17. KAPITEL

Julias Blicke hafteten auf dem Fernsehbildschirm, als sie ungläubig mit ansah, wie Charles in die Kameras blickte und sie eine Mörderin nannte. Bislang hatte er seine Anschuldigungen eher beiläufig und in Gegenwart nur weniger Leute gemacht, und auch wenn er bei Pauls Beerdigung um seine Gefühle ihr gegenüber keinen Hehl gemacht hatte, war er nie in der Öffentlichkeit gegen sie vorgegangen, erst recht nicht mit einer solchen Heftigkeit.

Kein Wunder, dass jeder sie wie eine Aussätzige behandelte. Warum sollte angesichts solcher Worte, die von einem Mann kamen, der so verehrt wurde, irgendjemand von ihnen anders denken oder handeln?

Als sie erkannte, dass Steve Reyes der Reporter war, der Charles so in Wut versetzt hatte, reagierte sie zunächst verärgert. Wenn er nicht Charles mit seinen Hetzbemerkungen angestachelt hätte, wäre es vielleicht nicht zu diesen Beschuldigungen in aller Öffentlichkeit gekommen. Aber ihre Wut war nur von kurzer Dauer. Sie kannte Charles und wusste, dass diese informelle Pressekonferenz eine Gelegenheit gewesen war, die er nicht ungenutzt hätte verstreichen lassen.

Womit er aber nicht gerechnet hatte, war ein Reporter, der sich vorgenommen hatte, ihn in Misskredit zu bringen und öffentlich bloßzustellen. Nach der Art zu urteilen, wie abrupt Charles das Gespräch beendet und sich einen Weg durch die Menge gebahnt hatte, war Steves Absicht verwirklicht worden.

Während sie zusah, wie der Exgouverneur abzog, wünschte sich Julia, wenigstens ein ganz klein wenig Befriedigung über diesen kleinen Sieg zu spüren. Aber es ging nicht. Charles' schroffe Worte hatten sie zu sehr verletzt. Und ab heute Abend würden Millionen von Kaliforniern diese Worte gehört haben. Welche Hoffnung gab es da, nach einer solchen Breitseite ihr Geschäft noch retten zu können?

Eine gewaltige Müdigkeit versuchte, von ihr Besitz zu ergreifen. Das waren diese Augenblicke, in denen sie einfach nicht weiterkämpfen wollte. Mit einem Mal wünschte sie sich, Andrew zu nehmen, alles hinter sich zu lassen und in eine andere Stadt zu ziehen, die weit weg war von Monterey.

Einen kurzen Moment lang hatte dieser Gedanke etwas Verlockendes. Sie würde ein neues Leben beginnen, frei von Verdächtigungen oder Misstrauen oder der ständigen Angst, man könnte ihr Andrew wegnehmen.

Die Erkenntnis, dass sie damit auf der Flucht sein würde und in jeder Minute ihres Lebens über ihre Schulter blicken müsste, ließen sie innehalten. Was machte sie da? Sie war kein Feigling. Hier waren ihre Wurzeln, die Menschen, die sie liebten. Und dazu zählte auch ihr Vater, der zu einem wichtigen Teil ihrer Familie geworden war. Wie konnte sie das zurücklassen und sich nicht so fühlen, als würde sie alles im Stich lassen?

Sie verdrängte ihre Ängste, stand auf, brachte ihren Teller mit den nicht angerührten Sandwiches zur Spüle und versuchte, Charles aus ihren Gedanken zu verbannen.

Noch immer aufgebracht über seinen Schlagabtausch mit Steve Reyes, warf Charles die Haustür hinter sich ins Schloss, schleuderte seinen Schlüsselbund auf einen Tisch im Foyer und ging in den Salon, um sich einen wohlverdienten Drink zu gönnen.

Dieser aufgeblasene, arrogante Bastard! Für wen hielt er sich, dass er so mit einem Bradshaw sprach? Dass er seine Anweisungen missachtete? Und was zum Teufel machte er in der “Hacienda”? Vermutlich schmiedete er gemeinsam mit Julia Pläne, wie sie ihn bloßstellen konnten.

“Gut, dass Sie zu Hause sind”, sagte seine Haushälterin hinter ihm. “Ich möchte mit Ihnen reden.”

Charles seufzte gereizt. Er kannte diesen Tonfall und wusste, dass sich Pilar auf dem Kriegspfad befand.

Er winkte ungeduldig ab. “Nicht jetzt, Pilar.”

“Si, señor, jetzt.” Sie stellte sich vor ihn und stemmte ihre zierlichen Fäuste in die Hüften. “Ich habe etwas zu sagen, das nicht warten kann.”

“Sie haben immer irgendwas zu sagen”, murmelte Charles. Er wusste, dass jeder weitere Protest sinnlos war, also ging er hinüber zur Bar und schenkte sich einen Scotch ein. Einen doppelten. “Also gut, raus damit. Was habe ich Schreckliches verbrochen?” Er drehte sich um und begegnete Pilars stechendem Blick. “Habe ich meine getragenen Hemden im Badezimmer auf dem Boden liegen lassen? Haben Sie wieder nasse Handtücher im Bett gefunden? Was?”

“Sie haben sich ganz schön was eingebrockt, das haben Sie gemacht.”

Charles trank einen Schluck von seinem Scotch. “Ich weiß nicht, wovon Sie reden.”

“Dann werde ich's Ihnen sagen.” Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn finster an. “Was haben Sie sich dabei gedacht, vor laufender Kamera Julia vorzuwerfen, sie hätte Ihren Sohn umgebracht? Wissen Sie, was Sie Andrew damit antun, wenn er das erfährt?”

“Wenn Sie meine Erklärungen gegenüber der Presse heute meinen, da waren keine Fernsehkameras, Pilar, nur Zeitungsreporter.”

“Nein, Mr. B. WKYS war da und hat Sie in den 12-Uhr-Nachrichten gezeigt. Ich habe es gesehen.” In ihren dunklen Augen loderte Zorn. “Wie können Sie sagen, dass Sie das Kind lieben, und ihm dann so etwas antun? Sie wissen, wie sehr er an seiner Mutter hängt.”

“Ich habe keine Kamera gesehen”, sagte Charles verbohrt, obwohl er nicht sicher war, ob es überhaupt einen Unterschied gemacht hätte. Nachdem Reyes ihn so unverschämt angegriffen hatte, war es ihm egal gewesen, wer ihn hatte hören können.

“Sie haben keine Kamera gesehen, weil Sie zu sehr damit beschäftigt waren, Julia schlecht zu machen”, fuhr Pilar fort. “Das ist das Einzige, was Sie in den letzten Tagen interessiert.”

“Gut, Pilar, das reicht. Sie haben gesagt, was Sie sagen wollten, jetzt …”

“Ich bin noch nicht fertig.” Sie legte ihre Hände auf die Rückenlehne eines grünen Damastsessels. “Ich arbeite seit dreißig Jahren in diesem Haus. Ich habe Ihnen und Mrs. B. geholfen, die Kinder großzuziehen, und Gott ist mein Zeuge, dass ich sie geliebt habe, als wären sie meine eigenen gewesen.”

“Ich weiß, dass …”

Sie hob beschuldigend einen Finger und zeigte auf Charles. “Aber es gibt Dinge, die habe ich nie gutheißen können. Dazu gehört auch, wie Sie Julia behandelt haben. Als wäre sie nicht gut genug gewesen für Ihren Sohn und für die Bradshaws insgesamt.”

Charles öffnete den Mund, sah seine Haushälterin an und schloss ihn wieder.

“Das arme Kind hat sich alle Mühe gegeben, um sich einzufügen”, redete Pilar weiter. “Und um Paul zu gefallen. Wenn er sich nur halb so viel Mühe gegeben hätte wie sie, wären sie vielleicht immer noch verheiratet. Aber das blieben sie nicht, und natürlich gaben Sie ihr die Schuld. Sie haben sich nie gefragt, ob Paul irgendetwas getan haben könnte, das Julia zum Auszug bewogen haben könnte. Und jetzt soll sie ins Gefängnis für etwas gehen, das sie nicht verbrochen hat? Und Sie wollen ihr den Jungen abnehmen?” Sie schüttelte den Kopf. “Oh, Mr. B., das ist falsch, sehr falsch sogar.”

“Sind Sie jetzt fertig?” fragte Charles ruhig.

“Ja.” Sie nickte kurz. “Ich bin fertig.”

“Also gut, dann bin ich jetzt an der Reihe. Erstens wäre Andrew bei mir besser aufgehoben. Hier hätte er geordnete Verhältnisse und die Art von Erziehung, die er verdient. Und zweitens hat Paul nichts mit Julias Auszug zu tun. Er hatte vielleicht seine Fehler, aber er war ein guter Ehemann …”

“Er war ein mieser Ehemann”, warf Pilar ein.

“Wie können Sie das sagen? Julia war diejenige, die ihn enttäuscht hat, als sie ihn verließ.”

“Sie wissen nicht, warum sie gegangen ist?”

“Natürlich weiß ich das. Sie konnte den Stress nicht aushalten, die Frau eines Politikers zu sein. Das hat sie selbst gesagt.” Er schüttelte angewidert den Kopf. “Ich weiß nicht, was in die heutigen Frauen gefahren ist. Immer machen sie ihre eigenen Dinge, sie haben keine Zeit, und sie interessieren sich nicht für die Karriere ihres Mannes. Man könnte fast meinen, dass Loyalität zum Schimpfwort geworden ist.”

“Julia war Paul gegenüber loyal”, sagte Pilar sehr leise. “Mehr als Sie wissen. Darum hat sie nie etwas gesagt.”

Charles senkte sein Glas. “Worüber hat sie nie etwas gesagt?”

Pilar sah ihn misstrauisch an. “Sie wissen es wirklich nicht? Oder ist es Ihnen zu peinlich, um darüber zu sprechen?”

“Ich habe Ihnen doch gerade …”

Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. “Nicht diese fadenscheinige Geschichte vom Stress. La verdad, señor. Die Wahrheit.”

“Welche Wahrheit, um Himmels willen?”

Pilar hielt Charles' Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. “Paul hat sie geschlagen.”

Charles hätte nicht schockierter sein können, wenn im gleichen Augenblick das Haus um ihn herum in sich zusammengefallen wäre. Er sah seine Haushälterin an und überlegte, ob die Jahre ihr zu schaffen gemacht hatten und sie senil geworden war.

“Sehen Sie mich nicht so an”, sagte Pilar ernst. “Ich bin nicht loca.”

“Und wie kommen Sie dann auf etwas derart Verrücktes?”

“Ich bin auf gar nichts gekommen. Ich habe Augen und kann sehen. Julia hat versucht, den Schmerz zu verbergen, innerlich und äußerlich.” Sie schüttelte den Kopf. “Aber mich hat sie nicht täuschen können.”

“Sie haben sich das doch einfach nur ausgedacht!”

“Nein, Mr. B., das habe ich nicht. Ich habe versucht, sie dazu zu bringen, dass sie mit mir darüber spricht. Sie wissen schon, von Frau zu Frau. Aber sie hat nur gelächelt und sagt, es gehe ihr gut. Sie sei nur müde. Aber jemand, der nur müde ist, verzieht nicht das Gesicht, wenn er aus einem Sessel aufsteht. Und er läuft auch nicht, als hätte er einen Stock verschluckt.”

Charles spürte, wie sich etwas Kaltes in seiner Magengrube festsetzte. “Paul hätte nie eine Frau geschlagen”, sagte er. “Erst recht nicht seine Ehefrau.”

“Paul war ein zorniger Mann. Ich konnte es in seinen Augen sehen und seiner Stimme hören. Sie nicht?”

Charles setzte sich hin. “Ich glaube Ihnen kein Wort.”

“Warum fragen Sie nicht Julia?”

Charles schwieg. Was Pilar ihm erzählt hatte, ergab keinen Sinn. Paul hatte noch nie zu Gewalt geneigt, und er hätte nie im Leben Julia geschlagen. Dafür hatte er sie viel zu sehr geliebt.

Aber warum fühlte er sich mit einem Mal so, als sei er um zehn Jahre gealtert? Und warum war er plötzlich von Zweifeln erfüllt?

Er trank sein Glas aus. Vielleicht würde der Alkohol das alles verschwinden lassen.

“Möchten Sie jetzt Ihr Mittagessen?” Pilars Stimme war wieder sanfter geworden, so wie nach jedem guten Streit.

“Ich habe keinen Hunger.” Er reichte ihr sein leeres Glas. “Ich nehme lieber noch einen hiervon.”

“Um ein Uhr mittags? Auf leeren Magen?” Sie gab einen missbilligenden Laut von sich. “Das glaube ich nicht.”

“Verdammt, Pilar, wer zum Teufel ist in diesem Haus der Boss?”

Sie machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. “Falls Sie Ihre Meinung über das Mittagessen ändern – ich bin in der Küche.”

Dann drehte sie sich um und ging aus dem Zimmer.

Entgegen Julias Befürchtungen wirkten sich Charles' Anschuldigungen nicht abträglich auf ihren Kochkurs aus. Seit der Nachrichtenmeldung hatte das Telefon nicht mehr stillgestanden. Zu ihrer Überraschung waren die Anrufer keine Reporter oder irgendwelche Verrückten, sondern Leute, die auf ihre Flyer reagierten. Nach nicht einmal einer Stunde hatte sie neunzehn Männer und Frauen zusammen, von denen einige sogar aus Pebble Beach kamen und die alle an ihrem Kurs teilnehmen wollten. Die große Nachfrage machte es für sie erforderlich, zwei Kochkurse in Folge zu planen. Der erste würde in wenigen Tagen anfangen, der zweite irgendwann im Juli. Wenn diese Glückssträhne anhielt, würde ihr die Publicity sogar noch ein paar Übernachtungen einbringen.

Da Steve in Salinas war und sich in Elis Haus umsah und Coop mit Andrew zum Baseballtraining gegangen war, herrschte Ruhe im Gasthaus, die sie nutzte, um Menüs vorzubereiten und eine Liste der Zutaten zusammenzustellen, die sie für den ersten Kurs benötigte.

Sie würde den Tisch im Salon decken, mit der antiken Decke, die sie vor Jahren von ihrer Großmutter erhalten hatte. Darauf würde sie ihr bestes Porzellan und frische Blumen aus dem Garten stellen. Mit ein wenig Glück würde das Mahl selbst zu einem unvergesslichen Ereignis und tagelang zum Gesprächsthema von hier bis Sand City werden. Mundpropaganda war alles, das war ihr klar.

Sie ging ihr Rezept für Poulet Normand durch, als jemand an der Tür klopfte. Es war Detective Hammond. Anstatt des braunen Anzug trug er heute einen dunkelblauen, der nicht ganz so zerknittert war. Seine ruhige, fast bedauernde Art, in der er sie ansah, ließ sie seufzen.

Ihre Schultern sackten herab. “Sie haben das Band nicht gefunden, richtig?”

“Nein.” Er steckte die Hände in die Taschen und folgte ihr in die Küche. “Wir haben zu dritt jeden Zentimeter im Haus Ihres Exmannes abgesucht, aber nichts gefunden. Es tut mir Leid”, fügte er in einem Tonfall an, als würde er das wirklich so meinen.

Julia lehnte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Armen gegen die Kochinsel. Der kurze Hoffnungsschimmer, den sie im Haus ihrer Mutter verspürt hatte, war verschwunden. “Sind Sie sicher, dass Sie wirklich überall gesucht haben?” Aber noch als sie diese Worte sprach, wusste sie, dass es eine dumme Frage war. Wenn Hammond eines war, dann gründlich.

Sein Blick ruhte auf einer Schale mit Schokoladenkeksen, die sie zum Abkühlen hingestellt hatte. “Ganz sicher.”

“Dann muss es irgendwo anders sein.”

“Oder der Mörder hat es gefunden und vernichtet.”

Julia entging nicht die Andeutung in diesen Worten. “Heißt das, Sie betrachten mich nicht länger als verdächtig?”

Sie glaubte, ein leises Lachen zu hören. “Legen Sie mir nichts in den Mund, Mrs. Bradshaw. Ich halte mir nur meine Optionen offen, weiter nichts.”

Als sie bemerkte, dass er wieder auf die Schale sah, holte sie einen Kuchenteller aus dem Schrank und legte drei Kekse darauf. “Ich hoffe nicht, dass das als Bestechung ausgelegt wird”, sagte sie gelassen. “Ich möchte nicht meine Situation verschlimmern.”

“Das bleibt unser Geheimnis.” Hammond nahm einen Keks und biss ein großes Stück ab. “Mmmm.” Er nickte zustimmend. “Hervorragend. Wo haben Sie gelernt, so zu backen?”

“Bei meiner Mutter in der Küche, danach im French Culinary Institute in San Francisco.”

“Meine Frau kann nicht kochen”, sagte er mit vollem Mund. “Sie lässt alles anbrennen.”

Julia nahm einen Flyer von dem Stapel auf der Kochinsel und reichte ihn ihm. “Wenn das so ist, warum geben Sie ihr nicht das hier?”

Hammond las, während er weiteraß. “Ein Kochkurs? Wann haben Sie sich denn dazu entschlossen?”

Sie zog ein großes Einweckglas heran und sortierte die abgekühlten Kekse hinein. “Als mir klar wurde, dass ich meine Rechnungen nicht würde bezahlen können.” Sie sah ihn von der Seite an. “Wie Sie sehen, Detective, muss man nicht zum Mörder werden, um sich aus einem finanziellen Engpass zu befreien. Es gibt immer einen anderen Weg.”

Hammond sagte dazu nichts. Er kaute noch immer, als er den Flyer zweimal längs faltete und ihn in seine Brusttasche steckte. “Ich werde das meiner Frau sagen.”

Den dritten Keks aß er auch noch, auf den vierten, den Julia ihm anbot, verzichtete er dann. “Danke, aber ich muss gehen. Ich will noch vor Feierabend das Haus von Charles Bradshaw durchsuchen, nur für den Fall, dass Paul das Band dort versteckt hatte.”

“Charles?” Sie konnte sich kaum vorstellen, dass ihr Exschwiegervater dabei behilflich sein müsste, ihren Namen reinzuwaschen. “Wird er Ihnen das gestatten?”

Hammond wischte die Krümel vom Revers. “Er wird gar keine andere Wahl haben. Wenn ich gleich im Revier ankomme, wird der Durchsuchungsbefehl schon auf mich warten.”