30. KAPITEL
“Mr. Reyes.” Die Schrotflinte bewegte sich keinen Millimeter. “Haben Sie etwas vergessen?”
Steve betrachtete einen Moment lang sein Gegenüber. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass McDermott auf ihn schießen würde, wenn es sein musste. Von seiner Höflichkeit war nichts mehr zu merken, sie war einem gut kontrollierten, aber unübersehbaren Zorn gewichen.
“Nein”, sagte er und versuchte, nicht zu beunruhigt zu klingen. “Mich hat nur eine Sache neugierig gemacht.”
“Und was ist das?”
Es machte wenig Sinn zu lügen, schon gar nicht angesichts des Laufs einer Schrotflinte, die auf ihn gerichtet war. Steve deutete mit einer Kopfbewegung auf die Reifenspuren auf dem Weg. “Ich wollte sehen, wohin die führen.”
McDermott sah kurz auf die Spuren. “Warum haben Sie nichts davon gesagt, als Sie hier waren?”
“Ich hatte nicht das Gefühl, dass Sie eine Führung veranstalten wollten.”
“Und deshalb kommen Sie zurück, um sich noch einmal umzusehen. Ist das richtig?” McDermotts Stimme hatte etwas erschreckend Ruhiges an sich. “Sie sind entweder sehr mutig oder sehr dumm, Mr. Reyes.”
“Ich bin nur jemand, der seine Arbeit macht.”
“Und zu Ihrer Arbeit gehört es, mitten in der Nacht den Grund und Boden anderer Leute zu betreten?”
Steve begann sich zu entspannen. Offenbar hatte es einen stummen Alarm gegeben und die Polizei war bereits unterwegs, was bedeutete, dass McDermott ihn nicht erschießen würde. Vielleicht. Wenn Steve Glück hatte.
“Sind Sie besorgt, dass ich etwas Belastendes finden könnte?”
“Sie sind derjenige, der besorgt sein sollte, Mr. Reyes. Sie befinden sich auf meinem Grund und Boden. Das heißt, dass ich sagen kann, Sie hätten mich bedroht. Und damit kann ich Sie in Notwehr erschießen.”
“Ach, kommen Sie, McDermott. Hören Sie auf, so dramatisch zu agieren, und nehmen Sie die Waffe runter. Wie Sie sehen, bin ich nicht bewaffnet.” Er streckte die Arme aus. “Wenn Sie wollen, können Sie mich durchsuchen.”
“Halten Sie die Klappe und lassen Sie die Arme oben.” McDermott sah über Steves Schulter hinweg in Richtung Zypressenhain. “Was genau suchen Sie eigentlich, Mr. Reyes?”
“Ihren Neffen.”
Der Mann lächelte verächtlich. “Und Sie meinen, dass Sie ihn dort drüben finden? Zwischen den Bäumen?”
“Ich muss einfach nur den Wagen finden, dann weiß ich, dass er hier ist.”
McDermott lachte kurz auf. “Ihr Reporter seid doch alle gleich. Ihr habt verdammt viel Fantasie, aber verdammt wenig gesunden Menschenverstand.” Während er sprach, hielt er die Waffe weiter auf Steve gerichtet. “Wenn Sie früher gefragt hätten, dann hätten Sie sich diesen Weg sparen können.” McDermott lächelte, sein Blick jedoch blieb eiskalt. “Von einer sehr peinlichen Situation ganz abgesehen.”
Steve senkte die Hände ein wenig, während er darauf achtete, dass McDermott sie immer gut sehen konnte. “Sie meinen, Sie haben eine Erklärung für diese dritte Reifenspur?”
“Die habe ich tatsächlich. Sie stammen vom Wagen meines Butlers. Ich hatte Eanu in die Stadt geschickt, um mehrere Säcke Dünger zu kaufen, die er dann hinter dem Gewächshaus abgeladen hat. An der Hintertür.”
Eines musste Steve dem Kerl lassen, er war nicht auf den Kopf gefallen. “Und warum reichen die Spuren bis nach unten in den Hain?”
McDermotts hatte eher etwas Duldendes als etwas Verärgertes. “Eanu ist nicht gerade der beste Autofahrer der Welt, Mr. Reyes. Es ist möglich, dass er im Nebel oder im Regen – ich weiß nicht mehr, welches Wetter wir an dem Tag hatten – zu weit zurückgesetzt hat. Das ist alles. Wenn …”
“Mr. McDermott?” Eanu, der einen dunkelblauen Bademantel trug, blieb unter dem Scheinwerfer der Veranda stehen und zuckte leicht zusammen, als er die Waffe sah. “Ich habe Stimmen gehört. Ist alles in Ordnung?”
“Es ist alles bestens, Eanu. Mr. Reyes wollte gerade gehen.”
“Eanu”, sagte Steve rasch, bevor McDermott ihn daran hindern konnte. “Diese Säcke mit Dünger, die Sie vor ein paar Tagen eingekauft haben … wissen Sie noch, an welchem Tag das war?”
Steve wäre fast der beunruhigte Gesichtsausdruck entgangen, als Eanu ganz kurz zu seinem Arbeitgeber blickte. Mit einer Gelassenheit und Kaltblütigkeit, die für einen gut ausgebildeten Butler typisch war, riss er sich aber schnell wieder zusammen und schüttelte kurz den Kopf. “Nein, Sir, das weiß ich nicht mehr.”
Sie lügen, dachte Steve. Sie lügen alle beide.
“Sind Sie jetzt zufrieden, Mr. Reyes?” McDermotts Tonfall war ein wenig herablassend. “Wenn ja, dann könnten wir doch jetzt alle wieder schlafen gehen, oder?”
Steve bemerkte, dass er zur Villa sah und sich fragte, ob Ben dort war und sie vom Fenster aus möglicherweise beobachtete. Oder hatte sein erster Besuch ihn zu einer überhasteten Abreise veranlasst?
Vielleicht war McDermott deshalb so selbstgefällig. Er wusste, dass Ben und der Wagen längst fort waren.
“Die Polizei wird bald eintreffen, Mr. Reyes. Ich bin so großzügig und lasse Sie gehen, aber wenn Sie lieber bleiben und von mir verklagt werden möchten, dann mache ich das. Es liegt ganz bei Ihnen.”
Steve hätte nichts lieber gemacht, als den Bluff auffliegen zu lassen. Aber Hammonds Drohung klang ihm noch deutlich in den Ohren und reichte aus, damit er es sich anders überlegte. “Ich bin schon weg.”
“Danke.”
Während er sich vom Haus entfernte, hatte er das Gefühl, dass sich der Lauf der Waffe in seinen Rücken bohrte.
McDermott wartete, bis Steve außer Sichtweite war, erst dann ließ er die Schrotflinte sinken und wandte sich seinem Butler zu. “Wir müssen Bens Wagen fortschaffen.”
Eanus Gesichtsausdruck war augenblicklich beunruhigt. “Bens Wagen? Er hat ihn nicht mitgenommen?”
“Nein.” Ian klemmte sich die Schrotflinte unter den Arm und suchte in seinen Taschen nach dem Schlüssel.
“Was ist mit Ben passiert?” wollte Eanu wissen. “Wo ist er?”
“Er steckt in Schwierigkeiten, und er hat mich gebeten, den Wagen zurück zum College zu fahren und dort abzustellen.”
“Schwierigkeiten?”
McDermott unterdrückte einen Fluch. Eanus Hartnäckigkeit begann ihm allmählich auf die Nerven zu gehen, aber er konnte ihn jetzt nicht abwimmeln, ohne ihn noch misstrauischer zu machen.
“Ein Mädchen am College behauptet, es sei von Ben schwanger”, improvisierte er schnell. “Ben bestreitet das, aber ich glaube, dass er lügt. Darum hielt ich es für am besten, ihn für eine Weile wegzuschicken, bis sich die Aufregung gelegt hat. Er ist jetzt in Italien. Es geht ihm gut”, fügte er an, als Eanus Stirnfalten noch tiefer wurden. “Genau genommen”, sagte McDermott lachend, “trinkt unser Junge bestimmt auf der Via Veneto einen Cappuccino und begutachtet die Frauen.”
Endlich schien das alles für den Butler einen Sinn zu ergeben. Eanu lächelte: “Wann soll ich losfahren, Sir?”
Die Wolkendecke riss auf und gab den Blick auf den Halbmond frei. Wenn Eanu sofort aufbrach, würde er noch in der Dunkelheit in Santa Barbara ankommen. Dann würde niemand ihn dabei beobachten, wenn er den Wagen auf dem Collegeparkplatz abstellte.
“Sobald wir die Polizei wieder weggeschickt haben.” Er sah auf seine Uhr. “Die sollte jeden Moment hier sein. Von Santa Barbara fliegen Sie zurück zum Monterey Airport. Ich möchte Sie da allerdings nicht abholen, darum sollten Sie mit dem Bus zum Markt fahren und mich von dort anrufen. Ich hole Sie dann ab.” Er warf ihm Bens Wagenschlüssel zu.
Eanu betrachtete sie einen Moment lang nachdenklich, dann verbeugte er sich, offenbar zufrieden gestellt. “Ja, Mr. McDermott.”
“Ach ja”, fügte McDermott beiläufig an. “Sorgen Sie dafür, dass sich am Wagen keine Fingerabdrücke finden, ja?” Da Eanu wieder misstrauisch zu werden schien, sagte er: “Ich möchte nicht, dass einem von uns vorgeworfen werden könnte, wir hätten Ben geholfen, sich seiner Verantwortung gegenüber diesem Mädchen zu entziehen, wenn es tatsächlich schwanger sein sollte.” Er lächelte Eanu verschwörerisch an. “Obwohl wir genau das ja eigentlich machen.”
Eanu verbeugte sich erneut und verschwand dann im Haus.
Das Warten war unerträglich. Angst ergriff von Julia Besitz und wandelte sich mit jeder Minute, die verstrich, zu kaltem Grauen. Sie hatte sehen können, wie im Haus und auf der Terrasse Lichter angingen, und das Schlimmste befürchtet.
Der Gedanke, dass Steve gefasst worden sein könnte, brachte sie dazu, an ihren Fingernägeln zu kauen, was sie noch nie gemacht hatte. Einen Moment lang hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihn zu retten. Aber alles war so ruhig, vielleicht hätte sie ihm seinen Plan nur verpatzt.
Schließlich hatte sie sich entschieden, Steves Anweisung zu befolgen und im Wagen zu bleiben.
Sie starrte auf die Uhr im Armaturenbrett. Als die dreißig Minuten um waren, warf sie wieder einen ängstlichen Blick in Richtung Anhöhe.
Ihre Hand hatte gerade das Telefon umschlossen, als sie ihn auf den Wagen zulaufen sah. Augenblicke später saß er neben ihr. “Das wurde auch Zeit”, sagte sie zutiefst erleichtert. “Eine Sekunde länger und ich hätte die Kavallerie gerufen.”
Dann, ein wenig übermütig, weil er wohlauf war, nahm sie sein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihn leidenschaftlich. Er erwiderte den Kuss augenblicklich, doch auch wenn sein Herz bei der Sache war, verriet sein Gesichtsausdruck ihr, dass die kleine nächtliche Aktion nicht so verlaufen war, wie er es erhofft hatte. “Was ist passiert?”
“Es hat nicht geklappt.”
“Keine Spur vom Wagen?”
“So weit bin ich gar nicht erst gekommen. Es gibt eine Alarmanlage. McDermott hat mich gestoppt, bevor ich den Hain erreichen konnte.” Er startete den Wagen und sah in den Rückspiegel. “Der Bastard hat es genossen. Er hat gesagt, er würde der Polizei nichts von meinem Besuch erzählen, und dann hat er mich gehen lassen.”
“Vielleicht sagt er ja die Wahrheit, Steve”, gab sie vorsichtig zu bedenken. “Ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber …”
“Sagt er nicht.” Wütend schlug Steve mit der Faust auf das Lenkrad. “Und dieser sonderbare Butler lügt auch wie gedruckt. Sie decken Ben. Oh, Scheiße!”
“Was?”
“Die Bullen.” Er deutete auf ein rotierendes rotes Licht hinter ihnen auf der Straße.
“Ich dachte, McDermott will ihnen nichts von dir sagen.”
“Das wird die Polizei aber nicht davon abhalten, mir ein paar Fragen zu stellen, wenn sie mich hier sehen.” Er riss das Lenkrad herum und bog in einen Feldweg ab, der zu einer Erhebung führte. Die kleine Anhöhe war nicht hoch genug, um den Landrover völlig zu verstecken, aber in der Dunkelheit würde das niemand merken.
Keine Minute später raste ein Polizeiwagen vorbei. Steve wartete einen Moment lang ab, dann kehrte er auf die Hauptstraße zurück.
Julia atmete erleichtert aus. “Das war knapp.”
“Zu knapp.”
Sie sah ihn besorgt an. “Und was machen wir jetzt?”
“Ich muss beweisen, dass McDermott lügt. Vielleicht kann mir Bens Freundin, oder besser gesagt Ex-Freundin, dabei behilflich sein.”
“Und wie?”
“Sie hat gesagt, dass sie sich McDermotts Namen und Nummer von der Telefonrechnung abgeschrieben hat. Wenn sie diese Rechnung noch hat, sollte sie mir sagen können, wann Ben zum letzten Mal seinen Onkel angerufen hat.” Er sah wieder in den Rückspiegel. “Ich möchte wetten, dass Ostern nicht der letzte Anlass war.”
Nachdem sie am folgenden Morgen zweimal versucht hatten, Kelly Sanders zu erreichen, beide Male aber nur der Anrufbeantworter reagiert hatte, schlug Julia vor, den Fall vorübergehend zurückzustellen. Ihr nächster Kochkurs würde bald beginnen, und sie brauchte einige Zutaten. Steve erklärte sich bereit, mit ihr zum Markt zu fahren.
Sie versuchten gar nicht erst, in Downtown einen Parkplatz zu finden, sondern ließen den Landrover auf dem Museumsgelände stehen und nahmen die Abkürzung durch das Presidio, das um diese Zeit noch menschenleer war.
“Ich fasse es nicht”, sagte Steve tonlos, als sie sich der Artillery Street näherten.
“Was ist?” Julia folgte seinem Blick und entdeckte im angrenzenden Larkin Park einen großen Mann in hellgrauem Anzug und mit einem Panama-Hut, der sich mit einem deutlich kleineren Mann unterhielt. Der große Mann war so breit, dass von seinem Gegenüber kaum mehr als dessen Hände zu sehen waren, mit denen er aufgeregt gestikulierte. “Hast du jemanden gesehen, den du kennst?” fragte sie.
Steve nickte und deutete auf den Mann mit dem Panama-Hut, der sich für einen Moment in ihre Richtung umgedreht hatte. “Nicht persönlich. Aber ich habe von ihm gehört und kenne sein Bild aus der Zeitung. Er heißt Aaron Briggs. Er ist Eigentümer und Verleger des San Francisco Star und einer der angesehensten Nachrichtenleute im ganzen Land. Ich hatte gehört, dass er persönlich über den Mord an Paul berichtet, aber bislang war er mir hier noch nicht aufgefallen.”
Julia warf Steve einen amüsierten Blick zu. Er klang fast so begeistert wie Andrew, als Steve beiläufig bemerkt hatte, er sei mit Gary Sheffield befreundet. “Du hörst dich an, als wärst du ein Fan von ihm.”
“Ich bin ein riesiger Fan. Als ich meinen Collegeabschluss in der Tasche hatte, wollte ich unbedingt für den Star schreiben.”
“Und warum hast du das nicht gemacht?”
Steve zuckte mit den Schultern. “Der Star wollte mich nicht so unbedingt haben. So bin ich bei der New York Sun gelandet.”
“Auch nicht schlecht.”
“Stimmt.” Er beobachtete den Mann weiter. “Ich frage mich nur, warum er selbst recherchiert. Das hat er seit dem Attentat auf Reagan nicht mehr gemacht.”
“Warum gehst du nicht rüber und fragst ihn?” schlug Julia vor, die froh war, dass er einmal an etwas anderes als an Gleic Éire dachte. “Stell dich ihm vor, und wenn du willst, kannst du ihn ja auf einen Drink in die 'Hacienda' einladen.” Sie nahm ihm den Einkaufskorb ab und schubste ihn sanft an. “Nun geh schon. Einkaufen kann ich auch alleine.”
Steve schien sie nicht gehört zu haben. “Irgendwas an dem Typ, mit dem er redet, kommt mir bekannt vor. Wenn ich ihn bloß richtig sehen könnte …”
Er brach mitten im Satz ab. Als sich der bekannte Verleger zur Seite bewegte und den Blick auf seinen Begleiter freigab, zuckte Steve zusammen. “Das darf doch nicht wahr sein.”