23. KAPITEL
Hammond traf mit einem Ermittlerteam kurz nach dem Anruf ein und ließ die “Hacienda” gründlich durchsuchen.
Während einer seiner Männer Fingerabdrücke nahm, notierte Hammond erst Julias Aussage, dann die von Steve.
Julia hatte unterdessen einen gelben Frotteebademantel angezogen und setzte sich in einen der Sessel. Während die Angst sie hartnäckig umklammert hielt, sah sie zu, wie Steve Hammond über die Ereignisse informierte. Der Reporter war ein Muster an Ruhe und Selbstbeherrschung. Er sprach gleichmäßig und mit neutraler Stimme, als hätte er derartige Situationen dutzendweise erlebt. Sie dagegen fühlte sich wie auf einer Achterbahn – im einen Moment auf dem Weg nach oben, im nächsten nach unten. Ohne zu wissen, wann diese irrsinnige Fahrt eine Ende haben würde.
Julia legte die Arme um sich, ohne das Frösteln vertreiben zu können, und sank tiefer zurück in den Sessel, um von etwas Vertrautem umgeben zu sein.
“Mrs. Bradshaw?”
Sie machte einen Satz. Als sie erkannte, dass Detective Hammond mit ihr gesprochen hatte, sah sie auf. “Entschuldigen Sie. Haben Sie etwas gesagt?”
“Ja. Sie haben erwähnt, dass der Einbrecher Sie mit Ihrem Vornamen angesprochen hat. Haben Sie seine Stimme erkannt?”
Julia dachte einen Moment lang nach. So viele Menschen in dieser Stadt waren gegen sie, aber sie konnte sich niemanden vorstellen, der sie so sehr hassen würde und der bösartig genug wäre, um eine Waffe auf sie zu richten und Andrews Leben zu bedrohen. “Nein. Er hat immer nur geflüstert.”
Sie lachte müde und sah zu dem Kupferkessel auf dem Tresen. “Er hatte einen Dickschädel, wenn das irgendwie weiterhilft.”
Hammond sah Julia mit einem seltsamen Lächeln an. “Ich werde das vermerken. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich die Pfanne gerne mitnehmen.” Er nickte einem der Labormitarbeiter zu, der die Pfanne nahm und in einen Plastikbeutel steckte. “Vielleicht kleben ein oder zwei Haare daran. Und wenn wir sehr viel Glück haben, sogar Blutreste.”
Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: “Übrigens. Nicht, dass ich Sie unnötig beunruhigen will. Aber der Eindringling hat nicht das bekommen, wonach er gesucht hat. Es besteht also die Gefahr, dass er wieder kommt. Wahrscheinlich nicht mehr heute Nacht. Ich würde Ihnen gerne einen Polizisten in Uniform vors Haus stellen, aber wie üblich sind wir unterbesetzt.”
“Kein Problem, Detective.” Steve deutete auf den anderen Sessel. “Ich werde heute Nacht hier bleiben.”
“Gut.” Er sah sich um und bemerkte, dass seine Leute zusammenpackten. “Dann sind wir hier wohl fertig. Rufen Sie mich an, wenn noch etwas passiert.” Er sah zu Steve. “Meine Privatnummer haben Sie ja, stimmts?”
“Ja, Hank. Danke. Für alles.”
Steve und Coop begleiteten ihn hinaus, dann hörte Julia, wie die Tür geschlossen und verriegelt wurde.
Als die beiden Männer in die Küche zurückkehrten, ging Coop zum Herd, um Wasser aufzusetzen, während sich Steve in den anderen Sessel setzte.
“Wir werden diesen Kerl schon finden”, sagte er ruhig. “Egal, was es kostet.”
Julia, die sich noch immer wie betäubt fühlte, nickte und sah, wie er ihre Hände umfasste.
“Deine Finger sind eiskalt.” Er rieb sie kräftig.
“Ich habe Angst. Nicht um mich, sondern um Andrew. Er könnte ihm etwas antun.”
“Das werde ich nicht zulassen.”
“O Steve”, sagte sie ungeduldig. “Du kannst nicht vierundzwanzig Stunden am Tag auf ihn aufpassen. Niemand kann das.”
Coop kam herüber und reichte ihr einen Becher mit heißem Kamillentee. “Ich schon.”
Sie zwinkerte irritiert, während sie ihm den Becher abnahm. “Was? Wie?”
“Ich kann ihn mitnehmen in Spikes Berghütte. Da ist er in Sicherheit. Und du musst dir keine Sorgen machen.”
Julia erinnerte sich an Spikes Hütte und daran, wie viel Spaß sie als Kind dort gehabt hatte beim Fischen, Bergsteigen und Beobachten der Vogelwelt. Sie erinnerte sich auch an den finsteren, unheimlichen Wald, an das Heulen der wilden Tiere in der Nacht, die vielen Schilder, die die Wanderer warnten, bestimmte Gebiete nicht zu betreten.
“Das ist zu gefährlich”, sagte sie, sobald ihre Mutterinstinkte wieder die Oberhand gewonnen hatten. “Ich wäre die ganze Zeit über ein nervliches Wrack.”
“Ich werde schon auf ihn aufpassen.” Coop nahm ihr Kinn zwischen zwei Finger und brachte sie dazu, ihm ins Gesicht zu sehen. “Und wenn du dir Sorgen machst, ich könnte wieder anfangen zu trinken, dann hör auf damit. Ich habe dir mein Wort gegeben, und ich habe nicht die Absicht, es zu brechen.”
“Ich mache mir nicht deinetwegen Gedanken”, sagte sie unumwunden. “Ich vertraue dir, Dad. Es ist nur … Andrew ist ein kleiner Junge, und er braucht mich.”
Coop lächelte. “Du warst fünf, als ich dich zum ersten Mal mit zur Hütte genommen habe. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich von dir in dieser einen Woche irgendwelche Klagen gehört habe. Wenn ich mich nicht täusche, wolltest du sogar überhaupt nicht mehr nach Hause zurück.”
“Das ist etwas anderes”, protestierte sie. “Er hat gerade seinen Vater verloren, er braucht Sicherheit. Er muss wissen, dass ich für ihn da bin.”
Aber noch während sie sprach, sah sie vor ihrem geistigen Auge Bilder, die zeigten, was alles hätte geschehen können, wenn Andrew hier gewesen wäre. Sie musste ihren Sohn beschützen.
Coop legte ihr eine Hand auf die Schulter. “Lass es mich bitte für dich tun, Julia. Ich bin hergekommen, weil ich dir helfen wollte, aber bislang habe ich mich noch nicht sehr nützlich machen können.”
“Das ist nicht wahr!” wandte sie ein. “Du bist fantastisch gewesen.”
“Coop hat Recht”, warf Steve ein. “Solange dieser Verrückte noch frei herumläuft, wäre es für Andrew besser, wenn er woanders ist.”
“Und was ist mit der Schule?” fragte sie und griff nach dem erstbesten Vorwand.
“Bis zu den Sommerferien sind es nur noch drei Tage”, bemerkte Steve. “Wenn du seiner Lehrerin die Situation erklärst, wird sie das bestimmt verstehen. Vor allem, weil die Nachricht vom Einbruch morgen früh ohnehin in der ganzen Stadt bekannt ist.”
Er hat Recht, dachte Julia, als ihr die Drohungen des Angreifers wieder durch den Kopf gingen. Ob zu Hause, in der Schule oder bei seinem Freund – Andrew würde immer ein Ziel abgeben. Die einzige andere Alternative war, ihn nicht aus dem Haus zu lassen und rund um die Uhr zu bewachen. Aber nicht mal das war eine Garantie für seine Sicherheit.
Bei Coop wäre er sicher. Sie drückte die Finger auf ihre Augenlider und begann ihn schon jetzt zu vermissen. Sie überlegte, wie lange es wohl dauern würde, ehe die Polizei den Angreifer gefasst hätte. Tage? Wochen?
Denk an Andrew. Das sagte sie sich immer und immer wieder, wie ein Mantra, bis sie sich stark genug fühlte, das zu tun, was getan werden musste.
“Also gut”, sagte sie und sah ihrem Vater in die Augen. “Bring ihn in die Berghütte, Dad.”
“Okay.” Coop stand auf. “Nachdem wir das geklärt haben, wäre es ganz gut, wenn wir uns alle wieder schlafen legen würden. Es wird schon bald hell.”
Nachdem Coop nach oben gegangen war, rutschte Julia bis zur Kante ihres Sessels. “Was den Rest der Nacht angeht”, sagte sie, als Steve sich erhob, “musst du nicht hier unten bleiben und Wache schieben. Du hast gehört, was Hammond gesagt hat. Der Einbrecher kommt bestimmt nicht heute Nacht zurück.”
“Ich bleibe, Julia, also hör schon auf damit.”
Er wurde von einem kurzen, grellen Lichtblitz am Fenster unterbrochen.
Erschrocken sprang Julia auf. “Was war das?”
“Ein Kamerablitz. Bleib hier.”
Zum zweiten Mal in dieser Nacht jagte Steve hinter einem Eindringling her. Diesmal aber verlieh die Wut ihm Flügel, und diesmal, das schwor er sich, würde er den Bastard nicht entwischen lassen.
Gerade wollte der Fremde nach rechts in die Via del Rey einbiegen, als Steve mit ausgestreckten Armen auf ihn zusprang. Sie stürzten beide hin und rollten den Abhang hinunter. Als sie endlich liegen blieben, schrie der Mann, der unter Steves Körper in der Falle saß, eine Warnung.
“Wenn Sie mir nur ein einziges Haar krümmen, werde ich Sie verklagen!”
“Mich verklagen?” Steve riss ihn herum und setzte sich rittlings auf dessen Oberkörper. “Freundchen, so lange wirst du gar nicht leben.” Er packte das Hemd des Mannes und schüttelte ihn heftig. “Wer zum Teufel bist du?”
“Mein Name ist Ron Kendricks.” Mit zitternden Fingern wühlte er in seiner Hemdtasche und zog einen Presseausweis hervor. “Ich bin Reporter.”
“Na, sieh mal an”, sagte Steve und packte fester zu. “Du bist doch das Stück Dreck, das Julia Bradshaw belästigt.”
“Ich mache nur meine Arbeit, Reyes.”
“Tatsächlich?” Steve entdeckte die Kamera, die im Rinnstein gelandet war, ließ Kendricks los und ging, um sie aufzuheben.
“Hey!” Kendricks rappelte sich auf, als Steve gerade die Klappe an der Kamera öffnete. “Was soll das?”
Steve antwortete nicht, sondern zog den Film heraus und zerknüllte ihn.
“Hey, du Hurensohn. Du vergehst dich an meinem Eigentum, verdammt!”
“Und das hier ist Privatbesitz, auf den du eingedrungen bist. Also verschwinde.”
Kendricks machte einen Schritt nach vorne, um seinen Film zu holen, überlegte es sich dann aber noch einmal. “Sie werden dafür büßen, Reyes.”
Steve warf ihm die Kamera zu. “Verschwinde.”
Er wartete auf dem Fußweg, bis Kendricks außer Sichtweite war, erst dann ging er zur “Hacienda” zurück.
Julia trat einen Schritt zur Seite, um Steve ins Haus zu lassen. “Das war Kendricks, nicht wahr?”
“Der miese, kleine Bastard”, murmelte er.
Julia war besorgt, als sie in Steves Augen für einen Moment Zorn aufblitzen sah, und beobachtete ihn, wie er die Tür verriegelte. “Was hast du mit ihm gemacht?”
“Nicht genug.” Steve warf den unbrauchbar gewordenen Film auf den Couchtisch. Ein flüchtiges Lächeln spielte um seinen Mund. “Was glaubst du, was ich mit ihm gemacht habe?”
“Ich weiß nicht, aber nach deinem Gesichtsausdruck zu urteilen, als du ihm nachgelaufen bist, dachte ich, du würdest ihn zu Brei schlagen.”
“Mit dem Gedanken hatte ich gespielt.”
Sie lachte nervös auf, spürte aber, wie die Anspannung, die sich in der letzten Stunde aufgestaut hatte, ein wenig nachließ. “Ich bin sicher, er hätte nichts Besseres verdient. Ich hoffe nur, er hat seine Lektion gelernt und kommt nicht wieder.”
“Oh, der kommt wieder”, sagte Steve und erntete von ihr einen beunruhigten Blick. “Solche Typen kommen immer wieder. Nicht heute Nacht, und auch bestimmt nicht, wenn ich da bin. Aber er wird einen Weg finden, wie er sich hier wieder einschleichen kann.”
“Na, wunderbar.”
“Mach dir keine Sorgen.” Steve sah aus dem Fenster nach draußen, wo wieder alles ruhig war. “Ich rede nachher mit Hammond über eine einstweilige Verfügung. Jetzt solltest du dir erst mal den Rat deines Vaters zu Herzen nehmen und schlafen. Du siehst so aus, als könnte es dir gut tun.”
Sie bezweifelte, dass sie würde schlafen können, sagte ihm aber nichts davon. “Du musst doch sehr müde sein. Kann ich dich denn gar nicht dazu überreden, dass du die Nacht doch in deinem Bett verbringst?”
“Nein, also versuchs gar nicht erst.”
Julia unterdrückte ein Lächeln. “Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du unglaublich stur bist?”
“Meine Schwester erzählt mir das ständig.”
Sie unterdrückte ein Gähnen. “Du brauchst Bettwäsche.”
“Hole ich mir aus meinem Zimmer. Geh schlafen, Julia.”
Sie war zu müde, um mit ihm zu diskutieren.
Er konnte nicht schlafen. Nicht, dass er überhaupt erwartet hatte, einschlafen zu können. Überraschenderweise waren es aber nicht die nächtlichen Ereignisse, die ihn wach hielten, sondern das geistige Bild von Julia in ihrem dünnen, kurzen Nachthemd.
Er hatte die beiden Sessel zusammengeschoben und es sich in dem behelfsmäßigen Bett einigermaßen bequem gemacht und sah zu den Schatten an der Decke. Es hat alles so harmlos angefangen, dachte er. Er hatte einfach nur die Gegenwart einer hübschen Frau wahrgenommen und einen harmlosen, kleinen Flirt folgen lassen. Wie oft hatte er sich diesem Zeitvertreib schon hingegeben und nichts Komplizierteres als reines Vergnügen erlebt?
Julia hatte sich dagegen irgendwie anders auf ihn ausgewirkt. Und heute Nacht, als er plötzlich aufgewacht war und erkannt hatte, dass jemand hier unten war und ihr möglicherweise wehtat, hatte sich etwas in ihm geregt. In dem Moment, in dem er leise aus dem Bett geklettert war, hatte er gewusst, dass die Person, die ihr auch nur ein Haar krümmen würde, ein toter Mann wäre.
Steve sah in den dunklen Flur, der zum Schlafzimmer führte. Zu wissen, dass sie dort war und friedlich schlief und sich vielleicht sogar sicher durch seine Anwesenheit fühlte, erfüllte ihn mit einem sonderbar wohligen und warmen Gefühl, wie er es seit Jahren nicht mehr erlebt hatte.
Jesus! Er fuhr sich durchs Haar. Immer hatte er seine Gefühle unter Kontrolle gehabt und darauf geachtet, dass ihm niemand so unter die Haut ging. Was zum Teufel geschah mit ihm?
Du beginnst, dich in sie zu verlieben, Alter.
Und er hatte nicht die geringste Ahnung, was er machen sollte, denn all seine Gedanken kreisten nun um Julia.
Um Andrew nicht unnötig Angst einzujagen, hatte Julia nichts von dem nächtlichen Angreifer erwähnt, als sie ihn am nächsten Morgen bei den Martinez abholte. Steves Vorschlag entsprechend hatte sie erklärt, dass ein neugieriger Reporter um die “Hacienda” schlich, um Fotos zu machen, und sie Andrew deshalb nicht im Haus haben wollte.
Er hatte nicht viel dagegen einzuwenden, erst recht nicht, als er hörte, mit wem und wohin er stattdessen fahren würde.
Jetzt, da die Zeit des Tränenvergießens drohte, sah Julia ihm zu, wie er aus dem Haus kam, seine Angel in einer Hand, den Roboter in der anderen. Unter den Arm hatte er sich zudem ein paar seiner Lieblingsvideos geklemmt.
Sie lächelte tapfer. “Wenn du noch eine Runde durch dein Zimmer machst, müssen wir einen Pick-up mieten.”
“Nee.” Andrew legte die Angel in den Kofferraum von Coops Buick. “Ich bin fertig.”
Sie drückte ihn fest an sich und erinnerte ihn daran, jeden Tag anzurufen und auf seinen Großvater aufzupassen. “Ich liebe dich, Schatz”, sagte sie und schluckte, während sie versuchte, den Kloß in ihrem Hals zu ignorieren.
“Ich liebe dich auch, Mom.” Er sah zu Steve und streckte ihm die Hand entgegen, dann aber zuckte er nur kurz mit den Schultern und umarmte ihn ebenfalls.
Julia konnte an Steves Gesichtsausdruck erkennen, dass der spontane Liebesbeweis ihn völlig unvorbereitet getroffen hatte. Aber die Fassungslosigkeit hielt nicht lange an. Er hob Andrew hoch und drückte ihn an sich. “Hab viel Spaß, Kleiner.”
“Mach ich.”
Wenige Augenblicke später waren Andrew und Coop angeschnallt und fuhren hupend und winkend los.
Julia biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu weinen, und sah zu, wie der Wagen die Zufahrt entlangfuhr. Als Steve einen Arm um ihre Schultern legte, lehnte sie sich an ihn und war froh über eine körperliche und moralische Stütze an ihrer Seite. “Ich weiß, dass er nicht weit weg ist”, sagte sie. “Und ich weiß auch, dass er in guten Händen ist, aber …”
“Aber du bist seine Mutter und wirst dich immer um ihn sorgen.” Er küsste sie auf die Wange. “Komm mit”, sagte er und drehte sie herum. “Ich mache dir mein sofort wirkendes Allheilmittel.”
Sie sah ihn an, da sie nicht wusste, was sie erwartete. “Was soll das sein?”
“Café Cubano. Der hebt garantiert deine Laune.”
Sie brachte ein Lächeln zustande. “Und er erhöht den Blutdruck.”
“Oh.” Er drückte sie etwas stärker an sich. “Ich hatte gehofft, dass ich das auch ohne künstliche Anregungsmittel schaffen kann.”
Mit einem Lachen folgte sie ihm ins Haus.
“Coop?” Grace sah Julia an, als habe sie den Verstand verloren. “Du hast deinen Sohn, dein Ein und Alles, deinem Vater anvertraut? Einem Mann, der seine eigenen Kinder nicht mal vor einer streunenden Katze beschützen konnte?”
“Dad wird gut auf Andrew aufpassen, Mom. Ich weiß, dass du dir wegen seiner Alkoholprobleme Sorgen machst, aber er hat mir geschworen, dass er nie wieder einen Drink anrühren wird, und ich glaube ihm.”
Wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war ihre Mutter unerbittlich, und so warf sie Julia jetzt auch einen durchdringenden Blick zu. “Wenn du wolltest, dass Andrew in Sicherheit ist, warum hast du ihn dann nicht zu Charles gebracht? Sein Haus ist eine Festung. Und du kannst über den Mann sagen, was du willst, aber er liebt Andrew und hätte gut auf ihn geachtet.”
“Ich will das nicht abstreiten. Und ich hätte auch kein Problem damit, ihn Charles anzuvertrauen. Vor allem jetzt nicht mehr, wo … sich die Dinge zwischen uns verändert haben.”
“Und warum hast du es nicht gemacht?”
“Weil Andrew sich bei Charles zu Tode langweilen würde. Wenn er aber mal für einige Zeit von zu Hause wegkommt, hat er vielleicht ein wenig Spaß.”
Grace zuckte resigniert mit den Schultern und begann zum dritten Mal, den Stapel Zeitschriften auf dem Couchtisch zu ordnen. “Du bist die Mutter, also nehme ich an, dass ich deinen Instinkten trauen muss. Ich möchte aber feststellen, dass es mir nicht gefällt.”
Sie ließ die Zeitschriften liegen und wandte sich Julia zu. “Geht es Andrew denn gut? Hast du von ihm gehört?”
“Es geht ihm gut. Wir haben telefoniert, bevor ich hergekommen bin.” Sie lächelte. “Ich soll dich von ihm grüßen. Und ich soll dir ausrichten, dass du auch hinkommen und etwas Zeit mit ihm und Coop verbringen sollst.”
Grace' Wangen röteten sich ein wenig. “Das hat er nicht gesagt.”
“Ich schwöre dir, er hat es gesagt. Er hat mich viel über dich und Dad gefragt. Ich habe ihm so viel beantwortet, wie ich konnte, aber ich glaube, den Rest solltest du ihm erklären.”
Grace verzog säuerlich das Gesicht. “Ich habe nichts dazu zu sagen …”
“Mom …”
Grace fuchtelte ungeduldig mit der Hand. “Nicht im Augenblick, Julia, bitte. Ich bin noch zu aufgeregt über das, was dir letzte Nacht zugestoßen ist, da kann ich nicht über meinen nutzlosen Ehemann diskutieren.”
Julia fühlte sich augenblicklich schuldig. “Ich wollte nicht, dass du dir meinetwegen Sorgen machst, Mom. Mir geht es gut, und daran wird sich auch nichts ändern. Steve sorgt schon dafür.”
Im gleichen Augenblick verschwand Grace' Verärgerung. “Das ist gut. Aber was ist mit der Polizei? Versucht die überhaupt, den Mann zu fassen, der dich angegriffen hat?”
“Natürlich. Detective Hammond geht auf der Via del Rey von Tür zu Tür, um zu erfahren, ob jemand etwas gesehen hat. Steve fragt auch rum, aber bislang ohne Ergebnis.”
Es sei denn, dachte Julia, sie haben etwas gesehen und sagen es nur nicht. Das wäre keine Überraschung gewesen, wenn man überlegte, wie die Stadt zu ihr stand.
Auf ihrem Platz gegenüber von Julia auf der sonnigen Veranda des “Clock Garden” in der Abrego Street ignorierte Penny ihren Hummersalat und stützte beide Ellbogen auf den Tisch. “Ich kann es nicht glauben, dass dieser Dreckskerl eine Waffe auf dich gerichtet hat”, sagte sie mit vor Verärgerung bebender Stimme. “Ich wünschte, Steve hätte ihn erwürgt, als er die Gelegenheit dazu hatte.”
Julia lächelte. “Penny, ich wusste gar nicht, dass du eine sadistische Ader hast.”
“Wie kannst du darüber bloß Witze reißen?”
“Weil ich sonst den Verstand verliere.” Als Penny endlich zu essen begann, fing auch Julia an und schnitt ein Stück von ihrer gegrillten Flunder ab. “Mir geht es gut”, fügte sie hinzu. “Und was noch viel wichtiger ist: Andrew geht es gut.”
“Ja.” Penny spießte ein Stück Hummer mit der Gabel auf. “Gott sei Dank.” Sie kaute schweigend, bevor sie wieder zu Julia sah. “Frank möchte, dass du bei uns wohnst, bis sie den Kerl gefasst haben.”
Julia schüttelte den Kopf. “Das geht nicht, Penny. Ich habe ein Geschäft zu führen.” Sie lächelte. “Außerdem ist Steve da, und du kannst mir glauben, dass wir in letzter Zeit praktisch unzertrennlich sind.”
“Hmmm.” Penny imitierte Groucho Marx, indem sie die Augenbrauen auf viel sagende Weise hob und senkte. “Keine schlechte Sache, wenn du mich fragst.”
Julia blickte auf ihren Teller. “Unter anderen Umständen würde ich dir zustimmen. Steve ist charmant, und er lenkt mich ab, aber im Moment mache ich mir zu viele Gedanken über diesen Wahnsinnigen, der wieder kommen könnte, als dass ich über die Liebe nachdenke.”
“Dann hör auf, dir Sorgen zu machen.” Penny nahm die Flasche Evian und füllte ihr Glas wieder auf. “Frank war sicher, dass du unsere Einladung ausschlagen würdest. Deshalb hat er ein paar Kollegen gebeten, Tag und Nacht regelmäßig in deiner Straße zu patrouillieren. Das ist nicht das Gleiche wie einen uniformierten Polizisten vor der Tür zu haben, aber es sollte helfen.”
Überrascht lehnte sich Julia zurück. “O Penny, das hätte er nicht machen sollen. Er könnte Ärger bekommen.”
“Nein, bekommt er nicht. Ein paar Leute waren ihm noch einen Gefallen schuldig. Das läuft bei den Jungs ständig so.”
Julia schüttelte den Kopf. “Ich scheine allen Leuten nur Unannehmlichkeiten zu bereiten. Meinem Vater, der praktisch über Nacht in eine Stresssituation geraten ist. Steve, der meint, er müsse mich jetzt Tag und Nacht bewachen. Frank, du, meine Mutter.”
“Hörst du endlich auf?” fragte Penny und lehnte sich vor. “Wir lieben dich, das sind für uns keine Unannehmlichkeiten, um Gottes willen.”
“Ich weiß. Ich bin nur einen Moment lang in meinem Selbstmitleid versunken. Das kommt in letzter Zeit des Öfteren vor.” Sie wusste, dass sie keinen Bissen mehr schlucken würde, und schob ihren Teller zur Seite. “Ich will mein Leben zurückhaben, Penny. Mein einfaches, ruhiges Leben mit Andrew, so wie früher.”
“Genau so wie früher?” fragte Penny mit einem Blitzen in den Augen. “Bist du sicher, dass du nicht wenigstens eine neue Sache dazuhaben möchtest?”
Julias sinkende Laune besserte sich ein wenig. “Jetzt, wo du es sagst”, erwiderte sie und beschloss, sich auf Pennys Kosten ein wenig zu amüsieren. “Ich könnte im Parterre noch ein Badezimmer gebrauchen.”
Penny gab Julia einen spielerischen Klaps auf die Hand. “Ach, hör auf.”
“Eleanor, was für eine angenehme Überraschung.”
Julia öffnete die Tür, um ihre frühere Nachbarin ins Haus zu lassen. Eleanor Bailey war einer der wenigen Menschen in Monterey, die sie nach ihrer Scheidung von Paul nicht schief angesehen hatten. Julia vermutete sogar, dass die ältere Frau genau wusste, was sich hinter den verschlossenen Türen des hübschen Tudor-Hauses abgespielt hatte, in dem Julia und Paul gelebt hatten. Sie war aber so diskret, dass sie nie ein Wort gesagt hatte.
Julia hatte sie seit der Beerdigung nicht mehr gesehen, und auch da war es nur ein kurzer Augenblick gewesen. Doch heute blieb Eleanors Gesichtsausdruck unverbindlich und zeigte keine Spur von dem freundlichen Lächeln, das Julia so vertraut war. Sie wollte nicht einmal ins Haus kommen.
“Ich wollte nur das Kochbuch zurückbringen, das ich mir bei dir vor Monaten ausgeliehen hatte”, sagte sie und wich ihrem Blick aus.
Julia sah auf das Buch, das Eleanor ihr gegeben hatte, und war etwas irritiert über das kühle Verhalten der Frau. “Das hatte keine Eile”, sagte sie. “Aber ich freue mich, dass du vorbeigekommen bist.” Sie zog Eleanor ins Haus. “Komm rein. Lass uns neuen Klatsch austauschen, ich mache uns einen Kaffee. Vielleicht habe ich sogar noch ein paar Haferkek…”
“Ich kann nicht bleiben.”
Julia ließ sie los. “Stimmt etwas nicht?”
“Nein, ich bin nur in Eile, sonst nichts.”
Julia spürte aber, dass das nicht alles war, und sorgte sich wegen der plötzlichen Veränderung ihrer alten Freundin. “Bist du wütend auf mich?” hakte sie nach. “Habe ich dir etwas getan?”
Schließlich sah die alte Frau Julia an, die in ihren Augen eine Mischung aus Traurigkeit und Enttäuschung entdeckte.
Julia fühlte, wie sich eine eisige Hand um ihr Herz legte. “Oh, Eleanor, du glaubst nicht etwa diesen albernen Gerüchten, dass ich Paul getötet habe, oder? Du weißt doch, dass das nicht stimmt.”
Eleanor wirkte noch unglücklicher und steuerte auf die Tür zu. “Ich hätte nicht herkommen sollen”, sagte sie und winkte Julia aus dem Weg.
Julia kam zu dem Schluss, dass sie die Lage nur klären konnte, wenn sie ihre ehemalige Nachbarin direkt darauf ansprach, und stellte sich ihr in den Weg. “Eleanor, wir beide kennen uns seit langem, und wir hatten immer ein gutes Verhältnis. Aber du fühlst dich jetzt in meiner Gegenwart nicht behaglich, und ich möchte den Grund dafür wissen!”
“Manche Dinge spricht man besser nicht aus”, erwiderte Eleanor hartnäckig. Sie sah kurz in Julias Richtung, konnte ihr aber nicht in die Augen blicken. “Darum habe ich der Polizei auch nichts gesagt.”
Perplex schüttelte Julia den Kopf. “Der Polizei nichts gesagt? Worüber?”
“Dass ich dich in der Nacht gesehen habe, in der Paul starb.” Sie nahm ein weißes Taschentuch aus ihrer Handtasche und betupfte ihre Augen. “Ich wollte dich nicht in Schwierigkeiten bringen.”
“Oh”, seufzte Julia erleichtert. “Das musstest du doch nicht verschweigen, Eleanor. Ich habe der Polizei gesagt, dass ich vor Pauls Haus geparkt habe. Das stand sogar in der Zeitung.”
Eleanor drückte das Taschentuch gegen das andere Auge. “Ich habe mehr als das gesehen, Julia.”
Beunruhigt starrte Julia sie an. “Wovon redest du? Was hast du gesehen?”
Eleanor drückte das Taschentuch zu einer Kugel zusammen und sah sie gepeinigt an. “Oh, Julia, weißt du es nicht?”
“Nein, was denn?”
“Ich habe dich gesehen, Julia. Ich habe gesehen, wie du in Pauls Haus gegangen bist.”