16. KAPITEL

“Ich fürchte, das wird dir nicht gefallen.” Luther Aldridge warf einen Blick auf die Akte vor sich auf dem Schreibtisch. “Um es kurz zu machen, Charles: Du hast nichts in der Hand.”

Charles betrachtete den Mann, der seit über drei Jahrzehnten sein Anwalt war, und fragte sich, warum er ihn immer noch behielt. “Dann sorg dafür, dass ich etwas in der Hand habe, Luther. Ich zahle dir nicht fünfhundert Dollar pro Stunde, damit du Däumchen drehst.”

Offenbar unbeeindruckt von der Bemerkung, lehnte sich Luther in seinem Sessel zurück. “Ich weiß, dass du das nicht hören wolltest, aber ich muss es dir so direkt sagen. Deine Chancen, das Sorgerecht für Andrew zu erhalten, sind gleich null. Man hat Julia nicht wegen des Mordes an Paul angeklagt, und ehrlich gesagt glaube ich auch nicht, dass es dazu kommen wird. Es sei denn, die Polizei findet noch handfeste Beweise.”

“Dann vergiss die handfesten Beweise und konzentriere dich darauf, dass Julias Vater wieder in der Stadt ist und unter einem Dach mit meinem Enkel lebt.”

“Womit du was sagen willst?” fragte Luther kühl.

“Womit ich verdammt noch mal sagen will, dass Coop ein Säufer ist, ein Mann, der seine Familie im Stich gelassen hat und jetzt zurückgekehrt, um sich bei seiner Tochter durchzuschnorren. Was für ein Vorbild ist das für einen Sechsjährigen?”

“Ich fürchte, dass du das völlig falsch siehst, Charles. Erstens trinkt Cooper Reid nicht mehr. Er ist seit über einem Monat trocken, er geht zu den Anonymen Alkoholikern und hilft im Gasthaus aus. Zweitens: Was Andrew angeht, verehrt der nach Schilderung von Joe und Vera Martinez, deren Sohn der beste Freund von Andrew ist, seinen Großvater. Wenn dich das fuchst”, fügte er an, als Charles einen ungeduldigen Laut von sich gab, “dann tut es mir Leid.”

“Leid tun ist nicht genug”, sagte Charles säuerlich. “Du solltest vernichtende Informationen über Coop ans Tageslicht bringen, keinen jubelnden Bericht.”

“Das versuche ich dir ja gerade zu erklären. Es gibt nichts Vernichtendes über Coop, er ist ein geläuterter Mann.”

“Okay, okay”, sagte Charles ungeduldig. “Vergiss den heiligen Coop. Was ist mit der 'Hacienda'? Wie hält sie sich?”

Luther schüttelte den Kopf. “Keine große Veränderung. Julia hat zwar nur einen Gast, aber sie hat sich etwas ausgedacht, um Geld einzunehmen.”

“Ich traue mich kaum zu fragen”, sagte Charles sarkastisch.

Luther ignorierte die Bemerkung. “Sie beginnt mit einer Reihe von Gourmetkochkursen. Nach allem, was ich gehört habe, scheint das gut anzukommen. Wenn du also darauf hoffst, dass der 'Hacienda' das Wasser bis zum Hals steht, dann musst du dich auf eine weitere Enttäuschung gefasst machen.”

Charles verdaute die Neuigkeit. So sehr er es auch hasste, musste er doch zugeben, dass Julia eine erfinderische Frau und vielleicht sogar eine bessere Geschäftsfrau war, als er gedacht hatte. Aber er würde Andrew nicht aufgeben. Nicht ohne Kampf. “Was schlägst du jetzt vor, wie wir weitermachen können?” fragte er.

Luther zuckte mit den Schultern. “Im Moment gar nicht. Wenn Julia festgenommen wird – und das ist zur Zeit ein großes 'Wenn' –, könntest du eine Chance haben. Aber ich würde nicht darauf zählen. Julia wird das Sorgerecht wahrscheinlich vorübergehend auf ihre Mutter übertragen. Es gibt keinen Grund, warum das Gericht dem nicht zustimmen sollte. Grace Reid ist über jeden Zweifel erhaben und mühelos in der Lage, sich um ihren Enkel zu kümmern.”

Nachdem sie weitere zehn Minuten in diesem Stil diskutiert hatten, verließ Charles die Anwaltskanzlei in der Alvarez Street und wünschte sich, er wäre zu Hause geblieben. Als er auf den Fußweg trat, war er sofort von einer Schar Reporter umlagert, von denen er einige sehr gut kannte.

Froh über diese Gelegenheit, seinen Ansichten Ausdruck zu verleihen, blieb er auf der Türschwelle stehen, während sich Syd Rimer, ein Kolumnist des San Francisco Star, in die vorderste Reihe vorkämpfte.

“Mr. Bradshaw, was sagen Sie zu der Möglichkeit, dass Gleic Éire hinter dem Anschlag auf Ihren Sohn steht, also die Gruppe, die auch Ihre Tochter umgebracht hat?”

“Das ist eine lächerliche Annahme”, erwiderte Charles scharf. “Völlig unbegründet.”

“Wollen Sie damit sagen, dass die Polizei ihre Zeit verschwendet, wenn sie dieser Spur nachgeht?”

Charles erhob eine Hand. “Das habe ich nicht gesagt. Die Polizei macht nur ihre Arbeit, und dazu gehört es, jede Möglichkeit zu untersuchen. Aber was mich angeht, gibt es keinen Beweis, dass Gleic Éire darin verwickelt ist.”

“Aber Sie meinen, dass es genügend Beweise gegen Julia Bradshaw gibt?” fragte jemand.

Charles sah zu dem Reporter, der die letzte Frage gestellt hatte, und sah einen großen Mann mit Sonnenbrille und Boston-Red-Sox-Kappe. Er konnte ihn nicht erkennen, aber er wusste, dass er nicht aus der Gegend war. Kein Reporter aus Monterey würde es wagen, in diesem Ton mit ihm zu reden.

“Ja, das glaube ich”, erwiderte er und sah, wie sich der Mann seinen Weg durch die Menge bahnte. “Und das glauben auch die guten Bürger von Monterey. Julia Bradshaw hat meinen Sohn getötet, und ich will, dass sie dafür bestraft wird. Ich vertraue unserer örtlichen Polizei. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich bin in Eile.”

“Welchen Beweis haben Sie denn dafür, dass Julia Bradshaw Paul ermordet hat?” Der Tonfall des Mannes klang wie eine Herausforderung. “Oder sagen Sie das nur, um sie in Misskredit zu bringen, damit Sie das Sorgerecht für Julias Sohn bekommen?”

Charles blieb bei dieser unverhohlenen Attacke fast die Luft weg. Er straffte seine Schultern und warf dem Zwischenrufer, der nicht der Erste war, mit dem er sich in seinem Leben abgegeben hatte, einen eisigen Blick zu.

“Wie heißen Sie, junger Mann?” fragte er. “Und für welche Publikation arbeiten Sie?”

“Warum beantworten Sie nicht einfach die Frage?”

Charles sah ihn giftig an. “Ich versuche nicht, irgendjemanden in Misskredit zu bringen. Ich äußere nur meine Meinung, die auf dem beruht, was ich weiß.”

“Und was genau wissen Sie, Mr. Bradshaw?” Der Reporter machte noch einen Schritt nach vorne und blieb direkt vor Charles stehen.

Charles' Herz pochte wie wild in seiner Brust. Er traute seinen Augen kaum.

Trotz der Sonnenbrille hätte er dieses Gesicht immer wieder erkannt. Das war Steve Reyes, ein Mann, den er fast so sehr hasste wie die Männer, die seine Tochter auf dem Gewissen hatten.

Angesichts der Kameras, die von allen Seiten auf ihn gerichtet waren, zwang sich Charles, Ruhe zu bewahren. Er würde sich von diesem Bastard nicht in aller Öffentlichkeit in eine Auseinandersetzung hineinziehen lassen.

“Wenn Sie das nicht wissen”, sagte er schließlich unter Aufbietung aller Selbstbeherrschung, “dann haben Sie die Bezeichnung Reporter nicht verdient.”

Dann ging Charles etwas steifer als üblich an ihm vorbei zu seinem Wagen, der am Straßenrand geparkt war.

Charles benötigte genau viereinhalb Minuten, um herauszufinden, wann Steve Reyes in die Stadt gekommen war und wo er wohnte. Als er hörte, dass der Reporter der New York Sun ein Zimmer in der “Hacienda” gebucht hatte, wurde aus seinem Zorn ein ausgewachsener Wutausbruch.

Da Garrett der Einzige war, der von Sheilas Affäre mit Steve Reyes wusste, begab er sich sofort ins Büro seines Freundes. “Wusstest du, dass Steve Reyes in der Stadt ist?” fragte er den Polizeichef ohne Umschweife.

“Ja”, erwiderte Garrett ruhig.

“Warum hast du mir das nicht gesagt?”

“Weil ich nicht noch mehr Ärger haben will, Charles. Ich muss mir um genug Dinge Gedanken machen, oder ist dir das noch nicht aufgefallen?”

Charles beugte sich über den Schreibtisch. “Ich möchte, dass er aus der Stadt verschwindet.”

Garrett verzog den Mund. “Vor Sonnenuntergang, richtig?”

“Sprich nicht so mit mir, Garrett.”

“Dann führ dich nicht auf wie ein Vierjähriger. Steve Reyes hat niemandem etwas getan. Ich habe damals dafür gesorgt, dass er nicht zu Sheilas Beerdigung kommt, weil ich das Gefühl hatte, dass du ein Recht darauf hattest, deine Tochter im engsten Familienkreis zu beerdigen. Aber ich kann und werde ihn nicht aus der Stadt weisen. Der Mann macht nur seine Arbeit.”

“Er macht mich lächerlich!”

“Dann nimm es mit ihm auf. Aber bleib um Gottes willen ruhig. Du wirst nichts dadurch lösen, dass du einen Herzanfall bekommst.” Garrett drehte sich in seinem Stuhl um, sah aus dem Fenster und lachte kehlig. “Na, wer sagts denn? Hier hast du schon deine Gelegenheit.”

Charles folgte Garretts Blick und sah, dass Reyes gerade das Polizeigebäude verlassen hatte und zum anderen Ende des Parkplatzes ging. “Was macht er hier?” murmelte er.

“Wahrscheinlich hat er mit Hammond gesprochen. Hank scheint den Kerl zu mögen.”

Charles war bereits aus dem Büro gestürmt.

“Reyes!”

Steve erkannte Charles' Stimme und drehte sich um. “Ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauern würde, ehe Sie mich aufgespürt haben.”

Einen Moment lang musterten sich die beiden Männer wie zwei Feinde, die versuchten, die Stärken ihres Gegenübers einzuschätzen. Und die Schwächen.

“Wie können Sie es wagen, noch einmal in dieser Stadt aufzutauchen?” fragte Charles, während er auf Steve zumarschierte. “Ich dachte, ich hätte mich beim letzten Mal klar ausgedrückt. Ich wollte Sie nie wieder in meiner Stadt sehen.”

Steve lehnte sich gegen den Range Rover und verschränkte die Arme. “Wenn ich mich nicht irre, ist das ein freies Land.”

“Was wollen Sie hier?”

Steve hob die Schultern. “Was ich seit acht Jahren will – Sheilas Mörder finden und vor Gericht bringen.”

“Hier werden Sie sie nicht finden.”

“Das überlassen Sie doch bitte mir. Wenn das für Sie ein Problem ist, dann …”

“Sie sind mein Problem, Reyes. Ich will, dass Sie aus meiner Stadt verschwinden.”

Charles' herablassender Tonfall ließ in Steve das Verlangen aufkommen, diesem sturen alten Bock eine Lektion zu erteilen. Er wusste, dass er nicht viel ausrichten konnte, wenn er wegen eines tätlichen Angriffs auf den ehemaligen Gouverneur im Gefängnis landete, und öffnete langsam seine Hand, die er zur Faust geballt hatte.

“Die Zeit ist vorüber, in der Sie mich nach Belieben springen lassen konnten, Bradshaw.” Steves Stimme zerschnitt wie ein Messer die Luft, und für einen Moment lang hatte er die Genugtuung zu sehen, wie Charles zusammenzuckte.

“Da ich aber weiß”, fuhr er fort, “wie sehr Sie die Vorstellung hassen, ein unterprivilegierter Einwanderer könnte mit Ihrer Familie verbunden sein, können Sie sich ruhig entspannen. Ich habe nicht die Absicht, irgendjemandem davon zu erzählen, dass Sheila und ich heiraten wollten. Und”, fügte er an und genoss den Ausdruck rasender Wut auf Charles' Gesicht, “dass Sie von ihr verlangt haben, ihr Kind abzutreiben, damit der kostbare Name Bradshaw nicht in den Schmutz gezogen wird. So haben Sie es doch formuliert, nicht wahr, Charles? Das waren exakt Ihre Worte.”

Charles hatte seine Augen zu schmalen Schlitzen verengt. “Sie war noch ein Kind, und Sie haben ihre Unschuld schamlos ausgenutzt. Wenn Sie nicht gewesen wären und ihr nicht diese Lügen erzählt hätten, dann hätte sie meine Worte befolgt. Sie wäre nach Hause gekommen.”

“Und wenn sie nicht so sehr darauf aus gewesen wäre, Ihrer Tyrannei zu entkommen, wäre sie gar nicht erst von zu Hause fortgegangen. Haben Sie daran schon mal gedacht?”

Die Bemerkungen schienen ins Schwarze getroffen zu haben. Charles' Gesicht wurde knallrot, und über seiner rechten Schläfe pulsierte eine kleine Ader. “Bastard.”

Steve verzog den Mund zu einem Lächeln. “Schließen Sie von sich auf andere, Charles?”

Der Exgouverneur sah ihn eine Minute lang an, sein Blick war so hart und unerbittlich wie an dem Tag, an dem sich die beiden Männer zum ersten Mal begegnet waren. Steve hatte immer daran geglaubt, dass Zeit und Trauer einen Menschen sanfter werden lassen. Für Charles Bradshaw galt das nicht. Er war noch immer der gehässige, arrogante Dreckskerl, der er sein ganzes Leben lang gewesen war.

Als Charles sich schließlich abwandte und fortging, sah Steve ihm einen Moment lang nach. Und plötzlich tat ihm der Mann Leid. Er hatte einmal so viel besessen, und jetzt hatte er nichts mehr. Er würde den Rest seines Lebens ganz allein in seinem großen, schicken Haus verbringen.

Leise seufzend öffnete Steve die Tür des Landrovers, stieg ein und fuhr mit Ziel Salinas ab, wo er ein Treffen mit Eli Seavers' Nachbarin vereinbart hatte.

Dank Jennifer Seavers, die alle notwendigen Vorbereitungen getroffen hatte, war Esther Hathaway einverstanden gewesen, Steves Fragen zu beantworten und ihn anschließend in Elis Haus zu lassen.

“Ich weiß allerdings nicht, was Sie da drin finden wollen”, hatte die Frau am Telefon zu Steve gesagt. “Diese FBI-Agenten haben nach Gottweißwas gesucht und das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Sie haben ein schreckliches Durcheinander hinterlassen, Jennifer und ich haben zwei Tage lang aufgeräumt.”

Steve erkannte an ihrem Tonfall, dass weder die FBI-Agenten noch die Polizei von Monterey auf sie einen guten Eindruck gemacht hatten. Vielleicht konnte er das zu seinen Gunsten nutzen.

Esthers Haus war zehn Minuten vom Zentrum Salinas' entfernt. Es stand am Ende einer langen Straße, die sich durch mehrere Kilometer fruchtbaren Ackerlandes zog – ein kleines gelbes, einer Ranch ähnliches Gebäude mit weißen Fensterläden und einem altmodischen weißen Jägerzaun. Elis Haus, das ähnlich aussah, aber kleiner war, befand sich direkt auf der gegenüberliegenden Seite. Vor dem Eingang war ein “Zu verkaufen”-Schild aufgestellt worden.

Er traf Esther im Garten an, wo sie verwelkte Gänseblümchen abschnitt und in einen Papierbeutel warf, der zu ihren Füßen stand. Sie war eine kleine weißhaarige Frau mit sanftem Lächeln und intelligentem Blick.

“Oh!” rief sie aus, als Steve ihr einen beeindruckenden Farn übergab, den er in einem Blumenladen in Monterey gekauft hatte. “Das ist aber nett von Ihnen, Mr. Reyes.”

“Jennifer hat mir gesagt, dass Sie Farne mögen.”

Sie drückte die Pflanze liebevoll an sich, während sie Steve ins Haus führte. “Ich liebe Farne. Die können ja eine solche Herausforderung sein, nicht wahr?”

“Ich habe nicht die geringste Ahnung.” Er folgte ihr und trat seine Schuhe mehrmals auf der dicken Türmatte ab. “Ich schätze, ich habe keinen grünen Daumen.”

“Ach, Unsinn. Pflanzen sind Lebewesen, und so wie alle Lebewesen brauchen sie nur ein wenig Liebe und Fürsorge, weiter nichts.”

Im Haus war alles aufgeräumt und makellos sauber, im Wohnzimmer stand eine Tweedgarnitur, und überall lagen Läufer mit goldfarbenen Fransen. Beim Klang ihrer Stimmen kam eine kleine Katze aus dem Hinterzimmer hereingelaufen, sah Steve an, um dann zu ihm zu kommen und sich als Zeichen ihrer Zustimmung an seinem Bein zu reiben.

“Lass meinen Gast in Ruhe, Houdini.” Esther stellte den Farn auf das breite, sonnige Fensterbrett. “Nun”, sagte sie, während sie sich Steve zuwandte. “Kann ich Ihnen eine Zitronenlimonade anbieten? Ich habe immer eine Kanne bereitstehen, falls meine Tochter zu Besuch kommt.”

Da er spürte, dass ein Nein sie verärgern würde, nickte er. “Das wäre sehr nett von Ihnen, Mrs. Hathaway. Vielen Dank.”

Augenblicke später kehrte sie mit einem Tablett zurück, auf dem zwei große Gläser Zitronenlimonade und ein Silberteller mit Ingwerkeksen standen. Nachdem sie sich ihr Glas genommen hatte, setzte sich Esther in einen der Tweedsessel. Houdini, der geduldig abgewartet hatte, sprang sofort auf ihren Schoß und drehte sich erst ein paar Mal im Kreis, ehe er sich endlich schlafen legte.

“Sie sind anders als die anderen”, sagte Esther, während sie die Katze streichelte.

“Die anderen?”

“Die Polizei und diese FBI-Leute. Die sind hier reingestürmt, haben kaum gegrüßt und mich mit Fragen überschüttet, als wäre ich eine Maschine.”

Steve verkniff sich ein Lächeln, als er sich vorstellte, wie Agenten in schwarzen Anzügen in Esthers Wohnzimmer saßen und immer wieder nervös auf die Uhr sahen, während eine einsame, alte Dame mit einer Katze auf dem Schoß versuchte, gastfreundlich zu sein. Er hätte darauf wetten können, dass sie keine Zitronenlimonade hatten trinken wollen.

“Die schmeckt sehr gut”, sagte er, nachdem er in aller Ruhe einen Schluck getrunken hatte. Während Esther zustimmend lächelte, sah er zum Haus auf der anderen Straßenseite. Elis Garten, der nicht so üppig war wie der von Esther, sah gepflegt aus. Steve konnte einen Rasensprenger sehen, der jeden Zentimeter des kleinen Vorgartens beregnete.

“Ich konnte nicht zulassen, dass seine Blumen sterben”, sagte Esther, die seinem Blick gefolgt war. “Die Gartenarbeit war eine der wenigen Freuden, die Eli hatte.”

“Jennifer sagte, Sie hätten sich um sein Haus gekümmert, wenn er auf Reisen war.”

“Nur um seinen Garten”, berichtigte sie ihn. “Und das in der Zeit, bevor er krank wurde. Danach ist er nie wieder weg gewesen.” Sie deutete auf den Teller. “Ein Keks?”

Steve hasste Ingwerkekse, nahm aber trotzdem einen. “Und Sie haben auch nach ihm gesehen, nachdem er erkrankt war.”

“Ach, am Anfang musste ich nicht oft nach ihm sehen. Er war hin und wieder etwas durcheinander, er vergaß meinen Namen. Aber insgesamt ging es ihm gut. Ich habe zwei- oder dreimal in der Woche nach ihm gesehen, um zu hören, ob er irgendetwas brauchte. Es hat mir nichts ausgemacht. Außerdem war er früher immer so nett zu mir gewesen, so aufmerksam. Wissen Sie, er hat immer daran gedacht, mir von seinen Reisen etwas mitzubringen – teure Seife aus Deutschland, Schokolade aus der Schweiz.” Sie deutete auf den Teller mit den Keksen. “Den hat er mir mal aus Frankreich mitgebracht.”

Steve stellte sein Glas ab und betrachtete den Teller genauer. Er war klein, aber hübsch, mit einem eingravierten Blumenmuster und einen bogenförmig geschwungenen Rand.

“Sehr hübsch.” Er sah auf. “Sie sagten, dass Eli Ihnen den aus Frankreich mitgebracht hat?”

Esther nickte. “Aus einem kleinen Antiquitätengeschäft in der Rue Jacob. Die ist in Paris”, fügte sie recht stolz hinzu.

“Wissen Sie noch, wann das war?”

Sie überlegte einen Moment lang. “Sommer 1987, glaube ich. Oder vielleicht Herbst?” Sie hob beiläufig die Schultern. “Ich weiß es nicht mehr genau, aber es war um diese Zeit.”

Steve kommentierte ihre Antwort mit einem Nicken. Wann und wo das Objekt gekauft worden war, ließe sich leicht feststellen. Schwieriger würde es wohl sein, Mrs. Hathaway davon zu überzeugen, sich für ein paar Tage von diesem guten Stück zu trennen.

“Haben Sie den Teller den FBI-Agenten gezeigt?” fragte er.

“Nein … warum?” Sie sah mit einem Mal beunruhigt aus und hörte auf, die Katze zu streicheln. “Daran habe ich nie gedacht. Sie waren auch nur ein paar Minuten hier und haben sich nur für Elis Haus interessiert.”

“Das ist schon in Ordnung, Mrs. Hathaway. Sie haben nichts falsch gemacht.” Er wartete, bis ihre Finger wieder über Houdinis Fell strichen, dann fuhr er fort: “Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich diesen Teller für eine Weile ausleihe und einem Antiquitätenhändler zeige?”

Ihr Gesicht verriet eine gewisse Bestürzung. “Warum um alles in der Welt wollen Sie das denn machen?”

“Ich muss wissen, wo Eli ihn gekauft hat.”

“Das habe ich Ihnen gesagt”, bemerkte sie ein wenig gereizt. “In einer Galerie in der Rue Jacob.”

“Ich bin sicher, dass er ihnen das gesagt hat, aber ich möchte es gerne überprüfen.”

“Sie glauben, dass er gelogen hat.” Ihr Tonfall wurde vorwurfsvoll.

“Das könnte sein.” Steve beugte sich vor. “Vertrauen Sie mir, Mrs. Hathaway?”

Sie straffte ihre Schultern. “Ich kenne Sie nicht, Mr. Reyes.”

Ein erfahrener Reporter und zweifacher Pulitzer-Preisträger hatte ihm einmal gesagt, es gebe zwei Methoden, um Leute zur Kooperation zu bringen. Entweder müsse der Reporter lügen oder die Wahrheit sagen. Der Trick bestand darin, zu wissen, wann welche Methode anzuwenden war.

Nachdem er inzwischen gut eine Viertelstunde mit Esther Hathaway verbracht hatte, fand Steve, dass sie zu schlau war, um sich eine Lüge erzählen zu lassen. “Lesen Sie die Tageszeitungen, Mrs. Hathaway?” fragte er.

“Selbstverständlich.” Sie hob das Kinn. “Und ich sehe CNN.”

Steve verkniff sich ein Lächeln. “Dann wissen Sie, dass Eli Seavers möglicherweise etwas über diese irischen Extremisten wusste, von denen man in letzter Zeit so viel hört. Eine Gruppe namens Gleic Éire?”

Sie nickte knapp. “Darum hat sich das FBI so für sein Haus interessiert. Sie haben gedacht, sie würden etwas über diese schrecklichen Menschen finden.”

“Richtig.”

“Aber sie haben nichts gefunden.”

“Nein.” Unerschütterlich nahm Steve noch einen weiteren Keks und biss ab. “Dieser Teller könnte uns helfen herauszufinden, wohin Eli gereist ist.”

Sie stieß einen ungeduldigen Seufzer aus. “Das habe ich Ihnen doch auch gesagt. Haben Sie nicht zugehört? Er war in Frankreich und Deutschland und manchmal auch in der Schweiz. Ich wäre wirklich froh, wenn alle aufhören würden, ihn für einen Kriminellen zu halten. Eli war ein freundlicher und großzügiger Mann, der zurückgezogen lebte und von anderen das Gleiche erwartete. Warum lassen Sie ihn nicht in Frieden ruhen? Sie und all die anderen?”

In ihrer Aufregung hatte sie die Katze etwas zu heftig gestreichelt, woraufhin Houdini laut miaute und vom Schoß sprang.

“Ich bewundere Ihre Loyalität, Mrs. Hathaway”, sagte Steve ruhig und fragte sich, wie viele Ingwerkekse er noch essen musste, ehe sie beschloss, ihm zu vertrauen. “Aber in Wahrheit könnte Eli woandershin gereist sein, und das werden wir nur herausfinden, wenn wir in alle Richtungen ermitteln.”

Er tippte auf den Tellerrand. “Und das hier könnte unser wichtigster Hinweis überhaupt sein. Ich verspreche Ihnen, dass ich ihn nur ein paar Tage lang behalte. Und ich werde dafür Sorge tragen, dass ihn sich nur die angesehensten Antiquitätenhändler der Halbinsel Monterey ansehen werden.”

“Tja …” Allmählich erwärmte sie sich für den Gedanken. “Da Sie mir die Wahrheit gesagt haben, anstatt mir irgendein Märchen zu erzählen, glaube ich, dass ich Ihnen vertrauen kann. Außerdem hat Jennifer mich gebeten, Ihnen in jeder Hinsicht behilflich zu sein.”

“Ich danke Ihnen, Mrs. Hathaway.” Er sah wieder auf die andere Straßenseite. “Und wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich jetzt gern in Elis Haus umsehen.”

Sie stand auf. “Ich hole die Schlüssel. Nehmen Sie doch noch einen Keks, Sie haben ja so gut wie gar nichts davon gegessen.”