15. KAPITEL
Coop öffnete eine Dose Coke aus dem Sechserpack, den er auf dem Rückweg von der “Hacienda” gekauft hatte, während er sich wünschte, eine Dose Bier vor sich zu haben.
Nach Julias Zurückweisung hatte er sich so verdammt erniedrigt gefühlt, dass er einen Moment lang befürchtet hatte, er könnte in Versuchung geraten, tatsächlich einen Sechserpack Bier zu kaufen. Er hatte seine gesamte Willenskraft aufbringen müssen, um sich von dem verlockenden Aufsteller zu entfernen.
Die Schultern leicht gebeugt, ging er zum Fenster seines Motelzimmers und sah zu, wie ein Sattelschlepper auf den Parkplatz fuhr.
Sein Versuch, sich mit seiner Tochter zu versöhnen, war vollends gescheitert. Sie hatte ihm unmissverständlich gesagt, dass sie ihn schon vor langer Zeit aus ihrem Leben gestrichen hatte und nicht beabsichtigte, ihm zu vergeben.
Was hatte er auch erwartet? Einen Empfang wie für einen Helden?
Wutschnaubend ging er durch das Zimmer, als sein Blick auf dem Nachttisch hängenblieb, wo ein Brief gegen die kleine Tischlampe gelehnt stand. Er war an Julia gerichtet. Er würde ihn morgen in die Post geben. Eine letzte Entschuldigung an die Tochter, die er liebte, und dann würde er sich auf den Weg machen und sie nie wieder belästigen.
Auch wenn er tief in seinem Herzen einen Schmerz fühlte, war er froh, dass er die Gelegenheit bekommen hatte, Andrew zu begegnen, selbst wenn es nur eine kurze Begegnung war. Was für ein großartiger Junge. Allein ihn zu sehen, wie er diesem freundlichen Reporter den Ball zuwarf, hatte ihn zutiefst berührt. Und jetzt hatte er Andrew auch noch verloren.
Du hast nichts anderes verdient, alter Mann.
Jemand klopfte an der Tür und riss ihn aus seinem Selbstmitleid. “Wer ist da?” fragte er, während er eine Hand auf den Türgriff legte. Wenn es eine Sache gab, die er sich aus seiner Zeit als Trinker gemerkt hatte, dann war es die, sich vor Räubern zu hüten.
Es folgte eine kurze Stille, dann sagte eine Stimme, von der er geglaubt hatte, er würde sie nie wieder hören. “Ich bins. Julia.”
Sie saßen im Salon, jeder an einem Ende des großen roten Sofas. Nachdem Steve bei Andrew geblieben war, um auf ihn aufzupassen, bis er eingeschlafen war, hatte sie sich mit ihrem Vater für ein klärendes Gespräch zusammengesetzt.
Fast eine Stunde lang hatte sie nach dem Gespräch mit Steve mit sich selbst gerungen, und die meiste Zeit über hatte sie sich einfach nur ihrem Zorn hingeben wollen, anstatt sich schuldig zu fühlen. Ihre Wut war das Einzige, was sie tröstete, und die würde ihr verdammt noch mal niemand abnehmen.
Erst als Andrew sich noch immer geweigert hatte, aus seinem Zimmer zu kommen, war ihr klar geworden, wie gravierend ihre Entscheidung sich auf ihn auswirkte. Der Junge trauerte noch immer um seinen Vater, und sie nahm ihm auch noch den Großvater weg, dem er gerade erst begegnet war.
Und so seltsam es auch war – sie fühlte sich ihrem Vater gegenüber genauso schuldig. Hierher zu kommen hatte von seiner Seite sehr viel Mut erfordert. Wenn sie nicht so sehr von ihrer Wut eingenommen gewesen wäre, hätte sie das erkannt. Und sie hätte auch gemerkt, dass unter dieser Wut ein viel mächtigeres Gefühl verborgen lag, nämlich Liebe.
Die Erkenntnis, dass sie ihn noch immer liebte, hatte sie überwältigt. Ein paar Minuten darauf hatte sie sich – zitternd, aber entschlossen – auf den Weg zum Monterey Arms gemacht, um mit ihrem Vater zu reden.
Ihr Vater. Sie hatte das Wort immer und immer wieder gesprochen, erst nur in Gedanken, dann aber laut, als müsste sie sich mit dem Klang wieder vertraut machen, bevor sie es wirklich benutzen konnte.
Jetzt, wo die Wut verraucht war, wollte sie alles erfahren, von den täglichen Besäufnissen über die gelegentlichen Aufenthalte in Obdachlosenunterkünften bis zu jenem erschreckenden Augenblick, als Coop im Gefängnis gelandet war, ohne sich an die Umstände erinnern zu können, die dazu geführt hatten.
Sie unterbrach ihn nicht, sie kommentierte nichts, nicht einmal, nachdem er geendet hatte.
“Jetzt bist du an der Reihe”, sagte Coop und nahm seine Kaffeetasse.
Sie erzählte ihm alles, was er wissen wollte, wartete auf seine Fragen, beantwortete sie, so gut sie konnte. Von Pauls Misshandlungen erwähnte sie nichts, und auch Jordan brachte sie nicht zur Sprache. Das würde Coop machen müssen.
Sie waren mittlerweile bei der dritten Tasse Kaffee, als er schließlich sagte: “Erzähl mir von Jordan. Wie war er?”
Julia brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. “Gut aussehend, liebevoll, witzig. Er hat es geliebt, den Leuten zu helfen. Darum wurde er auch Polizist.” Julia lächelte. “Ich wette, Spike hat dir nicht erzählt, dass Jordan die Polizeiakademie mit Auszeichnung abgeschlossen hatte.”
Coop schüttelte den Kopf.
“Nachdem er Detective geworden war, wurde er in die Rauschgiftabteilung versetzt und hat mit Frank Walsh zusammengearbeitet.”
“Sein Idol.”
“Ja, weil Frank immer da war – für jeden von uns. Wie ein großer Bruder.”
Coop drückte eine Fingerspitze gegen seine Augenwinkel, als wolle er eine Träne aufhalten. “Ich bin froh, dass ihr Kinder jemanden hattet, zu dem ihr aufsehen konntet.”
“Frank hat Jordan in den wenigen Jahren viel beigebracht. Er hatte sogar vorhergesagt, dass Jordan noch vor ihm zum Sergeant befördert werden würde. Das hätte auch geschehen können, wenn …”
Sie biss sich auf die Lippe und versuchte, nicht zu weinen.
“Was ist passiert? Wie ist er gestorben?”
“Hat Spike dir das nicht gesagt?”
“Er hat mir die Zeitungsausschnitte gegeben, aber ich möchte es von dir hören.”
Julia wünschte sich, diesen schrecklichen Tag nicht noch einmal durchleben zu müssen, aber sie verstand, warum Coop es wissen musste. “Jordan und ich hatten uns an dem Tag gestritten.”
Coop runzelte die Stirn. “Worüber?”
Sie starrte auf ihre Hände, die sie verschränkt in den Schoß gelegt hatte. “Irgendwas hatte ihm seit Tagen Sorgen gemacht. Ich wollte wissen, was los war, aber er wollte es mir nicht sagen. Als ich ihn drängte und fragte, ob er und Cassie Probleme hätten, sagte er, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Und dann stürmte er aus dem Zimmer.”
“Wer ist Cassie?”
“Seine Verlobte. Sie wollten im nächsten Juni heiraten.”
“Lebt sie noch hier?”
“Nein, sie ist kurz nach Jordans Tod nach L.A. gezogen. Sie kommt alle paar Monate zu Besuch.”
Julia machte eine Pause und fühlte, wie die Trauer wieder auf ihr lastete. “Nachdem Jordan gegangen war, rief ich auf der Wache an, um mich zu entschuldigen, aber der diensthabende Sergeant sagte, er und Frank seien zu einem Einsatz gefahren. Sie hatten hier in Monterey einen Drogenring aufgespürt. An dem Abend hatte jemand angerufen und mitgeteilt, in einem Lager nahe dem Kai sei etwas im Gange. Dass sie zahlenmäßig unterlegen waren, wussten Frank und Jordan erst, als sie sich im Gebäude befanden.”
“Haben sie keine Verstärkung angefordert?”
“Drei Wagen waren unterwegs, aber Jordan und Frank trafen als Erste ein. Frank wollte noch warten, doch Jordan wollte nicht auf ihn hören. Er brannte darauf, ins Gebäude zu gehen, um diejenigen zu überraschen, die sich dort aufhielten. Stattdessen erwartete sie eine Überraschung. Eine Wache auf dem Dach sah sie kommen. Es kam zu einer Schießerei, und Jordan wurde in die Brust getroffen. Frank eilte zu ihm, aber es war zu spät. Jordan starb in seinen Armen.”
Tränen liefen über Coops zerfurchtes Gesicht.
“Frank war am Boden zerstört”, fuhr Julia fort und kämpfte selber mit den Tränen. “Er war davon überzeugt, dass Jordans Tod seine Schuld war, dass er ihn nicht hätte gehen lassen dürfen, solange keine Verstärkung eingetroffen war. Aber Jordan war als Erwachsener genauso, wie du ihn als Kind gekannt hast. Er war impulsiv und furchtlos. Das machte Frank immer wieder verrückt.”
“Frank hätte ihn zurückpfeifen müssen”, sagte Coop. “Er war Jordans Vorgesetzter.”
“Niemand weiß das besser als Frank. Eine Zeit lang spielte er mit dem Gedanken, den Dienst zu quittieren. Mom, Cassie und ich mussten wochenlang auf ihn einreden, um ihn davon zu überzeugen, dass er bei der Polizei mehr Gutes bewirken konnte, als wenn er aus dem Dienst ausschied. Vor allem, da der Abschaum hatte entkommen können, der Jordan auf dem Gewissen hatte.”
Coop presste seine Lippen zusammen. “Du meinst, die Täter wurden nie gefasst?”
Julia schüttelte den Kopf. “Sie sind spurlos verschwunden. Frank glaubt, dass sie ihre Basis in einen anderen Bundesstaat verlegt haben. Vielleicht sogar nach Mexiko.”
Sie machte eine kurze Pause, dann murmelte sie: “Er fehlt mir so sehr. Er war mein Kumpel, mein bester Freund. Und er hat Andrew geliebt.”
“Andrew”, sagte Coop kopfschüttelnd. “Wie hat er das aufgenommen, innerhalb eines Jahres einen Onkel und seinen Vater zu verlieren?”
“Nicht sehr gut. Er hatte vor Jordan noch nie etwas mit dem Tod zu tun gehabt, und ich musste es ihm erklären. Ich danke Gott für Frank und seine Frau, und natürlich für Mom. Ich weiß nicht, was ich ohne sie gemacht hätte.”
“Du hättest einen Weg gefunden, um deinem Sohn zu helfen, daran habe ich keinen Zweifel.” Coop sah sie liebevoll an. “Du warst ein so starkes, kleines Mädchen. Und für ein Mädchen in deinem Alter so klug. Du hast anderen immer Ratschläge gegeben, du hast sie getröstet und bemuttert.”
Überrascht sah sie ihn an: “Das weißt du noch?”
“Ich habe nichts vergessen, was meine Kinder angeht.”
Langsam, fast schon ängstlich schob Coop seine große schwielige Hand über das Polster und drehte die Innenfläche nach oben.
Julia zögerte einen Moment, dann legte sie ihre Hand in seine.
“Wach auf, Schlafmütze.” Julia saß auf Andrews Bett und rüttelte ihn sanft.
Andrew murmelte etwas Unverständliches. Julia beugte sich vor und küsste ihn auf die Stirn. Er war noch nie ohne Abendessen zu Bett gegangen und musste halb verhungert sein.
“Andrew?” Sie schüttelte ihn wieder, diesmal etwas fester. “Hier ist jemand, der dir Hallo sagen will.”
Mit einem Mal war er hellwach, als hätte sein kindlicher Radar, der in den letzten Tagen noch wachsamer zu sein schien, ihm einen Hinweis gegeben. Als er Coop in der Türöffnung sah, ließ er einen Freudenschrei los, sprang aus dem Bett und stürzte seinem Großvater in die Arme.
“Bleibst du hier?” Seine großen blauen Augen strahlten, als er ihn ansah.
“Sieht ganz so aus.”
Julia sah die beiden und spürte in ihrem Herzen ein leichtes Ziehen. Sie hoffte, dass sie sich richtig entschieden hatte, indem sie Coop bei sich wohnen ließ. Andrew war so vertrauensvoll. Er liebte grenzenlos und bedingungslos. Aber konnte sie ihrem Vater trauen? Was, wenn er wieder zu trinken begann? Was, wenn er plötzlich wieder verschwand und Andrew das Herz brach?
Einen Arm um Coops Hüfte gelegt, drehte sich Andrew zu Julia um. “Danke, Mom.”
“Gern geschehen.” Sie fuhr ihm durchs Haar. “Grandpa wird erst mal hier bleiben, bis er eine eigene Unterkunft gefunden hat. Du wirst also noch viel Zeit mit ihm verbringen können. Aber jetzt musst du dich erst mal für die Schule fertig machen, okay?”
“Okay.”
Während Andrew ins Badezimmer rannte, drückte Coop Julias Arm und ging dann zurück in die Küche, wo er und Steve darüber diskutierten, welches Baseballteam der National League es in die Play-offs schaffen würde.
Julia nahm Eier und Milch aus dem Kühlschrank und dachte an die nächste Hürde, die jetzt vor ihr lag.
Sie musste ihrer Mutter erzählen, dass Coop zurückgekehrt war. Und das würde verdammt schwierig werden.
“Er ist hier?” Entsetzt starrte Grace sie an. “In Monterey?”
Julia nickte zaghaft, während sie im Wohnzimmer ihrer Mutter saß, umgeben von vertrauten Möbelstücken und alten Erinnerungen.
“O mein Gott.” Als befürchte sie, dass ihre Beine den Dienst versagen würden, nahm Grace in einem der dunkelblauen Sessel Platz.
“Wie hat er dich gefunden?” fragte Grace. “Wo ist er gewesen? Was will er?”
“Er ist rumgezogen und hat sich so durchgeschlagen. Als er letzte Woche das von Paul hörte, ist er hergekommen, um zu sehen, ob er mir helfen kann.”
“Helfen?” Grace sprang aus dem Sessel. “Geht es ihm noch gut? Haben wir ihn um seine Hilfe gebeten? Hat er in den letzten dreiundzwanzig Jahren einmal seine Hilfe angeboten?”
“Und er wollte Andrew sehen.”
Grace' Stimme wurde höher, während sie hin- und herlief. “Das ist wieder typisch. Kein Wort die ganze Zeit über, nicht mal ein Anruf. Und taucht einfach so auf.” Sie blieb vor dem Sofa stehen und begann, die Kissen aufzuschütteln. “Er hat vielleicht Nerven.”
“Er hat sich verändert, Mom.”
“O bitte.” Sie drehte sich um und lächelte so bitter, dass es fast wie ein Grimasse aussah. “Du bist doch nicht auf diesen alten Trick reingefallen, oder? Und du hast ihn hoffentlich nicht in die Nähe von Andrew gelassen?”
“Ich hatte keine andere Wahl”, erwiderte Julia. “Andrew war da, als er eintraf. Ich war nicht da, ich war mit dir unterwegs.”
Grace atmete tief ein und ließ die Luft langsam wieder aus ihren Lungen entweichen. “Na gut. Ich schätze, das war nicht zu verhindern. Wo ist Coop jetzt?”
Julia machte sich innerlich auf die Reaktion bereit. “Auf der 'Hacienda'.”
“Was meinst du damit, auf der 'Hacienda'? Du hast gesagt …” Ungläubig riss sie ihre Augen weit auf. “Er wohnt bei dir?”
“So lange, bis er etwas Eigenes gefunden hat.”
“O Julia.” Grace ließ sich wieder in den Sessel sinken. “Was hast du nur getan?”
“Was hätte ich denn sonst machen sollen, Mom?”
“Du hättest ihm sagen können, dass er sich dorthin zurückscheren soll, wo er hergekommen ist.”
“Das habe ich gemacht. Zuerst war ich so wütend wie du im Augenblick. Ich habe ihn angebrüllt, ich habe ihn beschimpft, ich habe ihm gesagt, er soll uns in Ruhe lassen. Aber Andrew war am Boden zerstört. Ich konnte es ihm nicht verständlich machen, Mom.” Sie machte eine kurze Pause, dann fügte sie an. “Ich wollte es auch nicht. Erst recht nicht nach allem, was er durchgemacht hat.”
“Und so wie immer”, sagte Grace spitz, “hat Coop die Situation ausgenutzt.”
Von einer Loyalität gegenüber ihrem Vater getrieben, die sie nicht erklären konnte, schüttelte Julia den Kopf. “Nein, das hat er nicht. Nachdem ich ihm meine Meinung gesagt hatte, ist er zurück zu seinem Motel gegangen. Erst als mir Steve von seinem Vater …”
Grace zog die Augenbrauen zusammen. “Was hat Steves Vater damit zu tun?”
“Er ist gestorben. Bevor Steve seine Differenzen mit ihm beilegen konnte. Ich habe mich gefragt, was wäre, wenn Coop sterben würde? Vielleicht im Motel, keinen Kilometer von meinem Haus entfernt? Wie würde ich mich fühlen? Wie würde ich das meinem Sohn erklären?”
“Und jetzt ist Coop in deinem Haus und plündert unter Garantie deinen Spirituosenvorrat oder stiehlt dir dein Geld. Oder beides.”
“Das wird er nicht. Nicht, solange er in der Nähe von Andrew ist. Außerdem ist er trocken. Er geht zu den Anonymen Alkoholikern.”
Grace gab einen sarkastischen Laut von sich. “Und wie lange soll das anhalten?”
“Ich weiß es nicht, Mom, aber er hat es einen ganzen Monat lang geschafft. Das ist vielleicht nicht viel, doch es ist wenigstens etwas. Vielleicht schafft er es diesmal mit ein wenig Hilfe, auf Dauer durchzuhalten.”
“Er wird dir wehtun, ganz sicher”, gab Grace kühl zurück. “Und er wird Andrew wehtun. Vielleicht nicht absichtlich, aber er wird es machen. Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Und bring ihn nicht her.” Ihr Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an, den Julia nur zu gut kannte. “Ich möchte ihn nicht sehen.”
Das Geräusch eines Wagens, der in die Einfahrt fuhr, unterbrach sie. Grace ging zum Fenster und schob die weiße Gardine zur Seite. “Ich sehe mal, wer das ist.”
Julias Blick folgte ihrer Mutter, bis sie außer Sichtweite war, dann wanderte er langsam durch das Zimmer. Abgesehen von dem Fehlen des Hochzeitsfotos ihrer Eltern, das vor langer Zeit weggestellt worden war, hatte sich im Haus überhaupt nichts verändert. Grace hatte alles unberührt gelassen, nicht einmal die Möbel verrückt. Sie hatte es machen wollen, oft sogar, um die Vergangenheit auszulöschen. Aber jedes Mal, wenn Julia oder Jordan angeboten hatten, ihr zu helfen, fand sie immer irgendeine Ausrede, um es auf ein anderes Mal zu verschieben.
Es war ein gutes Zuhause, dachte Julia, während ihr Blick all die vertrauten Stellen erfasste. Der Geruch, eine Mischung aus Schokoladenkeksen und Möbelpolitur, war noch immer da und weckte schöne Erinnerungen. Dieses Haus hatte glückliche Zeiten genauso wie verzweifelte erlebt.
Ihre Gedanken wurden unterbrochen vom Geräusch der Haustür, als die ins Schloss fiel. Dann kehrte Grace ins Wohnzimmer zurück und trug einen Schuhkarton.
“Was ist das?” fragte Julia.
“Jordans Audiocassetten. Ich hatte dir doch erzählt, dass Paul sie sich letzten Monat ausgeliehen hatte, weil er hoffte, dass sie ihm bei seiner Arbeit in der Kommission zur Verbrechensbekämpfung helfen könnten.” Sie stellte den Karton vor sich auf den Tisch. “Detective Hammond hat sie in Pauls Haus entdeckt und mitgenommen als potenzielles Beweisstück.”
“Hat er was gefunden?”
“Offenbar nicht. Das war einer von seinen Männern. Er hat gesagt, Detective Hammond sei damit durch und ich könne die Kassetten jetzt zurückhaben.”
Julia erinnerte sich nur zu gut an Jordans Leidenschaft für ungelöste Verbrechen. Er war genauso penibel wie stur und verbrachte Tage, manchmal Wochen damit, Polizeiakten durchzugehen, jedes Beweis zu inspizieren, die verschiedenen Zeugenaussagen zu lesen, um dann seine Erkenntnis auf Band zu sprechen. Ein- oder zweimal hatte sich seine Ausdauer bezahlt gemacht, als er einen Fall lösen konnte. Aber meistens machte er es aus bloßer Freude am Ermitteln.
Julia beugte sich vor und las die Aufkleber, die Jordan von Hand beschriftet hatte. Plötzlich stutzte sie. “Warte mal. Hast du mir nicht gesagt, du hättest Paul acht Kassetten gegeben?”
“Ja.”
Julias Finger gingen rasch über die Kassetten. “Das sind nur sieben.”
“Wie ist denn das möglich?” Grace zählte die Bänder nach, dann sah sie Julia an. “Meinst du, Detective Hammond hat es gefunden und mir nichts davon gesagt?”
Julia griff bereits nach dem veilchenblauen Telefon auf dem Beistelltisch. “Das möchte ich gerade herausfinden.”
Als der Beamte den Hörer abnahm, kam Julia sofort auf den Punkt. “Detective, hier ist Julia Bradshaw. Ich rufe an wegen der Kassetten meines Bruders, die Sie uns haben zurückbringen lassen.”
“Was ist mit ihnen?”
“Wissen Sie noch, wie viele Kassetten Sie in Pauls Haus gefunden hatten?”
“Sieben Stück. Warum?”
“Meine Mutter sagt, dass sich in dem Karton, den sie Paul letzten Monat gegeben hatte, acht Kassetten befanden.”
Nach einer kurzen Pause sagte Hammond: “Ist sie sich ganz sicher?”
Julia blickte zu Grace, die sie eindringlich ansah. “Sie ist absolut sicher. Sie hat Paul acht Bänder gegeben.”
Der Detective am anderen Ende der Leitung war ruhig. Sie hörte, wie er in einer Akte blätterte. “Wir haben nur sieben Kassetten hier vermerkt”, sagte er nach einiger Zeit. “Ich habe das Formular vor mir liegen.”
“Dann fehlt eine.”
“Ich gehe noch mal ins Haus und sehe mich um. Sie könnte noch dort sein, auch wenn ich das bezweifele. Meine Leute übersehen normalerweise solche Dinge nicht.”
Julia spürte eine plötzliche Aufregung. “Rufen Sie mich an, wenn Sie zurück sind?”
Sie hörte, wie er seufzte. “Mrs. Bradshaw, ich bin ein sehr beschäftigter Mann …”
Julia wollte sich nicht abwimmeln lassen. “Das weiß ich. Aber ich habe an diesen Ermittlungen großes Interesse, Detective. Wenn es auch nur den leisesten Hinweis darauf geben sollte, dass man etwas herausgefunden hatte, das mich entlasten könnte, dann habe ich sicher ein Recht darauf, das zu wissen, oder meinen Sie nicht?”
“Ich melde mich bei Ihnen”, sagte er mürrisch und legte auf.
“Und jetzt?” fragte Grace, nachdem Julia den Hörer zurückgelegt hatte.
“Ich muss zurückfahren, aber ich rufe dich an, sobald ich etwas von Hammond gehört habe.”