit uns zu frühstücken.”

“Cool.”

“Übrigens”, sagte Steve, während er die Leiter über die Schulter nahm. “Mir wäre es lieber, wenn Sie beide Steve zu mir sagen würden.” Er deutete auf die Hintertür. “Kann ich hier durchgehen?”

“Natürlich.” Julia ließ sich nicht anmerken, ob sie seine Bitte gehört hatte, ihn mit seinem Vornamen anzureden.

Als Steve alles in den Schuppen zurückgestellt hatte, war der Tisch bereits gedeckt, und Julia goss Andrew gerade ein großes Glas Milch ein.

Der Junge fiel mit dem Hunger und der Begeisterung eines Kindes über die Waffeln her. “Was arbeitest du?” fragte er, während er sein Essen hinunterschlang.

“Andrew! Lass ihn in Ruhe essen und sei nicht so neugierig”, sagte Julia tadelnd.

“Das ist schon in Ordnung.” Steve zerschnitt eine Waffel in vier Stücke, spießte ein Stück mit seiner Gabel auf und tauchte es in den zähflüssigen Ahornsirup. “Immerhin wohne ich mit ihm zur Zeit unter einem Dach, da hat er auch ein Recht zu wissen, was ich mache.”

Er wandte sich wieder Andrew zu und fuhr fort: “Ich bin das, was man einen investigativen Reporter nennt. Das heißt, ich höre mich in der Stadt um, stelle viele Fragen und stecke meine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute.”

Andrews Augen betrachteten ihn ernst. “So wie die Polizei.”

“Genau.”

“Mein Onkel Frank ist Polizist.” Andrew ertränkte seine Waffeln in noch mehr Sirup. “Er ist nicht wirklich mein Onkel, aber ich nenne ihn trotzdem so. Wir machen viel zusammen.”

“Aha.” Steve bemerkte Julias amüsierten Blick. “Und was macht ihr alles zusammen?”

Andrew zuckte mit den Schultern. “Meistens Baseball. Ich bin im T-Ball-Team in der Schule. Ich spiele Shortstop, aber im nächsten Jahr will ich Pitcher werden.” Er sah auf. “Magst du Baseball?”

“Sehr sogar. Leider komme ich nur zum Spielen, wenn mein Freund in der Stadt zu Besuch ist.”

Andrew kaute gewissenhaft. “Wer ist denn dein Freund?”

“Andrew, das reicht.” So sehr sich Julia auch bemühte, ernst zu klingen, verriet das verhaltene Lächeln, dass sie sich gut amüsierte.

“Mich stört das nicht”, sagte Steve. “Ich habe zwei Neffen in seinem Alter, die auch jeden ausquetschen.” Er sah wieder zu Andrew. “Mein Freund heißt Gary Sheffield. Du hast vielleicht …”

Der Junge riss seine Augen ungläubig auf, seine Gabel kam auf halbem Weg zwischen Teller und Mund zum Stillstand. “Gary Sheffield ist dein Freund?”

“Ich sehe, dass du von ihm gehört hast.”

“Machst du Witze? Die ganze Welt kennt ihn. Er spielt Outfield bei den Florida Marlins. Er ist total cool.”

Steve lachte. “Das werde ich ihm sagen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe. Vielleicht kann ich ihn dazu überreden, dass er dir einen Baseball mit Autogramm schickt.”

“Wow.” Andrews Gesicht glühte vor Aufregung und Freude. “Das wär ja toll.”

Von der Straße her war ein zweimaliges Hupen zu hören.

“Na komm, Schatz”, sagte Julia und lehnte sich zu dem Jungen hinüber, um den Hemdkragen zu glätten. “Total coole Outfielder müssen jetzt erst mal warten. Dein Bus ist da.”

Andrew trank hastig seine Milch aus und gab seiner Mutter einen flüchtigen Kuss. “Bist du hier, wenn ich zurückkomme?” fragte er Steve.

“Wann bist du denn wieder zu Hause?”

“Viertel vor drei.”

Steve ging im Geist seinen Zeitplan durch. “Ich werde hier sein.”

Der Junge grinste und präsentierte eine breite Lücke, wo seine Milchzähne gewesen waren. “Cool.”

Dann schnappte sich Andrew seine Schultasche von der Kochinsel, warf sie sich über die Schulter und lief nach draußen.

“Reizender Junge”, bemerkte Steve, während er seine Kaffeetasse anhob.

“Er ist auch unerbittlich”, warnte sie ihn. “Wenn Sie nicht so voller Leidenschaft für Baseball sind wie er, sollten Sie sich in Acht nehmen. Sonst will er, dass Sie ihm so lange Bälle zuwerfen, bis Ihnen der Arm abfällt.”

Steve nippte an seinem Kaffee und sah sie über den Rand der Tasse hinweg an. Er war froh, dass sie ihn nicht länger als einen Feind zu betrachten schien. “Heißt das, dass Sie mir allmählich vertrauen? So ein ganz klein wenig?”

Julia lächelte. “Es fällt mir schwer, jemandem zu misstrauen, der morgens beim ersten Sonnenstrahl aufsteht und eingeschlagene Fensterscheiben repariert. Außerdem”, fügte sie an, “scheint Andrew Sie auf Anhieb zu mögen. Das kommt nicht oft vor.”

“Das beruht auf Gegenseitigkeit.” Er nahm eine reife Erdbeere und biss in die saftige Frucht. “Wie kommt er mit dem Tod seines Vaters zurecht?”

Julia schenkte ihm Kaffee nach. “Er macht Höhen und Tiefen durch, aber er kommt allmählich damit klar. Ich versuche, sein Leben so normal wie möglich zu gestalten. Doch wenn Leute die Scheiben einwerfen und hässliche Briefe schicken, dann legt sich schon ein Schatten auf die Normalität.”

“Mit den hässlichen Briefen … meinen Sie da Drohbriefe?”

Sie sah ihm wieder ins Gesicht. “Weniger ein Drohbrief, eher eine Anschuldigung.” Julia biss sich auf die Lippe, als überlege sie, wie viel sie ihm erzählen sollte. Oder ob sie ihm überhaupt etwas erzählen sollte.

Als sie weitersprach, war ihr Tonfall kühl, fast schon distanziert. “Sicher wissen Sie längst, dass viele Leute in der Stadt glauben, ich hätte meinen Exmann umgebracht. Ich schätze, einer von ihnen wollte mit dieser Aktion seine Meinung etwas nachdrücklicher kundtun.”

“Warum haben Sie den Vorfall nicht der Polizei gemeldet?”

“Weil meine beiden einzigen Gäste am nächsten Morgen abgereist sind, da sie dachten, man würde sie erschießen, entweder ein Querschläger oder ich.” Sie trank einen Schluck Kaffee. “Tatsache ist, dass ich keine potenziellen Gäste abschrecken möchte, also habe ich nichts gesagt. Zwischen El Niño, der das Wetter durcheinander gebracht hat, und dem Luxushotel gleich daneben boomt das Geschäft in letzter Zeit nicht gerade.”

Es war ihm nicht klar gewesen, wie stark sich ihre Situation auf ihr Geschäft auswirkte. Und er hatte auch nicht vermuten können, wie besorgt sie wirklich war – bis jetzt. “Sie haben also keine Ahnung, wer Ihnen das angetan haben könnte?” fragte er.

Diesmal machte sie sich keine Mühe, ihre Verbitterung zu verbergen. “Das kann jeder in der Stadt gewesen sein. Suchen Sie sich einen aus.”

“Es tut mir Leid”, sagte er glaubhaft. “Das muss sehr schwierig für Sie sein.”

Der Stolz, den er schon vorher bemerkt hatte, gewann wieder die Oberhand. “Es muss Ihnen nicht Leid tun, Mr. Reyes. Ich habe gelernt, auf mich selbst aufzupassen.”

Als sie aufstand, wurde deutlich, dass sie damit das Gespräch beendete. Steve stand ebenfalls auf. “Lassen Sie mich Ihnen helfen”, sagte er und stellte die Teller zusammen.

“Nein”, entgegnete sie und nahm ihm die Teller aus den Händen. “Sie haben schon mehr als genug geholfen.” Sie lächelte ihn an. “Und was Andrew angeht, sollten Sie sich nicht verpflichtet fühlen, wirklich heute Nachmittag hier zu sein. Wie gesagt, er kann hartnäckig sein.”

“Ich werde hier sein”, sagte Steve. “Nicht, weil ich mich dazu verpflichtet fühle, sondern weil ich es möchte.” Er zwinkerte ihr zu. “Danke fürs Frühstück, das war fantastisch. Sie könnten mich noch zu mehr als einer Tasse Kaffee am Morgen bekehren.”

Dann verließ er den Raum, um ihre Gastfreundschaft nicht zu sehr zu strapazieren.

Nachdem Steve die “Hacienda” verlassen hatte, führte ihn sein erster Weg zur Polizeiwache, wo er sich bei dem Detective vorstellte, der mit dem Fall befasst war – Hank Hammond. Der erfahrene Mann hatte zunächst säuerlich reagiert, war aber dann erheblich aufgetaut, als er bemerkt hatte, dass ihn mit Steve eine gemeinsame Leidenschaft verband: Hockey.

Eine halbe Stunde später verfügte Steve über eine knappe, aber umfassende Zusammenfassung der Informationen, die Hammond bislang an die Medien herausgegeben hatte, darunter auch die Namen der von ihm verhörten Zeugen. Die reichten von Leuten, die das Ratsmitglied bestens kannten, bis hin zu einem Gangsterboss aus San Francisco namens Vinnie Cardinale.

Von allen Namen interessierte sich Steve nur für zwei: Jennifer Seavers, von der er sich erhoffte, dass sie ihm erlaubte, sich im Haus ihres Onkels umzusehen, und Edith Donnovan, Pauls langjähriger Sekretärin. Mit ihr würde er sich als Erstes befassen.

Anstatt zu ihr ins Büro zu gehen, wartete er in dem kleinen Park vor dem Kommunalgebäude auf sie, wo Edith nach Aussage der Empfangsdame jeden Tag Pause machte und ihr Mittagessen zu sich nahm.

Anhand der Beschreibung, die er von der Empfangsdame erhalten hatte, erkannte er Edith sofort, als sie das Gebäude verließ. Die Frau, die knapp über vierzig zu sein schien, steuerte zielstrebig auf eine schattige Bank am südlichen Ende des Parks zu. Steve blieb in einiger Entfernung stehen und nahm ihr schlichtes Erscheinungsbild in sich auf, das unscheinbare braune Haar, das mit einem Schal zurückgehalten wurde, die schwarzen Mokassins und die nüchterne graue Kombination.

Mit den Händen in den Taschen ging er zu ihr und blieb in dem Moment vor ihr stehen, als sie eine kleine braune Papiertüte öffnete. “Miss Donnovan?”

Ruhige nussbraune Augen blickten ihn an. “Ja?”

Unaufgefordert setzte sich Steve zu ihr und versuchte, so harmlos zu klingen wie möglich. “Mein Name ist Steve Reyes, ich bin Reporter für die New York Sun. Ich hatte gehofft, dass Sie mir ein paar Fragen beantworten könnten. Es geht um den Mord an Paul Bradshaw.”

Edith holte ein in Klarsichtfolie verpacktes Sandwich aus der Tüte. “Ich habe schon mit der Presse gesprochen”, antwortete sie kurz angebunden.

“Ich weiß, aber ich bin gerade erst in die Stadt gekommen und muss einiges nachholen.”

“Warum reden Sie dann nicht mit Ihren Kollegen? Ich bin sicher, dass einer von ihnen Sie …”

“Würde er nicht.” Als sie ihn überrascht ansah, redete er weiter. “Reporter sind eine vom Konkurrenzkampf geprägte Spezies, Miss Donnovan. Und sie geben nie Informationen weiter.” Es war eine ungerechte Aussage, aber wenn er keine Möglichkeit fand, an ihre sanftmütigere Seite zu appellieren, vorausgesetzt, sie besaß überhaupt eine, war er aufgeschmissen.

Ihre nussbraunen Augen beobachteten ihn aufmerksam, bis er das Gefühl hatte, einen Anflug von Mitgefühl in ihnen zu erkennen. “Ich denke, dass ich mich mit Ihnen unterhalten kann, während ich mein Mittagessen zu mir nehme.” Sie packte ihr Sandwich aus, das in zwei gleich große Dreiecke geschnitten war und das keine Rinde mehr aufwies.

“Danke.” Er entdeckte einen Getränkeverkäufer und zog einen 5-Dollar-Schein aus der Tasche. “Sie sollten etwas zu Ihrem Sandwich trinken”, sagte er. “Orangenlimonade?”

Sie machte einen angenehm überraschten Eindruck. “Woher wissen Sie, dass ich Orangenlimonade mag?”

Steve machte sich eine geistige Notiz, der Empfangsdame einen Blumenstrauß zu schicken. “Gut geraten”, log er.

Als er mit den beiden Dosen zurückkam, öffnete er eine und gab sie Edith.

“Danke.” Sie zögerte kurz, dann bot sie ihm die Hälfte ihres Mittagessens an. Steve schüttelte jedoch den Kopf.

“Während der Arbeit esse ich grundsätzlich nicht”, sagte er. “Das lenkt nur ab.”

Edith nickte, als wüsste sie genau, was er meinte, dann biss sie in ihr Sandwich, das nur mit Käse belegt zu sein schien.

Da er vermutete, dass zu direkte Fragen sie eher in die Defensive treiben würden, führte er sie langsam dorthin, wo er sie haben wollte. “Der Tod von Ratsmitglied Bradshaw muss eine tiefe Lücke hinterlassen haben.” Er sah, wie Angestellte der Stadt das Gebäude verließen. “Ich habe gehört, dass er sehr beliebt war.”

“Paul war einer der nettesten und rücksichtsvollsten Menschen, die ich kannte.” Einen Moment lang hing ihr Blick am Eingang des Gebäudes, als erwarte sie, ihren verstorbenen Chef zu sehen, wie er durch die Türe schritt. “Ich kann mir nicht vorstellen, wer ihn hätte umbringen wollen.”

“Hatte er keine Feinde, von denen Sie wussten?”

Sie wandte ihren Blick ab und biss wieder in das Sandwich. “Seine Exfrau hat ihn nicht sehr gut leiden können.”

Die recht unverhohlene Anschuldigung überraschte Steve. “Glauben Sie, dass Julia Bradshaw ihn getötet hat?”

In ihren Augen leuchtete Ablehnung. “Sie ist aufbrausend, das weiß jeder hier.”

Die Verbitterung in ihrer Stimme war eine Spur stärker, als er es von einer Sekretärin erwartet hätte – auch einer besonders treuen. War da vielleicht mehr im Spiel als bloße Dienstbeflissenheit? “Ich habe das Gefühl, dass Sie Paul Bradshaw sehr gemocht haben.”

“Das haben wir alle.” Sie kaute langsam weiter, die Lippen fest aufeinander gepresst.

“Und Sie haben lange Zeit für ihn gearbeitet?”

“Sieben Jahre.”

“Dann kannten Sie wohl besser als jeder andere seine Gepflogenheiten, die Leute, mit denen er sich traf, wen er nicht mochte, wem er nicht traute.”

Edith hatte die erste Hälfte ihres Mittagessens verzehrt und spülte mit ein paar Schlucken Limonade nach, um dann zur zweiten überzugehen. “Er kam mit vielen Menschen zusammen. Das ist bei allen Ratsmitgliedern so.”

“Haben Sie zufälligerweise noch seinen Terminkalender?” fragte er hoffnungsvoll.

“Den hat die Polizei an sich genommen, aber ich habe seinen Terminplan immer auswendig gelernt.” Sie machte eine Pause und sah Steve an, als versuche sie, eine Entscheidung zu treffen. Ihr Gesichtsausdruck verriet nichts. “Ich könnte Ihnen sagen, wen er in den letzten drei Wochen vor seinem Tod getroffen hat”, sagte sie nach einer Weile.

“Das würde ich sehr zu schätzen wissen, Edith.”

Es schien ihr zu gefallen, dass er sie mit ihrem Vornamen angesprochen hatte. Mit monotoner Stimme rasselte sie alle Namen der Leute herunter, mit denen Paul in den letzten 20 Tagen Kontakt gehabt hatte. Darunter befand sich der Bürgermeister, mit dem sich Paul täglich getroffen hatte, die drei anderen Ratsmitglieder, sein Wahlmanager, der einen großen Teil seiner Zeit beanspruchte, sowie ein halbes Dutzend seiner großzügigsten Unterstützer und eine Hand voll örtliche Reporter.

Steve notierte alle Namen. “Er ist nicht von einem Fremden angerufen worden? Oder von jemandem, der sich verdächtig oder gefährlich angehört hat?”

Edith schüttelte den Kopf. “Vinnie Cardinale ist der Einzige, der in diese Kategorie fällt, aber er hat Paul nie besucht. Wenn sie Kontakt hatten, dann lediglich telefonisch oder über Cardinales Anwälte.”

“Machte sich Paul seinetwegen Sorgen?”

“Wenn Sie wissen wollen, ob er Angst hatte, dass Cardinale ihn umbringen könnte …”, sie schüttelte den Kopf, “… nein, Angst hatte er nicht. Auch wenn Cardinale einen gewissen Ruf hat, habe ich ihn auch nie für eine Bedrohung gehalten. Ein Mann von seinem Schlag schert sich nicht darum, wenn er in einer Stadt abgeschmettert wird. Er zieht einfach weiter zur nächsten.”

Steve war zu der gleichen Ansicht gelangt, weshalb er auch nicht vorhatte, den Gangsterboss zu befragen. Jedenfalls nicht im Augenblick.

Dann endlich stellte er die Frage, die ihm schon die ganze Zeit über auf den Nägeln gebrannt hatte. “Und was ist mit Gleic Éire? Ich habe gehört, dass Paul vorhatte, den Mord an seiner Schwester neu aufzurollen.”

Edith schluckte erst den letzten Bissen, bevor sie antwortete. “Das stimmt. Vor ein paar Monaten hatte er mich gebeten, alle Informationen zusammenzutragen, die über das Bombenattentat in Manhattan und über Gleic Éire verfügbar waren.”

“Halten Sie es für möglich, dass Gleic Éire auch der Grund für die Pressekonferenz war, die er angesetzt hatte?”

“Ich weiß nicht. Es könnte sein.” Mit gesenktem Kopf drückte Edith die Klarsichtfolie zu einer kleinen Kugel zusammen und hielt sie einen Moment lang fest, bevor sie sie in den braunen Beutel warf. “Ich habe ihn damit aufgezogen”, sagte sie mit einem traurigen Lächeln, das ihren Gesichtszügen etwas Sanftes verlieh. “Ich habe ihm vorgehalten, er hätte Geheimnisse vor mir, seiner loyalsten Mitarbeiterin.”

“Und was hat er gesagt?”

“Dass ich ihn noch ein wenig länger ertragen müsste, und dass die Verschwiegenheit schon bald einen Sinn ergeben würde.”

Sie hielt abrupt inne, als wäre ihr klar geworden, dass sie mehr gesagt hatte als beabsichtigt. Als sie auf ihre Uhr sah, wusste er, dass das Gespräch beendet war.

“Danke, dass Sie sich mit mir unterhalten haben, Edith.”

“Gern geschehen.” Sie stand auf. “Ich muss jetzt los, ich möchte nicht zu spät kommen.”

Steve bezweifelte, dass Edith jemals zu spät gekommen war oder auch nur einen Tag gefehlt hatte. Er stand neben der Bank, während er ihr nachsah. Als sie an einem Papierkorb vorbeiging, warf sie die braune Papiertüte hinein und war wenig später im Gebäude verschwunden.

Steve starrte einen Moment lang auf die Tür, dann sah er auch auf die Uhr und bemerkte, dass die Zeit gerade noch reichte, um für die tägliche Pressekonferenz zur Polizeiwache zu gehen. Danach würde er versuchen, Jennifer Seavers ausfindig zu machen, um zu sehen, ob sie ihn ins Haus ihres Onkels ließ.

Dort befanden sich möglicherweise die Antworten auf viele seiner Fragen.